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Autism spectrum disorders represent complex disease patterns with an extremely wide variety of manifestations. This volume presents a detailed and practically oriented account of the core symptoms and comorbid disturbances, the diagnostic procedure, clinical differential diagnosis, treatment and course of the disturbances. Special emphasis is given to the importance of early detection and interdisciplinary treatment. Additional topics emphasized in the book include school support for the patients affected and a survey of autism among adults.
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2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2017
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-026848-7
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-026849-4
epub: ISBN 978-3-17-026850-0
mobi: ISBN 978-3-17-026851-7
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Vorwort
A Phänomenologie
1 Historischer Überblick
Hedwig Amorosa
2 Klassifikation und Epidemiologie
Hedwig Amorosa
2.1 ICD-10 und ICD-11
2.2 DSM-5
2.3 ICF und »Core Sets«
2.4 Kategoriale versus dimensionale Klassifikation
2.5 High-Functioning (HFA) vs. Low-Functioning (LFA) Autism
2.6 Epidemiologie
2.6.1 Prävalenz
2.6.2 Zunahme der Häufigkeit
3 Kernsymptome
3.1 Kleinkindalter
Renate Giese
3.1.1 Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion
3.1.2 Soziales Lernen über Beobachtung und Imitation
3.1.3 Kommunikation und Sprache
3.1.4 Spiel
3.1.5 Regulationsprobleme, sensorische Besonderheiten, repetitives Verhalten
3.2 Vorschulalter
Hedwig Amorosa
3.2.1 Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion und Kommunikation
3.2.2 Repetitive Verhaltensweisen und eingeschränkte Interessen
3.2.3 Spiel
3.2.4 Weitere Verhaltensweisen
3.3 Schulalter
Hedwig Amorosa
3.3.1 Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion und Kommunikation
3.3.2 Repetitive Verhaltensweisen und eingeschränkte Interessen
3.3.3 Spiel
3.3.4 Weitere Verhaltensweisen
4 Komorbidität
4.1 Psychiatrische Komorbiditäten
Michele Noterdaeme
4.1.1 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
4.1.2 Oppositionelles und aggressives Verhalten
4.1.3 Autoaggressives Verhalten
4.1.4 Angststörungen
4.1.5 Zwangsstörungen
4.1.6 Depression
4.1.7 Schlafstörungen
4.1.8 Essstörungen
4.1.9 Schizophrene Psychosen
4.1.10 Weitere psychopathologische Begleiterscheinungen
4.2 Neurologische Komorbiditäten
4.2.1 Epilepsie und deren medikamentöse Behandlung
Matthias Ensslen und Angelika Enders
4.2.2 Sensomotorische Besonderheiten
Angelika Enders
4.2.3 Intelligenzminderung
Angelika Enders
5 Verlauf und Prognose
Hedwig Amorosa
5.1 Kernsymptomatik
5.2 Kognitive Entwicklung
5.3 Mortalität
5.4 Psychosoziale Anpassung im späteren Jugendalter und frühen Erwachsenenalter
B Entwicklungspsychologie und Ätiologie
6 Sensitive Phasen im Kontext der frühen sozial-emotionalen Entwicklung
Renate Giese
6.1 Physiologische Regulation im Kontext der Eltern-Kind-Beziehung
6.2 Affektive Differenzierung und Regulation
6.3 Intersubjektivität und Mentalisierung
6.4 Autonomie und Selbstentwicklung
6.5 Spielentwicklung
7 Psychologische Theorien
Christiane Bormann-Kischkel und Karolin Ullrich
7.1 Affektiv-soziale Störung
7.2 Theory of Mind (ToM)
7.3 Exekutive Dysfunktion
7.4 Mangel an zentraler Kohärenz
7.5 Beeinträchtigte Entwicklung des Selbst
7.5.1 Empfindung des auftauchenden Selbst (0–8 Wochen)
7.5.2 Empfinden des Kernselbst (2–6 Monate)
7.5.3 Empfinden eines subjektiven Selbst (6–15 Monate)
7.5.4 Autismus und kein Kernselbst?
7.5.5 Implikationen für ein theoretisches Verständnis
8 Neurobiologische Erklärungsansätze
8.1 Genetik
Imma Rost
8.1.1 Chromosomenstörungen
8.1.2 Linkage-Analysen (Kopplungsstudien)
8.1.3 Assoziationsstudien
8.1.4 Array-CGH (CMA, Chromosomale Mikroarrays)
8.1.5 Kandidatengene
8.1.6 Neue Hochdurchsatztechnologien (»Next Generation Sequencing«)
8.1.7 Zusammenfassung
8.2 Genetische Syndrome
Angelika Enders und Imma Rost
8.2.1 Tuberöse Sklerose
8.2.2 Fragiles-X-Syndrom
8.2.3 Rett-Syndrom
8.2.4 Angelman-Syndrom
8.2.5 Prader-Willi-Syndrom
8.2.6 Smith-Magenis-Syndrom
8.2.7 Potocki-Lupski-Syndrom
8.2.8 Deletion 22q11.2
8.2.9 Mikrodeletion 22q13 (Phelan-McDermid-Syndrom)
8.2.10 Smith-Lemli-Opitz-Syndrom
8.2.11 Seltenere Syndrome
8.2.12 Herausforderung und Chance einer frühen differenzierenden Diagnostik für Beratung und Interventionsplanung
8.3 Prä-, peri- und postnatale Risikofaktoren
Angelika Enders
8.4 Neurometabolische Störungen
Regina Ensenauer und Angelika Enders
8.4.1 Enzymdefekte mit Auswirkungen auf den Purin-/Pyrimidinstoffwechsel
8.4.2 Enzymdefekte mit Auswirkungen auf den Neurotransmitterstoffwechsel
8.4.3 Mitochondriopathien
8.4.4 Enzymdefekte mit Auswirkungen in anderen Stoffwechselwegen
8.5 Immunologische Erklärungsmodelle
Angelika Enders
C Diagnostische Einschätzung
9 Diagnostische Vorgehensweise
9.1 Autismusspezifische Instrumente
Michele Noterdaeme
9.1.1 Einführung in die Diagnostik
9.1.2 Screeninginstrumente für Kleinkinder
9.1.3 Diagnostische Interviews
9.1.4 Beobachtungs- und Ratingskalen
9.1.5 Fragebögen
9.1.6 Zusammenfassung
9.2 Neuropädiatrische Diagnostik
Angelika Enders
9.2.1 Anamnese
9.2.2 Klinisch-neurologische Untersuchung des Kindes
9.2.3 Indikation zu weiterführender Diagnostik
9.3 Genetische Diagnostik und Beratung
Imma Rost
9.4 Neuropsychologische Diagnostik
Christiane Bormann-Kischkel und Karolin Ullrich
9.4.1 Intelligenzdiagnostik
9.4.2 Sprachdiagnostik
9.4.3 Neuropsychologische Einschätzung
9.5 Diagnostik familiärer Belastungen
Christiane Bormann-Kischkel und Karolin Ullrich
10 Differenzialdiagnostische Abgrenzung im Kindes- und Jugendalter
Michele Noterdaeme
10.1 Sprachentwicklungsstörungen
10.2 Intellektuelle Beeinträchtigung (ICD-10 Intelligenzminderung)
10.3 Hyperkinetische Störungen – Störungen des Sozialverhaltens
10.4 Ticstörungen
10.5 Sinnesbeeinträchtigungen
10.6 Landau-Kleffner-Syndrom
10.7 Mutismus
10.8 Bindungsstörungen
10.9 Soziale Phobie und Depression
10.10 Zwangsstörungen
D Therapeutische Verfahren
11 Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) und deren Bedeutung für die Therapie
Hedwig Amorosa
12 Verhaltenstherapeutisch basierte Frühförderprogramme
Christine M. Freitag und Monika Schneider
12.1 Lerntheoretische Grundlagen verhaltenstherapeutischer Ansätze
12.1.1 Klassische Konditionierung
12.1.2 Operante Konditionierung
12.1.3 Prinzipien des Lernens am Modell
12.2 Übergeordnete Verfahren lerntheoretischer Modelle
12.2.1 Horizontale Verhaltensanalyse anhand des SORKC-Schemas
12.2.2 Vertikale Verhaltensanalyse
12.3 Entwicklungspsychologische Aspekte
12.4 Spezifische lern- und verhaltenstherapeutische Methoden
12.4.1 Diskretes Lernformat
12.4.2 Natürliches Lernformat
12.5 Umfassende verhaltenstherapeutisch basierte Frühförderprogramme
12.5.1 Programme mit dem Schwerpunkt »diskretes Lernformat«
12.5.2 Programme mit dem Schwerpunkt »natürliches Lernformat«
12.5.3 Weiterentwicklungen
12.6 Zusammenfassung
13 Das TEACCH-Programm
Rita Wagner
13.1 Was ist TEACCH?
13.2 Strukturierung und Visualisierung
13.2.1 Strukturierung des Raums
13.2.2 Strukturierung der Zeit
13.2.3 Strukturierung der Aufgabenstellung
13.2.4 Strukturierung von Material
13.3 Aufbau von Handlungskompetenzen und Alltagsfertigkeiten
13.3.1 Aufbau von Routinen als Strukturierungshilfen
13.3.2 Aufbau von Handlungskompetenz am Beispiel Kommunikation
14 Aufbau von Kommunikation und Sprache
Hedwig Amorosa
14.1 Aufbau früher Formen der Kommunikation
14.1.1 Diskrete Lernformate
14.1.2 Natürliche Lernformate (NDBI)
14.2 Sprachaufbau
14.2.1 Training von Schlüsselverhalten
14.3 Einsatz unterstützter Kommunikation
14.4 Sprachverständnistherapie
14.4.1 Wortverständnis
14.4.2 Satzverständnis
14.4.3 Verständnis für Texte und längere Äußerungen
14.4.4 Übertragene Bedeutung
14.5 Behandlung der Störungen der Sprachverwendung
14.5.1 Nonverbale Anteile der Sprachverwendung
14.5.2 Gesprächsführung
14.5.3 Anpassen der Sprache an die Situation
15 Aufbau der sozialen Kompetenz
Monica Biscaldi, Mirjam Paschke-Müller und Ulrich Schaller
15.1 Training der sozialen Kommunikation und Interaktion bei Kleinkindern mit sprachlicher und/oder intellektueller Beeinträchtigung
15.2 Training der sozialen Kompetenz von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter bei hochfunktionaler ASS
16 Sensorische und motorische Förderung
Angelika Enders
16.1 Methoden mit Schwerpunkt sensorische Förderung
16.1.1 Sensorische Integrationstherapie
16.1.2 Affolter-Modell
®
16.2 Methoden und Konzepte mit Schwerpunkt motorische Förderung
16.2.1 Bobath-Konzept
16.2.2 Castillo Morales-Konzept
16.2.3 Rhythmus- und roboterunterstütze Interventionen
17 Eltern- und familienbezogene Maßnahmen
Ulrike Fröhlich und Christiane Bormann-Kischkel
17.1 Training Autismus, Sprache Kommunikation (TASK)
17.2 Improving Parents as Communication Teachers (ImPACT)
18 Psychopharmakologische Behandlung bei Kindern und Jugendlichen
Luise Poustka
18.1 Atypische Neuroleptika
18.1.1 Risperidon
18.1.2 Aripiprazol
18.1.3 Andere
18.1.4 Nebenwirkungen
18.2 Stimulanzien und andere Stoffgruppen zur Behandlung von Hyperaktivität
18.2.1 Methylphenidat (MPH)
18.2.2 Atomoxetin
18.2.3 Andere
18.3 Antidepressiva
18.4 Stimmungsstabilisatoren
18.5 Melatonin und andere Stoffgruppen zur Therapie von Schlafstörungen
18.6 Neuere Behandlungsansätze: Oxytocin, Cycloserin & Co.
18.7 Konklusion und Ausblick
19 Kontroverse Verfahren
Hedwig Amorosa
19.1 Gestützte Kommunikation (»Facilitated Communication«)
19.2 Biologisch begründete Therapien
19.3 Heilpädagogisch/psychologisch begründete Therapien
E Schulische Bildung
20 Modelle schulischer Rahmenbedingungen
Karolin Ullrich
21 Gestaltung von Schule und Unterricht
21.1 Autismus und Schulbesuch
Rita Wagner
21.2 Autismusspezifische Förderdiagnostik
Karolin Ullrich
21.2.1 Einsatz von Beobachtungsbögen
21.2.2 Einsatz partnerschaftlicher Gespräche
21.2.3 Einsatz von Testverfahren
21.3 Autismusspezifische Förderplanung
Rita Wagner
21.4 Autismus und Didaktik
Rita Wagner
21.5 Schulische Interventionen und Beratung
Annette Werner-Frommelt
21.5.1 Schulische Interventionen
21.5.2 Schulische Beratung
22 Nachteilsausgleich
Annette Werner-Frommelt
22.1 Fachliche Kompetenz
22.2 Mündliche Unterrichtsbeiträge
22.3 Zeitzuschlag
22.4 Auszeiten, Rückzugsräume
22.5 Auf die einzelnen Unterrichtsfächer bezogene Hilfen
22.5.1 Mathematik, Naturwissenschaften
22.5.2 Deutsch
22.5.3 Sport
22.6 Nachteilsausgleich bei Leistungsfeststellungen
23 Schulbegleitung/Inklusionshelfer
Annette Werner-Frommelt
23.1 Aufgaben
23.2 Beantragung
23.3 Multiprofessionelle Kooperation und Elternarbeit
23.4 Unbefriedigende Studienlage
F Erwachsenenalter
24 Kernsymptome
Matthias Dose
24.1 Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion und Kommunikation
24.2 Repetitive Verhaltensweisen und eingeschränkte Interessen
24.3 Unterschiede zu Kindern und Jugendlichen
25 Diagnostik
Matthias Dose
25.1 Konsentierte Empfehlungen zur Diagnostik bei Erwachsenen
25.1.1 Durchführung der Diagnostik bei Erwachsenen
25.1.2 Fallbeispiele
25.1.3 Selbsttest-Diagnosen
25.2 Schwierigkeiten der Diagnostik bei Erwachsenen
25.3 Komorbiditäten
25.3.1 Komorbide Störungen (Überblick)
25.3.2 Komorbide psychische Störungen im Erwachsenenalter
25.3.3 Körperlich-neurologische Komorbidität im Erwachsenenalter
25.4 Differenzialdiagnosen
25.4.1 Sprachentwicklungsverzögerung oder Sprachstörung
25.4.2 Intelligenzminderung, globale Entwicklungsverzögerung
25.4.3 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
25.4.4 Emotionale und Angststörungen
25.4.5 Affektive Störungen
25.4.6 Störungen des Sozialverhaltens
25.4.7 Persönlichkeitsstörungen
25.4.8 Zwanghafte Persönlichkeitsstörung und Zwangsstörung (ICD-10 F60.5 und F42)
25.4.9 Psychotische Störungen
26 Berufsausbildung, Hochschule, Arbeit
Matthias Dose
26.1 Hochschule
26.2 Berufsausbildung und Arbeit
27 Wohnen, Beziehung und Partnerschaft
Matthias Dose
28 Fahrerlaubnis/Führerschein
Matthias Dose
29 Therapie für Erwachsene
Matthias Dose
29.1 Psychotherapeutische Therapie für Erwachsene
29.1.1 FASTER
29.1.2 GATE
29.2 Medikamentöse Behandlung
29.2.1 Störungsspezifische medikamentöse Therapie
29.2.2 Syndromorientierte bzw. symptomatische medikamentöse Therapie
29.3 Pragmatische Therapie
G Versorgungsnetz
30 Sozialrechtliche Zuordnung
Edith Greil
31 Sozialpädiatrische Zentren, Kinder- und Jugendpsychiatrische Einrichtungen und Frühförderstellen
Edith Greil
32 Autismus-Therapiezentren und Autismus-Beratungsstellen
Edith Greil
33 Elternselbsthilfe und Selbsthilfe für Menschen mit Autismus
Edith Greil
34 Links zu fachlichen und praktischen Informationen (ohne Wertung)
Edith Greil
Anhang
Beobachtungsbogen KOALA
Beobachtungsbogen EUKALYPTUS
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Stichwortverzeichnis
Anfang der 1940er Jahre schreibt Leo Kanner (1943): »The outstanding, ›pathognomonic‹ fundamental disorder is the children’s inability to relate themselves in the ordinary way to people and situations from the beginning of life.« Damit erfasste er eines der wesentlichen Probleme von Menschen mit autistischen Störungen.
Ein Jahr später, 1944, publiziert Hans Asperger seine Habilitationsschrift und stellt fest: »Längst ist die Frage entschieden, dass auch psychopathologische Zustände konstitutionell verankert und darum auch vererbbar sind, freilich auch, dass es eine eitle Hoffnung ist, einen klaren einfachen Erbgang aufzuweisen: diese Zustände sind ja zweifellos polymer, also an mehrere Erbeinheiten gebunden.« Er postuliert somit die heute unumstrittene neurobiologisch-genetische Pathogenese der Störung.
Heutzutage werden Autismus-Spektrum-Störungen in der neuesten Auflage des Diagnostical and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) in der übergreifenden Kategorie »neurobiologische Entwicklungsstörungen« klassifiziert. Die Unterteilung in Subkategorien wie frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom oder atypischer Autismus wird aufgehoben. Neben den Autismus-Spektrum-Störungen werden in dieser Metakategorie u. a. auch die intellektuelle Beeinträchtigung, die Sprachstörungen und die Aufmerksamkeits-und Aktivitätsstörungen klassifiziert. Zwischen diesen verschiedenen Störungsbildern besteht eine große phänomenologische Überlappung. Sie sind wesentliche komorbid auftretende Störungen bei Menschen mit einer autistischen Störung.
Die langjährige Arbeit mit Menschen mit autistischen Störungen und ihren Familien bildet die Basis für die in diesem Buch zusammengefassten Erkenntnisse. Bewusst haben wir versucht, die Brücke zu schlagen zwischen den Erfahrungen von Kollegen aus dem Bereich der Entwicklungsneurologie und -psychologie, der Neuropädiatrie, der Sonderpädagogik, der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Erwachsenenpsychiatrie. So hoffen wir, mithilfe des entstandenen Werkes dazu beizutragen, dass wir weiter voneinander lernen und im gegenseitigen Austausch zu einem komplexeren Verständnis für diagnostische und therapeutische Vorgehensweisen zu Gunsten von Menschen mit autistischen Störungen beitragen können.
Ein solches Buch ist auf kritische Leser und Leserinnen angewiesen. Für Ergänzungen und Hinweise, die dem Buch in Zukunft konzeptionell zugutekommen können, sind wir dankbar.
Wir danken allen Autorinnen und Autoren für die verlässliche, sorgfältige, umfassende und kompetente Erarbeitung ihrer Themenbereiche. Es ist uns ein besonderes Bedürfnis, uns an dieser Stelle ganz herzlich bei allen Betroffenen und deren Familien zu bedanken, die uns stets Vertrauen entgegengebracht und es dadurch ermöglicht haben, dieses Buch auch mit Bildern ihrer Kinder zu illustrieren.
Dass es gelungen ist, trotz der beruflichen Belastung ein Buch zu planen und fertigzustellen, ist dem Verständnis und der Unterstützung unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und im Besonderen der Toleranz unserer Partner und Familien zu verdanken.
Dem Kohlhammer Verlag danken wir für das Verlegen des Buches und seinen Lektorinnen, Frau Döring und Frau Bach, für die kompetente Unterstützung bei der Gestaltung und Fertigstellung des Werkes.
Juni 2017
Michele Noterdaeme
Karolin Ullrich
Angelika Enders
Typischerweise wird in einem historischen Rückblick zum autistischen Syndrom damit begonnen, dass Kanner 1943 den »early infantile autism» und Asperger 1944 »die autistische Psychopathie» unabhängig voneinander zum ersten Mal beschrieben haben. Da Kanner in den USA lebte und Asperger in Wien, ging man davon aus, dass sie während des Zweiten Weltkrieges keine Kenntnis von der Publikation des anderen hatten und somit unabhängig voneinander die Kindergruppe beschrieben und mit dem Namen »autistisch« bezeichnet haben, im Rückgriff auf Bleuler, der diesen Begriff für ein Symptom der Schizophrenie geprägt hatte. In Übersicht 1.1 und 1.2 sind die wesentlichen Symptome, die von Asperger bzw. Kanner beschrieben wurden, zusammengestellt.
Vor den Veröffentlichungen von Kanner 1943 und Asperger 1944 gab es bereits Beschreibungen von Kindern, die heute die Diagnose einer autistischen Störung rechtfertigen (Wing 1997). Insbesondere die Artikel von Ssucharewa (1926) und von Asperger (1938) machen deutlich, dass der Begriff »autistisch« auf kindliche Störungen angewandt wurde (Schirmer 2002; Lyons & Fitzgerald 2007).
Im Jahr 1926 beschrieb Ssucharewa von der psychoneurologischen Kinderklinik in Moskau in einem Artikel der Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie sechs Jungen im Alter von zehn bis 13 Jahren mit der Diagnose »schizoide Psychopathie« im Rahmen einer Auseinandersetzung mit dem Begriff des »Schizoiden« von Kretschmer. Die ausführliche Beschreibung der Fälle erlaubt eine gewisse diagnostische Einordnung. Fälle 1, 3, 4, 5 und 6 klingen wie Beschreibungen von Kindern mit einem Asperger-Syndrom. Als typisch wird eine motorische Ungeschicklichkeit bei den Kindern beschrieben. Alle Kinder sind intellektuell durchschnittlich oder überdurchschnittlich begabt, zeigen wenig oder gar kein Interesse am Spiel mit anderen Kindern, können sich schlecht in die Gruppe einordnen und zeigen wenig Interesse an anderen Menschen. Die Kinder sind musikalisch. Als ein Symptom aller Kinder wird eine »autistische Einstellung« beschrieben. »Alle Kinder dieser Gruppe halten sich abseits in dem Kindermilieu, passen sich nur schwer an dieses Milieu an und gehen in ihm niemals vollständig auf« (Ssucharewa 1926, S. 255; Manouilenko & Bejerot 2015).
Asperger beschrieb in einem Artikel von 1938 mit dem Titel »Das psychisch abnorme Kind« einen Jungen im Alter von siebeneinhalb Jahren. Zur diagnostischen Einordnung sagte er: »Innerhalb dieser wohl charakterisierten Gruppe von Kindern, die wir wegen der Einengung ihrer Beziehungen zur Umwelt, wegen der Beschränkung auf das eigene Selbst (autos) ›autistische Psychopathen‹ nennen, gibt es nun freilich wieder recht verschiedene, auch recht verschieden zu bewertende Menschen« (Asperger 1938, S. 1316). Man muss annehmen, dass dieser Artikel Kanner bekannt war, der die deutschsprachige Literatur kannte.
In seiner Habilitationsschrift, die 1944 veröffentlicht wurde, beschrieb Asperger dann eine Reihe von Kindern im Alter von sechs bis elf Jahren, deren gemeinsames Merkmal in einer erheblichen Störung der Beziehung zu anderen Menschen und im sozialen Kontakt besteht. Es seien fast ausschließlich Jungen betroffen, die meist normal oder hochbegabt seien, einige haben zudem eine Sonderbegabung. Asperger beschreibt das Auftreten von auffälligen Persönlichkeiten in den Familien. Er geht von einer Vererbung aus. »Längst ist die Frage entschieden, dass auch psychopathologische Zustände konstitutionell verankert und darum auch vererbbar sind, freilich auch, dass es eine eitle Hoffnung ist, einen klaren einfachen Erbgang aufzuweisen: diese Zustände sind ja zweifellos polymer, also an mehrere Erbeinheiten gebunden« (Asperger 1944, S. 128).
Übersicht 1.1: Diagnostische Kriterien der autistischen Psychopathie nach Asperger 1944
• Starke Störung der sozialen Anpassung
• Schwierigkeiten, einfache praktische Fähigkeiten im Alltag zu erlernen
• Auffälliges Blickverhalten
• Wenig Mimik und Gestik
• Stereotype Bewegungen
• Sonderinteressen
• Auffällige Sprache und Intonation
• Störung der aktiven Aufmerksamkeit
• Prinzenhaftes Aussehen
• Motorische Ungeschicklichkeit
• Konstanz der Symptomatik ab dem 2. Lebensjahr
• Auffällige Persönlichkeiten in den Familien
1906
Geboren in Hausbrunn bei Wien
1925–1930
Studium der Medizin in Wien
1931
Promotion
1932
Leiter der heilpädagogischen Abteilung der Universitätskinderklinik in Wien
1938
Erster Artikel über ein Kind mit einer autistischen Psychopathie
1944
Habilitation mit der Arbeit über die autistische Psychopathie
1957
Vorstand der Universitätskinderklinik in Innsbruck
1962–1977
Professor für Pädiatrie und Leiter der Kinderklinik in Wien
1980
Verstorben im Alter von 75 Jahren in Wien
Trotz einer englischsprachigen Zusammenfassung der Beschreibungen Aspergers von van Krevelen und Kuipers 1962 wurde das Asperger-Syndrom erst allgemein bekannt, als Lorna Wing 1981 eine Zusammenfassung seiner Befunde in einer englischsprachigen Zeitschrift veröffentlichte. 1991 veröffentlichte Uta Frith in ihrem Buch »Autism and Asperger Syndrom« eine englische Übersetzung des Originaltextes.
Kanner, ein Kinderpsychiater aus Baltimore, beschrieb 1943 eine Gruppe von Kindern mit Auffälligkeiten im Kontakt mit anderen Menschen. »The outstanding, ›pathognomonic‹ fundamental disorder is the children’s inability to relate themselves in the ordinary way to people and situations from the beginning of life« (Kanner 1943, S. 242). Es handelte sich um eine Gruppe von elf Kindern (acht Jungen und drei Mädchen) im Alter bis zu elf Jahren. Er beschreibt die bis heute für die Diagnose wesentlichen Symptome: veränderte soziale Interaktion, auffällige Kommunikation, Stereotypien, eingeschränkte Interessen und Bestehen auf Gleichheit.
Übersicht 1.2: Diagnostische Kriterien des frühkindlichen Autismus nach Kanner 1943
• Unfähigkeit, soziale Beziehungen aufzunehmen
• Ausgeprägter sozialer Rückzug
• Sprache wird nicht kommunikativ eingesetzt
• Echolalie
• Pronominale Umkehr
• Bestehen auf Gleichheit
• Zwanghaftigkeit
• Monotone repetitive Handlungen
• Gute Intelligenz
• Gutes Gedächtnis
• Intelligentes Aussehen
• Symptomatik beginnt im ersten Lebensjahr
• Aus Familien mit hohem Bildungsgrad
1894
Geboren in Klekotow, Galizien, damals Österreich-Ungarn
1906
Kam er nach Berlin
1913
Begann er sein Studium der Medizin in Berlin an der Charité. Während des 1. Weltkrieges war er Soldat in der österreichisch-ungarischen Armee und setzte nach dem Krieg sein Studium fort
1919
Promotion in Berlin mit einer Arbeit über das Elektrokardiogramm
1920
Assistenzart an der 2. medizinischen Klinik der Charité
1924
Emigrierte er in die USA und arbeitete an einem Psychiatrischen Landeskrankenhaus. Dort hatte er viel Zeit zum Lesen und befasste sich intensiv mit der Literatur zu kinderpsychiatrischen Fragen
1928
Beginn einer Ausbildung bei dem berühmten Psychiater Adolf Meyer in Baltimore
1931
Eröffnete er dort die erste kinderpsychiatrische Abteilung in einer Kinderklinik der USA
1935
Erschien von ihm das erste Lehrbuch der Kinderpsychiatrie
1943
Beschrieb er elf Kinder mit frühkindlichem Autismus
1957
Wurde er zum Direktor für Kinderpsychiatrie ernannt
1959
Wurde er emeritiert, blieb aber weiter sehr aktiv im Fachgebiet tätig
1971
Gründung der Zeitschrift »Journal of Autism and Childhood Schizophrenia«
1981
Verstorben in Sykesville/Maryland im Alter von 86 Jahren
(Eisenberg 1981; Neumärker 2003)
Als Ursache geht er in dieser Arbeit davon aus, dass es sich um eine angeborene Störung im Bereich des affektiven Kontaktes handelt.
»We must, then, assume that these children have come into the world with innate inability to form the usual, biologically provided affective contact with people, just as other children come into the world with innate physical or intellectual handicaps. If this assumption is correct, a further study of our children may help to furnish concrete criteria regarding the still diffuse notions about the constitutional components of emotional reactivity. For here we seem to have pure-culture examples of inborn autistic disturbances of affective contact« (Kanner 1943, S. 250).
Kanner betont, dass die Kinder aus intellektuellen Familien kommen. Zusätzlich habe er in vielen Familien beobachtet, dass die emotionalen Beziehungen sehr kühl seien. »The question arises whether or to what extent this fact has contributed to the condition of the children. The children’s aloneness from the beginning of life makes it difficult to attribute the whole picture exclusively to the type of early parental relations with our children« (Kanner 1943, S. 250).
Sowohl Ssucharewa als auch Kanner und Asperger beschrieben die Störung als ein eigenes Krankheitsbild, das sich klar von der kindlichen Schizophrenie abhebt. Trotzdem wurde über längere Zeit der Begriff »Childhood Schizophrenia« z. B. von Lauretta Bender (1958) verwendet und ein Zusammenhang mit der Schizophrenie angenommen. In der neunten Revision der Klassifikation der Krankheiten (ICD-9) der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die bis 1999 in Deutschland gültig war, wurde der frühkindliche Autismus erstmals aufgenommen und noch unter den »Anderen Psychosen« zusammen mit den »Schizophrenien« und den »Affektiven Psychosen« klassifiziert. Erst in der ICD-10 (Dilling et al. 1991), sind die autistischen Störungen als »Tiefgreifende Entwicklungsstörungen« mit den »Spezifischen Entwicklungsstörungen« zusammen als eigene Gruppe aufgeführt (Ousley & Cermak 2014).
Wie im Zitat von Kanner gezeigt wurde, nahm er eine angeborene Störung im affektiven Bereich als Ursache des frühkindlichen Autismus an. Sein Hinweis auf einen möglichen Einfluss des Umfeldes auf die Entwicklung des Kindes wurde von anderen Autoren dahin verändert, dass jetzt die alleinige Ursache der Störung in der gestörten Mutter-Kind-Interaktion gesehen wurde (Bettelheim 1967).
Seit den 1970er Jahren geht man wieder von biologischen Ursachen der Störung aus. Untersuchungen an Geschwistern, der Vergleich eineiiger und zweieiiger Zwillinge und molekulargenetische Untersuchungen in den letzten 30 Jahren sprechen für einen erheblichen Einfluss genetischer Faktoren auf die Ausbildung der Störung.
Seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts werden neuropsychologische Untersuchungen durchgeführt, um Funktionsstörungen zu beschreiben, die einerseits das auffällige Verhalten der Patienten erklären und andererseits spezifisch für den Autismus sind. Wesentliche Korrelate autistischen Verhaltens werden in Besonderheiten der Intelligenzstruktur, Störungen der Theory of Mind sowie einer schwachen zentralen Kohärenz gesehen (Poustka et al. 2004; Remschmidt 2008).
Neben dem frühkindlichen Autismus, den Kanner beschrieb, und der autistischen Psychopathie von Asperger, wurden zwei weitere Untergruppen zunächst dem Autismus zugerechnet, weil sie viele Gemeinsamkeiten im Verhalten zeigen: die »Heller’sche Demenz« und das »Rett-Syndrom«. Theodor Heller, ein Pädagoge aus Wien, beschrieb 1908 eine Gruppe von Kindern, die nach einer bis dahin unauffälligen Entwicklung plötzlich Fähigkeiten in der Sprache, aber auch in vielen anderen Bereichen verloren, ohne dass eine organische Ursache gefunden werden konnte. Nach der Regression zeigen die Kinder Verhaltensstörungen wie Kinder mit einem frühkindlichen Autismus. Das Syndrom wurde als »Desintegrative Störung des Kindesalters« unter den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen in ICD-10 und DSM-IV eingeordnet. In der ICD-11 bleibt die desintegrative Störung des Kindesalters eine Diagnose in der Gruppe der »Entwicklungsstörungen des Nervensystems«, im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen in der 5. Revision (DSM-5; Falkai & Wittchen 2015) wird diese Störung nicht mehr aufgeführt.
Im Jahr 1966 veröffentlichte der Wiener Sozialmediziner und Heilpädagoge Rett eine Beschreibung von 22 Mädchen, die sich zunächst unauffällig entwickelt hatten, dann aber durch Verlust der Sprache, autistische Verhaltensweisen, wringende Handbewegungen vor dem Körper, z. T. durch Hyperventilation, epileptische Anfälle und Gangstörungen auffielen. Das Syndrom wurde bekannter, nachdem eine schwedische Gruppe (Hagberg et al. 1983) das Störungsbild in englischer Sprache beschrieb. Inzwischen ist eine sporadische Genmutation auf dem X-Chromosom als Ursache nachgewiesen. In ICD-10 und DSM-IV bildet es eine Untergruppe der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen. In der ICD-11 wird es unter den Syndromen mit einer Störung der Intelligenzentwicklung als wesentliches klinisches Symptom eingeordnet. Im DSM-5 soll es unter den molekulargenetischen Störungen eingeordnet werden.
1979 führten Wing und Gould eine epidemiologische Untersuchung durch, in der sie Kinder erfassten, die ein auffälliges Sozialverhalten zeigten. Sie beschrieben eine Gruppe von Kindern, die nicht dem typischen frühkindlichen Autismus zugerechnet werden konnten, die aber klinisch so auffällig waren, dass eine psychiatrische Diagnose gerechtfertigt erschien. Sie sprachen von einem autistischen Spektrum. Dies führte in den Klassifikationen zu der Untergruppe des atypischen Autismus in der ICD-10 und zum »Pervasive Developmental Disorder Not Otherwise Specified« (PDDNOS) in der 4. Revision der amerikanischen Klassifikation der psychischen Störungen, DSM-IV (Saß et al. 1996).
In der neuesten Klassifikation der amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft, DSM-5 (Falkai & Wittchen 2014) von 2013, gibt es keine Unterteilung der Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) mehr. Die Störung wird unter die Entwicklungsstörungen des Nervensystems eingereiht. Ebenso wird es in der ICD-11 der WHO die Untergruppen frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom u. a. nicht mehr geben (Ousley & Cermak 2014).
Von Anfang an wurde die Therapie des frühkindlichen Autismus diskutiert. Die analytische, tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie, die aufgrund der Vorstellung einer Verursachung durch die Ablehnung des Kindes insbesondere durch die Mutter viel eingesetzt wurde, erwies sich schon früh als wenig Erfolg versprechend (Kanner & Eisenberg 1955; Rutter 1966).
Neben medikamentösen Behandlungen z. B. mit Haloperidol in geringer Dosierung, die systematisch untersucht wurden, wurden verhaltenstherapeutische Methoden seit dem Beginn der sechziger Jahre eingesetzt. Lovaas und Kollegen beschrieben 1973 Erfolge mit der Verhaltenstherapie bei 20 Kindern. In den Jahren ab 1980 wurden die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie in die Behandlung einbezogen und neue Therapien auch auf verhaltenstherapeutischer Basis wurden entwickelt, die diese Erkenntnisse berücksichtigen (Schreibman et al. 2015). Inzwischen wird die Verhaltenstherapie als ein entscheidender Bestandteil der Behandlung von Kindern mit ASS angesehen.
Zunehmend wurde versucht, die Probleme im sozialen Bereich therapeutisch anzugehen. Es wurden Einzel- und Gruppentrainings entwickelt, in denen es darum geht, die Wahrnehmung sozialer Situationen zu verbessern und angemessene Verhaltensweisen einzuüben. Die neuropsychologischen Befunde, insbesondere die Auffälligkeiten in der Entwicklung der Theory of Mind, führten zu Trainingsprogrammen, die darauf ausgerichtet sind, dass die Patienten Gefühlszustände anderer erschließen und dadurch angemessener im sozialen Bereich reagieren können. Diese Trainingsprogramme wurden für Patienten mit höheren kognitiven Fähigkeiten entwickelt.
»Treatment and Education of Autistic and Communication Handicapped Children« (TEACCH) ist ein Förder- und Behandlungsprogramm, das seit 1966 von Schoppler an der Universität von South Carolina entwickelt wurde und inzwischen weltweit eingesetzt wird. In diesem Programm geht es darum, die Situationen und Anweisungen so anzupassen, dass die Person mit einer Autismus-Spektrum-Störung möglichst selbstständig agieren kann. So werden z. B. viele visuelle Hilfen eingesetzt und die Aufgaben in kleine Schritte unterteilt, um eingeübt und zu größeren Einheiten zusammengefasst, selbstständig ausgeführt werden zu können.
In Deutschland beschäftigte sich die kinder- und jugendpsychiatrische Klinik an der Universität Marburg unter Prof. Stutte als erste mit Kindern mit frühkindlichem Autismus. Dort betreute Prof. Doris Weber Kinder mit autistischen Störungen aus vielen Teilen Deutschlands.
Mitte der 1960er Jahre begann ein Projekt der Kinderabteilung (Leiterin Dr. G. Bleek) des Max-Planck-Institutes für Psychiatrie in München (Leiter Prof. Ploog) zum Einsatz der Verhaltenstherapie bei Kindern mit frühkindlichem Autismus in Anlehnung an das Vorgehen von Lovaas. Federführend war Dr. Gottwald, der bei Lovaas gearbeitet hatte.
1970 wurde von E. Crummenerl in Lüdenscheidt die Elternvereinigung »Hilfe für das autistische Kind« (jetzt Autismus Deutschland e. V.) gegründet, die inzwischen 49 Regionalverbände hat. Durch den Ausbau von Autismusambulanzen in verschiedenen Regionalverbänden, spezielle Wohneinrichtungen und ihre politische Arbeit hat die Elternvereinigung die Situation der Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung in Deutschland deutlich verbessert (Eckert 2007). Auch für die Betreuung und Beschulung autistischer Kinder in Deutschland war der Einsatz der Elternvereinigung entscheidend. Mit dem in Bremen von Cordes begonnenen Schulversuch für autistische Kinder konnte gezeigt werden, dass die Kinder in kleinen Gruppen, mit zusätzlicher Einzelförderung und einer verhaltenstherapeutisch ausgerichteten Methodik erhebliche Fortschritte im Lernen machen können (Cordes 1980).
2008 wurde in Frankfurt die Wissenschaftliche Gesellschaft Autismus-Spektrum (WGAS) gegründet mit dem Ziel, die Forschung in diesem Bereich zu fördern.
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Die Klassifikation psychischer Störungen erfolgt nach zwei Systemen. Die »Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD)« wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben und umfasst alle medizinischen Fachbereiche. Die psychischen und Verhaltensstörungen werden im Kapitel V unter F00–F99 zusammengefasst (Dilling et al. 1999). Einflüsse und Vorstellungen aus der ganzen Welt mit ihren unterschiedlichen Kulturen müssen berücksichtigt werden. Die jeweils aktuelle ICD, zurzeit die ICD-10, ist in der ganzen Welt die offizielle Klassifikation für alle krankheitsbezogenen Dokumentationen.
Das »Diagnostische und Statistische Manual psychischer Störungen (DSM)«, herausgegeben von der amerikanischen Gesellschaft für Psychiatrie (APA), beinhaltet nur psychische Störungen. DSM spiegelt wesentlich die amerikanische Sichtweise und die englischsprachige Forschungsliteratur wider (Falkai & Wittchen 2015). Auch in den USA ist die ICD die offizielle Klassifikation. Das DSM wird in vielen Ländern für die Forschung verwendet. Damit werden Studien besser vergleichbar. Zudem werden in amerikanischen wissenschaftlichen Zeitschriften im psychiatrischen Bereich nur Arbeiten angenommen, die DSM-Diagnosen verwenden.
Bei jeder Revision der Klassifikationen gibt es eine Arbeitsgruppe, die die Aufgabe hat, unnötige Unterschiede zwischen den Klassifikationen zu vermeiden. Es bestehen aber unterschiedliche Prinzipien zwischen WHO und APA bezüglich der »Beeinträchtigung (Impairment)«, die im DSM-5 gefordert, in der ICD aber unabhängig von der Diagnose kodiert wird. Auch der Umgang mit Komorbidität ist unterschiedlich. Zusätzlich ist Rutter (2011b) der Meinung, dass eine zu große Angleichung der beiden Klassifikationen aus finanziellen Gründen nicht erwünscht sei. Während die WHO die Klassifikationen unentgeltlich zur Verfügung stellt, verdient die APA damit sehr viel Geld.
Ergänzend zur ICD hat die WHO die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen herausgegeben (Hollenweger & Kraus de Camargo 2011). Sie dient zur Kodierung der Funktionsfähigkeit und Behinderung bei Problemen, die mit der Gesundheit zusammenhängen.
Die 10. Revision der ICD (ICD-10) ist erstmals 1991 (Dilling et al. 1991) erschienen. Sie enthält neben dem Manual für den klinischen Gebrauch ein Manual mit Forschungskriterien. Diese Forschungskriterien sind enger gefasst als die Klinikkriterien, beschreiben die Symptome genauer und legen die Anzahl der Symptome fest, die erfüllt werden müssen, um die Diagnose stellen zu können. Eine Einteilung in Achsen gibt es nicht (Dilling et al. 1999).
In der ICD-10 werden die Störungen des autistischen Spektrums (ASS) unter dem Begriff »Tiefgreifende Entwicklungsstörungen (F84)« bzw. »Pervasive Developmental Disorders« in die Gruppe der Entwicklungsstörungen im Kapitel F8 eingeordnet, zusammen mit den umschriebenen Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache, den umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten und der umschriebenen Entwicklungsstörung motorischer Funktionen. Die ICD-10 beschreibt die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen folgendermaßen:
»Diese Gruppe von Störungen ist durch qualitative Beeinträchtigungen in gegenseitigen sozialen Interaktionen und Kommunikationsmustern sowie durch ein eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten charakterisiert. Diese qualitativen Abweichungen sind in allen Situationen ein grundlegendes Funktionsmerkmal der betroffenen Person, variieren jedoch im Ausprägungsgrad« (Remschmidt et al. 2006, S. 21).
Wie aus der Definition zu ersehen ist, wird die Diagnose aufgrund des auffälligen Verhaltens gestellt. Bisher gibt es keine anderen Kriterien.
Für die Kinder- und Jugendpsychiatrie wurde ein Multiaxiales Klassifikationssystem (MAS) von Remschmidt und Kollegen (2012, 6. Aufl.) auf der Grundlage der ICD-10 herausgegeben. Im MAS erfolgt eine Aufteilung in sechs Achsen:
• Achse I: Klinisch-psychiatrisches Syndrom
• Achse II: Umschriebene Entwicklungsstörungen
• Achse III: Intelligenzniveau
• Achse IV: Körperliche Symptomatik
• Achse V: Assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände
• Achse VI: Globalbeurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus
Im multiaxialen Klassifikationsschema (MAS) werden die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen auf der Achse I kodiert. Die Intelligenz wird auf der Achse 3 kodiert, während eine Kodierung der Sprachentwicklungsstörung auf der Achse 2 nicht erlaubt ist. Der Umgang mit komorbiden Störungen wie einer gleichzeitigen Störung von Aktivität und Aufmerksamkeit oder einer Depression ist nicht klar geregelt. In der ICD-10 sind sie grundsätzlich möglich, sind aber nicht erwünscht und werden bei anderen Störungen, z. B. der hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens, durch eine kombinierte Diagnose ersetzt. Für die ASS gibt es solche Kombinationen nicht. Da es aber sehr wichtig ist, die komorbiden Störungen zu dokumentieren, da sie z. B. zu einer medikamentösen Behandlung führen können, muss man zu Haupt- und Nebendiagnosen greifen (Remschmidt & Kamp-Becker 2006).
Für die Diagnose müssen Auffälligkeiten in drei Bereichen (Tab. 2.1) vorliegen, dabei kann das Ausmaß der Störungen von Untergruppe zu Untergruppe verschieden ausgeprägt sein. Neben den Verhaltensauffälligkeiten ist eine Voraussetzung für die Diagnose einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung der Beginn in der Kindheit.
Tab. 2.1: ICD-10-Kriterien für die Autismus- Spektrum-Störungen
Die Einteilung der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen in Untergruppen in der ICD-10 ist in Tabelle 2.2 dargestellt.
Tab. 2.2: Unterteilung der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen in der ICD-10
Die Forschungskriterien der ICD-10 legen fest, wie viele Symptome aus jedem der drei vorher beschriebenen Bereiche vorhanden sein müssen, um die Diagnose stellen zu können. Die Klinikkriterien der ICD-10 und MAS geben eine Beschreibung der Symptome, legen aber die Anzahl der Symptome nicht fest.
Für die Diagnose der Untergruppe frühkindlicherAutismus bedeutet dies, dass ein charakteristisches Muster von Verhaltensauffälligkeiten in der sozialen Interaktion und in der Kommunikation vorhanden sein muss. Zusätzlich müssen stereotype Verhaltensmuster, eingeschränkte, sich wiederholende Interessen und Aktivitäten und Auffälligkeiten im Spiel bestehen. Entscheidend ist, dass sich die veränderte Entwicklung vor dem dritten Lebensjahr manifestiert. Die Bezeichnung »frühkindlich« bezieht sich auf diesen frühen Beginn. Die Diagnose »frühkindlicher Autismus« wird auch bei Erwachsenen gestellt, wenn sie die aufgeführten Kriterien erfüllen. Eine eindeutige Störung der Sprachentwicklung wird nicht gefordert, sondern eine Störung in der Kommunikation. Die Forschungskriterien der ICD-10 für den frühkindlichen Autismus sind in Übersicht 2.1 zusammengefasst.
Übersicht 2.1: Forschungskriterien für den frühkindlichen Autismus (F84.0) (nach Remschmidt et al. 2006)
Neben den für die Diagnose entscheidenden Kernsymptomen bestehen bei den Patienten zusätzlich oft vielfältige Störungen wie Ess- und Schlafstörungen, Hypo- und Hypersensibilität in sensiblen Bereichen, Wutausbrüche, Aggressionen, Selbstverletzungen und Ängste.
Das Asperger-Syndrom ist wie der frühkindliche Autismus durch qualitative Veränderungen in der gegenseitigen sozialen Interaktion und durch eingeschränkte, stereotype, repetitive Verhaltensmuster, Ideen und Aktionen gekennzeichnet. Im Unterschied zum frühkindlichen Autismus wird gefordert, dass die kognitive Entwicklung altersgemäß ist und die frühe Sprachentwicklung altersgemäß war, d. h. dass das Kind mit zwei Jahren einzelne Worte und mit drei Jahren kommunikative Sätze gesprochen hat. Weiter sollen die Neugierde und die lebenspraktischen Fähigkeiten in den ersten drei Lebensjahren einer normalen kognitiven Entwicklung entsprochen haben. Die Meilensteine der motorischen Entwicklung können verzögert gewesen sein. Die Forschungskriterien der ICD-10 für das Asperger-Syndrom (F84.5) sind in Übersicht 2.2 zusammengefasst.
Übersicht 2.2: Die Forschungskriterien für das Asperger-Syndrom (F84.5) (nach Remschmidt et al. 2006)
Die Kriterien von ICD-10 und DSM-IV entsprechen nicht den ursprünglichen Beschreibungen von Hans Asperger für die, wie er es nannte, »Autistische Psychopathie«. Daher haben einige Autoren für das Syndrom stärker an der Originalarbeit orientierte Kriterien erarbeitet (Mattila et al. 2007; Gillberg & Gillberg 1989; Szatmari et al. 1989). Dies hat dazu geführt, dass unterschiedliche Definitionen für das Asperger-Syndrom aufgestellt wurden, die den Vergleich von Studien zum Asperger-Syndrom erschwert.
Die Diagnose atypischerAutismus nach ICD-10 wird gestellt, wenn nicht alle Kriterien für den frühkindlichen Autismus erfüllt sind. Insbesondere geht es um den Beginn der Störung, der nicht vor dem dritten Lebensjahr liegt, oder Störungen in der Interaktion und Kommunikation zwar vorhanden sind, aber nicht in allen Bereichen die für den frühkindlichen Autismus erforderliche Anzahl von Symptomen erreicht wird. Die diagnostische Zuordnung ist oft nicht sicher zu treffen (Mahoney et al. 1998).
Beim Rett-Syndrom, das fast ausschließlich bei Mädchen auftritt, handelt es sich um eine inzwischen bei 80% der Erkrankten nachweisbare genetische Störung auf dem X-Chromosom. Es kommt zu einem Stillstand der bis dahin normalen Entwicklung zwischen dem 7. und 24. Lebensmonat und danach zu zunehmendem Verlust des Handgebrauchs, der Sprache und der Lokomotion. Die Kinder zeichnen sich durch charakteristische wringende Handbewegungen und eine Hyperventilation aus.
Die anderen desintegrativen Störungen desKindesalters sind gekennzeichnet durch eine Phase einer eindeutig normalen Entwicklung bis zum dritten Lebensjahr, gefolgt von einem Abbau der erworbenen Fähigkeiten in der Sprache, im Spiel, im sozialen Kontakt und in lebenspraktischen Fertigkeiten innerhalb weniger Monate. Das klinische Bild ähnelt später dem des frühkindlichen Autismus in Kombination mit einer schweren geistigen Behinderung.
Die überaktive Störung mit Intelligenzminderung undBewegungsstereotypien wird bereits in der ICD-10 als eine schlecht definierte Störung mit fraglicher Validität beschrieben. Es handelt sich um Patienten mit einer schweren Intelligenzminderung (IQ<35), einer ausgeprägten Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen.
Die Diagnose einer sonstigen oder nicht näher bezeichneten tiefgreifenden Entwicklungsstörung sollte möglichst wenig gestellt werden, sie wird aber zunehmend in Anlehnung an die DSM-IV-Klassifikation »Pervasive Developmental Disorders Not Otherwise Specified« (PDD-NOS) synonym mit dem atypischen Autismus verwandt. PDD-NOS ist inzwischen zu einer häufigen Diagnose geworden und trägt wesentlich dazu bei, dass die Prävalenzzahlen für die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen deutlich gestiegen sind.
ICD-11, die Weiterentwicklung der Klassifikation der WHO, ist in Vorbereitung und deren Veröffentlichung wird für 2017 erwartet. Entwürfe zur Bearbeitung sind auf der Webseite der WHO veröffentlicht und werden laufend bearbeitet (http://apps.who.int/classifications/icd11/browse/, Zugriff am 13.01.2017).
In der vorläufigen Form der ICD-11 ist die Störung des autistischen Spektrums wie im DSM-5 unter den Entwicklungsstörungen des Nervensystems eingeordnet zusammen mit Störungen der Intelligenzentwicklung, Sprachentwicklungsstörungen, Desintegrative Störung des Kindesalters, Entwicklungsstörungen des Lernens, Entwicklungsstörungen der motorischen Koordination, chronischen Tic-Störungen, Aufmerksamkeitsstörungen und Stereotypen Bewegungsstörungen.
Die Störungen des autistischen Spektrums werden folgendermaßen definiert:
»Die Störungen des autistischen Spektrums sind charakterisiert durch anhaltende Defizite in der gegenseitigen sozialen Interaktion und sozialen Kommunikation und durch eine Reihe von eingeschränkten, repetitiven inflexiblen Verhaltensmustern und Interessen sowie sensorischen Besonderheiten, die sich in der Intensität, der Frequenz und dem Fokus im Verlauf der Entwicklung verändern können. Diese Defizite sind gewöhnlich ein tiefgreifendes Merkmal der Funktionsfähigkeit des Individuums in allen Situationen, obgleich sie sich in der Ausprägung in Abhängigkeit vom sozialen, erzieherischen und anderen Kontexten verändern können. In vielen Fällen ist die Entwicklung bereits im Kleinkindalter auffällig, auch wenn dies erst im Rückblick deutlich wird. Die Symptome werden in der frühen Kindheit deutlich, manifestieren sich aber bei manchen Personen erst, wenn die sozialen Anforderungen ihre Möglichkeiten überschreiten« (eigene Übersetzung).
Eingeschlossen sind das Kanner-Syndrom, die autistische Störung, der infantile Autismus, die infantile Psychose, das Asperger-Syndrom und die tiefgreifende Entwicklungsverzögerung.
Ausgeschlossen ist die autistische Psychopathie.
In der ICD-11 wird die bisherige Untergruppe »Desintegrative Störung des Kindesalters« als eigene Kategorie der Entwicklungsstörungen des Nervensystems eingeordnet. Das Rett-Syndrom wird zusammen mit anderen genetischen Störungen zu den »Developmental anomalies« zusammengefasst.
Bei den Autismus-Spektrum-Störungen (Tab. 2.3) gibt es nur noch die Untergruppen mit oder ohne intellektuelle oder sprachliche Beeinträchtigung oder mit beiden Beeinträchtigungen. Die vorläufige Fassung legt die Kriterien nicht weiter fest, zählt aber die Codes der Internationalen Klassifikation der Funktionen ICF-CY, die die Auswirkungen der Störung beschreiben, auf.
Tab. 2.3: Untergruppen der Autismus-Spektrum-Störungen in ICD-11
Die aktuelle 5. Revision der amerikanischen Klassifikation »Das Diagnostische und Statistische Manual psychischer Störungen (DSM)« ist 2013 erschienen (American Psychiatric Association). Im DSM-5 werden die Störungen des autistischen Spektrums unter die Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung (neurodevelopmental disorders) eingeordnet zusammen mit Intelligenzminderungen, Sprachstörungen, Stottern, Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätssyndrom, spezifischen Lernstörungen wie Legasthenie und Akalkulie, und motorischen Störungen.
Im DSM-5 werden die Störungen des autistischen Spektrums folgendermaßen definiert:
»Hauptmerkmale der Autismus-Spektrum-Störung sind dauerhafte Beeinträchtigungen der wechselseitigen sozialen Kommunikation und der sozialen Interaktion (Kriterium A) sowie restriktive, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten (Kriterium B). Diese Symptome sind seit der Kindheit vorhanden und beschränken oder beeinträchtigen das alltägliche Funktionsniveau (Kriterium C und D). Das Stadium, in dem die Funktionsbeeinträchtigung offensichtlich wird, variiert mit den Merkmalen des Betroffenen und der Umgebung« (Falkai & Wittchen 2015, S. 68).
Für die Einordnung in die Gruppe der Störungen des autistischen Spektrums müssen im Gegensatz zum DSM-IV nur noch zwei Kriterien erfüllt sein (Tab. 2.4), eine Störung in der »wechselseitigen sozialen Kommunikation und der sozialen Interaktion (Social communication impairment)« und eine Störung aus dem Bereich »restriktive, repetitive Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten (Restricted and repetitive behaviors)«. In dem neuen Kriterium »Störungen in der sozialen Kommunikation« sind die beiden Kriterien aus DSM-IV »Störung der sozialen Interaktion« und »Störung der Kommunikation« zusammengefasst. Das Kriterium »eingeschränkte und repetitive Verhaltensweisen« wurde im Vergleich zu DSM-IV um die Auffälligkeiten im sensorischen Bereich erweitert. Diese Hypo- und Hypersensibilität wird bei vielen Kindern mit einer Störung aus dem autistischen Spektrum beschrieben, erschien aber bisher nicht unter den diagnostischen Kriterien. Der stereotype Gebrauch der Sprache wird ebenso hier eingeordnet (Freitag 2014).
Zusätzlich wird gefordert, dass Symptome bereits in der frühen Entwicklung auftreten und dass die Symptome zu klinisch relevanten Beeinträchtigungen im sozialen und beruflichen Bereich oder in anderen Funktionsbereichen führen. Weiterhin wird gefordert, dass die Störungen nicht durch eine intellektuelle Einschränkung oder einen globalen Entwicklungsrückstand besser erklärt werden können.
Tab. 2.4: DSM-5-Kriterien für die Störungen des autistischen Spektrums
Im DSM-5 ist die bisherige kategoriale Unterteilung wie sie im DSM-IV und in der ICD-10 angewandt wurde, aufgegeben worden. Es gibt nur eine Störung des autistischen Spektrums mit drei Ausprägungsgraden und fünf Zusatzkodierungen (specifiers). Die drei Ausprägungsgrade werden aufgrund der Unterstützung festgelegt, die eine Person bezüglich ihrer Beeinträchtigung der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion bzw. der eingeschränkten, repetitiven Verhaltensweisen braucht:
1. Braucht Unterstützung (Requiring support)
2. Braucht substanzielle Unterstützung (Requiring substantial support)
3. Braucht sehr substanzielle Unterstützung (Requiring very substantial support)
In der Klassifikation werden die Schweregrade detaillierter beschrieben. Die beiden Kriterienbereiche, A und B, sollen bezüglich der notwendigen Unterstützung unabhängig voneinander beurteilt werden.
Im Vergleich zum DSM-5 wird der Schweregrad in der ICD nicht berücksichtigt. Er wird entweder im Multiaxialen System auf der 5. Achse kodiert oder mit den ICF-Kategorien abgebildet. Nach Sartorius (2009) und Rutter (2011b) sollten Schweregrad und diagnostische Zuordnung nicht vermischt werden. Die Beeinträchtigung sei mit der Person, nicht mit der Diagnose verbunden. Problematisch ist nach Weitlauf und Kollegen (2013) die Konzeption des Schweregrades bzw. das Konzept »notwendige Unterstützung« (Freitag 2014).
Die Zusatzkodierungen beziehen sich auf begleitende intellektuelle und sprachliche Beeinträchtigungen, bekannte körperliche Erkrankungen, genetische Störungen und Umweltbedingungen. Außerdem werden hier weitere Entwicklungsstörungen und Verhaltensstörungen erfasst. Die Zusatzkodierungen sind in Tabelle 2.5 zusammengefasst.
Neu eingeführt wurde im DSM-5 eine Kategorie »Soziale (pragmatische) Kommunikationsstörung«. Sie ist unter den Sprachstörungen eingeordnet und soll angewendet werden, wenn wie bei der Autismus-Spektrum-Störung ein soziales Kommunikationsdefizit diagnostiziert wird, aber im gesamten Leben des Betroffenen keine eingeschränkten repetitiven Muster des Verhaltens, der Interessen oder Aktivitäten vorhanden waren (Gibson et al. 2013).
Tab. 2.5: Zusätze (Specifiers) zur Störung des autistischen Spektrums im DSM-5
Mit der Änderung der Klassifikation der Störungen des autistischen Spektrums vom DSM-IV zum DSM-5 stellt sich die Frage, ob die gleichen Personen sowohl im DSM-IV als auch im DSM-5 eine Diagnose aus dem autistischen Spektrum erhalten (Hazen et al. 2013). Da in vielen Ländern das Recht auf Hilfe und Behandlung von der Diagnose abhängt, muss diese Frage untersucht werden. Ebenso wichtig ist dieser Vergleich, wenn Forschungsergebnisse verglichen oder Langzeitstudien ausgewertet werden sollen.
In einer Untersuchung von Smith und Kollegen (2015) erhielten 50–75% der Personen, die eine DSM-IV-Diagnose aus dem autistischen Spektrum hatten, auch eine Diagnose nach DSM-5. Insbesondere Gruppen mit einem IQ über 70 und mit der DSM-IV-Diagnose »Asperger-Syndrom« oder »PDD-NOS« erhielten nach DSM-5 keine Diagnose mehr. In einer Studie von Huerta und Kollegen (2012) erhielten zwischen 65 und 91% der Probanden mit einer DSM-IV-Diagnose auch eine Diagnose nach DSM-5, wieder waren Patienten mit einem »Asperger-Syndrom« oder einer »PDD-NOS«-Diagnose am stärksten von den Änderungen betroffen. Im DSM-5 ist festgelegt, dass Personen, die nach DSM-IV eine Diagnose aus dem autistischen Spektrum erhalten hatten, diese Diagnose auch weiter behalten sollen (Falkai & Wittchen 2015, S. 65).
Im Vergleich zur 4. Revision (DSM-IV und DSM-IVR), die wie die ICD-10 eine kategoriale Klassifikation war, ist die neue Version (DSM-5) wie auch die kommende ICD-11 im Bereich der autistischen Störungen eine dimensionale Klassifikation.
Die deutsche Fassung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO erschien 2005. Sie kann bei DIMDI online angesehen oder kostenlos heruntergeladen werden (https://www.dimdi.de/static/de/klassi/icf/index.htm, Zugriff am 13.01.2017). Sie gilt für Erwachsene. Die Version für Kinder und Jugendliche, ICF-CY, erschien 2011 in der deutschen Fassung im Huberverlag (Hollenweger & Kraus de Carmago 2011). Bisher gibt es keine Onlineversion der ICF-CY in deutscher Sprache.
Die ICF dient der standardisierten, systematischen Beschreibung der Funktionsfähigkeit von Personen mit gesundheitsbezogenen Problemen. Ziel ist es, Kategorien für die Beschreibung der Probleme in einer die Disziplinen übergreifenden Sprache anzubieten. Sie liefert wissenschaftliche und praktische Hilfe für die Beschreibung und das Verständnis, die Feststellung und Begutachtung von Zuständen der Funktionsfähigkeit und ermöglicht Datenvergleiche zwischen Ländern, Disziplinen im Gesundheitswesen, Gesundheitsdiensten sowie im Zeitverlauf.
Der ICF liegt ein biopsychosoziales Modell der Funktionsfähigkeit zugrunde. Dieses Modell integriert das medizinische und das soziale Modell der Behinderung. Im medizinischen Modell wird die Behinderung als Problem der Person und als eine direkte Folge des Gesundheitsproblems gesehen. Die Intervention setzt bei der Person an. Im sozialen Modell dagegen ist die Behinderung Folge eines komplexen Zusammenspiels von Bedingungen, die stark von der Umwelt bestimmt werden und durch die volle Integration beseitigt werden können. Nach dem biopsychosozialen Modell resultiert die Funktionsfähigkeit aus der Interaktion der Gesundheitsprobleme mit den Körperfunktionen, den Körperstrukturen, der Aktivität und Partizipation sowie den Umgebungs- und den personenbezogenen Faktoren. Die Beziehung zwischen den einzelnen Komponenten ist dynamisch, nicht kausal, und geht in beide Richtungen. Das interaktive Modell ist in Abbildung 2.1 dargestellt.
Abb. 2.1: Interaktives Modell der ICF (nach Hollenweger & Kraus de Carmago 2011, S. 45)
Der hierarchische Aufbau der ICF ist in Abbildung 2.2 dargestellt. Funktionsfähigkeit und Behinderung bzw. Kontextfaktoren bilden die zwei Teile, die weiter in vier Komponenten unterteilt werden: die Körperfunktionen (b), die mentale Funktionen einschließen, die Körperstrukturen (s), Aktivität und Partizipation (d) und die Umweltfaktoren (e). Jede Komponente ist in Kapitel unterteilt mit vier jeweils genaueren Beschreibungskategorien. Tabelle 2.6 zeigt ein Beispiel.
Tab. 2.6: Beispiel der hierarchischen Gliederung der Kategorien
Abb. 2.2: Der Aufbau der ICF (nach Hollenweger & Kraus de Carmago 2011, S. 278)
Zusätzlich wird eine Schweregradeinteilung verlangt, die für viele Kategorien bisher nicht reliabel beurteilt werden kann.
Im Mittelpunkt der ICF steht die Beurteilung der Aktivität und Partizipation, d. h. die Frage, wie eine Person Aktivitäten ausführen kann und wie sie am Leben der Gemeinschaft teilhaben kann. Dafür sind die Umweltfaktoren wichtig, die einerseits unterstützend sein können, aber auch ein Hindernis darstellen. Diese Faktoren sind für die Interventionen im Einzelfall von großer Bedeutung. Studien haben gezeigt, dass die Interventionsplanung und die Dokumentation des Verlaufs mit der ICF erfolgreich ist (Ibramigowa et al. 2009).
Die ICF hat über 1.400 Kategorien und ist damit im klinischen Alltag mühsam anzuwenden. Es gibt verschiedene Versuche, diese Zahl zu reduzieren, durch Kategorien für bestimmte Altersgruppen, Codesets, (http://bvkm.de/icf-checklisten/, Zugriff am 03.03.2017; http://www.fruehfoerderung-viff.de/neue-seite-3/neue-seite-5/neue-seite/, Zugriff am 13.01.2017), durch Kurzlisten und durch sogenannte Coresets.
Die Reduzierung der Items durch altersangepasste Codesets wird gerechtfertigt durch Untersuchungen an Gruppen von Vorschulkindern mit unterschiedlichen Behinderungen, u. a. eine Gruppe mit der Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung und einer sich unauffällig entwickelnden Vergleichsgruppe. Eine Clusteranalyse zeigte, dass die Gruppierung aufgrund des Funktionsprofils und nicht aufgrund der Diagnose erfolgte (Castro & Pinto 2015).
Im Bereich der Rehabilitation wird häufig mit Kurzlisten gearbeitet. In der vorläufigen ICD-11 wird versucht, die ICD und ICF gemeinsam anzuwenden. Dafür werden aufgrund von vorhandenen Coresets oder Expertenmeinungen den Diagnosen Funktionseigenschaften (Functional properties, FP) zugeordnet.
Coresets sind Listen von Items, die für bestimmte Diagnosen zusammengestellt wurden. Die Erstellung dieser Coresets erfolgt nach Regeln, die von der WHO erarbeitet wurden (Selb et al. 2015).
Für die Diagnose »Autismus-Spektrum-Störungen« können die altersbezogenen Codesets für Kinder und Jugendliche bis zum Alter von 18 Jahren eingesetzt werden. Ebenso lassen sich die Funktionseigenschaften (FP) der ICD-11 heranziehen (http://apps.who.int/classifications/icd11/browse/f/en#/http://id.who.int/icd/entity/437815624, Zugriff am 13.01.17). Ein Auszug ist in Tabelle 2.7 dargestellt.
Tab. 2.7: Auszug aus den Funktionseigenschaften für die Störungen des autistischen Spektrums der ICD-11
Ein Coreset für die Autismus-Spektrum-Störungen wird von einer Arbeitsgruppe erstellt, in Kooperation mit der ICF-Forschungsgruppe der WHO, DIMDI, International Society for Autism Research (INSAR) und dem Center of Neurodevelopmental Disorders at the Karolinska Institutet (KIND) in Schweden. Vertreter aus allen in der WHO vertretenen Weltregionen sind beteiligt (Bölte et al. 2013; de Schipper et al. 2015).
Castro und Pinto (2013) konnten zeigen, dass Experten Kategorien aus allen ICF-Komponenten für die Interventionsplanung für Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung wichtig fanden. Gan und Kollegen (2013) entwickelten einen ICF-basierten Fragebogen für Vorschulkinder mit einer Störung aus dem autistischen Spektrum. Die Ergebnisse zeigten eine ausreichende Reliabilität und spiegelten die wesentlichen Probleme der Kinder wider.
Klassifikationen, ICD-10 und DSM-5, sind heuristisch, d. h. es handelt sich um ein analytisches Vorgehen, bei dem mit begrenztem Wissen über ein System mithilfe von mutmaßenden Folgerungen Aussagen über das System getroffen werden. Das Ziel der Klassifikation ist ein klinisch brauchbares System, das valide ist. Die Reliabilität, mit der die Kategorien einer betroffenen Person zugeordnet werden können, ist wichtig, wird aber nach Hyman oft überbewertet (Hyman 2010, Rapin 2014).
Klassifikationen dienen sehr unterschiedlichen Zwecken. In der Klinik geht es einerseits um die Verständigung zwischen den beteiligten Professionen, aber auch um Behandlungsindikationen, prognostische Aussagen und den Verlauf. Für Personen mit der gleichen Diagnose sollten diese ähnlich sein. In der Versorgung der Patienten ist es wichtig, dass jeder Patient diagnostisch erfasst werden kann. Häufig ist eine bestimmte Diagnose Voraussetzung für den Zugang zu Hilfen. Die Zuordnung zu einer Diagnose ist eine kategoriale Entscheidung. Der Patient hat die Störung oder er hat sie nicht.
In der Forschung geht es darum, die zugrundeliegenden Krankheitsprozesse, Ursachen und effiziente Behandlungen zu untersuchen. Dafür müssen möglichst homogene Untergruppen definiert werden, die reliabel diagnostiziert werden können (King et al. 2014).
Die von Kraepelin zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte Klassifikation der psychiatrischen Störungen war kategorial und beruhte auf der Beobachtung der Symptome gleichzeitig mit dem Verlauf. Kraepelin ging davon aus, dass es sich um natürliche Klassen handelt, denen jeweils gemeinsame Ursachen zugrunde liegen.
Diese kategoriale Klassifikation der psychischen Störungen wurde weiterentwickelt und in den Grundannahmen in der ICD fortgeführt. Auch in der ICD werden gegenwärtige Symptomatik und der Verlauf bei der Diagnosestellung berücksichtigt. Die Klassifikation psychischer Störungen der amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft hatte von Anfang an das Ziel, die Diagnostik zu operationalisieren und sich ganz auf die Symptomatik zu konzentrieren.
Die Kategorien wurden immer genauer beschrieben und im DSM-IV und in der ICD-10 durch Bildung von Untergruppen erheblich vermehrt. Ziel war es, homogenere Untergruppen zu bilden, für die genetische Ursachen und/oder pathophysiologische Erklärungen gefunden werden sollten. Gleichzeitig wurde der erweiterte Phänotyp der autistischen Störungen, die »tiefgreifende Entwicklungsstörung nicht näher bezeichnet (Pervasive Developmental Disorder not otherwise specified, PDD-NOS)« eingeführt.
Um eine reliablere Diagnosestellung zu ermöglichen, wurden Untersuchungsinstrumente für die Autismus-Spektrum-Störungen – wie DISC, ADI-R, ADOS und CARS – und Algorithmen für die Stellung der Diagnosen entwickelt. Die Items wurden u. a. danach ausgesucht, ob sie die Übereinstimmung mit der klinischen Diagnose erhöhen.
An dem kategorialen Klassifikationssystem für die psychischen Störungen wurde seit Langem Kritik geübt.
Die bisherigen Klassifikationen im Bereich der Störungen des autistischen Spektrums beruhen alle auf Verhaltensbeschreibungen. Zuverlässige biologische Marker gibt es bisher nicht (Rapin 2014). Die Rolle biologischer Marker wird sehr unterschiedlich gesehen. Lord und Jones (2012) sehen biologische Marker sehr kritisch, da eine einfache Zuordnung genetischer Befunde zu Störungen des autistischen Spektrums nicht möglich ist. Die Verbindungen zwischen Veränderungen der Gene und dem Verhalten sind sehr komplex und gehen über den Einfluss der Gene auf die Entwicklung und Struktur der Synapsen, des fronto-temporalen Netzwerkes und der langen Verbindungen im Hirn (Ameis & Szatmari 2012; Cristino et al. 2014; Anderson et al. 2011; Anderson & Stahl 2013; Anderson 2015). Studien, in denen Veränderungen der Verbindungen zwischen einzelnen Netzwerken untersucht wurden, kommen zu dem Schluss, dass die Veränderungen bei Probanden mit einer Autismus-Spektrum-Störung deutlich häufiger sind als in der Kontrollgruppe, dass aber die Spezifität und Sensitivität bisher nicht ausreichen, sie als biologische Marker einzusetzen (Plitt et al. 2015; Uddin et al. 2013; Nielsen et al. 2013; Anderson et al. 2011).
Insbesondere das DSM-IV und die ICD-10 mit ihren deutlich engeren Definitionen der einzelnen Untergruppen haben zu einer erheblichen Anhebung der Zahl der weniger spezifischen Diagnose »PDD-NOS« geführt, die in manchen Studien mehr als die Hälfte der Diagnosen bei Autismus-Spektrum-Störungen ausmacht (Hyman 2010; Rutter 2011a; Freitag 2014).
Die Anzahl komorbider Störungen ist sehr hoch, d. h. die aufgrund des Verhaltens gebildeten Kategorien überlappen sich deutlich stärker als in der kategorialen Klassifikation angenommen (Rutter 2011a).
In einer multizentrischen Studie von Lord und Kollegen (2012), wurden mehr als 2.000 Kinder im Alter von drei bis 18 Jahren mit dem »Autism Diagnostic Interview Revised« (ADI-R) und dem »Autism Diagnostic Observation Schedule-Generic« (ADOS-G) untersucht. In der Diagnostik der Autismus-Störungen erfahrene Untersucher stellten mit allen Informationen inklusive ADI-R und ADOS-G eine klinische Diagnose. Die Zuordnung zu den Untergruppen der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen des DSM-IV war stark von dem Ort abhängig, an dem die Kinder diagnostiziert wurden, und deutlich weniger von den Ergebnissen im ADI-R und ADOS-G. Die beschriebenen Probleme in der reliablen Zuordnung der Probanden zu einer der Untergruppen in ICD-10 und DSM-IV war u. a. ein wesentlicher Grund für die Veränderungen im DSM-5 und der ICD-11.
Bereits Wing und Gould (1979) hielten eine dimensionale Beschreibung der sozialen Interaktionsstörungen für wichtig. 2006 plädierten Happè und Kollegen dafür, dass die drei Kernbereiche des autistischen Spektrums – soziale Interaktionsstörung, Kommunikationsstörung und repetitive und restriktive Interessen und Aktivitäten – nicht als Einheit erklärt werden können. Zwillingsstudien, Familienuntersuchungen und genetische Untersuchungen werden angeführt, die deutlich machen, dass die drei Kernbereiche nur gering miteinander korreliert sind. Ebenso weisen bildgebende Verfahren auf die unterschiedlichen Hirnregionen hin, die bei den entsprechenden Aufgaben aktiviert werden. Sie seien in der Gesamtbevölkerung normal verteilt. Bei 10% der Kinder in der allgemeinen Bevölkerung sei nur einer dieser Bereiche in dem Ausmaß wie bei einem Kind mit einer Autismus-Spektrum-Störung betroffen.
Anderson schreibt:
»In contrast to these categorical models, the Dimensional Perspective does not assume that an underlying unity or latent entity is present. Instead, this model proposes that multiple relevant traits and atypicalities can occur and combine in a multitude of ways in individuals that meet criteria for autism (and in their relatives and the general population)« (2015, S. 1105).
Die Probleme mit der dimensionalen Klassifikation sind die Auswahl der Dimensionen und deren Erfassung. Happé und Kollegen (2006) gingen von drei Dimensionen aus – den Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion, den Kommunikationsstörungen und den repetitiven, restriktiven Interessen und Aktivitäten. Lord (Lord & Bishop 2015) fasst die Bereiche Störung der sozialen Interaktion und Kommunikationsstörungen zu einem Faktor soziale Kommunikationsstörungen zusammen. Andererseits spricht sie von drei Subdomänen der repetitiven, restriktiven Interessen und Aktionen: 1. repetitives Verhalten, 2. Rituale und Bestehen auf Gleichheit und 3. eingeschränkte Interessen. Nach Mooney und Kollegen (2009) beinhaltet der dritte Bereich zwei Faktoren, die repetitiven sensorischen und motorischen Aktivitäten und das Beharren auf Gleichheit.
Ebenso ist die Messung nicht einheitlich. Häufig werden ADI-R und ADOS-G zur Beurteilung der Dimensionen herangezogen. Beide Instrumente enthalten Items zu den drei Dimensionen. Die Ausprägung wird aufgrund der Anzahl der Symptome bei dem Betroffenen festgestellt. Die Items in beiden Instrumenten wurden aber nicht ausgewählt, um die entsprechende Dimension möglichst umfassend zu beschreiben, sondern um die Spezifität des Instrumentes für die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung zu erhöhen. Auch die Übereinstimmung zwischen den beiden Instrumenten ist nicht sehr hoch (Lord & Jones 2012). Andere Messverfahren wie die Social Responsiveness Scale (Constantino & Todd 2003), ein Fragebogen zum Screening für Autismus-Spektrum-Störungen, enthalten überwiegend Fragen zur sozialen Interaktion, aber auch Fragen zu repetitiven und restriktiven Interessen und Aktivitäten (Happé et al. 2006).
Eine Gewichtung der Symptome erfolgt nicht (Lane et al. 2014). An dem Beispiel des Rett-Syndroms, das früher zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen gehörte, lässt sich zeigen, dass einzelne Symptome wie die normale Entwicklung im ersten Lebensjahr oder die wringenden Handbewegungen wesentliche Merkmale sind, die diese Untergruppe auszeichnen und zur Entdeckung der zugrundeliegenden genetischen Störung geführt haben.
Es ist seit Langem klar, dass die Gruppe der Patienten mit einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung sehr heterogen ist. Selbst innerhalb der einzelnen Untergruppen unterscheiden sich die Kinder deutlich z. B. im Ausmaß der Störung in der sozialen Interaktion und der qualitativen Veränderung der Kommunikation, in der Ausprägung repetitiver stereotyper Verhaltensweisen und eingeschränkten Interessen, aber auch im Ausmaß der Sprachstörung, der Intelligenz und der motorischen Fähigkeiten. Da weder die kategorialen Klassifikationen noch die neuen Klassifikationen bisher einen Durchbruch in der Ursachenforschung oder in der Behandlung erbracht haben, schlägt das National Institute of Health »Research Domain Criteria (RDoC)« für die Erforschung psychiatrischer und damit auch der Autismus-Spektrum-Störungen vor. Es wird davon ausgegangen, dass psychiatrische Störungen Hirnstörungen sind, die im Gegensatz zu neurologischen Störungen, Störungen der neuronalen Schaltkreise betreffen. Diese Veränderungen der neuronalen Schaltkreise können mit bildgebenden, elektrophysiologischen Untersuchungen und anderen in vivo möglichen Untersuchungsverfahren erfasst werden. Diese Befunde zusammen mit genetischen Befunden können dann mit klinischen Symptomen zusammengebracht werden und die Suche nach Therapieverfahren unterstützen (Insel et al. 2014).
Die Begriffe »High-Functioning« und »Low-Functioning« beziehen sich auf die Intelligenz. Während früher der überwiegende Teil der mit einer Autismus-Spektrum-Störung diagnostizierten Personen eine Intelligenzminderung zeigte, ist der Anteil mit einer durchschnittlichen oder überdurchschnittlichen Intelligenz in neuen Untersuchungen deutlich auf über 50% angestiegen (Amiett et al. 2008).
HFA oder LFA sind keine Begriffe der Klassifikation von ICD oder DSM. In der Multiaxialen Klassifikation aufgrund der ICD-10 wird die intellektuelle Beeinträchtigung auf der Achse III zusätzlich zu der psychiatrischen Diagnose kodiert. In DSM-5 und ICD-11 gibt es die Zusatzbezeichnung »Mit oder ohne begleitende Intellektuelle Beeinträchtigung«. Für diese Zusatzkodierung »sei ein tieferes Verständnis des (oft unausgeglichenen) intellektuellen Profils eines Kindes oder Erwachsenen mit Autismus-Spektrum-Störung notwendig, um die Ergebnisse einer entsprechenden Diagnostik richtig interpretieren zu können. Eine getrennte Einschätzung der verbalen und nonverbalen Fähigkeiten ist notwendig« (Falkai &Wittchen 2015, S. 66).
Ursprünglich wurde der Begriff »High-Functioning Autism« für Probanden mit einem IQ > 50 angewandt. Inzwischen wird der Begriff allgemein für Personen mit einer Autismus-Spektrum- Störung mit einem IQ > 70 angewandt. Er wird aber auch für Personen mit der Diagnose eines frühkindlichen Autismus und einem IQ > 70 und fließender Sprache benutzt. Diese Gruppe wird dann der Gruppe mit Asperger-Syndrom gegenüber gestellt.