Autismus und das prädiktive Gehirn - Peter Vermeulen - E-Book

Autismus und das prädiktive Gehirn E-Book

Peter Vermeulen

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  • Herausgeber: Lambertus
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Leicht verständlich fasst das Buch moderne Forschungsergebnisse zum prädiktiven Gehirn in Zusammenhang mit Autismus zusammen. Es richtet sich an Fachleute aller Disziplinen, die mit Menschen im Autismus-Spektrum arbeiten, sowie an Betroffene und deren Familienangehörige. Um in der unsteten, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Welt der modernen Gesellschaft zurechtzukommen, benötigen wir ein Gehirn, das dieser Welt mit schnellen und unbewussten Vorhersagen begegnet und dabei den jeweiligen Kontext angemessen berücksichtigt. Das Buch wirft ein neues Licht auf das prädiktive, "vorhersagende" Gehirn und dessen Bezug zu Autismus und kommt zum Schluss, dass einige der derzeit im Zusammenhang mit Autismus angewandten Maßnahmen dringend einer Aktualisierung bedürfen. Möglichkeiten zur Neuausrichtung werden aufgezeigt.

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Seitenzahl: 360

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Peter Vermeulen

Autismus und das prädiktive Gehirn

Absolutes Denken in einer relativen Welt

Deutsch von Reinhard Rudolph

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Peter Vermeulen

Autismus und dasprädiktive Gehirn

Absolutes Denken in einer relativen Welt

Deutsch von Reinhard Rudolph

© 2021 Pelckmans Uitgevers nv,

Titel der Originalausgabe: Autisme en het voorspellende brein: absoluut denken

in een relatieve wereld

The right of Peter Vermeulen to be identified as author of this work has been

asserted in accordance with sections 77 and 78 of the Copyright, Designs and

Patents Act 1988.

All rights reserved. No part of this book may be reprinted or reproduced or

utilised in any form or by any electronic, mechanical, or other means, now known or

hereafter invented, including photocopying and recording, or in any information

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Trademark notice: Product or corporate names may be trademarks or registered

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infringe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über dnb.d-nb.de abrufbar.

2., durchgesehene Auflage

Alle Rechte vorbehalten

© 2024, Lambertus-Verlag, Freiburg im Breisgau

www.lambertus.de

Umschlaggestaltung: Nathalie Kupfermann, Bollschweil

Umschlagbild: Gee Vero, Künstlerin, Initiatorin des internationalen

Projekts The Art of Inclusion

Druck: Elanders Waiblingen GmbH

ISBN: 978-3-7841-3729-2

ISBN e-Book: 978-3-7841-3730-8

Für Det, die mein Leben spannend macht,

indem sie mich in unregelmäßigen Abständen

mit Vorhersagefehlern erfreut.

Hinweis des Verlags zur geschlechtergerechten Sprache

Das Buch wendet sich auch an autistische Leserinnen und Leser. Deswegen verzichtete der Übersetzer im Sinne der Barrierefreiheit auf das Gendern mit Sonderzeichen. Wo es möglich war, wurde eine neutrale Formulierung gewählt, ansonsten das generische Maskulinum. Die im Buch verwendeten Personenbezeichnungen beziehen sich – sofern nicht anders kenntlich gemacht – auf alle Geschlechter.

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Vorwort zur englischen Ausgabe

Einleitung

Das prädiktive, „vorhersagende” Gehirn

Das prädiktive, „vorhersagende“ Gehirn und Autismus

Das prädiktive Gehirn und sensorische Verarbeitung bei Autismus

Das prädiktive Gehirn und die soziale Navigation

Das prädiktive Gehirn und Kommunikation

Das prädiktive Gehirn und Autismus: Was nun?

Endnoten

Literaturverzeichnis

Der Autor

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Peter Vermeulen ist ein belgischer Pädagoge und Psychologe, der sich seit mehr als 30 Jahren mit Autismus befasst. Zum einen ist er in Gent (Belgien) als Lehrender, Trainer sowie Therapeut an einem von ihm mitgegründeten Autismus-Zentrum (Autisme Centraal) leitend tätig, an dem er bis heute wertvolle Erfahrungen in der Arbeit mit Menschen aus dem Autismus-Spektrum und Familien mit autistischen Kindern gewonnen hat. Zum anderen ist er ein vor allem im europäischen Raum bekannter und anerkannter Autismus-Experte und Autor zahlreicher Schriften, die sich insbesondere durch ein wissenschaftlich gestütztes, innovatives Nachdenken über die Sicht auf Autismus auszeichnen. Dazu zählt das viel beachtete Buch „Autismus als Kontextblindheit“ (2016). Wenngleich dieser Buchtitel zu einer einseitigen (negativen) und engen Sicht auf Autismus verleiten kann und daher kritisch gesehen werden sollte, werden wichtige Beobachtungen, Befunde und Erfahrungen zusammengetragen, die dazu sensibilisieren, Menschen aus dem Autismus-Spektrum angesichts ihrer Schwierigkeiten, Situationen oder Informationen kontextbezogen zu erfassen und zu nutzen, besser zu verstehen und ihnen mehr Lebensqualität durch geeignete Unterstützungsformen für ein inklusives ‚Leben mit Autismus‘ zu ermöglichen.

Ebenso innovativ und richtungsweisend kann die vorliegende Schrift betrachtet werden, die eine wichtige Ergänzung, ja Weiterentwicklung von „Autismus als Kontextblindheit“ darstellt.

Mit dem Begriff des „prädiktiven Gehirns“ wird eine bedeutsame Erkenntnis der kognitiven Neurowissenschaften aufgegriffen, die davon ausgeht, dass die Informationsverarbeitung des Gehirns nicht linear verläuft (z. B. nach dem Prinzip: Input – Verarbeitung – Output oder als Kette aus Stimuli und Reaktionen). Vielmehr trifft das Gehirn stets Vorhersagen darüber, was es in einer bestimmten Situation wahrnehmen und erwarten wird. Das bedeutet, dass es als eine vorausschauende Instanz operiert, indem es die Realität (z. B. tatsächliche Ereignisse oder Erlebnisse) mit seiner Vorhersage abgleicht und bei Abweichungen von Reizen (z. B. Überraschungen, unvorhergesehenen Situationen) eine Überarbeitung (Fehlerkorrektur durch Kontextsensitivität) seiner bisherigen Antizipation oder Erwartung vornimmt. Würde das Gehirn jedem Vorhersagefehler Aufmerksamkeit widmen, käme es „schnell zu einer mentalen Überbelastung“, weshalb es immer zwischen ‚relevanten‘ und ‚irrelevanten‘ Abweichungen (Stimuli) unterscheiden und entscheiden muss. Ein solcher vorausschauender Prozess (auch als predictive coding bezeichnet) profitiert von individuellen Erfahrungen und vollzieht sich als ein extrem schnelles, sofortiges und unbewusstes Reagieren auf eine neue Situation oder Information, einen neuen Stimulus oder Gedanken. Manche sprechen in dem Zusammenhang von einer Überlebensstrategie. Demgegenüber gibt es freilich auch Situationen, in denen keine rasche Reaktion oder Antwort notwendig ist, was dann zu bewussten (überlegten) Entscheidungen führt, bei denen gleichfalls ein im Gedächtnis gespeichertes Erfahrungswissen eine wichtige Rolle spielt, das wie die Entscheidungen nicht von unbewussten (emotionalen) Einflüssen losgelöst betrachtet werden darf.

Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse führt uns P. Vermeulen mit gut nachvollziehbaren und interessanten Beispielen, Konzepten und Forschungsergebnissen aus den kognitiven Neurowissenschaften vor Augen, dass die Gehirne nicht-autistischer Menschen und Autist*innen auf Vorhersagen oft unterschiedlich reagieren. Das ist mit Blick auf Autismus nicht per se pathologisch, sondern ein Hinweis auf Neurodiversität. Diese Einsicht hat P. Vermeulen dazu veranlasst, im vorliegenden Buch den Ausdruck „Kontextblindheit“ weithin zu vermeiden und einen neutraleren Begriff wie „absolutes Denken“ zu nutzen, der nicht unmittelbar auf eine Beeinträchtigung verweist.

Gleichwohl sind einige Schwierigkeiten zu beachten, die sich nicht selten bei autistischen Menschen beobachten lassen, so z. B. soziale Handlungen kontextbezogen vorherzusagen, das eigene Wissen intuitiv und flexibel kontextspezifisch einzusetzen, zwischen wichtigen und unwichtigen Kontextelementen zu unterscheiden oder schnelle kontextabhängige Vorhersagen zu machen, die benötigt werden, um „sich reibungslos und flexibel in der Welt zurechtzufinden“.

Solche Beobachtungen stehen mit der neurowissenschaftlichen Erkenntnis im Einklang, dass die Wahrnehmung autistischer Menschen von Natur aus auf die Erfassung lokaler Reize ausgerichtet ist, was einerseits als besondere Stärke betrachtet und beruflich genutzt werden kann. Andererseits kann eine solche autistische Fähigkeit nachteilige Effekte haben, wenn bereits winzige Details in einer Situation viel Aufmerksamkeit erfahren und nicht ignoriert werden können. Dem Anschein nach verlassen sich viele autistische Menschen weniger auf Verallgemeinerungen (z. B. Oberbegriffe, Eindrücke), sondern eher auf konkrete Informationen, die sie unmittelbar wahrnehmen (z. B. Dinge, die sie sehen). Hierzu ein Beispiel:

Vor etwa 10 Jahren lernte ich den Autisten Herrn K., einen ‚Detail-Denker‘ mit einem ‚fotografischen Gedächtnis‘ kennen, der im Rahmen seiner Arbeit zwei Mal Unterlagen in das Büro eines Vorgesetzten bringen sollte. Beim ersten Mal hatte dies gut geklappt, indem er im Büro die Unterlagen direkt dem Vorgesetzten überreichen konnte. Neun Tage später sollte er erneut Unterlagen zum Büro bringen und übergeben. Als Herr K. diesmal das Büro betrat, war er unmittelbar irritiert, indem er annahm, in einem falschen Raum zu sein. Da der Vorgesetzte nicht anwesend war und sich die Anordnung von zwei Pflanzen an einem Fenster verändert hatte, geriet er in Stress. Zunächst zitterte er am ganzen Körper, sodass ihm die Unterlagen aus den Händen entglitten, und dann steigerte er sich in einen panischen Erregungszustand (verzweifeltes Schreien, mit Füßen auf den Boden stampfen und Arme schütteln) mit dem Gefühl eines Kontrollverlusts. Nach gut drei Minuten hatte sich dieser ‚Overload‘-Effekt gelegt, als der Vorgesetzte erschien und ihn beruhigen konnte.

An diesem Beispiel merken wir, dass Probleme durch emotional bestimmte Reaktionen des Gehirns auf unvorhersehbare Veränderungen (Reize) entstehen können, auf die sich das Gehirn nicht eingestellt hat und dass Vorhersagefehlern zu viel Bedeutung verliehen wird, sodass das Wesentliche (Auftrag, Ziel) aus dem Blick gerät und die betroffene Person letztlich „nicht mehr richtig funktionieren“ kann (zit. n. T. Grandin „Ich sehe die Welt wie ein frohes Tier“, Berlin 2008, S. 79).

Daraus zieht P. Vermeulen den weisen Schluss für die Praxis, sich weniger auf Stimuli (Schaffung einer reizarmen Umgebung) als vielmehr auf den Umgang mit der Hyperreaktivität zu konzentrierten, die durch Reize im Gehirn erzeugt wird und sich vor allem im limbischen System (Amygdala) abspielt. Das bedeutet, dass es zunächst einmal darauf ankommt, autistischen Menschen z. B. durch Angebote zur Entspannung oder von Aktivitäten, die den individuellen Interessen entsprechen, zum emotionalen Wohlbefinden, zu einem Selbstwertgefühl, zu Freude und Glücksgefühlen (Flow-Erleben) zu verhelfen. Dadurch soll zugleich Momenten einer Hyperreaktivität vorgebeugt werden. Als hilfreich gilt zudem die kognitive Verhaltenstherapie, wenn es darum geht, Ängste abzubauen oder anders als bisher über unangenehme Stimuli (Geräusche, Gerüche etc.) zu denken. Ferner zielen P. Vermeulens Vorschläge darauf ab, eine autistische Person darin zu unterstützen, als Akteur der eigenen Entwicklung selbst Reize zu erzeugen, um Ereignisse besser vorhersehbar zu machen, ein Gefühl der Kontrolle über die eigenen Lebensumstände zu gewinnen sowie Vorhersagefehler verringern zu können. Einen wichtigen Stellenwert haben darüber hinaus Angebote einer kontextbezogenen Emotionserkennung sowie kontextualisierte Sozialgeschichten oder Skripte, bei denen Kontextvariationen fokussiert werden. Solche Unterstützungsformen sind den derzeit weit verbreiteten entkontextualisierten Übungsbehandlungen durch ein bloßes Benennen isolierter Gesichtsausdrücke (Emotionslernen) oder den diskreten Lernformaten im Rahmen von ABA überlegen. Das gilt ebenso für Trainingsprogramme, die soziale Fähigkeiten als isolierte, einzuübende Verhaltensweisen betrachten, anstatt den Kontext, die Komplexität und wechselseitige Dynamik von Interaktionen und sozialen Kommunikationen aufzubereiten, wie es z. B. die Theorie des doppelten Empathie- und Interaktionsproblems bei Autismus (dazu I. Heuer/H. Seng/G. Theunissen, Autismus – über vernachlässigte Themen, Freiburg i. Br.: Lambertus-Verlag 2024, i. E.) nahelegt.

Mit diesen Hinweisen wendet sich P. Vermeulen an Menschen aus dem Autismus-Spektrum sowie an Angehörige und professionelle Unterstützungspersonen, an die das Buch vorrangig adressiert ist. Diesbezüglich ist es ihm gelungen, neuere wissenschaftliche Erkenntnisse insbesondere auch jenseits der Autismusforschung für eine verstehende Sicht auf Autismus sowie für ein positives Denken und Handeln auf eine erfrischende Art und durch eine lebendige Diktion leicht zugänglich und verständlich gemacht zu haben. Damit passt die Schrift mit ihrem innovativen Gehalt nahtlos in die Reihe der vom Lambertus-Verlag publizierten Autismus-Bücher.

Freilich wäre es ein Missverständnis anzunehmen, Autismus nunmehr restlos durch den Ansatz des „prädiktiven Gehirns“ oder ‚predictive processing‘ verstehen zu können. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass komplexe Phänomene wie Autismus, bei denen immer auch soziale Einflussfaktoren eine wichtige Rolle spielen, nicht auf eine einzelne Theorie der kognitiven Neurowissenschaften reduziert werden können. Das ist aber auch nicht die Absicht von P. Vermeulen.

In diesem Sinne bin ich davon überzeugt, dass die Schrift zum Überdenken bisheriger Sichtweisen auf Autismus, zu Diskussionen und einer innovativen Praxis anregen kann, weshalb ich ihr weitverbreitete Beachtung und viele Leserinnen oder Leser wünsche.

Freiburg i. Br.

Georg Theunissen im Mai 2024

Vorwort zur englischen Ausgabe

Peter Vermeulen ist ein weltweit anerkannter Experte für autistisches Denken und hat viel dazu beigetragen, Autismus besser zu verstehen. Er ist Autor zahlreicher Bücher zu diesem Thema, in denen es darum geht, das Denken und Fühlen von Menschen zu verstehen, indem man versucht, die Welt aus ihrer Perspektive zu sehen. In seinem Buch Autism as Context Blindness (2012) (deutsch: Autismus als Kontextblindheit (2016)) weist Peter darauf hin, dass autistische Menschen oft versuchen, sich in einer Welt zurechtzufinden, die ihnen „chaotisch und verwirrend“ erscheint. In solchen Situationen besteht ein starker Wunsch nach Vorhersehbarkeit und einer „Oase der Ruhe“. Die daraus resultierenden Verhaltensweisen werden in der Gesellschaft oft missverstanden. Peters Arbeit hat jedoch die neurologischen Mechanismen aufgezeigt, die der Reizüberflutung und dem tagtäglich erlebten Stress autistischer Menschen zugrunde liegen.

Als praktisch tätiger Experte gilt sein Interesse auch der konkreten Unterstützung von Menschen vor dem Hintergrund der Erkenntnisse über das prädiktive Gehirn und Kontextblindheit. Dieses Buch mit dem Titel Autismus und das prädiktive Gehirn stützt sich auf anerkannte, zukunftsweisende Forschungsergebnisse über das menschliche Gehirn und setzt sie in Beziehung zu Erfahrungen aus der Praxis.

Peter zeigt uns, dass unser Gehirn nicht passiv Informationen aufnimmt, sondern diese aktiv verarbeitet:

Die Funktionsweise des prädiktiven Gehirns zu verstehen, ist meiner Meinung nach ein entscheidender Faktor, um sich in das „autistische Erleben“ einzufühlen und die bestmögliche Unterstützung und Maßnahmen für Menschen zu ermöglichen, die mit einer Welt konfrontiert sind, die oft unbeständig, unsicher, komplex und mehrdeutig (VUCA) ist (volatile, uncertain, complex and ambiguous).

In diesem Buch kommt Peters umfangreiches Wissen zum Tragen, wenn es darum geht, sich in der sozialen Umwelt zurechtzufinden oder Einblicke in sensorische Probleme zu erhalten. Wenn Sie mehr über die neurologische Verarbeitung und deren Zusammenhang mit Autismus und autistischem Erleben erfahren möchten, wird Ihnen dieses Buch zweifellos dabei helfen, zu verstehen, warum Menschen die Welt manchmal anders sehen. Mein Kollege Damian Milton spricht oft von einem „doppelten Empathie“-Problem, bei dem es Menschen manchmal schwerfällt, sich in die autistische Erlebniswelt einzufühlen. Peter Vermeulens Arbeit fördert dieses empathische Verstehen im Rahmen eines schlüssigen, wissenschaftlichen Konzepts und hat damit das Verständnis und die Praxis von Menschen in meiner Organisation und auf der ganzen Welt beeinflusst.

Dieses Buch richtet sich an ein breites Publikum, und ich würde es jedem, der sich für die neurologischen Prozesse des autistischen Gehirns interessiert, sehr empfehlen:

Zusammenfassend kann ich dieses Buch von ganzem Herzen empfehlen, da es einen weiteren Schritt zur Entmystifizierung von Autismus darstellt und uns als Fachkräfte, Familienmitglieder und Freunde dabei hilft, die autistische Community besser in ihrer Entfaltung zu unterstützen.

Professor Andrew McDonnell

Klinischer Psychologe, Studio 3

Das prädiktive,„vorhersagende” Gehirn

Ich will es gleich auf den Punkt bringen: Ihr Gehirn kennt sich selbst nicht. Und wenn die Behauptung des berühmten niederländischen Hirnforschers Dick Swaab stimmt, dass wir unser Gehirn sind, bedeutet das, dass Sie sich selbst nicht kennen.

Das ist eine gewagte Behauptung, aber eine notwendige, wenn ein Autor seine Leser davon überzeugen will, ein Buch wie dieses weiterzulesen. Natürlich kann es sein, dass einige Leute nach der Lektüre des vorherigen Absatzes das Buch einfach beiseitelegen und nie wieder aufschlagen. Aber dieses Risiko gehe ich gerne ein … Wenn Sie immer noch bei mir sind, ist das großartig. Ich danke Ihnen!

Warum sollten Sie Ihr Gehirn nicht kennen? Schließlich sind Sie und Ihr Gehirn schon seit Jahren zusammen. Mit anderen Worten: Sie sollten alles wissen, was unter Ihrem Schädel passiert. Keiner seiner vielen Bewohner sollte Ihnen fremd sein: Ihre Ideen, Erinnerungen, Gefühle, Gedanken, Träume etc. Natürlich lässt sich nicht leugnen, dass Sie all diese Dinge tatsächlich wissen. Aber das ist nicht das, was meine einleitende Behauptung meint. Sie „wissen“ vielleicht von all den Bewohnern Ihres Gehirns, aber Sie „wissen“ nicht, wie sie ihre tägliche Existenz und Interaktion ordnen. Mit anderen Worten: Die Behauptung, dass „Ihr Gehirn sich selbst nicht kennt“, bedeutet, dass Ihr Gehirn nicht weiß, wie es funktioniert.

Wiederum werden viele von Ihnen, die bis hierher gelangt sind, ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit dieser Behauptung haben. Wenn Sie ein Buch wie dieses lesen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Sie bereits andere Bücher und Artikel über das Gehirn und seine Funktionsweise gelesen haben. Sie haben wahrscheinlich schon Dutzende von Diagrammen gesehen über die Art und Weise, wie das Gehirn Informationen verarbeitet. Falls nicht, finden Sie Hunderte von ihnen auf der Google-Bildersuche.

Die allermeisten sehen in etwa so aus:

Die beliebteste Metapher für das Gehirn ist heutzutage der Computer. In diesem Sinne reiht sich der Computer in die lange Liste der „Maschinen“-Metaphern ein, die im Laufe der Jahrhunderte verwendet wurden, um die Funktionsweise des menschlichen Körpers und seiner verschiedenen Bestandteile zu beschreiben. Beispielsweise wird das Herz mit einer Pumpe verglichen. In ähnlicher Weise wird das Gehirn als eine Art Computer betrachtet, und wir verwenden sogar Computerbegriffe, um zu erklären, wie es funktioniert: Input, Verarbeitung, Output.

Unsere Sinnesorgane liefern den Input: Information über die Welt, sowohl von außen als auch aus dem Inneren unseres Körpers. Das Gehirn nimmt diese Information auf, ordnet sie, bewertet sie und speichert sie. Das ist die Verarbeitung. Das Ergebnis dieser Verarbeitung sagt uns, wie wir auf die Welt reagieren sollen: der Output. Und bis zu einem gewissen Grad ist das alles richtig. Das Gehirn verarbeitet tatsächlich Informationen, genauso wie ein Computer. Aber zu sagen, das Gehirn sei wie ein Computer, würde zu weit führen.4 Das ist so, als würde man ein Bällchenbad für seine Kinder mit einer Dose Tomatensuppe mit Fleischbällchen vergleichen, nur weil beide Bällchen enthalten. In den letzten Jahren hat die Hirnforschung eine kopernikanische Wende vollzogen, die unser Denken über das Gehirn und seine Funktionsweise auf den Kopf gestellt hat.

Eine kopernikanische Wende? Zu Beginn des 16. Jahrhunderts versetzte der polnische Mathematiker und Astronom Nikołaj Kopernikus (heute eher als Nikolaus Kopernikus bekannt) die Gesellschaft seiner Zeit in Aufruhr, als er behauptete, dass die Erde nicht das Zentrum des Universums sei, wie die Menschen seit der Antike angenommen hatten.

Kopernikus bewies, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt. Zu dieser Zeit war dies ein beunruhigender Gedanke, den die meisten Menschen nur schwer akzeptieren konnten, denn es war das erste Mal, dass die Wissenschaft es wagte, das in Frage zu stellen, was fast alle Menschen intuitiv glaubten. Wir alle sehen, wie die Sonne jeden Morgen im Osten aufgeht und jeden Abend im Westen untergeht, aber wir haben kein wirkliches Gefühl für die verblüffende Geschwindigkeit und Komplexität, die bei diesem scheinbar simplen täglichen Prozess eine Rolle spielen.5 Das war im 16. Jahrhundert nicht anders. Daher hielten viele Zeitgenossen von Kopernikus seine Ideen für absurd. Papst Paul V. setzte sein Buch sogar auf die Verbotsliste der katholischen Kirche. Die wenigen Wissenschaftler, die Kopernikus‘ Ansichten unterstützten, wie Galileo Galilei und Giordano Bruno, gerieten bald in ernsthafte Schwierigkeiten mit der Obrigkeit. Galilei wurde unter Hausarrest gestellt, und der weniger glückliche Bruno wurde schließlich von der Inquisition als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Auch wenn heutzutage niemand mehr verbrannt oder in einen Kerker geworfen wird (zumindest hoffen wir das!), erlebt die Hirnforschung derzeit eine Revolution und einen Paradigmenwechsel von ebenso dramatischem Ausmaß. Und wie die Entdeckungen von Kopernikus sind auch die jüngsten Entdeckungen über das menschliche Gehirn auf Unglauben gestoßen, weil sie scheinbar dem widersprechen, was wir intuitiv glauben. Was die Hirnforscher entdeckt haben, passt einfach nicht zu unserer Vorstellung davon, wie unser Gehirn funktioniert. Es lässt uns an unserem Weltbild zweifeln. Und was vielleicht noch wichtiger ist: Es lässt uns an unserem Bild von uns selbst zweifeln. Für viele mag das ein beunruhigender Gedanke sein.

Worum geht es also bei diesen spektakulären neuen Entdeckungen? Und was ist so falsch an der Computer-Metapher?

Zunächst einmal führt die Verwendung der Computermetapher zu der Vorstellung, dass das Gehirn logisch und rational funktioniert. Das Gehirn empfängt Information von den Sinnesorganen (ein Prozess, der als Wahrnehmung bezeichnet wird). Anschließend organisiert und verarbeitet es diese Informationen (ein Prozess, der als Denken oder Kognition bezeichnet wird), um eine „Bedeutung“ zu generieren, auf deren Grundlage das Gehirn dem Körper sagt, wie er auf die Außenwelt reagieren soll (unsere Verhaltensreaktionen). Zumindest haben wir das immer angenommen. In Wirklichkeit arbeitet das Gehirn jedoch nicht so logisch und rational, wie wir denken. Zumindest nicht die ganze Zeit über. Einer der vielen Wissenschaftler, die dies nachgewiesen haben, ist der israelische Psychologe Daniel Kahneman6. In den letzten fünf Jahrzehnten hat er erforscht, wie Menschen Entscheidungen treffen. Er kam zu der überraschenden Schlussfolgerung, dass wir mehr Fehler machen, wenn wir bewusst über ein Problem nachdenken, was zu Entscheidungen führt, die weit davon entfernt sind, intelligent oder gut begründet zu sein.

Kahnemans Überlegungen hatten eine große und unmittelbare öffentliche Wirkung, insbesondere in den Wirtschaftswissenschaften. Bis dahin waren Ökonomen immer davon ausgegangen, dass eine gute ökonomische Leistung auf einer sorgfältigen Abwägung möglicher Risiken und Gewinne beruht. Kahneman zeigte ihnen, dass sie damit falsch lagen – ein Akt der Aufklärung, für den er 2002 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurde.

Mit anderen Worten: Die Tatsache, dass unsere Spezies die Gefahren der Welt seit Zehntausenden von Jahren überlebt hat, ist nicht auf die Fähigkeit unseres Gehirns zu logischem Denken und Berechnen zurückzuführen. Hirnforscher haben nicht nur nachgewiesen, dass das Gehirn dazu neigt, durcheinander zu geraten, wenn es logisch denken soll, wie Kahneman und sein Kollege Tversky bereits in den 1970er-Jahren gezeigt haben, sondern auch, dass diese Art des logischen Denkens ein langsamer Prozess ist, der viel Zeit erfordert. Und wenn man überleben will, muss man nicht nur klug, sondern auch schnell sein.

Stellen wir uns vor, dass wir vor 15.000 Jahren leben und mit unseren Vorfahren, den Jägern und Sammlern, auf der Suche nach Nahrung durch die Savanne ziehen. Wir bahnen uns vorsichtig einen Weg durch das hohe Gras, als wir vor uns ein Geräusch hören. Wir können nicht sehen, wer das Geräusch macht, aber es ist tatsächlich ein Säbelzahntiger. Welche Art von Gehirn würde Ihnen in dieser Situation am meisten nützen? Bevor Sie antworten, sollten Sie zwei weitere Faktoren berücksichtigen. Erstens: Menschen stehen zwar nicht ganz oben auf der Liste der Lieblingsspeisen von Tigern, aber wenn sich die Gelegenheit ergibt, werden sie nie die Chance auf ein Stück Menschenfleisch ausschlagen. Zweitens: Wenn es um Geschwindigkeit geht, ist der Tiger ein Hase und Sie sind eine Schildkröte. Also zurück zu unserer Frage: Welches Gehirn wird Ihnen helfen zu überleben? Wahrscheinlich nicht das Gehirn, das sagt: „Alle mal herhören. Wir können alle das Rascheln im Gras vor uns hören, aber wir können nicht sehen, was es ist. Es könnte ein großes und gefährliches Raubtier sein. Aber es könnte genauso gut ein kleines Säugetier oder ein Vogel sein, den wir gerne essen. Wir sollten also nicht zu voreilig sein. Nehmen wir uns etwas Zeit, um die richtige Entscheidung zu treffen. Wir sollten alle Fakten zusammentragen, sie in die richtige Reihenfolge bringen, die potenziellen Risiken und Vorteile abwägen und erst dann eine Entscheidung treffen, von der wir sicher sein können, dass sie gut begründet ist. Das ist der einzige logische Weg, um zu wissen, ob wir um unser Leben rennen oder die Bratpfanne vorbereiten sollten…“ Wenn Sie diesen langwierigen Prozess abgeschlossen haben, sind Sie schon halb im Rachen des Tigers.