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Band 2 der Steinzeit-Saga von Jean M. Auel
Der packende zweite Band des Zyklus «Die Kinder der Erde». Aylas Geschichte geht weiter. Sie trifft Jondalar, einen Mann aus dem Volk der «Anderen», und aus anfänglicher Abneigung entsteht Freundschaft und eine tiefe Liebe. Zusammen begeben sich die beiden auf eine lange und gefährliche Reise durch das spätere Europa.
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Seitenzahl: 1245
JEAN M. AUEL
AYLA UND DAS TAL DER PFERDE
Roman
Aus dem Amerikanischen von Wemer Peterich
Das Buch
Verstoßen von Broud, dem Anführer vom »Clan des Bären«, schlägt Ayla sich wieder alleine durch die bedrohliche Wildnis der Urzeit. Nach einer langen und harten Wanderung entdeckt sie schließlich ein wunderschönes Tal und beschließt, dort in einer Höhle zu überwintern. Unterdessen machen sich die Brüder Jondalar und Thonolan vom Volk der »Anderen« auf, um das Ende des »Großen Mutter Flusses« zu finden, an dem sich ihr Stamm niedergelassen hat. Während Thonolan auf der Reise bei einem fremden Stamm eine Frau findet, die er heiraten will, fühlt sich Jondalar zunehmend verloren und ohne Ziel. Doch Jondalars Reise geht weiter. Den wirklichen Sinn seines Aufbruchs erfährt er aber erst, als er Ayla begegnet, die ihm das Leben rettet, um es dann auf immer zu verändern…
Die Autorin
Jean Marie Auel wurde 1936 in Chicago geboren. Nach ihrer Universitätsausbildung arbeitete sie zunächst als Kreditmanagerin, bevor sie Schriftstellerin wurde. Ihr erstes Buch war ein sofortiger Erfolg. Inzwischen ist Jean M. Auel eine Spezialistin urzeitlicher Geschichte. Sie nahm an Überlebenstrainings nach dem Vorbild der Urmenschen teil und reiste zu Recherchezwecken an viele prähistorisch bedeutende Orte u. a. in Frankreich, Deutschland und Rußland. J. M. Auels Menschheitssaga »Die Kinder der Erde« erreichte bisher eine Weltauflage von weit über 25 Millionen Exemplaren; ihre Bücher wurden in 22 Sprachen übersetzt.
Zum Zyklus »Die Kinder der Erde« gehören folgende Titel (in dieser Reihenfolge):
Ayla und der Clan des Bären, Ayla und das Tal der Pferde, Ayla und die Mammutjäger, Ayla und das Tal der Großen Mutter und Ayla und der Stein des Feuers.
Titel der Originalausgabe
THE VALLEY OF HORSES
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(Das Buch war bereits in der Allgemeinen Reihe unter dem Titel »Das Tal der Pferde« mit der Band-Nr. 01/6658 lieferbar.)
9. Auflage
Taschenbuchausgabe 05/2002 Copyright © 1982 by Jean M. Auel Copyright © der deutschen Übersetzung 1984 by Meyster Verlag GmbH, München Mit Genehmigung der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlagillustration: Larry Rostant Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München
eISBN:978-3-641-16344-0V003
http://www.heyne.de
www.randomhouse.de
Für Karendie die erste Fassung, auch die meines ersten Buches, las und herzlichst für Asher
Sie war tot. Was machte es schon, daß der zu nadelfeinem Eis gefrorene Regen ihr die Haut aufriß, als würde sie geschunden! Die junge Frau kniff die Augen gegen den Wind zusammen und zog ihre Kapuze aus Vielfraßfell enger um den Kopf. Heftige Windstöße drückten ihr die Bärenfellbeinlinge gegen das Schienbein.
Wuchsen diese Bäume weiter vorn? Sie glaubte sich zu erinnern, vor einiger Zeit am Horizont eine unregelmäßige Reihe von Bäumen gesehen zu haben; hätte sie doch besser aufgepaßt oder wäre ihr Gedächtnis so gut wie beim Rest des Clans! In ihrer Vorstellung gehörte sie immer noch zum Clan; dabei hatte sie das nie getan, und jetzt war sie tot.
Sie senkte den Kopf und stemmte sich gegen den Wind. Der Sturm war ganz plötzlich über sie hergefallen, kam vom Norden heruntergebraust, und sie brauchte verzweifelt Schutz. Aber sie war weit von der Höhle entfernt und kannte die Gegend nicht. Der Mond hatte ab- und wieder zugenommen seit sie fortgegangen war, und noch immer hatte sie keine Ahnung, wohin sie eigentlich ging.
Nach Norden, zum Festland hinter der Halbinsel, das war alles, was sie wußte. In der Nacht, da Iza gestorben war, hatte diese ihr gesagt, sie solle fortgehen, ihr erklärt, Broud würde bestimmt Mittel und Wege finden, ihr wehzutun, wenn er Führer des Clans wurde. Iza hatte recht gehabt. Broud hatte ihr wehgetan, schlimmer als sie es sich je vorgestellt hatte.
Er hat keinen Grund gehabt, ihr Durc wegzunehmen, dachte Ayla. Er ist mein Sohn. Broud hat auch keinen Grund gehabt, mich zu verfluchen. Er ist es, der die Geister erzürnt hat. Er ist es, dem sie das Erdbeben zu verdanken hatten. Diesmal hatte sie jedenfalls gewußt, was sie erwartete. Aber dann war alles so schnell gegangen, daß sogar der Clan eine Zeitlang gebraucht hatte, damit fertigzuwerden und sie aus seinen Reihen auszustoßen, daß sie ihnen nicht mehr unter die Augen kommen durfte. Nur Durc hatten sie nicht davon abhalten können, sie zu besuchen; dabei war sie für den Rest des Clans tot gewesen.
Broud hatte sie in einer Aufwallung von Zorn verflucht. Als Brun sie verflucht hatte, das erste Mal, hatte er sie darauf vorbereitet. Er hatte Grund dazu gehabt; sie hatten gewußt, daß er es tun mußte, und er hatte ihr eine Chance gegeben.
Als wieder ein eisiger Windstoß sie anfuhr, hob sie den Kopf und stellte fest, daß es Zwielicht war. Bald würde es dunkel sein, und sie hatte kein Gefühl mehr in den Füßen. Schneematsch sickerte ihr durch die ledernen Fußlinge, trotz des Riedgrases, mit dem sie sie ausgestopft hatte. Erleichtert erkannte sie eine verkrüppelte zwergwüchsige Kiefer.
Bäume waren selten in der Steppe; sie wuchsen nur dort, wo der Boden feucht genug war. Eine Doppelreihe von Kiefern, Birken oder Weiden, die der Wind zu geduckten, unregelmäßigen Formen hatten verkümmern lassen, verriet für gewöhnlich einen Wasserlauf; bei anhaltender Trockenheit ein willkommener Anblick in einem Land, in dem das Grundwasser selten war. Wenn Stürme von den großen Gletschern im Norden herunterfegten, boten sie, wenn auch nur geringen, Schutz.
Nach ein paar Schritten kam die junge Frau an den Rand eines Flusses, obwohl nur eine schmale Rinne freies Wasser zwischen den vereisten Ufern dahinfloß. Sie folgte ihm abwärts in westlicher Richtung und hielt dabei Ausschau nach dichterem Baumbewuchs, der mehr Schutz gewähren würde als das Gestrüpp in der Nähe.
Mit heruntergezogener Kapuze kämpfte sie sich mühselig voran, doch als der Wind unvermittelt aufhörte, hob sie den Kopf. Auf der anderen Seite schützte ein niedriger Steilhang den Fluß. Das Riedgras schützte beim Hinüberwaten zwar nicht vor dem eisigen Wasser, doch sie war froh, dem Wind nicht mehr ausgesetzt zu sein. An einer Stelle war der Hang ausgehöhlt und eine Art Dach aus verfilzten Graswurzeln und ineinander verflochtener alter Vegetation entstanden; darunter fand sich ein einigermaßen trockener Platz.
Sie löste die vom Wasser aufgequollenen Riemen, mit deren Hilfe sie die Kiepe auf ihrem Rücken festhielt, nahm sie mit einem Schulterrucken herunter und holte ein schweres Auerochsenfell sowie einen derben, von kleineren Zweigen befreiten Knüppel heraus. Dann stellte sie ein flaches, sanft abfallendes Zelt auf, dessen Enden sie mit Felsbrocken und schwerem Treibholz beschwerte; der aufgestellte Knüppel hielt es vorn offen.
Mit den Zähnen löste sie die Riemen ihrer Handlinge, ungefähr runde Lederstücke, an denen noch das Fell saß; an den Handgelenken hatte sie sie zugebunden; durch einen kleinen Schlitz konnte sie den Daumen hindurchstecken, wenn sie etwas anpacken wollte. Die Fußfinge waren genauso gemacht, nur ohne Schlitz. Jetzt hatte sie größte Mühe, die vom Wasser aufgequollenen Riemen zu lösen, mit denen sie sie sich um die Fußgelenke gebunden hatte. Vorsichtig achtete sie darauf, daß beim Ausziehen nichts von dem nassen Riedgras verlorenging.
Die nasse Seite nach unten, breitete sie das Bärenfell auf dem Zeltboden aus, legte das Riedgras sowie die Hand- und Fußlinge obendrauf und kroch dann mit den Füßen voran ins Zelt. Sie schlug die beiden Seiten des Bärenfells um sich und zog die Tragekiepe heran, um die Zeltöffnung zu versperren. Sie rieb sich die kalten Füße, und als ihr feuchtes Nest allmählich warm wurde, rollte sie sich zusammen und schloß die Augen.
Der Winter machte die letzten frostigen Atemzüge und wich zögernd dem Frühling, aber die noch junge Jahreszeit zeigte weiterhin ihren Mutwillen. Unter kälteträchtigen Nachwehen eisiger Winde ließen mildere Tage quälend schon sommerliche Hitze ahnen. Ohne jede Vorwarnung legte sich der Sturm im Laufe der Nacht.
Als Ayla erwachte, glitzerte grell die Sonne auf Streifen von Eis und Schnee am Ufer, und der Himmel war strahlend und tiefblau. Wolkenfetzen trieben fern im Süden. Ayla kroch aus ihrem Zelt hinaus und rannte mit ihrem Wassersack barfuß zum Wasser. Ohne sich um die eisige Kälte zu kümmern, füllte sie die mit Leder bedeckte Blase, nahm einen tiefen Schluck und rannte zurück. Nachdem sie sich erleichtert hatte, kroch sie nochmal in den Pelz, um sich wieder aufzuwärmen.
Sie blieb jedoch nicht lange liegen. Dazu reizte es sie jetzt, wo der Sturm sich verzogen hatte und die Sonne herausgekommen war, zu sehr, draußen zu sein. Sie band sich die im Laufe der Nacht durch die Körperwärme getrockneten Fußlinge um und rollte das Bärenfell mit dem pelzgefütterten Lederumhang zusammen, in dem sie geschlafen hatte. Sie holte ein Stück getrocknetes Fleisch aus der Kiepe, verstaute Zelt und Handlinge darin und machte sich kauend auf den Weg.
Der Fluß verlief in ziemlich gerader Richtung sanft hügelab, und das Gehen war leicht. Leise summte Ayla eine eintönige Melodie. Am Ufergestrüpp bemerkte sie hier und da Flecken von jungem Grün. Gelegentlich reckte sogar eine Blume das winzige Blütenköpfchen mutig durch den schmelzenden Schnee und ließ sie lächeln. Ein Brocken Eis brach herunter, schlidderte einen Schritt lang neben ihr her und wurde dann von der kräftigen Strömung eilends davongetragen.
Der Frühling hatte begonnen, als sie die Höhle verlassen hatte, aber an der Südspitze der Halbinsel war es wärmer und die wärmere Jahreszeit setzte früher ein als hier. Die hohe Bergkette hielt die eisigen Nordwinde ab, und milde Winde, die vom Binnenmeer herankamen, wärmten den schmalen Küstenstreifen samt den Südhängen, trugen Feuchtigkeit heran und schufen ein gemäßigtes Klima.
In den Steppengebieten war es kälter. Sie hatte das Ostende der Bergkette umrundet, doch als sie über die offene Grassteppe nordwärts wanderte, zog der Vorfrühling mit ihr, schien allerdings über vorfrühlingshafte Wärme nie hinauszukommen.
Die heiseren Schreie von Meerschwalben erregten ihre Aufmerksamkeit. Sie blickte in die Höhe und sah etliche von den kleinen, mövenartigen Vögeln mühelos mit ausgestreckten Flügeln dahinschießen und kreisen. Das Meer mußte nahe sein, dachte sie. Die Vögel müßten jetzt eigentlich brüten, und das bedeutete Eier. Sie beschleunigte ihren Schritt. Vielleicht sogar Muscheln an den Felsen und im Sand, Napfschnecken und Seeanemonen an Stellen, wo das zurückfließende Wasser in Tümpeln stehengeblieben war.
Die Sonne näherte sich ihrem Höchststand, als sie eine geschützte Bucht erreichte, die von der Südküste des Festlands und der Nordwestflanke der Halbinsel gebildet wurde. Endlich war sie an dem breiten Hals angelangt, der die Landzunge mit dem Festland verband.
Ayla nahm die Kiepe von den Schultern und kletterte einen zerklüfteten Felsen hinauf, der sich hoch über das umliegende Land erhob. Mächtige Wellen hatten aus der dem Meer zugewandten Seite der Klippe schrundige Felsbrocken herausgewaschen. Scharen von Lummen und Meerschwalben schossen um sie herum und stießen wütende Schreie aus, als sie Eier einsammelte. Ein paar von den nestwarmen Eiern schlug sie an Ort und Stelle auf und schlang ihren Inhalt hinunter. Andere verstaute sie in der Falte ihres hochgerafften Umhangs; dann kletterte sie wieder hinunter.
Sie streifte die Fußlinge ab und watete in das schäumende Wasser am Ufer, um die Miesmuscheln, die sie von niedrigen Felsen im Wasser losgebrochen hatte, vom Sand zu reinigen. Blumenähnliche Seeanemonen zogen ihre blütenblattähnlichen Auswüchse ein, als sie versuchte, sie in den Tümpeln zu pflücken, die die Ebbe zurückgelassen hatte. Allerdings waren diese Gewächse von einer Form und einer Farbe, die ihr nicht vertraut waren. So rundete sie ihre Mahlzeit statt dessen mit ein paar Venusmuscheln ab; kleine Vertiefungen im Sand verrieten, wo sie saßen, so daß sie sie leicht ausgraben konnte. Sie machte kein Feuer, sondern genoß die Gaben des Meeres roh.
Vollauf gesättigt, ließ die junge Frau sich am Fuß der Klippe nieder, um sich auszuruhen, doch dann kletterte sie nochmals hinauf, um einen besseren Überblick über Küste und Festland zu bekommen. Die Arme um die Knie geschlungen, hockte sie auf der höchsten Spitze des Monolithen und schaute über die Bucht hinaus. Der Wind, der ihr ins Gesicht blies, duftete würzig nach dem üppigen Leben, das die See barg.
Die Südküste des Erdteils zog sich in sanftem Bogen nach Westen. Hinter einem schmalen Saum aus Bäumen bot sich ihr ein weiter Blick auf Steppenland, das sich nicht von der kalten Grassteppe der Halbinsel unterschied; von irgend welchen menschlichen Behausungen keine Spur.
Da liegt es, dachte sie, das Festland, das nach der Halbinsel kommt. Und wohin wende ich mich jetzt, Iza? Du hast gesagt, da wären Andere, aber ich sehe niemand. Während sie die Blicke über das weite leere Land schweifen ließ, wanderten ihre Gedanken zurück zu jener schrecklichen Nacht vor drei Jahren, in der Iza gestorben war.
»Du bist nicht vom Clan, Ayla. Du bist ein Kind der Anderen; du gehörst zu ihnen. Du mußt fort, Kind, mußt deine eigenen Leute finden.«
»Fort? Wohin sollte ich, Iza? Ich kenne die Anderen nicht, wüßte nicht, wo ich sie suchen sollte.«
»Nach Norden, Ayla. Geh nach Norden. Im Norden gibt es viele von ihnen, auf dem Festland hinter der Halbinsel. Du kannst nicht hierbleiben. Broud findet Mittel und Wege, dir wehzutun. Zieh los und such’ sie, mein Kind. Such’ deine eigenen Leute und such’ dir selbst einen Gefährten.«
Sie war nicht fortgezogen, hatte es nicht fertiggebracht. Jetzt jedoch blieb ihr keine Wahl. Sie mußte die Anderen finden, es gab niemand sonst. Zurück konnte sie nicht; sie würde ihren Sohn nie wiedersehen.
Tränen rannen Ayla übers Gesicht. Zuvor hatte sie nicht geweint. Ihr Leben hatte auf dem Spiel gestanden, als sie fortgezogen war, und Kummer war ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnte. Doch nun, da die Barriere überwunden war, gab es kein Halten mehr.
»Durc ... mein Kleiner«, schluchzte sie und barg das Gesicht in den Händen. Warum hat Broud dich mir weggenommen?
Sie weinte um ihren Sohn und um den Clan, den sie hatte verlassen müssen; und sie weinte um Iza. Eine andere Mutter kannte sie nicht; dann weinte sie um ihre Einsamkeit und aus Angst vor der unbekannten Welt, die sie erwartete. Aber nicht um Creb, der sie um ihrer selbst willen geliebt hatte – noch nicht. Dieser Gram war zu frisch; sie war noch nicht soweit, sich dem zu stellen.
Nachdem die Tränen geflossen waren, ertappte Ayla sich dabei, daß sie auf den Schaum der sich unten brechenden Wellen hinabstarrte. Sie beobachtete, wie die heranrollenden Brecher Gischtfontänen in die Höhe schießen ließen und die zerrissenen Felsen umbrodelten.
Es würde ein Leichtes sein, dachte sie.
Nein! Kopfschüttelnd straffte sie sich. Ich habe ihm gesagt, meinen Sohn könne er mir nehmen und mich zwingen, fortzugehen; auch zu Tode verfluchen könne er mich, nicht jedoch, mich dazu zu bringen zu sterben.
Sie schmeckte Salz, und ein schiefes Lächeln verzog ihr Gesicht. Ihre Tränen hatten Iza und Creb immer durcheinandergebracht. Den Leuten des Clan stieg nicht das Wasser in die Augen, es sei denn, sie wären krank – nicht einmal Durc konnte das. Zwar hatte er viel von ihr, und selbst Laut geben wie sie konnte er – aber die braunen Augen, die Durc hatte, waren Clan-Augen.
Rasch kletterte Ayla hinunter. Als sie sich die Kiepe auf den Rücken lud, überlegte Ayla, ob sie wohl wirklich schwache Augen hatte, oder ob den Anderen auch Tränen in die Augen stiegen. Dann ging ihr ein anderer Gedanke echogleich durch den Sinn: Such deine eigenen Leute und such dir selbst einen Gefährten.
Die junge Frau wanderte in westlicher Richtung an der Küste entlang, überquerte so manchen Fluß und Bach, der hier in das Binnenmeer mündete, doch dann stieß sie auf einen ziemlich breiten Strom. Daraufhin wandte sie sich nach Norden, folgte dem schnellströmenden Wasserweg ins Landesinnere und suchte nach einer Stelle, wo sie übersetzen konnte. Sie ließ das schmale Band von Fichten und Lärchen hinter sich, Waldungen, in denen ab und zu ein Riese weit über seine verkrüppelten Vettern hinauswuchs. Als sie die Festlandssteppen erreichte, gesellten sich Weiden, Birken und Zitterpappeln zu dem Gesträuch aus Krüppelkiefern.
Sie folgte jeder Windung und Schleife des meanderförmig dahinfließenden Stroms, und mit jedem Tag, der verging, wurde ihre Beklommenheit größer. Der Fluß verlief allgemein in nordöstlicher Richtung und zwang sie daher, wieder in den Osten zurückzukehren. Manche Clans jagten in den östlichen Teilen des Festlandes. Sie hatte daher vorgehabt, auf ihrer Wanderung in den Norden in westlicher Richtung voranzugehen. Sie hatte keine Lust, zufällig auf irgendwelche Clansangehörige zu stoßen – wo sie doch mit einem Todesfluch belegt war! Sie mußte unbedingt hinüber, auf die andere Seite des Flusses.
Als der Strom sich verbreiterte und sich in zwei Kanäle verzweigte, die um eine kleine, mit grobem Kies bedeckte Insel herumflossen, an deren steinigen Ufern sich niedriges Buschwerk angesiedelt hatte, beschloß sie, den Übergang zu wagen. Eine Reihe größerer Felsen, die aus dem Kanal auf der anderen Seite herausragten, ließen vermuten, daß er seicht genug war, um hinüberwaten zu können. Sie war eine gute Schwimmerin, wollte jedoch ihre Kleidung und ihre Kiepe nicht naß werden lassen. Es könnte sein, daß es zu lange dauerte, bis alles wieder trocken war, und die Nächte waren immer noch empfindlich kalt.
Sie ging am Ufer hin und her und beobachtete das rasch dahinströmende Wasser. Nachdem sie sich für die seichteste Stelle entschieden hatte, zog sie sich nackt aus, verstaute alles in ihrer Kiepe, hielt diese in die Höhe und stieg ins Wasser. Die Felsen unter ihren Füßen waren schlüpfrig, und die Strömung drohte sie umzuwerfen. Als sie die Mitte des ersten Wasserarms erreicht hatte, ging ihr das Wasser bis zur Hüfte, doch sie erreichte ohne Mißgeschick die Insel. Der zweite Wasserarm war breiter. Sie war sich nicht sicher, ob sie überhaupt hinüberkäme, doch sie hatte die Hälfte bereits geschafft und wollte nicht aufgeben.
Sie hatte die Mitte des zweiten Flußarms bereits hinter sich, als es plötzlich tiefer wurde und ihr das Wasser bis zum Hals stand, obwohl sie auf Zehenspitzen ging; die Kiepe hielt sie sich über den Kopf. Plötzlich fiel der Boden steil ab. Ihr Kopf tauchte unter und sie schluckte unwillkürlich Wasser. Doch im nächsten Augenblick trat sie Wasser, die Kiepe immer noch auf dem Kopf. Mit der einen Hand hielt sie sie im Gleichgewicht, während sie mit der anderen versuchte, auf das Ufer zuzurudern. Die Strömung ergriff sie und trug sie fort, doch nur eine kurze Strecke. Dann spürte sie wieder Felsen unter sich, und gleich darauf stieg sie die Uferböschung hinauf.
Ayla ließ den Strom hinter sich und wanderte wieder durch Steppengebiet. Die Tage mit Sonnenschein überwogen schließlich die Regentage; die warme Jahreszeit hatte sie auf ihrer Wanderung gen Norden endlich eingeholt. Aus den Knospen an Bäumen und Sträuchern wurden Blätter, und an den Spitzen der Nadelbaumzweige zeigte sich helles frisches Grün. Sie pflückte davon und kaute unterwegs darauf herum; der leicht beizende Tannengeschmack tat ihr wohl.
Sie gewöhnte sich an, den ganzen Tag über bis kurz vor Einbruch der Dämmerung zu wandern, und wenn sie dann einen Bach oder einen Wasserlauf fand, schlug sie dort ihr Lager auf. Wasser war immer noch leicht zu finden. Frühjahrsregen und Schneeschmelze in den nördlicheren Regionen hatten die Flüsse so anschwellen lassen, daß sie über die Ufer getreten waren; Wasser füllte Mulden und Rinnen, die später austrocknen oder bestenfalls zu Schlammlöchern werden würden. Daß Wasser in Hülle und Fülle vorhanden war, würde rasch vorübergehen. Die Feuchtigkeit würde bald aufgesaugt und verdunstet sein, freilich nicht, bevor sie die Steppe erblühen ließ.
Fast über Nacht bedeckte das Weiß, Gelb und Violett – seltener Leuchtend-blau oder Rot blühender Kräuter das Land und verschmolz in der Ferne mit dem dort vorherrschenden jungen Grün des Grases. Ayla schwelgte in der Schönheit der Jahreszeit. Der Frühling war ihr immer das Liebste gewesen.
Je mehr das Leben auf den offenen Ebenen sproß, desto weniger verließ sie sich bei ihren kärglichen Mahlzeiten auf die haltbar gemachte Nahrung, die sie bei sich trug, und desto mehr lebte sie von dem Land. Sie kam deswegen kaum weniger schnell voran. Jede Frau des Clans lernte schon als Kind, beim Unterwegssein Blätter, Blüten, Knospen und Beeren zu pflücken, meist ohne deshalb stehenzubleiben. Sie befreite einen kräftigen Stecken von Blättern und kleinen Zweigen, spitzte das eine Ende mit einem Feuersteinmesser an und benutzte den Grabstock, um nicht minder rasch Wurzeln und Knollen freizulegen. Es war leicht, genug einzusammeln. Sie brauchte ja nur sich selbst zu versorgen.
Allerdings hatte Ayla einen Vorteil, dessen die Frauen des Clans sich für gewöhnlich nicht erfreuten. Sie konnte jagen. Gewiß, nur mit einer Schlinge, aber sogar die Männer hatten – nachdem sie sich grundsätzlich mit der Vorstellung abgefunden hatten, daß sie jagte – zugegeben, daß sie von allen Clansangehörigen, die mit der Schlinge auf die Jagd gingen, am geschicktesten war. Sie hatte es sich selbst beigebracht, und sie hatte teuer für das Erlernen dieser Kunst bezahlt.
Seit sprießende Kräuter und Gräser jene Tiere, die in ihrem Bau unter der Erde überwinterten wie Erdhörnchen, Riesenhamster, große Wüstenspringmäuse und Hasen aus ihren Winterquartieren hervorlockten, trug Ayla auch wieder ihre Schlinge griffbereit über den Riemen gelegt, mit dem sie ihren Pelzumhang geschlossen hielt. Auch den Grabstock pflegte sie dort hinzustecken, doch ihr Medizinbeutelchen trug sie wie immer am Leibriemen unter ihrem Untergewand.
Nahrung war reichlich vorhanden, und Holz und Feuer kaum weniger schwierig zu sammeln und zu entzünden. Sie verstand sich aufs Feuermachen und abgestorbene Bäume fanden sich immer wieder. Wann immer sie auf dürre Zweige oder Wildlosung stieß, sammelte sie sie ein. Allerdings machte sie nicht jeden Abend ein Feuer. Manchmal mangelte es ihr an dem richtigen Brennmaterial oder es war zu grün oder zu feucht; oder aber sie war zu müde und hatte keine Lust, sich damit abzumühen.
Freilich schlief sie nicht gern ohne die Sicherheit eines Feuers im Freien. Die ausgedehnten Steppen boten Lebensraum für zahllose größere Weidetiere, deren Anzahl von einer Reihe vierbeiniger Raubtiere verkleinert wurde. Ein Feuer hielt diese für gewöhnlich fern. Innerhalb des Clans war es üblich, daß ein hochstehendes männliches Mitglied unterwegs immer glühende Kohlen trug, um das nächste Feuer entfachen zu können; deshalb war es Ayla anfangs auch nicht in den Sinn gekommen, Gerät zum Feuermachen mit sich herumzuschleppen. Nachdem sie sich das zur Gewohnheit gemacht hatte, fragte sie sich, warum sie nicht schon früher darauf gekommen war.
Nur nützten Feuerbohrer und das flache Bohrholz auch nichts, wenn Zunder oder Holz zu grün oder feucht waren. Als sie jedoch das Skelett eines Auerochsen fand, glaubte sie, daß ihre Probleme gelöst seien.
Der Mond hatte sich abermals gerundet, und der feuchte Frühling ging in den Frühsommer über. Ayla wanderte immer noch über die breite Küstenebene, die sich sanft dem Binnenmeer zuneigte. Schlamm, der durch den jahreszeitlich unterschiedlich hohen Wasserstand der Flüsse heruntergeschwemmt wurde, bildete durch seine Ablagerungen oft lange, zum Teil durch Sandbänke verschlossene oder sogar gänzlich abgeriegelte tote Flußarme, Lagunen oder Tümpel.
Ayla hatte ein Lager auf trockenem Boden aufgeschlagen und war am Vormittag an einem solchen kleinen Tümpel stehengeblieben. Das Wasser machte einen fauligen Eindruck; offenbar war es ungenießbar, aber ihr Wasservorrat war sehr klein. Sie schöpfte mit der hohlen Hand, um zu kosten, spie das brackige Wasser aus und nahm einen kleinen Schluck aus ihrem Wasserbeutel, um sich den Mund auszuspülen.
Ich möchte wissen, ob der Auerochse hier auch von diesem Wasser getrunken hat, dachte sie, als sie vor den ausgebleichten Knochen und dem Schädel mit den spitz zulaufenden Hörnern stand. Sie kehrte dem Tümpel mit dem stehenden Wasser und dem Gebein, das sie an den Tod erinnerte, den Rücken zu, aber das Gerippe wollte ihr nicht aus dem Sinn. Immer wieder sah sie den weißen Schädel und die langen Hörner vor sich, besonders die geschwungenen hohlen Hörner.
Gegen Mittag machte sie in der Nähe eines Flusses Rast und beschloß, ein Feuer zu machen und ein Kaninchen zu braten, das sie erlegt hatte. Als sie in der warmen Sonne saß und den Feuerbohrer zwischen den Handflächen auf der hölzernen Unterlage herumwirbeln ließ, wünschte sie, Grod würde auftauchen mit der Glut, die er bei sich trug – worin?
Sie sprang auf, verstaute Feuerbohrer und Holzunterlage in der Kiepe, legte das Kaninchen obenauf und eilte den Weg zurück, den sie gekommen war. Als sie den Tümpel erreichte, blickte sie sich suchend nach dem Schädel um. Für gewöhnlich hatte Grod ein in trockenes Moos oder Flechten eingewickeltes Glutstück im langen hohlen Horn eines Auerochsen dabei. Hätte sie ein solches Horn, konnte auch sie Feuer mit sich herumtragen.
Doch während sie am Horn herumzerrte, um es vom Schädel zu lösen, überkamen sie Gewissensbisse. Weibliche Clansangehörige durften kein Feuer tragen; das war verboten. Aber wer trägt es dann, wenn ich es nicht tue, dachte sie, riß noch einmal mit aller Macht und brach das Horn vom Schädel los. Rasch eilte sie dann fort, als ob allein der Gedanke an das Verbotene wachsame und mißbilligend blickende Augen beschworen hätte.
Es hatte eine Zeit gegeben, da ihr Überleben davon abgehangen hatte, daß sie sich einer Daseinsform anpaßte, die ihrem Wesen fremd war. Jetzt hing es von ihrer Fähigkeit ab, die Normen ihrer Kindheit abzuschütteln und selbst zu denken. Das Auerochsenhorn war ein Anfang und ließ Gutes für die Zukunft erwarten.
Doch das Feuer mit sich zu tragen war schwieriger, als sie sich vorgestellt hatte. Am Morgen suchte sie nach trockenem Moos, um ihre Glut darin einzuwickeln. Doch was in der bewaldeten Gegend um die Höhle herum so reichlich vorhanden gewesen war – hier, auf den trockenen offenen Ebenen war es nicht zu finden. Schließlich entschied sie sich für Gras. Zu ihrem großen Kummer war die Glut erkaltet, als sie ihr neues Lager aufschlagen wollte. Aber sie wußte, daß es möglich war; auch hatte sie oft genug ein Feuer mit Erde aufgeschüttet, so daß es die ganze Nacht über weiterglühte. Sie besaß das notwendige Wissen. Versuche schlossen Fehlschläge ein, und so wickelte sie abends viele Male erloschene Glut aus, ehe sie ein Verfahren entdeckte, ein Stück Glut vom Feuer eines Lagers bis zum nächsten zu erhalten. Fortan trug sie auch noch das Horn des Auerochsen an ihrem Hüftriemen mit sich.
Ayla fand bei den Flüssen, auf die sie stieß, immer wieder Stellen, an denen sie hinüberwaten konnte, doch als sie auf den großen Fluß stieß, wußte sie, daß sie eine andere Methode des Übersetzens finden müßte. Ein paar Tage lang folgte sie dem Strom flußaufwärts. Er bog nach Nordosten ab und wurde keineswegs schmaler.
Obwohl sie meinte, aus dem Gebiet herauszusein, in dem noch Angehörige des Clans jagen mochten, wollte sie nicht nach Osten. Sich nach Osten wenden, hieß zum Clan zurückkehren. Aber sie konnte nicht zurück, und so wollte sie nicht einmal in östlicher Richtung weiter vorstoßen. An ihrem offenen Lager beim Fluß konnte sie aber auch nicht bleiben. Sie mußte hinüber; es gab keine andere Möglichkeit.
Zwar meinte sie, es schaffen zu können – schließlich war sie immer eine kräftige Schwimmerin gewesen –, aber nicht, wenn sie dabei die Kiepe mit all ihren Habseligkeiten überm Kopf halten mußte. Das Problem waren ihre Sachen.
Sie saß im Windschatten eins umgestürzten Baums, dessen kahle Äste im Wasser lagen, neben einem kleinen Feuer. Die Nachmittagssonne glitzerte wegen der starken Strömung auf der bewegten Oberfläche des Flusses. Ab und zu trieben abgestorbene Äste, Schilf und Gras vorüber. Das erinnerte sie an den Fluß, der in der Nähe der Höhle vorbeigeflossen war, und sie dachte an den Lachs- und Störfang dort, wo der Fluß ins große Binnenmeer mündete. Das Schwimmen hatte ihr immer Spaß gemacht, Iza hingegen Sorgen. Ayla erinnerte sich nicht daran, wie sie schwimmen gelernt hatte; es war, als hätte sie es immer gekonnt.
Warum wohl niemand sonst gern geschwommen war, sann sie. Sie fanden es befremdlich, daß ich gern so weit hinausschwamm … bis einmal Ona ums Haar ertrunken wäre.
Sie wußte noch genau, wie dankbar alle gewesen waren, daß sie dem Kind das Leben gerettet hatte. Brun hatte ihr sogar aus dem Wasser herausgeholfen. Bei dieser Gelegenheit war ihr ein warmes Gefühl der Anerkennung entgegengeschlagen, fast, als ob sie wirklich zu ihnen gehört hätte. Daß ihre Beine lang und gerade waren und sie einen Körper hatte, der zu schmal und zu groß war und sie auch noch blondes Haar, blaue Augen und eine hohe Stirn hatte – all das hatte in diesem Augenblick keine Rolle gespielt. Danach hatten etliche Clansangehörige versucht, schwimmen zu lernen, aber sie hielten sich nicht besonders gut oben und hatten Angst vor tiefen Wasser.
Ob Durc es wohl jemals lernt? Er war ja nie so schwer wie die Babys der anderen und wird bestimmt auch nie so muskulös wie die meisten Männer. Ich meine, er könnte …
Wer sollte es ihm jetzt beibringen? Ich bin nicht da, und Uba kann es nicht. Sie wird sich seiner annehmen; schließlich liebt sie ihn genauso wie ich, aber schwimmen kann sie nicht. Und Brun auch nicht. Brun wird Durc das Jagen beibringen und ihn beschützen. Er wird nicht zulassen, daß Broud meinem Sohn etwas antut, das hat er versprochen – obwohl er mich eigentlich gar nicht hatte besuchen dürfen. Brun war ein guter Anführer, nicht wie Broud ...
Kann Broud die Ursache dafür sein, daß Durc in mir wuchs? Ein Schauder überlief Ayla bei dem Gedanken daran, wie Broud sie mit Gewalt genommen hatte. Iza hatte gesagt, Männer machten das so mit Frauen, die ihnen gefielen; aber Broud hat es nur getan, weil er wußte, wie sehr ich es haßte. Alle behaupten, es wäre der Geist der Totems, der den Anstoß dafür gibt, daß Babys wachsen. Dabei hat keiner der Männer ein Totem, das stark genug wäre, meinen Höhlenlöwen zu besiegen. Schwanger wurde ich erst, als Broud mich immer wieder zwang, und alle waren überrascht. Keiner hat gedacht, daß ich jemals ein Baby bekommen würde …
Ich wünschte, ich könnte miterleben, wie er heranwächst. Er ist schon groß für sein Alter, so wie ich. Bestimmt wird er einmal der Größte im Clan sein, da bin ich mir ganz sicher …
Nein, das bin ich nicht! Ich werde es nie erfahren. Ich werde Durc nie wieder sehen.
Hör auf, an ihn zu denken, befahl sie sich selbst und wischte eine Träne fort. Sie stand auf und trat an den Rand des Flusses. Es tut nicht gut, über ihn nachzudenken. Und bringt mich auch nicht über den Fluß hinüber! Sie war so sehr mit ihren Gedanken beschäftigt gewesen, daß sie den gegabelten Stamm, der nahe am Ufer vorübertrieb, erst gar nicht sah. Wie abwesend, und doch irgendwie bei der Sache, verfolgte sie, wie die auseinanderstrebenden Äste mit den ineinanderwachsenden Zweigen daran sich am Ufer verhedderten und beobachtete, ohne es recht zu sehen, wie der Stamm eine lange Zeit auf- und abwippte, um wieder freizukommen. Doch als ihr klar wurde, was dort vor sich ging, erkannte sie sogleich die Möglichkeiten, die sich daraus für sie ergaben.
Sie watete in das seichte Wasser hinein und zog den Stamm an Land. Es handelte sich um den oberen Teil eines ausgewachsenen Baums, der weiter flußaufwärts abgebrochen sein mußte und sich noch nicht allzusehr mit Wasser vollgesogen hatte. Mit der Feuerstein-Axt, die sie in einer Falte ihres Umhangs bei sich trug, hackte sie den längeren der beiden sich gabelnden Äste ab, so daß er ungefähr so lang war wie der andere, und befreite alles von den hinderlichen kleineren Zweigen, so daß zwei ziemlich lange Äste zurückblieben.
Nachdem sie sich rasch umgesehen hatte, strebte sie einer Gruppe von Birken zu, die von Waldreben umrankt wurden. Als sie an einer der frischen holzigen Ranken zerrte, löste sich ein langer, zäher Baststreifen. Beim Zurückgehen befreite sie diesen von den Blättern. Dann breitete sie ihr Schutzzelt auf dem Boden aus und leerte den Inhalt ihrer Kiepe darauf. Es war Zeit, eine Bestandsaufnahme zu machen und ihre Sachen neu zu packen.
Die Beinlinge mit dem Fell an der Innenseite sowie ihre Handlinge kamen zusammen mit dem gleichfalls pelzigen Winterumhang ganz nach unten; sie trug jetzt ihren Sommerumhang und brauchte den anderen vor dem nächsten Winter nicht mehr. Bei dem Gedanken an den nächsten Winter hielt sie einen Moment inne und sann darüber nach, wo sie ihn wohl erleben würde; lange verweilte sie jedoch nicht bei diesem Gedanken. Und wieder hielt sie inne, als sie das weiche geschmeidige Ledertuch hochnahm, mit dem sie Durc immer auf der Hüfte getragen hatte.
Sie brauchte es nicht; es war für ihr Überleben nicht notwendig; sie hatte es nur mitgenommen, weil es etwas war, das an ihn erinnerte. Sie hielt das Ledertuch an ihre Wange, legte es dann sorgfältig zusammen und verstaute es gleichfalls in der Kiepe. Obendrauf kamen die weichen, saugfähigen Lederstreifen, die sie für ihre Monatsblutungen brauchte. Als Nächstes kamen ihre Fußlinge in die Kiepe. Sie lief jetzt barfuß und zog nur dann ein Paar an, wenn es feucht oder kalt war; aber sie zerschlissen bereits. Ayla war froh, ein zweites Paar mitgenommen zu haben.
Als Nächstes sichtete sie ihre Vorräte. Eine Birkenrindentasche mit Ahornzucker war ihr noch geblieben. Ayla machte sie auf, brach ein Stück ab und steckte es sich in den Mund; ob sie wohl jemals wieder Ahornzucker kosten würde, wenn dieser aufgebraucht war?
Sie hatte immer noch ein paar Brocken Reiseproviant von der Art, wie die Männer sie mitnahmen, wenn sie auf die Jagd gingen und die aus ausgelassenem Fett, gemahlenem und getrocknetem Fleisch und Trockenfrüchten bestand. Der Gedanke an das köstliche Fett ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Das Niederwild, das sie mit ihrer Schlinge erlegte, war größtenteils mager. Ohne die pflanzliche Nahrung, die sie unterwegs sammelte, würde sie langsam zugrundegehen; ihre Nahrung durfte nicht zu einseitig sein.
Sie verstaute den Reisevorrat in der Kiepe, ohne davon gekostet zu haben, und hob ihn sich für Notfälle auf. Hinzu kamen noch ein paar Streifen getrocknetes Fleisch – zäh wie Leder, aber nahrhaft –, etliche gedörrte Apfel, ein paar Haselnüsse und wenige Beutel mit Körnern, die sie auf den Steppen in der Nähe der Höhle gesammelt hatte; eine verfaulte Wurzel warf sie fort. Oben auf ihre Vorräte legte sie Becher und Schale, ihre Kapuze aus Vielfraßfell und die bereits ziemlich zerschlissenen Fußlinge.
Sie nestelte ihren Medizinbeutel vom Leibriemen und ließ die Hand über das glatte, wasserundurchlässige Otterfell gleiten: die harten Knochen von Füßen und Schwanz waren deutlich zu spüren. Die Schlaufe, mit deren Hilfe sie den Beutel schließen konnte, war um die Halsöffnung herum eingefädelt, und der durchs Trocknen merkwürdig flach gewordene und noch am Halsende festsitzende Kopf diente als Patte. Iza hatte den Beutel für sie gefertigt und das Erbe von Mutter auf Tochter übergehen lassen, als sie, Ayla, die Medizinfrau des Clans geworden war.
Plötzlich – zum erstenmal seit vielen Jahren – fiel Ayla der erste Medizinbeutel ein, den Iza ihr gemacht hatte – derjenige, den Creb verbrannt hatte, als sie zum erstenmal mit dem Fluch belegt worden war. Brun hatte nicht anders gekonnt. Frauen war es verboten, Waffen anzurühren, und Ayla hatte ihre Schlinge schon eine ganze Reihe von Jahren benutzt. Aber er hatte ihr eine Chance zur Rückkehr gegeben – falls es ihr gelang zu überleben.
Bislang war es ihr unmöglich gewesen, über Creb nachzudenken; dazu war der Schmerz noch zu neu, saß der Kummer zu tief. Sie hatte den alten Zauberer genauso geliebt, wie sie Iza geliebt hatte. Er war Izas Bruder gewesen und der von Brun auch. Da ihm ein Auge und ein Teil des einen Arms fehlten, hatte Creb nie gejagt; dafür war er zum Heiligsten Mann aller Clans geworden, zum Mog-ur, dem Gefürchteten und Geachteten; sein vernarbtes, einäugiges altes Gesicht vermochte noch dem tapfersten Jäger Furcht einzujagen, aber Ayla kannte auch seine weiche Seite.
Er hatte sie beschützt, sie umsorgt und geliebt als das Kind einer Gefährtin, die er nie gehabt hatte. Sich mit dem Tod Izas vor drei Jahren abzufinden, hatte Ayla Zeit gehabt; wenn die Trennung von Durc sie auch schmerzte, immerhin wußte sie, daß er noch lebte. Um Creb hatte sie noch nicht getrauert. Doch jetzt, unversehens, wollte der Schmerz, den sie seit dem Erdbeben, in dem er umgekommen war, unterdrückt hatte, heraus. Laut rief sie seinen Namen.
»Creb ... ach, Creb ... Warum bist du zurückgegangen in die Höhle? Warum hast du sterben müssen?«
Dann entrang sich ihr aus tiefstem Innern ein hoher Klageschrei. Sie wiegte sich vor und zurück, vor und zurück, und beklagte ihren Verlust, ließ ihrer Sorge und ihrer Verzweiflung freie Bahn. Doch es war kein verständnisvoll sie umsorgender Clan da, seine Klage mit der ihren zu vereinen und an ihrem Kummer teilzunehmen. Sie war allein in ihrer Trauer, und sie klagte um ihre Verlassenheit.
Als ihre Klage verebbte, kam sie sich wie ausgetrocknet vor, doch der schreckliche Schmerz war verflogen. Nach einer Weile ging sie hinunter an den Fluß, wusch sich das von Tränen verschmierte Gesicht und verstaute dann ihren Medizinbeutel in der Kiepe. Dessen Inhalt brauchte sie nicht zu überprüfen. Sie wußte genau, was darin war.
Sie hob ihren Grabstock auf und schleuderte ihn beiseite, als Zorn in ihr aufwallte, den Kummer verdrängte und sie in ihrer Entschlossenheit noch bestärkte. Broud wird es nicht fertigbringen, daß ich sterbe!
Tief holte sie Atem und zwang sich dann weiterzupacken. Jetzt kamen das Gerät zum Feuermachen und das Auerochsenhorn hinein; dann holte sie verschiedene Feuersteingeräte aus den Falten ihres Überwurfs. Einer besonderen Falte entnahm sie einen runden Kieselstein, warf ihn in die Luft und fing ihn wieder auf. Jeder Stein, sofern er von der richtigen Größe war, ließ sich mit der Schleuder schleudern, aber zielsicher treffen ließ sich am besten mit glatten, runden Geschossen. Die paar, die sie hatte, behielt sie.
Dann griff sie nach ihrer Schleuder, einer Hirschlederschlaufe, die sich im mittleren Teil verbreiterte und lang zulaufende, durch vielen Gebrauch zusammengedrehte Enden besaß. Daß sie die Schleuder behalten mußte, war keine Frage. Sie löste die Verknotung des langen Lederriemens, den sie dergestalt um ihren weichen Ziegenlederumhang geschlungen hatte, daß die verschiedenen Falten enstanden, in denen sie Dinge mit sich herumtrug. Der Umhang fiel zu Boden. Sie stand nackt da und trug nur den kleinen Lederbeutel an einem Riemen um den Hals – ihr Amulett. Sie streifte Riemen und Beutel über den Kopf und erschauerte; ohne Amulett kam sie sich nackter vor als ohne Umhang; die kleinen Dinge darin gaben ihr Sicherheit.
Das waren nun all ihre Habseligkeiten, alles, was sie brauchte, um zu überleben – diese Dinge und dazu Wissen, Können, Erfahrung, Klugheit, Entschlossenheit und Mut.
Rasch rollte sie ihr Amulett, die Werkzeuge und ihre Schleuder in ihren Umhang ein und steckte auch dies in die Kiepe. Dann wickelte sie das Bärenfell drum herum und verschnürte es mit ihrem langen Riemen. Dieses Bündel wiederum rollte sie in ihr Zelt aus Auerochsenfell, und das Ganze zurrte sie mit Hilfe des frischgebrochenen Schlingengewächses auf dem Baumstamm fest.
Eine Weile starrte sie auf den breiten Strom und das ferne Ufer, dachte dann an ihr Totem, schob mit dem Fuß Sand auf das Feuer und schleifte den Baumstamm mitsamt all ihrer kostbaren Habe hinunter ins Wasser. Dort stellte sie sich fest auf die Astgabelung, hielt sich an den stehengebliebenen Enden der ehemaligen Zweige fest und stieß dann mit ihrem Floß ab.
Immer noch eiskalt vom Schmelzwasser der Gletscher umfing das Wasser ihren nackten Leib. Sie schnappte nach Luft und konnte kaum atmen, doch Gefühllosigkeit setzte ein, und sie gewöhnte sich an das eisige Element. Die mächtige Strömung packte das Floß und versuchte, es weiter hinunterzutragen zum Meer. Das Floß schaukelte auf den Wellen, doch die Gabelung der Äste hielt es davon ab, sich um sich selbst zu drehen. Mit aller Macht strampelnd, kämpfte Ayla darum, es durch die schäumende Strömung hindurchzuschieben; in einem schrägen Winkel wurde sie abgedrängt, doch ging es immer noch auf das gegenüberliegende Ufer zu.
Sie kam nur quälend langsam voran. Jedesmal, wenn sie aufblickte, war das gegenüberliegende Ufer weiter entfernt, als sie gedacht hatte. Sie trieb viel rascher flußabwärts, als sie über den Fluß hinüberkam. Als die Strömung sie an der Stelle vorbeitrug, an der sie geglaubt hatte, landen zu können, war sie ausgepumpt und unterkühlt. Sie zitterte. Ihre Muskeln schmerzten. Ihr war, als hätte sie eine Ewigkeit mit den Füßen gestrampelt, um von Felsbrocken freizukommen, die man daran befestigt hatte. Trotzdem zwang sie sich weiterzumachen.
Schließlich war sie dermaßen erschöpft, daß sie sich der unerbittlichen Kraft der Strömung überließ. Das Wasser machte sich das augenblicklich zunutze und trieb das Floß zurück in die Richtung, die der Flußlauf nahm. Ayla klammerte sich verzweifelt an den Baumstamm, der jetzt sie beherrschte.
Doch weiter unten änderte der Fluß seinen Lauf und bog dort, wo es um eine Landzunge herumging, scharf von seiner südlichen Richtung nach Westen ab. Ayla hatte mehr als drei Viertel quer über die reißende Strömung geschafft, ehe sie sich ihrer Erschöpfung überließ, doch als sie jetzt das felsige Ufer sah, riß sie sich entschlossen noch einmal zusammen.
Sie zwang ihre Beine zu strampeln, stemmte sich gegen das Wasser, um das Ufer zu erreichen, ehe der Fluß sie um die Landzunge herumtrug. Geschlossenen Auges konzentrierte sie sich darauf, die Beine zu bewegen. Plötzlich spürte sie, wie der Baumstamm mit einem Ruck auf Grund lief und dann liegenblieb.
Ayla war unfähig, sich zu rühren. Halb im Wasser liegend, klammerte sie sich immer noch an den Zweigstümpfen fest. Eine Welle hob den Baumstamm von den schartigen Felsen herunter, und panisches Entsetzen ergriff die junge Frau. Sie zwang sich auf die Knie und schob den geschundenen Baumstamm auf den Sand. Dann fiel sie zurück in Wasser.
Aber sie konnte nicht lange ruhen. Am ganzen Leibe zitternd zwang sie sich, die felsige Landzunge hinaufzukriechen. Mit fliegenden Händen versuchte sie die Knoten des Schlinggewächses zu lösen; als sie das geschafft hatte, schleifte sie ihr Bündel hinauf auf den Strand. Der Lederriemen war noch schwieriger zu lösen. Die Hände zitterten ihr.
Die Vorsehung half. An einer schwachen Stelle riß der Riemen. Sie zerrte ihn los, stieß die Kiepe beiseite, kroch auf das Bärenfell und wickelte sich hinein. Als sie endlich aufhörte zu zittern, war die junge Frau schon längst eingeschlafen.
Nach der gefährlichen Flußüberquerung wandte Ayla sich in leicht westlicher Richtung gen Norden. Die Sommertage wurden wärmer, und sie suchte die offenen Steppe nach irgend welchen Zeichen menschlichen Lebens ab. Die Blüten der Kräuter, die den kurzen Frühling mit Farben erfüllt hatten, verblaßten, und das Gras wuchs fast hüfthoch.
Zu ihrer sonstigen Nahrung kamen jetzt auch noch Luzerne und Klee, und sie freute sich über die stärkehaltigen, leicht süßlich schmeckenden Erdnüsse, an die sie herankam, indem sie die wuchernden Oberflächenranken bis zur Wurzel zurückverfolgte. Die Bärenschoten mit der Reihe ovaler grüner und eßbarer Samen darin schwollen an; auch die Wurzeln dieser Pflanze konnte sie essen, und sie hatte keine Schwierigkeit, zwischen ihr und ihren giftigen Verwandten zu unterscheiden. Als die Reifezeit für die Knospen der Taglilien vorüber war, waren ihre Wurzeln immer noch zart. Einige frühreife Arten niedrigwachsender Beerensträucher zeigten durch die rote und schwarze Färbung der Früchte ihre Reife an, und außerdem gab es immer ein paar junge Blätter von Fuchsschwanz, Senf und Brennesseln, um ihren Hunger zu stillen.
An Zielen für ihre Schleuder mangelte es nicht. Pfeifhasen, Präriehunde, Wüstenspringmäuse und verschiedene Hasenarten – grau-braun jetzt und nicht mehr im weißen Winterfell – bevölkerten die Ebenen, und gelegentlich lief ihr sogar ein allesfressender, mäusevertilgender Riesenhamster über den Weg. Tieffliegende Wald- und Schneehühner waren ein besonderer Leckerbissen für sie, obgleich Ayla sich niemals an einem Schneehuhn gütlich tun konnte, ohne daran zu denken, daß die fetten Vögel mit den gefiederten Füßen Crebs Lieblingsspeise gewesen waren.
Doch das waren nur die kleineren Tiere, die es sich an der sommerlichen Fülle wohl sein ließen. Sie sichtete auch Hochwildherden – Rentiere, Rotwild und Riesenhirsche mit ihren gewaltigen Geweihen; gedrungene Steppenpferde, Esel und Onager, die beiden den Pferden ähnlich waren; mächtige Wisente oder auch kleinere Gruppen von Steppenantilopen kreuzten ihren Weg. Die Herde rötlich-brauner Wildrinder, deren Bullen bis zum Widerrist sechs Fuß maßen, graste mit den Frühlingskälbern, die noch an den ausladenden Eutern der Kühe saugten. Der Gedanke an das zarte Fleisch von Kälbern, die noch vom Muttertier gesäugt wurden, ließ Ayla das Wasser im Mund zusammenlaufen, doch mit ihrer Schleuder konnte sie nichts gegen die großen Auerochsen ausrichten. Sie begegnete wollhaarigen Mammuts auf ihrer Wanderschaft, und einmal sah sie sogar, wie eine Herde von Moschusochsen einen Ring um ihre Jungtiere bildete und einem Rudel angriffslustiger Wölfe die Stirn bot. Einer Familie der leicht reizbaren Wollhaarnashörner ging sie gleich aus dem Weg. Brouds Totem, erinnerte sie sich – wie passend!
Als die junge Frau immer weiter in den Norden kam, fiel ihr auf, daß die Landschaft sich veränderte. Sie wurde trockener und öder. Sie hatte die unregelmäßig verlaufende nördliche Grenze der feuchten, im Winter schneebedeckten Festlandssteppen erreicht. Jetzt kamen die trockenen Lößsteppen, die sich bis unmittelbar an die steilaufragenden Wände der nördlichen Eiskappe erstreckten und die es nur während der Eiszeit gab.
Gletscher – massive übereinandergelagerte Eisschichten, die sich über den gesamten Kontinent erstreckten – hüllten die nördliche Hemisphäre ein. Fast ein Viertel der gesamten Erdoberfläche wurde von ihrem unermeßlichen Gewicht erdrückt. Die riesigen Wassermengen, die sie banden, bewirkten, daß der Wasserspiegel der Ozeane sich senkte, die Landmasse sich entsprechend vergrößerte und auch die Umrisse dieser Kontinente sich veränderte. Kein Teil des Erdballs war ihrem Einfluß entzogen, Regenfälle überfluteten die Gebiete um den Äquator, und die Wüsten schrumpften; doch am nachhaltigsten wirkte sich der Einfluß der Eiskappe an ihren Rändern aus.
Die riesige Eisdecke kühlte die darüberliegende Luft, was zur Folge hatte, daß die Feuchtigkeit darin sich verdichtete und als Schnee herunterkam. Um den Mittelpunkt der Eiskappe setzte sich jedoch Hochdruck durch und schuf eine extrem trockene Kältezone, welche die Schneefälle immer weiter an den Rand drängte. Die Eisränder schoben sich zunehmend nach Süden vor, die Eisdecke selbst war von unglaublicher Einförmigkeit und nahezu zweitausend Meter dick.
Da der größte Teil des Schnees auf dem Eis herunterging und dafür sorgte, daß die Eisdecke immer größer wurde, war das Land südlich davon trocken – und gefroren. Der ständige Hochdruck über dem Mittelpunkt der Eiskappe ließ ein atmosphärisches Gefälle entstehen, das die extrem kalte Trockenluft in Richtung auf Tiefdruckgebiete fließen ließ; Wind wehte von Norden herunter und kam auf den Steppen niemals zum Stillstand, sondern variierte höchstens in seiner Stärke. Unterwegs riß er das von den Eismassen staubfein zermahlene Felsgestein in die Höhe. In der Luft verdichteten sich diese Staubteilchen zu einer körnigen, lehmartigen Substanz – Löß –, die über Hunderte von Kilometern entfernt niederging und eine viele Fuß dicke Schicht fruchtbaren Bodens bildete.
Im Winter trieben heulende Winde den spärlichen Schnee über das schwarze, gefrorene Land. Die Erde drehte sich jedoch immer noch um ihre geneigte Achse, und die Jahreszeiten lösten einander immer noch ab. Nur um wenige Grade niedrigere Jahresdurchschnittstemperaturen geben den Anstoß zur Gletscherbildung, und nur wenige heiße Tage wirken sich kaum aus, es sei denn, sie erhöhten die Mittelwerte.
Im Frühjahr schmolz der wenige im Winter gefallene Schnee, die Eisoberfläche erwärmte sich, Schmelzwasser sickerte aus den Gletschern und rann über die Steppen. Dieses Schmelzwasser weichte den Boden über dem Dauerfrost in der Tiefe genug auf, daß flachwurzelnde Gräser und andere Pflanzen sprießen konnten. In der Mitte des Sommers verdorrte es, ein ganzer Erdteil war von Grasland bedeckt, und dazwischen gab es in Meeresnähe nur verstreut kleinere Wald- und Tundraflächen.
In den Gebieten, die unmittelbar südlich der Eisränder lagen und wo die Schneedecke nur gering war, lieferte das Gras das ganze Jahr über Futter für Millionen und Abermillionen grasender und von Samen sich ernährender Tiere, die sich an die Eiskälte des Nordens angepaßt hatten – und diese wiederum gaben jenen Raubtieren Nahrung, die sich an jedes Klima anpassen, das ihren Beutetieren Nahrung gibt. Mammuts grasten am Fuß blau-weiß schimmernder, nahezu zweitausend Meter steil in die Höhe ragender Eiswände.
Wasserläufe, die in der wärmeren Jahreszeit vom Schmelzwasser gespeist wurden, fraßen sich durch die tiefe Lößschicht und oft auch noch durch das Sedimentgestein bis hinunter auf die kristalline Granitplatte, welche das Fundament des Erdteils bildete. Tiefe Schluchten und Flußverengungen waren überall in der offenen Landschaft zu finden, aber Flüsse sorgten für Wasser und Schluchten boten Schutz vor dem Wind. Selbst in den trockenen Lößsteppen gab es grüne Täler.
Es wurde wärmer, und während ein Tag dem anderen folgte, wurde Ayla des Wanderns müde, wurde sie der Eintönigkeit der Steppen, der unbarmherzig herabscheinenden Sonne und des unablässig wehenden Windes überdrüssig. Ihre Haut wurde hart, sprang auf und pellte sich. Ihre Lippen waren aufgesprungen, die Augen entzündet, und im Hals hatte sie ständig Sand. Gelegentlich stieß sie auf ein Flußtal, das grüner und bewaldeter war als die Steppen, doch nichts reizte sie zum Verweilen, und keines ließ eine Spur von Menschenleben erkennen.
Der Winter beherrschte das Land auch jetzt. Nicht einmal an den heißesten Sommertagen konnte sie die durch Mark und Bein gehende Gletscherkälte vergessen. Sie mußte sich Nahrungsvorräte anlegen und daran denken, irgendwo Schutz zu suchen, um die lange, entbehrungsreiche Winterzeit zu überleben. Seit dem Frühjahr war sie jetzt unterwegs, und nachgerade überlegte sie, ob es ihr beschieden sein sollte, für alle Ewigkeit über die Steppen zu ziehen – oder doch zugrundezugehen.
Am Ende eines Tages, der sich in nichts von all den vorhergegangenen unterschied, schlug sie auf trockenem Boden ihr Lager auf. Sie hatte Beute gemacht, doch ihre Glut war ausgegangen, und Holz war schwerer zu finden. Sie kaute ein paar rohe Bissen und machte sich nicht die Mühe, ein Feuer zu machen, aber sie hatte keinen Appetit. Sie warf das Murmeltier beiseite, obwohl auch das Wild seltener zu werden schien – oder sie hielt nicht mehr so wachsam danach Ausschau wie zuvor. Auch das Sammeln von pflanzlicher Nahrung wurde schwieriger. Der Boden war dicht von abgestorbener Vegetation bedeckt. Und außerdem war da der ständige Wind.
Sie schlief nur schlecht; böse Träume suchten sie heim, und sie wachte unausgeschlafen auf. Sie hatte nichts zu essen; selbst das Murmeltier, das sie fortgeworfen hatte, war verschwunden. Sie trank einen Schluck Wasser, das schal und abgestanden schmeckte, packte ihre Kiepe und zog weiter Norden.
Gegen Mittag fand sie ein Flußbett mit einigen im Austrocknen begriffenen Tümpeln darin; das Wasser hatte zwar einen leicht bitteren Geschmack; dennoch füllte sie ihren Wasserbeutel damit. Sie grub ein paar Teichkolbenwurzeln aus; sie waren zäh und schmeckten fade; trotzdem kaute sie beim Weitergehen darauf herum. Sie wollte nicht weiter, wußte jedoch nicht, was sonst tun. Niedergeschlagen und lustlos wie sie war, achtete sie nicht weiter darauf, wohin sie ging. So bemerkte sie das Rudel Höhlenlöwen, das sich in der Nachmittagssonne aalte erst, als einer von ihnen warnend sein Gebrüll erhob.
Furcht durchzuckte sie und riß sie aus ihrer Teilnahmslosigkeit heraus. Sie bog von ihrer eingeschlagenen Richtung ab und wandte sich nach Westen, um dem Revier der Höhlenlöwen auszuweichen. Der Geist der Höhlenlöwen war es, der sie beschützt hatte, nicht das große Raubtier in der Wirklichkeit. Die Tatsache, daß der Höhlenlöwe ihr Totem war, bedeutete nicht, daß sie vor seinem Angriff sicher war.
Tatsächlich war Creb überhaupt nur dadurch darauf gekommen, daß der Höhlenlöwe ihr Totem war. Immer noch trug sie auf dem linken Oberschenkel die vier parallel verlaufenden Narben, und auch heute noch suchte sie der Angsttraum heim, bei dem eine riesige Tatze in die enge Felsspalte hineinlangte, in der sie als fünfjähriges Kind Zuflucht gesucht hatte. Auch letzte Nacht hatte sie von dieser Tatze geträumt. Creb hatte ihr gesagt, sie sei auf die Probe gestellt worden, um herauszufinden, ob sie würdig sei – und mit einem Zeichen versehen worden, um zu zeigen, daß sie erwählt worden war. Wie abwesend griff ihre Hand hinunter und spürte den Narben auf dem Oberschenkel nach. Warum der Höhlenlöwe wohl ausgerechnet mich erwählt hat, dachte sie.
Die grelle Sonne blendete, als sie im Westen versank. Ayla war mühsam einen Abhang hinaufgestiegen und hatte Ausschau gehalten nach einer Stelle, wo sie ihr Lager aufschlagen konnte. Wieder ein Lager ohne Wasser, dachte sie und war froh, den Wasserbeutel vorsichtshalber doch gefüllt zu haben. Trotzdem, sie mußte bald Wasser finden. Sie war müde und hungrig und immer noch ganz durcheinander, daß sie so unvorsichtig gewesen war, so nahe an die Höhlenlöwen heranzukommen.
Sollte das ein Zeichen sein? War es nur eine Frage der Zeit? Was bildete sie sich ein, daß sie glaubte, einem Todesfluch entkommen zu können?
Das Licht am Horizont war so grell, daß sie den jäh abfallenden Rand der Hochebene um ein Haar nicht bemerkt hätte. Schützend schirmte sie mit der Hand die Sonne ab; sie stand am Rand des Abhangs und schaute in eine Schlucht hinunter. Unten glitzerte ein kleiner Bach, und zu beiden Seiten wuchsen Bäume und Sträucher. Ein aus Felsklippen gebildeter Paß führte hinunter in ein kühles, grünes, schützendes Tal. Als sie den Abstieg zur Hälfte geschafft hatte, mitten auf einer Grasfläche, fielen die letzten schrägen Strahlen der Sonne auf eine kleine Herde friedlich grasender Pferde.
»Aber warum willst du mich begleiten, Jondalar?« fragte der junge Mann mit den braunen Haaren, während er das aus verschiedenen Häuten zusammengenähte Zelt abbaute. »Marona hast du gesagt, du wolltest nur Dalanar besuchen und mir den Weg zeigen. Nur um eine kurze Reise zu machen, ehe du deinen eigenen Hausstand gründetest. Du solltest doch zum Sommertreffen mit den Lanzadonii gehen und rechtzeitig für die Feier des Zusammengebens dort sein. Sie wird dir die Augen auskratzen, und wenn es eine Frau gibt, von der ich nicht möchte, daß sie auf mich wütend ist, dann ist sie es. Bist du sicher, daß du nicht von ihr wegläufst?« Thonolan hatte einen unbekümmerten Ton angeschlagen, aber der Ernst in seinen Augen verriet ihn.
»Kleiner Bruder, wie kommst du darauf, daß du der einzige in dieser Familie bist, der den Wandertrieb verspürt? Du hast dir doch wohl nicht eingebildet, daß ich dich ganz allein losziehen lasse, oder? Und du dann heimkehrtest und großtun könntest mit deiner langen Reise? Irgend jemand muß doch mitziehen, damit du hinterher nicht das Blaue vom Himmel herunterflunkerst – jemand, der aufpaßt, daß dir nichts zustößt«, erwiderte der großgewachsene blonde Mann, bückte sich dann und ging ins Zelt hinein.
Es war hoch genug, um bequem darin sitzen oder knien zu können, aber nicht hoch genug, darin zu stehen; der Platz reichte für ihre beiden Schlafrollen und ihr Gerät. Hochgehalten wurde das Zelt von drei in gerader Flucht aufgestellten Stangen; ungefähr in der Mitte, bei der mittleren und größeren Stange, befand sich eine Öffnung mit einer Lasche darüber, die man herunterrollen und mit Riemen verschließen konnte, um den Regen draußenzuhalten, oder aufrollen, um den Rauch hinauszulassen, wenn sie ein Feuer im Zelt machen wollten. Jondalar zog die drei Stangen aus dem Boden und kroch mit ihnen zur Zeltöffnung hinaus.
»Dafür sorgen, daß mir nichts zustößt?« sagte Thonolan. »Mir müssen doch Augen am Hinterkopf wachsen, um aufzupassen, was sich hinter deinem Rücken tut! Wart’ nur, bis Marona dahinterkommt, daß du nicht bei Dalanar und den Lanzadonii bist, wenn sie zum Treffen kommen. Könnte sein, daß sie beschließt, sich in eine Donii zu verwandeln und über den Gletscher zu fliegen, den wir gerade überquert haben, um dich zu packen, Jondalar.« Beide machten sie sich daran, das Zelt zusammenzulegen. »Sie hat doch schon lange ein Auge auf dich geworfen, und ausgerechnet in dem Augenblick, wo sie glaubt, dich zu haben, kommst du auf den Gedanken, eine lange Reise zu machen. Ich glaube, du hast einfach keine Lust, deine Hand in diese Schlinge zu stecken und zuzulassen, daß Zelandoni den Knoten schlingt. Ich glaube, mein großer Bruder ist ehescheu.« Sie legten das Zelt neben die Traggestelle. »Die meisten Männer in deinem Alter haben schon ein oder zwei Sprößlinge an ihrem Herdfeuer«, fügte Thonolan noch hinzu und duckte sich, um einem spielerischen Faustschlag seines älteren Bruders zu entgehen; jetzt lächelten auch seine grauen Augen.