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Das irakisch-syrische Grenzgebiet. Zweistromland, Wiege der Zivilisation. Heute eine der gefährlichsten Krisenregionen der Erde. Ausgerechnet hierhin entsendet Multimilliardär Norman Stromberg die Archäologen Hannah Peters und ihren Mann John Evans. Der Auftrag: die Erkundung eines der rätselhaftesten Zeugnisse der Menschheitsgeschichte. Hannah und ihr Team stoßen auf ein pyramidenartiges Bauwerk, das sich in immer engeren Spiralen hinunter in die Erde schraubt. Ein Schlund der Hölle, der fatal an Dantes Unterwelt erinnert. Was immer in der tiefsten seiner Kammern erwacht ist – ein vorzeitlicher Mechanismus oder eine uralte rachsüchtige Gottheit –, es hat das Ende der Menschheit eingeläutet.
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Seitenzahl: 616
Thomas Thiemeyer
Babylon
Thriller
Knaur e-books
Das Zweistromland. Wiege der Zivilisation. Heute eine der gefährlichsten Krisenregionen der Erde. Ausgerechnet hierhin entsendet Multimilliardär Norman Stromberg die Archäologen Hannah Peters und ihren Mann John Evans. Der Auftrag: die Erkundung eines der rätselhaftesten Zeugnisse der Menschheitsgeschichte. Hannah und ihr Team stoßen auf ein pyramidenartiges Bauwerk, das sich in immer engeren Spiralen hinunter in die Erde schraubt. Ein Schlund der Hölle, der fatal an Dantes Unterwelt erinnert. Was immer in der tiefsten seiner Kammern erwacht ist – ein vorzeitlicher Mechanismus oder eine uralte rachsüchtige Gottheit –, es hat das Ende der Menschheit eingeläutet.
Meiner Familie gewidmet.
Blut ist eben doch dicker als Wasser.
Lass Sonne mein Gesicht verbrennen und Sterne meine Träume füllen.
Bin Reisender durch Raum und Zeit,
um hinzugehen, wo ich einst war.
Treff sanften Volkes Älteste,
wie selten sie zu finden sind.
Die wartend von den Tagen sprechen, wenn alles man zum Vorschein bringt.
(Led Zeppelin – Kashmir)
Dort vor den Toren von Babel führt ein Pfad in die Dünen. Siehe, wie die Karawanen ziehen, Krieger in Seide und Samt. Sie alle folgen dem Ruf in das verheißene Land. Die letzten steinigen sieben Meilen gehst du allein, doch kehrst du heim, wirst du ein König sein.
(Morlockk Dilemma – Der Baum)
Badiyat al-Jazira, Nordirak …
Die Stufen führten senkrecht in die Tiefe. Staubig, steil und von starker Abnutzung gezeichnet. Wie das Maul eines uralten Haifischs inmitten eines Meeres aus Sand. Heulend fegte der Wind über die Stufen und bedeckte sie mit einer Schicht von Quarzkristallen, die überall kleine Haufen bildeten.
Professor Ahmad Hammadi von der Universität Bagdad kniff die Augen zusammen. Drüben bei Mossul war die Sonne aufgegangen. Über der aufgewirbelten Wüste sah er die flammenden Strahlen, die die Bergkuppen berührten und rasch nach unten glitten. Noch etwa eine halbe Stunde, dann würde die gleißende Helligkeit ihre Augen blenden.
»Was denkst du, Hasan? Ist es das, wofür ich es halte?« Das Reden fiel ihm schwer. Seine Kehle war wie ausgetrocknet. Er hatte ein Taschentuch vor den Mund gebunden, um den Sand nicht einzuatmen.
Das Gesicht seines Sohnes leuchtete in der Dämmerung.
»Wie kannst du nur fragen, Baba? Sieh dir die Stufen an, sie sind alt. Verdammt alt. Du hast es geschafft. Allah hat deine Gebete erhört.«
Ahmad schob seinen Hut in den Nacken. Trotz des kühlen Windes schwitzte er. Sein Körper glühte vor Aufregung, er fühlte sich zittrig und krank.
War es möglich? Hatte Allah ihn wirklich erhört? Er grub bereits seit so langer Zeit, dass er schon fast nicht mehr damit gerechnet hatte, fündig zu werden. Jahrelange Rückschläge, Demütigungen und Spott hatten Narben auf seiner Seele hinterlassen. Die Verletzungen reichten tief. Er wollte das Gefühl von Freude und Triumph nicht an sich heranlassen. Nicht, ehe er wirklich sicher war, dass er gefunden hatte, wonach er suchte.
Kurzentschlossen streifte er die hochgekrempelten Ärmel runter. »Ich kann nicht länger warten. Ich muss wissen, was da unten ist. Jetzt.«
Hasans Augen blitzten auf. »Ich hole die Lampe.«
Sein Sohn eilte rüber zum Pick-up, zog die staubige Plane von der Ladefläche und kletterte hinauf. Der portable Halogenscheinwerfer lag irgendwo zwischen all den anderen Ausgrabungswerkzeugen. Metallisches Poltern erklang, doch das störte Ahmad nicht. Es gab Momente für Stille und solche für Feuerwerk und Freudenrufe.
Er versuchte, sich das Bild einzuprägen, jeden kleinen Ausschnitt, jedes noch so unwichtige Detail. Die Staubschicht auf der Karosserie des Toyotas, der abblätternde Lack, die runtergenudelten Reifen. Der Truck hatte seine besten Jahre lange hinter sich, er wurde praktisch nur noch von Rost und frommen Gebeten zusammengehalten. Trotzdem erstrahlte er in diesem Moment in überirdischer Schönheit.
An der Anhängerkupplung hing immer noch die Kette, mit der sie die fünfzig Zentner schwere, massive Sandsteinplatte aus der Verankerung gezogen hatten. Dort, wo sie für Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Jahren gelegen hatte. Ohne den Pick-up hätten sie sie niemals vom Fleck bewegt.
Ahmad zog sein Smartphone aus der Tasche und machte ein paar Schnappschüsse. Das Licht war schlecht, aber vielleicht würde dieser Moment einmal als eine der Sternstunden der Menschheit in die Geschichtsbücher eingehen. Wie würde er sich später ärgern, wenn ihn nicht wenigstens ein paar Bilder an diesen schicksalhaften Moment erinnerten?
Ein elektronisches Piepen erinnerte ihn an den niedrigen Akkustand. Rasch machte er ein paar Fotos, dann schaltete er auf Stand-by.
Hasan kam zurück mit Videokamera und Handscheinwerfer. Die Halogenbirne warf einen hellen Finger in den aufgewirbelten Sand. Ahmad riss ihm die Lampe aus der Hand und leuchtete in die Öffnung. Sein Sohn hatte recht gehabt, die Stufen waren alt. Viel älter, als seine schlechten Augen ihn zunächst hatten erkennen lassen. Die Art und Weise, wie die Erbauer die Platten zusammengefügt hatten, ließ erahnen, dass sie aus babylonischer oder assyrischer Zeit stammten, demnach also etwa zweitausendfünfhundert Jahre alt waren. Das musste natürlich genauer untersucht werden, aber zuerst mal war es wichtig, sicherzugehen, dass sie nicht aus Versehen einen Bunker der Terrormiliz freigelegt hatten. Die Fundstätte war antik, mehr brauchten sie im Moment nicht zu wissen.
Tief Luft holend und seinem Sohn einen aufmunternden Blick zuwerfend, senkte Ahmad seinen Fuß auf die oberste Stufe. Verlief der obere Treppenabschnitt noch in klarer Ost-West-Richtung, machte der Schacht nach etwa zwanzig Metern einen scharfen Knick in südlicher Richtung. Sehr ungewöhnlich für ein Bauwerk des alten Mesopotamien. Ein paar Stufen noch, dann traten sie in den Windschatten.
Schlagartig wurde es still. Ahmad strich mit der Hand über die gemauerten Wände, die dunkel vor Alter waren.
»Siehst du die Ziegel, Hasan? Plankonvex, genau wie früher. Seit zweitausend Jahren fertigt niemand mehr solche Ziegel an.« Er lächelte. Sein Sohn dokumentierte das Geschehen mit der Videokamera. Er würde den Film später zurechtschneiden und archivieren. Wenn erst die Schwärme ausländischer Archäologen hier einfielen, würden diese Aufnahmen der einzige Hinweis auf die wahren Entdecker sein.
Im Gegensatz zu ihm kannte sein Sohn sich gut mit Technik aus. Ahmad war in einer Zeit aufgewachsen, als Archäologie noch mit Maultieren, Klappspaten und Theodoliten betrieben wurde. Dieser ganze neumodische Kram – Camcorder, Computer, Datensticks und GPS – bereitete ihm große Probleme. Hasan war obendrein ein talentierter Filmemacher. Wie er die Blickwinkel wählte, wie er Perspektive und Licht setzte, das nötigte Ahmad Respekt ab. Ihm selbst gelang es ja noch nicht mal, bei einer einfachen Landschaftsaufnahme den Horizont gerade abzulichten.
Er löste seine Finger von der Wand und ging weiter. Die Luft wurde kühler. Ihre Schritte hallten von den Wänden wider.
Er konnte sich nicht erinnern, jemals eine solch reine Luft eingeatmet zu haben. Es war, als wäre sie über Tausende von Jahren hinweg konserviert worden, als hätten Zeit und Raum ihr nichts anhaben können. Ihm schoss der Gedanke durch den Kopf, dass schon die alten Könige diese Luft eingeatmet hatten. Hammurabi, Nebukadnezar, Assurbanipal – die größten Herrscher, die die Welt jemals gesehen hatte. Allein der Klang ihrer Namen trieb ihm einen Schauer über den Rücken.
Gewiss, die Pharaonen waren auch nicht zu verachten, aber die Wissenschaft hatte ihnen über die Jahrhunderte hinweg viel zu viel Bedeutung beigemessen. Die Herrscher des Nils waren dekadent gewesen. Sie hatten ihre Bedeutung erst im Tod erlangt und waren vor allem wegen ihrer monumentalen Begräbnisstätten berühmt geworden. Im Gegensatz zu ihnen hatte das Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris die erste Hochkultur der Welt hervorgebracht – die Sumerer – und mit ihnen die älteste Schrift. Die Hexerkönige Babylons und Assyriens waren bereits zu Lebzeiten zu Legenden geworden und um ein Vielfaches spannender und geheimnisvoller als die Pharaonen. Während die Forschung im Zweistromland jedoch durch fortwährende Kriege und instabile Machtverhältnisse erschwert worden war, hatte das alte Ägypten vor allem in Europa regelrechte Begeisterungsstürme entfacht. Malerei, Literatur, ja selbst die Musik – alles war geprägt gewesen vom Reich am Nil. Eine Entwicklung, die bis heute anhielt und die dem Staat Ägypten jährlich Millionen von Dollar in die Tourismuskasse spülte. Zu Unrecht, wie Ahmad fand. Hatte sein Land nicht dasselbe Recht auf Anerkennung? Es war höchste Zeit für eine kulturelle Wiederentdeckung, und er, Ahmad Husin Hammadi, würde dafür sorgen, dass es so kam.
Er erreichte die Kehre, wandte sich nach rechts. Wie angewurzelt blieb er stehen. Ein gewaltiges Relief ragte vor ihm auf. Eines, wie er noch kein zweites gesehen hatte. Das Bildnis war so ehrfurchtgebietend, dass Ahmad für einen Moment die Kamera vergaß. Erst, als Hasan ein Räuspern hören ließ, erinnerte er sich daran, dass sie immer noch auf ihn gerichtet war. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.
»Das … das ist Marduk«, sagte er mit rauher Stimme. »Der höchste Gott des babylonischen Pantheons. Bekannt auch als Asalluhi, der sumerische Beschwörungsgott, oder Asarualim – Herr des geheimen Wissens. Manche nennen ihn Enlil – Herr des Windes – und Enki – Gott des Wassers. Sein Name ist Legion. Im Alten Testament wird er zu Belial, Beelzebub oder Baal, dem Gott der Unterwelt. Seine Symbole sind Spaten und zweigehörnter Drache, siehst du?« Er deutete auf den unteren Teil des Bildnisses. Eine weitere Tür war dort zu sehen, die in noch größere Tiefen führte.
»Warum der Drache?«, fragte Hasan.
»Das hat mit dem Chaosdrachenkampf zu tun«, sagte Ahmad. »In der Legende tritt Marduk gegen Tiamat, die Göttin der Salzwasserozeane, an. Er besiegte sie und spaltete sie in zwei Hälften. Aus der einen formte er die Welt, aus der anderen den Himmel. Für diese Tat verliehen ihm die anderen Götter fünfzig Ehrennamen und befestigten sie in Form von Schicksalstafeln an seiner Brust. Marduk war unumstrittener Herrscher über alle anderen Götter. Er errichtete seinen Thron in Babylon und erklärte die Stadt zum Zentrum der Welt.« Ahmads Wangen glühten vor Aufregung, während die Lampe immer neue Details enthüllte. »Siehst du das prachtvolle Gewand mit den aufwendigen Stickereien? Manch einer meiner Kollegen hat sie als Sterne gedeutet, als einen Hinweis auf Marduks Herkunft. Man könnte sie auch als Zahnräder interpretieren, also als Symbole für Technik und Fortschritt. Niemand weiß genau, was sie bedeuten. Vielleicht liefert uns die nächste Ebene einen Hinweis auf den Zweck dieses Tempels. Ich frage mich, warum man ihn in die Tiefe anstatt in die Höhe gebaut hat, so wie alle anderen …«
Mit einem zittrigen Gefühl in den Beinen setzte er seinen Weg fort. Hoffentlich war noch niemand vor ihm hier gewesen.
Viele Tempel und Grabanlagen waren über die Jahrhunderte von Dieben und Grabräubern geplündert worden. Ausgeraubt, geschleift und zurückgelassen wie ausgehöhlte Schildkrötenpanzer. Bitte, Allah, mach, dass dieser Tempel unversehrt ist. Dafür würde ich alles opfern. Alles!
Er betrat den Durchgang, der zwischen den Beinen des Gottes hindurch in tiefere Regionen führte. Tausend Fragen kreisten in seinem Kopf. Wieso hier? Wieso in dieser entlegenen Gegend, gut hundert Kilometer vom antiken Ninive entfernt? Und wieso unter der Erde? Der Sinn eines Tempels war doch, gesehen zu werden und Gläubige zum Gebet einzuladen. Tempel waren Stätten der Begegnung und des geistigen Austauschs. Ein unterirdisches Heiligtum war ein Paradoxon, für das es in der Weltgeschichte keine Entsprechungen gab. Vielleicht also doch eine Grabstätte?
Ahmad erreichte das Ende der Treppe, ging unter einem gewölbten Bogen hindurch und betrat einen Raum.
Was das Licht seiner Lampe enthüllte, machte alles noch komplizierter.
Der Saal maß etwa zehn auf fünfzehn Meter und besaß eine Deckenhöhe von mindestens vier Metern. Statt der erhofften Inschriften oder Königsbildnisse gab es nur weitere Marduk-Darstellungen. Marduk kniend, Marduk mit erhobenem Arm, die Hand zur Faust geballt, Marduk auf einem Streitwagen, gezogen von einem halben Dutzend Löwen, deren Fell mit einem Sternenmuster überzogen war. Überall Marduk.
Was um alles in der Welt war das?
»Vater, sieh mal hier drüben.« Hasans Stimme hallte von den Wänden wider. Er hatte den Raum der Länge nach durchschritten und stand am gegenüberliegenden Ende, wo sich ein besonders prächtiges Relief befand. Ahmad folgte ihm. Irrte er sich, oder war das eine weitere Tür?
Kein Zweifel, es war eine massive Pforte, die beinahe die gesamte Breite des Raumes einnahm. Sie wirkte so ungeheuer massiv, dass nicht mal eine Wagenladung TNT ausreichen würde, sie zu öffnen. Kein Hebel, kein Schalter. Nichts, was darauf hindeutete, wie man sie aufbekam. Eine feine Linie genau in der Mitte zeigte, wo die beiden Flügel auseinandergleiten konnten. Die Texte waren in Keilschrift geschrieben, wenn auch in einer Sprache, die er nicht recht verstand.
Ahmad stellte die Lampe auf den Boden, den Strahl an die Decke gerichtet. Das indirekte Licht machte es einfacher, die Inschriften zu inspizieren.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Hasan, seinen Blick keinen Moment vom Display der Kamera nehmend. »Kannst du das lesen?«
Ahmad wünschte, es wäre so. Doch seine Kenntnisse reichten nicht aus. Das wenige, was er verstand, ergab keinen Sinn.
»Irgendetwas mit neun Ebenen«, sagte er, mit dem Finger über die Zeichen wandernd. »Die Zeichen berichten über Zwietracht und Hass. Sie sprechen von der Erweckung eines erleuchteten Wesens. Und auch hier geht es wieder um Marduk. Immer Marduk, siehst du?«
Als seine Hände die glatte Oberfläche des Sandsteins berührten, glaubte er ein feines Summen zu spüren. Eine sanfte Vibration, die direkt aus dem Fels zu kommen schien. Hasan bemerkte, dass etwas nicht stimmte.
»Was ist, Baba?«
»Pst.« Ahmad trat an die Pforte und presste sein Ohr an den Sandstein. Irrte er sich, oder hörte er da ein entferntes Brummen? »Seltsam«, sagte er. »Gib mir die Kamera. Versuch du mal herauszubekommen, was das ist. Deine Ohren sind feiner als meine.«
Hasan tat, was sein Vater von ihm verlangte, und lauschte. Mit seinen fünfzehn Jahren war er bereits einen Kopf größer.
Nach einer Weile schüttelte er den Kopf. »Klingt wie eine Maschine«, sagte er. »Als würden sich Räder in der Wand bewegen. Und sieh mal hier …« Er deutete auf eine seitliche Vertiefung, die Ahmad bisher verborgen geblieben war. Er nahm seinem Vater die Kamera ab und reichte ihm wieder die Lampe. »Was ist das?«
Ahmad trat näher und inspizierte das Loch. Die Öffnung war so groß wie eine Schreibmaschine und unregelmäßig geformt. Im hinteren Teil befanden sich kreisförmige Vertiefungen, die einander überschnitten. Es war ganz eindeutig, dass hier etwas hineingehörte. Eine Art Schloss vielleicht? Oder ein Öffnungsmechanismus?
Ahmad ließ den Kegel seiner Lampe durch den Raum schweifen. Da war nichts. Was immer hier drin gewesen war, man hatte es vor langer Zeit entfernt.
Inzwischen war er ziemlich sicher, dass dies kein Tempel war. Eine Grabstätte vielleicht. Aber für wen? Es gab keinen Hinweis auf einen Toten. Es sei denn, Marduk selbst läge hier begraben. Aber eine Grabstätte für einen Gott?
Ahmad streckte den Finger aus und berührte die metallenen Kontakte in der Vertiefung.
In diesem Moment verlosch das Licht.
Neunzig Kilometer nördlich …
Eine Kolonne von Fahrzeugen bretterte in östlicher Richtung über die staubige Piste. Fünf Humvees und ein gepanzerter Truck der Marke Stewart & Stevenson. Ihr Ziel war das Dorf Al-Hawl, etwa fünfundzwanzig Kilometer von Hasaka entfernt. Die Hauptstadt der Region al-Dschazira lag im Nordosten von Syrien, im kurdisch kontrollierten Teil des Landes, nur wenige Kilometer von der irakischen Grenze entfernt. Gestern, in den späten Abendstunden, war eine Meldung über Funk hereingekommen, dass einzelne Verbände der IS-Milizen gesehen worden seien, die in Richtung des Dschabal Sindschar zogen. Vermutlich wollten sie sich irgendwo in den langgestreckten und verkarsteten Höhen des Bergrückens verschanzen. Bereits 2014 hatte der Dschabal Schlagzeilen gemacht, als Tausende jesidische Kurden vor den anrückenden sunnitischen Terrorgruppen in die Berge geflohen waren. Dort hatten sie sich mit Unterstützung der Peschmerga verschanzt. In den anschließenden Gefechten hatten die Streitkräfte der autonomen Region Kurdistan die IS-Milizen mit Unterstützung des US-Militärs zwar zurückgedrängt, doch offenbar war das nur ein Pyrrhussieg gewesen. Teuer erkauft und wenig effektiv. Mit dem heutigen Tag war klar, dass die Terrorbrigaden wieder da waren.
Leslie Rickert vom BBC World Service duckte sich auf ihrem Sitz zusammen. Sie hatte keine Lust, mit dem Kopf gegen das Dach zu knallen. Der Untergrund war voller Schlaglöcher und Bodenwellen. Alan, ihr Kameramann, saß rechts von ihr und prüfte die Aufnahmen, die sie in den frühen Morgenstunden in Hasaka gemacht hatten. Wie er bei diesem Krach arbeiten konnte, war ihr ein Rätsel.
Die Luft im Humvee war trotz Klimaanlage stickig. Der Staub drang überall ein, selbst in ihren Mund. Sie nahm einen Schluck aus der Feldflasche, um den ekligen Geschmack loszuwerden. Der September war dieses Jahr wieder besonders trocken.
Draußen war die Sicht schlechter geworden. Wind hatte eingesetzt und blies den Sand frontal vor die Windschutzscheiben. Leslie sah Bremslichter im Dunst aufleuchten. Sie spürte, wie ihr Fahrer in die Eisen stieg.
»Dreckswetter.«
Der Einsatzleiter, Major James Faulkner, wirkte sichtlich ungehalten. Ob das Wetter daran schuld war oder der Befehl, zwei BBC-Reporter mitzunehmen, wusste Leslie nicht. Es war ihr auch egal. Faulkner war kein Mann, mit dem man sich gerne unterhielt. Verschlossen, zugeknöpft, arrogant – genau wie all die anderen GIs in seinem Gefolge. Erste US-Panzerdivision Amman. Old Ironsides. Ganz harte Burschen. So sahen sie sich selbst jedenfalls gerne. Leslie ging dieses Machogehabe am Arsch vorbei.
»Alles in Ordnung dahinten?« Faulkner drehte sich zu ihnen um und sah sie an. Seine Augen waren klar wie Bergseen.
»Alles in Ordnung«, sagte Leslie. »Danke, dass wir bei Ihnen mitfahren dürfen.«
Faulkner winkte ab. »Freuen Sie sich nicht zu früh. Gut möglich, dass wir unverrichteter Dinge umkehren müssen.«
»Warum?«
»Bei dieser Sicht ist ein Einsatz viel zu gefährlich. Vielleicht haben die Reaper mehr Glück. Aus der Höhe ist die Sicht besser.« Er machte eine Pause, dann fragte er: »Wie lange sind Sie schon Reporterin?«
Leslie zog eine Braue in die Höhe. »Fünfzehn Jahre insgesamt. Zehn davon im Nahen Osten. Warum?«
»Und davor?«
»Hauptsächlich Südafrika.«
»Dann werden Sie ja einiges zu sehen bekommen haben.«
Leslie schwieg. Sie hatte keine Lust, Kriegserlebnisse auszutauschen. Spätestens übermorgen würden sich ihre Wege trennen. Welchen Sinn machte es da, vertraulich zu werden?
Doch Faulkner ließ nicht locker. »Was hält man denn in Europa so von unseren Einsätzen? Könnte mir vorstellen, dass viele sich beklagen, wir US-Militärs würden uns wieder als Weltpolizei aufspielen. Habe ich recht?«
»Wenn Sie es schon wissen, warum fragen Sie dann?«
»Ich würde es nur gerne bestätigt bekommen. Sie sitzen doch an der Quelle.«
Leslie seufzte. Wollte der Typ jetzt ernsthaft eine politische Diskussion mit ihr anfangen? Das hatten schon einige versucht und meistens den Kürzeren gezogen. Wenn sie einmal in Fahrt war, konnte nichts sie aufhalten.
»Und?« Faulkner sah sie neugierig an.
»Die Meinungen gehen auseinander«, sagte Leslie vorsichtig. »Wie Sie bestimmt wissen, gibt es bei uns, im Gegensatz zu den USA, viele linksgerichtete und pazifistische Strömungen.«
»Was Sie nicht sagen.« Faulkner verzog den Mund, als hätte er in eine Zitrone gebissen.
»Wobei das kein Widerspruch ist«, konterte Leslie, der das Schwarz-Weiß-Denken der Amerikaner gehörig auf die Nerven ging. Im Gegensatz zum Rest der Welt schienen die Cowboys immer genau zu wissen, wer der Böse war.
»Man kann gegen den Krieg sein und sich trotzdem für eine militärische Lösung aussprechen. Man muss es nur richtig machen.«
Er kräuselte amüsiert die Lippen. »Ist das so?«
»Aber ja. Nehmen Sie Afghanistan 2001, Irak 2003, Libyen 2011 – alles Fehlschläge. All diese Einsätze haben ein Blutbad unter der Zivilbevölkerung angerichtet und terroristische Gegenschläge provoziert. Genau das Gegenteil von dem, was beabsichtigt war.« Sie sprach leise und beherrscht. »Trotzdem bin ich der Meinung, dass militärische Gewalt das einzige Mittel ist, um dem IS das Handwerk zu legen. Diese Köpfeabschneider verstehen einfach keine andere Sprache.«
»Dann sind wir ja einer Meinung«, sagte Faulkner und lehnte sich zufrieden zurück. Vermutlich glaubte er, das Gespräch wäre damit beendet.
»Nein, sind wir nicht«, sagte Leslie mit ironischem Lächeln. »Jedenfalls nicht, wenn wir die Dinge zu Ende denken. Im Gegensatz zu Ihnen bin ich nämlich der Meinung, dass die westlichen Nationen hier nichts verloren haben.«
Faulkner lupfte eine Braue. »Wovon reden Sie?«
»Na, von den Luftschlägen. Von den Kampfjets, den Drohnen und den Bombern der Air Force. Das Weiße Haus und das Pentagon scheinen geradezu besessen von Lufteinsätzen zu sein. Sie glauben wohl, damit ließe sich alles lösen. Dabei ist es nur ein fauler Kompromiss. Wirksam fürs Fernsehen und für den Wahlkampf, höchst uneffektiv, wenn es darum geht, Probleme zu lösen.«
»Ich fürchte, Sie reden da über Dinge, von denen Sie keine Ahnung haben.«
»Nein?« Sie lächelte grimmig. Sie spürte, dass sie langsam in Fahrt geriet. »Wissen Sie, ich habe vor einiger Zeit ein Interview mit General David Richards geführt, dem ehemaligen Kommandeur der Britischen Landstreitkräfte. Wissen Sie, was er mir gesagt hat? Er fragte mich, ob mir bekannt sei, dass noch niemals ein Krieg aus der Luft gewonnen wurde. Lufteinsätze erweckten zwar den Eindruck, man habe alles im Griff, aber sie nützen bestenfalls zur Vorbereitung eines Landeinsatzes. Sein Motto war: Boots on the ground, Stiefel auf den Boden. Ohne Landtruppen ist auf Dauer kein Frieden zu machen. Wie gesagt: seine Worte, nicht meine.«
Faulkner warf ihr einen unfreundlichen Blick zu. Offenbar hatte er nicht mit so viel Gegenwehr gerechnet.
»Sie widersprechen sich«, sagte er. »Eben haben Sie gesagt, keine weitere militärische Intervention, jetzt reden Sie von Bodentruppen. Was denn nun?«
»Ich habe gesagt, keine ausländischen Bodentruppen.«
»Wem wollen Sie denn die Verantwortung übertragen, der irakischen Armee?« Er lachte zynisch.
»Natürlich nicht.« Leslie blieb völlig ernst. »Ist das denn wirklich so schwer zu begreifen? Es gibt doch genug Bodentruppen um uns herum. Überall. Gut ausgebildete Leute, mit dem Willen und der Fähigkeit, sich den IS-Truppen entgegenzustellen.«
Jetzt sah Faulkner wirklich überrascht aus. »Reden Sie etwa von den Kurden?«
»Von wem denn sonst?«
Er schüttelte den Kopf. »So einen Unsinn muss ich mir nicht anhören …«
»Dann hätten Sie nicht fragen sollen«, erwiderte Leslie schnippisch. »Meiner Meinung nach sollten wir sowohl die Peschmerga als auch die kurdischen Volksverteidigungseinheiten mit allem versorgen, was wir haben. Panzer, Aufklärungsfahrzeuge, Artillerie, satellitengestützte Boden-Luft-Einheiten. Und zwar State of the Art. Nicht dieser billige Scheiß, den ihr den Irakis aufs Auge gedrückt habt. Derselbe Scheiß übrigens, den der IS sich unter den Nagel gerissen hat und der uns jetzt um die Ohren fliegt. Die Kurden mit Waffen auszurüsten, ist das Beste, was wir tun können.«
Der Major schüttelte den Kopf. »Man merkt, dass Sie keine Militärexpertin sind. Wir können so ein Volk nicht mit Hightech-Waffen ausrüsten. Die Türken stufen sie als Terroristen ein …«
»Die Türken, natürlich.« Leslie schüttelte den Kopf. »Und dass sie das vielleicht nur aus innenpolitischen Interessen tun, ist Ihnen noch nicht in den Sinn gekommen? Ich muss mich doch sehr wundern …«
»Nachdem jetzt auch noch die Sowjets mitmischen, würden wir mit den Kurden einen weiteren unkontrollierbaren Machtfaktor in dieser Region schaffen«, sagte Faulkner. »Einer Region, die jetzt schon unüberschaubar ist.«
Leslie spürte, dass die Emotionen in ihr hochkochten. »Ich mag keine Militärexpertin sein«, sagte sie mit leiser Stimme, »aber ich besitze genügend Menschenverstand, um die Dinge nüchtern zu betrachten. Wenn ich Ihre Erinnerung mal ein bisschen auffrischen darf: Die Kurden haben erfolgreich verhindert, dass die Städte Erbil und Kirkuk in die Gewalt der Dschihadisten gefallen sind. Sie haben Kobane praktisch im Alleingang vor dem Sturz bewahrt. Die türkischen Panzer standen damals auf der anderen Seite der Grenze und haben nicht eingegriffen. Können Sie sich vorstellen, was dieses Volk empfinden muss? Peschmerga heißt wörtlich übersetzt: Die dem Tod ins Auge sehen. Und das tun sie, wortwörtlich, indem sie in die Läufe der Waffen von Soldaten sehen, die sie eigentlich unterstützen sollten.«
»Ich weiß, was Peschmerga heißt, ich brauche keine Geschichtslektion von Ihnen.«
Leslie hielt seinem Blick stand. Endlich stieg der Typ mal von seinem hohen Ross herunter. In der Branche hatte sie den Ruf, eine Zecke zu sein. Jemand, der sich in eine Sache verbiss und erst aufhörte, wenn das Wirtstier tot umfiel. Faulkners Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war er soeben zu derselben Erkenntnis gekommen. Doch Leslie ließ nicht locker.
»Ich will die Verdienste der kurdischen Truppen – zu denen übrigens auch Frauen gehören – gar nicht im Einzelnen aufzählen«, sagte sie. »Da säßen wir noch morgen hier. Allerdings werden sie dem IS auf Dauer nichts entgegensetzen können. Nicht, wenn wir ihnen ständig in den Rücken fallen. Außerdem – und das ist der wohl wichtigste Punkt – sind wir es ihnen schuldig.«
»Wem schuldig, den Kurden? Erklären Sie mir das.«
Leslie holte tief Luft, ließ es dann aber. »Vergessen Sie’s«, sagte sie.
Sie hätte ihm erzählen können, dass die Kurden sich vom Westen verraten und im Stich gelassen fühlten – und das mit Recht. Sie hätte erzählen können, dass sie, mit rund dreißig Millionen Menschen, die größte staatenlose Minderheit der Welt waren. Dass sie aufgeteilt zwischen der Türkei, Iran, Irak und Syrien lebten. Dass sie von den einen bombardiert, von den anderen hingerichtet, vergast und belagert wurden. All das wusste Faulkner. Trotzdem war er zu anderen Überzeugungen gelangt. Mit so jemandem zu diskutieren war sinnlos. Also schwieg sie. Und Faulkner tat das auch.
Auf einmal erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht. Seine wasserblauen Augen bekamen einen sanfteren Ausdruck.
»Wissen Sie, ich bin nur ein einfacher Soldat«, sagte er. »Ich werde nicht fürs Denken bezahlt. Sunniten, Schiiten, Juden, Kurden, Palästinenser, Peschmerga, IS – da blickt doch keiner mehr durch. Wenn Sie mich fragen, diese ganze Region, bis rüber zum Mittelmeer, ist von kollektivem Wahnsinn befallen. Und das nicht erst seit gestern. Seit Tausenden von Jahren leben die Menschen hier im Unfrieden. Ich bin höchst skeptisch, was den Erfolg dieser Militäroperationen betrifft. Vielleicht können wir das Leid der einen oder anderen Gruppe etwas lindern, lösen werden wir diesen Konflikt damit nicht. Da ist etwas in den Köpfen der Menschen, das sie einfach nicht zur Ruhe kommen lässt …« Er richtete seinen Blick nach draußen.
Leslie nickte. Sie wusste, wovon er sprach. Nach all den Jahren, die sie in diesem Land lebte, war sie dem Grund für Hass und Gewalt keinen Schritt nähergekommen. Warum hier, warum der Nahe und der Mittlere Osten? Was war es, das Stamm gegen Stamm kämpfen ließ, Volk gegen Volk, Religion gegen Religion? Und wie Faulkner ganz richtig sagte: Das geschah nicht erst seit gestern.
Sie war so in Gedanken versunken, dass sie den Fluch, der aus der Fahrerkabine kam, erst ein paar Augenblicke später registrierte. Sie begriff zunächst nicht, war vorgefallen war. Bis ihr klarwurde, dass der Motor ausgegangen war. Und nicht nur der Motor, offenbar war die gesamte Elektronik betroffen. Displays, Klimaanlage – alles tot.
Der Fahrer hatte Schwierigkeiten, das Lenkrad gerade zu halten. Klar, auch die Servolenkung wurde elektrisch gesteuert. Unaufhaltsam zog der Wagen nach rechts. Genau auf den Graben zu.
»Festhalten«, schrie Faulkner.
Das Fahrzeug machte einen Satz, sprang etwa einen Meter in die Höhe und landete mit dumpfem Krachen auf der anderen Seite. Alan versuchte krampfhaft, die Kamera festzuhalten, konnte aber nicht verhindern, dass die Tasche mit dem Laptop zu Boden fiel. Leslie hörte ihn fluchen.
Ein paar Meter weiter kam das Fahrzeug endlich zum Stillstand. Der Fahrer, ein junger Bursche von vielleicht dreiundzwanzig Jahren, war bleich vor Schreck. Er brauchte einen Moment, um sich zu berappeln, dann versuchte er, den Motor zu starten. Ohne Erfolg.
»Meldung, Gefreiter Higgs«, sagte Faulkner.
»Die Zündung ist ausgefallen, Sir. Keine Ahnung, was da los ist. Ich kann nicht starten, sehen Sie?« Er drehte den Schlüssel herum, doch nichts geschah.
»Nur ruhig«, sagte der Major. »Ist ja nichts passiert. Lassen Sie mich mal.« Er langte rüber, zog den Schlüssel ab und steckte seinen eigenen hinein. Noch immer gab die Zündung keinen Mucks von sich. »Seltsam«, sagte er. »Scheint was Grundlegendes zu sein. Mal sehen, ob die anderen uns helfen können.«
»Das bezweifle ich.« Leslie deutete nach draußen.
Überall waren die Fahrzeuge liegengeblieben. Soldaten stiegen aus und standen ratlos um die Autos herum.
Faulkner presste die Lippen zusammen.
»Sie beide bleiben hier, ich werde mal nachsehen, was da los ist. Higgs, Sie begleiten mich.« Er öffnete die Tür. Sofort fegte ein Schwall Sand und Staub in den Wagen.
Leslie sah, wie die beiden Männer zu den anderen hinübergingen. Sie umrundeten die Fahrzeuge, sprachen miteinander und gestikulierten heftig.
Noch immer wütete der Wind. Er rüttelte an der Karosserie und pfiff über das Dach hinweg. Die Geräusche hatten etwas Beunruhigendes. »Komm schon, Alan. Das ist unsere Chance. Lass uns ein paar Aufnahmen machen.«
Alan schüttelte den Kopf. »Keine Chance, Les. Das Ding ist tot.«
Sie öffnete den Mund. »Erzähl keinen Scheiß.«
»Tot wie ein Stein, sieh selbst.« Er reichte ihr das fünfzehntausend Pfund teure Hightech-Equipment. Sie drückte ein paar Knöpfe und schaute auf das Display. Die Schwärze hatte etwas Endgültiges.
»Bist du sicher, dass du das Teil heute Nacht aufgeladen hast?«
Er sah sie beleidigt an.
»Wie sieht es mit den Ersatz-Akkus aus?«
»Habe ich schon versucht. Alle tot.«
»Aber das gibt’s doch nicht. Wie kann das sein?«
»Keine Ahnung. Der Laptop ist auch hinüber.«
»Was?« Sie fummelte an ihrer Weste herum. »Moment mal, ich habe ja noch mein iPhone.« Sie öffnete die rechte Brusttasche und holte ihr Handy heraus. Das Display war schwarz wie Obsidian. Draußen wurde immer noch heftig palavert.
Sie fluchte leise. Der Redaktionsleiter würde ihr das Fell über die Ohren ziehen. Eine Weile starrte sie in den Sturm, dann setzte sie ihre Baseballkappe auf und schlug den Kragen vor den Mund.
»Was hast du vor?«, fragte Alan.
»Ich will wissen, was da los ist.«
»Faulkner hat gesagt, wir sollen drinbleiben.«
»Sehe ich aus wie jemand, der sich vorschreiben lässt, was er darf und was nicht? Was ist, kommst du mit, oder bleibst du hier?«
Alan schüttelte den Kopf. »Stur wie ein Maulesel. Aber was habe ich auch anderes erwartet?« Er band sich ein Taschentuch um den Mund, setzte seine Mütze auf und folgte Leslie.
Die Fahrzeuge standen wild verstreut in der Gegend herum. Der Laster war am weitesten gerollt, vermutlich wegen seines hohen Gewichts.
Als Faulkner Leslie sah, stellte er sich ihr in den Weg. »Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen im Auto bleiben.«
»Könnte eine elektromagnetische Störung sein«, sagte Leslie und trat in den Kreis der versammelten Männer. »Kamera, Laptop und Handys sind auch tot. Ich dachte, das könnte Sie interessieren.«
»Haben wir auch schon festgestellt«, sagte ein Mann aus einem der anderen Fahrzeuge. »Uhren, Walkie-Talkies – es ist, als hätte jemand den Stecker gezogen.«
»Vielleicht der Sturm«, warf Alan ein. »Eine elektrostatische Aufladung des Sandes …«
»Unsinn«, erwiderte Faulkner. »Wenn dem so wäre, müssten wir ja bei jedem noch so kleinen Gewitter Probleme bekommen. Außerdem sind die Geräte abgeschirmt.«
»Und was haben Sie dann für eine Erklärung?«, fragte Alan. »Schwer vorstellbar, dass sämtliche Batterien, einschließlich der Lichtmaschinen, im selben Augenblick den Geist aufgegeben haben.«
Leslie hob den Blick. Über dem aufgewirbelten Sand kam der Himmel durch. Rosafarbene Sonnenstrahlen zuckten über den Rand des Gebirges. Zwei schwarze Punkte prangten in dem blauen Ausschnitt. Sie schienen größer zu werden.
»Sagen Sie mal, ist das die zugesagte Luftunterstützung?« Sie deutete nach oben.
Die Männer unterbrachen ihre Gespräche. Faulkner zog sein Fernglas und kniff die Augen zusammen. »Sie haben recht«, sagte er. »Sieht aus wie die beiden Reaper. Aber unser Gefreiter hier kann das sicher besser beurteilen. Schauen Sie mal durch, Higgs.«
Der junge Mann nahm das Fernglas und justierte die Schärfe.
»Drohnen, stimmt, Sir. General Atomics MQ-9. Gehören zu der Luftunterstützung, die uns von der Navy zugesichert worden ist. Allerdings …« Er verstummte.
»Was?«
»Nun, Sir, irgendwas an ihrem Flugverhalten ist eigenartig.«
»Was meinen Sie?«
»Sie wirken instabil. Ich könnte mich täuschen, aber es sieht aus, als würden sie ohne Antrieb navigieren.«
Faulkner nahm dem Jungen das Glas aus der Hand und starrte hindurch. »Verdammt. Sie haben recht, Junge. Die Dinger liegen wie bleierne Enten in der Luft.«
Mittlerweile konnte Leslie mit bloßem Auge erkennen, dass die Flugbahn instabil war. Die Maschinen waren in eine Trudelbewegung geraten und fingen langsam an, sich um ihre Längsachse zu drehen.
»Strömungsabriss«, sagte Faulkner, während er weiter am Schärferad drehte. »Ich glaube nicht, dass sie das noch in den Griff bekommen.« Er erhob seine Stimme. »Deckung suchen, Leute. Unter die Fahrzeuge, aber sofort.«
Sein Befehl kam keinen Moment zu früh. Kaum, dass sie unter den Humvees Schutz gefunden hatten, raste ein Schatten auf sie zu. Ein Metallgebilde fegte über sie hinweg und gab dabei ein Geräusch von sich, als würde ein gewaltiges Schwert durch die Luft sausen. Keine Triebwerksgeräusche, kein Alarmsignal, nur dieses grässliche Zischen. Und dann schlug die Maschine auf.
Ein Lichtblitz zuckte durch die Wüste. Die Detonation ließ den Boden erzittern. Trümmerteile regneten ringsherum in die Landschaft. Unweit von Leslie schlug ein Blechteil in den Boden und blieb dort wie eine Wurfaxt stecken. Bolzen, Nieten und Schrauben regneten wie Hagel vom Himmel. Manche landeten scheppernd auf Dächern und Motorhauben, andere prasselten klirrend durch die Windschutzscheiben. Angstschreie ertönten, während eine dunkle Rauchwolke langsam in den Himmel stieg.
Leslie war zu benommen, um klar denken zu können. Sie lag da, die Hände vor die Ohren gepresst, und fragte sich, ob dies wohl das Ende der Welt sei.
Dann schlug die zweite Maschine ein.
– News Break –
Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zu News Live auf al-Jazeera. Mein Name ist Leila Dawud. Und hier die Topnachrichten. Aus bislang ungeklärten Gründen stürzten heute früh zwei Drohnen der US-amerikanischen Luftwaffe im Grenzgebiet zwischen Syrien und dem Irak ab. Die Maschinen vom Typ Reaper waren vom Flugzeugträger Harry S. Truman, der in der ägyptischen Hafenstadt Hurghada vor Anker liegt, in Richtung des Dschabal Sindschar aus gestartet. Das Gebirge, das an seiner höchsten Stelle knapp tausendfünfhundert Meter über den Meeresspiegel ragt, markiert die Grenze zwischen den beiden Ländern und steht im Verdacht, den IS-Terror-Milizen als Unterschlupf zu dienen. Zur Klärung der Vorfälle schalte ich jetzt live zu unserer Korrespondentin Leslie Rickert.
Leslie, Sie befinden sich gerade am Ort des Geschehens, was können Sie uns über die Situation sagen?«
»Hallo Leila. Ja, die Lage ist im Moment sehr angespannt. Ein Bergungsteam ist gerade hier, das die Trümmerteile untersucht und nach den Flugschreibern forscht. Die Experten erhoffen sich dadurch einen Hinweis auf die Unglücksursache. Die Maschinen waren zur Luftunterstützung angefordert worden und befanden sich gerade im Anflug auf das Zielgebiet, als es geschah.«
»Sie haben die Katastrophe unmittelbar miterlebt. Was haben Sie gesehen?«
»Leider nicht sehr viel. Ich war mit einem Konvoi von Militärfahrzeugen von Hasaka aus in Richtung der kleinen Ortschaft Al-Hawl unterwegs. Die Sicht war durch Sand und Wind getrübt, so dass wir nur die unmittelbaren Folgen des Absturzes miterlebt haben. Jedoch schienen beide Maschinen Probleme zu haben. Sie kamen direkt auf uns zu und taumelten und trudelten dabei, als wären die Triebwerke ausgefallen.«
»Es gibt Gerüchte, die Drohnen seien abgeschossen worden. Können Sie das bestätigen?«
»Bislang weiß niemand etwas Genaues. Tatsache ist allerdings, dass es kurz vor dem Unglück bei unseren Fahrzeugen eine Fehlfunktion gegeben hat, die uns zwang, anzuhalten. Möglicherweise handelte es sich dabei um eine Störung, die auch die Navigations- und Flugsysteme der Reaper in Mitleidenschaft gezogen hat.«
»Eine Fehlfunktion?«
»Ein Stromausfall, ja. Wir waren gerade dabei, nach der Ursache zu forschen, als wir die herannahenden Flugzeuge bemerkten.«
»Konnten Sie inzwischen das Problem beheben?«
»Ja. Der Strom setzte kurz nach dem Absturz wieder ein. Erklären können wir das allerdings immer noch nicht.«
»Wir werden an der Sache dranbleiben. Ich danke Ihnen für dieses Gespräch.«
Die Fernsehmoderatorin hob den Kopf. »Auch in anderen Teilen der Region wurde über plötzlich auftretende Stromausfälle geklagt. So gab es Probleme im gut zweihundert Kilometer westlich gelegenen Baath-Wasserkraftwerk. Aber auch im Gaskraftwerk Kirkuk im Irak und am Mossul-Staudamm lagen die Maschinen eine Zeitlang brach. Störungen an Satelliten und Funkanlagen legten über einige Minuten Kommunikations- und Navigationssysteme der angrenzenden Regionen lahm. Zum Glück wurde dabei niemand verletzt. Schon gibt es erste Schuldzuweisungen. Insbesondere zwischen den Regierungen von Syrien und des Irak. Doch solange die Gründe nicht geklärt sind, bleibt alles im Ungewissen. Wir halten Sie auf dem Laufenden.
Und nun zu weiteren Nachrichten …«
Ausgrabungsfeld Messene, südwestlicher Peloponnes …
Hannah schob den Laptop zur Seite und stand auf. Verrückte Geschichte. Zwei verunglückte US-Kampfdrohnen in Syrien, vierundzwanzig Millionen Dollar Schaden, und das in einer Region, die ohnehin nicht zur Ruhe kam. Der Ärger war vorprogrammiert.
Die Nachricht war von vorgestern, und es gab seither keine neuen Erkenntnisse. Trotzdem sollte sie sich mal angewöhnen, zumindest einmal pro Tag die Nachrichten zu schauen. Da sie so selten dazu kam, hatte sie ihren Computer entsprechend programmiert und sah sich die Sendungen en bloc später an. Nicht, dass sie sonderlich daran interessiert war, was in der Welt geschah – schließlich ging es in den meisten Fällen um Mord und Totschlag –, aber so ganz abgeschnitten wollte sie auch nicht sein.
Sie setzte die Bierflasche an ihre Lippen, trank einen Schluck und schüttete den Rest auf den ausgedörrten Boden. Das Mythos war schal geworden. Kein Wunder bei den Temperaturen. Seit Juni brannte die Sonne auf sie herab, und noch immer war kein Zeichen von Abkühlung zu erkennen. Die Einheimischen hatten einen Sommer bis in den November prognostiziert, und sie schienen recht zu behalten. Hannah hatte nichts dagegen. Sie liebte diese Temperaturen, mit Hitze konnte sie umgehen. Deutlich besser als mit Regen oder Kälte. Trotz der vielen Arbeit und des schalen Biers kam ihr das letzte Jahr wie ein ausgedehnter Urlaub vor. Fern vom Trubel der Welt, dem Stress und der Hektik. Nur sie, ihre Familie und geschichtsträchtiger Boden unter ihren Füßen. Was konnte es Schöneres geben für eine Archäologin?
Während sie sich wieder den aktuellen Fundstücken zuwandte, Ton- und Glasscherben sowie Tierknochen und Schmuckstücken aus frühhellenistischer Zeit, bemerkte sie, wie ihr Assistent mit eiligen Schritten über die grünbewachsenen Hänge des Amphitheaters auf sie zukam. Er sah sie im Schatten der weit ausladenden Kiefer und hob die Hand.
»Hannah!«
»Giorgos.« Sie musste lächeln. Ihr griechischer Kollege wirkte ein bisschen gestresst, aber das tat er eigentlich immer. Sein weißes Hemd war brusttief aufgeknöpft, und auf seinem schwarzen Fell glänzte der Schweiß.
»Was ist los?«
»Leni ist weg.«
Hannah hob eine Braue und legte die bemalte Scherbe zurück auf den Tisch. »Nicht schon wieder.«
»Offenbar wollte sie nur mal kurz auf die Toilette und ist dann nicht zurückgekommen.«
»Das ist nun schon das dritte Mal«, sagte sie, war aber deswegen nicht sonderlich überrascht. Leni war einfach nicht wie andere Kinder.
Giorgos nickte. »Sofia ist ziemlich ungehalten deswegen. Sie sagt, so könne es nicht weitergehen. Sie möchte mit dir reden und wartet oben im Museum auf dich.«
Hannah seufzte. Na toll. Dabei war es gerade so schön ruhig gewesen. Giorgos blickte neugierig auf ihren Laptop. »Was siehst du dir da an?«
»Die Nachrichten vom Samstag. Die Sache mit den abgestürzten Drohnen …«
»Ja, seltsam, nicht wahr? Die Lage hat sich in der Zwischenzeit wieder etwas entspannt, aber wirklich etwas gefunden haben sie nicht.«
»Ich frage mich, was wohl diesmal dahinterstecken mag«, sagte Hannah. »Grenzstreitigkeiten, ein terroristischer Akt, höhere Gewalt?«
»Ist das nicht egal?« Giorgos schüttelte den Kopf. »Wie immer wird die Zivilbevölkerung darunter zu leiden haben. Darauf läuft es ja jedes Mal hinaus. Hausdurchsuchungen, Ausgangssperren, Razzien, Bombardements – das übliche Programm. Der eine schiebt dem anderen die Schuld in die Schuhe, und bis man sich an einen Tisch setzt und halbwegs vernünftig miteinander redet, sind Häuser zerstört, Familien obdachlos und Hunderttausende auf der Flucht.«
»Schrecklich, diese Flüchtlingsströme«, sagte Hannah. »Ganze Regionen sind bereits entvölkert. Ich frage mich, was diese armen Menschen noch alles erdulden müssen, ehe irgendwann wieder Frieden einkehrt. Ist das überhaupt möglich? Ich kann mich nicht erinnern, jemals die Nachrichten eingeschaltet zu haben, ohne Hiobsbotschaften aus dem Nahen oder Mittleren Osten zu hören. Jom-Kippur-Krieg, Intifada, Libanon-Konflikt, Gazastreifen, Hisbollah, el-Fatah, Hamas – es ist ein Fass ohne Boden.«
»Nicht zu vergessen die Golfkriege, die Invasion in den Irak und der syrische Bürgerkrieg«, ergänzte Giorgos. »Konflikte, die die Welt seit über einem halben Jahrhundert in Atem halten, ausgetragen auf einer Fläche, nicht größer als Frankreich.«
»Zum Glück sind wir hier davon nicht betroffen.« Hannah streckte ihren Oberkörper. »Und mit meiner Tochter sind wir auch schon ziemlich gut bedient. Die junge Dame wird immer eigensinniger. Sie kann zwar recht gut allein auf sich aufpassen, trotzdem wird es Zeit, dass ich mal ein ernstes Wort mit ihr rede.«
Giorgos wiegte den Kopf. Vermutlich grübelte er darüber nach, ob der Begriff junge Dame auf Leni zutraf. Hannah wusste es selbst nicht. Man hatte ihr geraten, ihre Tochter wie ein ganz normales Kind zu behandeln, und genau das tat sie. John und sie versuchten, ihr die Freiheiten einer unbeschwerten Kindheit zu bieten, die aber dennoch nicht ziellos war. Das betraf auch den Privatunterricht. Sofia Dorou war auf Fälle dieser Art spezialisiert. Eine Expertin aus Kalamata, die an einer Schule für Hochbegabte arbeitete. Sie hatte Leni sofort in ihr Herz geschlossen und war bereit, für eine gewisse Probezeit den Unterricht zu übernehmen. Ihr Kleidungsstil war zwar gewöhnungsbedürftig, aber es konnte keinen Zweifel an ihrer fachlichen Qualifikation geben. Sie war resolut, aber nicht unfreundlich, pragmatisch, aber nicht ohne Idealismus. Und vor allem sprach sie mehrere Sprachen fließend. Eine ideale Wahl, so hätte man annehmen können. Doch selbst sie schien langsam an ihre Grenzen zu geraten. Wer hätte auch ahnen können, dass Leni sich so schnell und so eigenwillig entwickeln würde? Sofia verwendete hin und wieder den Begriff Autismus, doch das ließ Hannah nicht gelten. Noch hatte sie Hoffnung, dass ihre Tochter irgendwann einen ganz normalen Weg einschlagen würde. Sie zog ein Haargummi aus ihrer Jeanstasche, strich ihre Haare nach hinten und band die braunen Locken zusammen. Normalerweise war John für Erziehungsfragen zuständig, aber er war gerade im Süden unterwegs und würde vor morgen Mittag nicht zurück sein.
»Ich sehe zu, was ich machen kann«, sagte sie. »Bin bald wieder hier. Hast du kurz ein Auge auf die Sachen?«
»Klar. Darf ich mir ein Bier aus der Kühlbox nehmen?«
»Fühl dich ganz wie zu Hause.«
Begleitet vom Sirren der Zikaden, schlug Hannah den Weg zum Haupteingang ein. Sie grüßte die alte Maria im Kassenhäuschen und erklomm die Treppen hoch zum Museum.
In Messene waren die Fundstellen für jedermann frei zugänglich. Säulenarkaden, Mosaike und Gebäude wurden nicht hinter Zäunen versteckt, sondern waren Teil eines offenen Konzeptes, bei dem jeder hingehen konnte, wohin er wollte. Auf diese Weise bekamen die Besucher ein Gespür für die Arbeit der Archäologen und für die Verantwortung, die mit dieser Freiheit einherging. Natürlich verschwanden hin und wieder mal Mosaiksteinchen oder Scherben, aber das war ein akzeptabler Preis für den Zauber, der über diesem Ort lag.
Vom nahe gelegenen Kloster Voulkánou drangen Mönchsgesänge herüber. Hannah musste wieder einmal feststellen, wie idyllisch es hier war.
Die antike Stadt Messene war am Fuße des knapp achthundert Meter hohen Berges Ithomi errichtet worden, und zwar dergestalt, dass sie an drei Seiten von umliegenden Hügeln flankiert wurde. Somit bildete die Landschaft eine vergrößerte Form des Amphitheaters, die das Bühnengeschehen ins wirkliche Leben transferierte. Ein Meisterwerk, wie man es auch im östlich gelegenen Epidaurus bestaunen konnte. Der Genius der Architekten und Stadtplaner überstrahlte mühelos die Jahrtausende. Er ließ einen ganz demütig werden, angesichts der Bausünden, die heutzutage in die Landschaft gestellt wurden. Als Hannah die Ausgrabungsstelle zum ersten Mal besucht hatte, konnte sie kaum verstehen, wieso sich die Menschen im einige Kilometer nördlich gelegenen antiken Olympia tottrampelten, während man hier völlig ungestört war. Aber Messene lag nicht auf den Routen der gängigen Tourismusveranstalter und war somit immer noch ein Geheimtipp.
Zu verdanken hatte sie diesen Luxus Norman Stromberg. Der Milliardär, Entrepreneur, Mäzen und Antiquitätensammler war nach den dramatischen Ereignissen vor vier Jahren auf Spitzbergen wie ausgewechselt. Sanft wie ein Lamm, freundlich und spendabel – fast, als wolle er sich dafür entschuldigen, was er ihr aufgebürdet hatte. Dabei fand Hannah nicht, dass es einen Grund dafür gab. Sie hatte damals nach eigenem Ermessen gehandelt und würde es wieder tun. Aber natürlich wäre es dumm gewesen, ein solches Angebot auszuschlagen. Nicht nur, weil sie auf diese Weise viel Zeit mit John und Leni verbringen konnte, sondern vor allem, weil sie merkte, dass auch an ihr die Jahre nicht spurlos vorübergegangen waren. Sie war jetzt neunundvierzig Jahre alt. Ein Alter, in dem sich viele ihrer Freunde und Kollegen bereits aus der aktiven Arbeit zurückgezogen hatten. Statt zu forschen, saßen sie hinter Schreibtischen und hielten Vorträge. Nun, sollten sie. Hannah liebte ihren Job. Sie liebte den Kontakt zu den Menschen und der Erde, das Gefühl, Bodenschichten abzutragen, Fundstücke zu konservieren, sie zu klassifizieren und dokumentieren und der Vergangenheit ihre Geheimnisse abzutrotzen. Wer hinter einem Schreibtisch saß, der verwaltete nur noch. Wirklich Neues gab es auf diese Weise selten zu entdecken. Sie jedenfalls würde graben, bis sie umfiel, und erst dann über weitere Schritte nachdenken.
Sofia wartete auf der oberen Treppenstufe. Sie trug ein dunkelrotes, eng geschnittenes Kostüm, das ihr fülliges Dekolleté zur Geltung brachte, hochhackige Schuhe sowie einen Sonnenhut. Den Männern schien das zu gefallen. Sofia war seit kurzem zum dritten Mal verheiratet. Ein Bauunternehmer aus Kalamata, der die Südküste mit Einkaufscentern zupflasterte. Hannah war ihm noch nie persönlich begegnet. Sie hegte aber die Vermutung, dass er nicht viel von ihrer Arbeit hielt. Anstatt alte Steine auszugraben, stand ihm eher der Sinn danach, neue aufeinanderzuschichten.
»Jásu, Sofia, ti kánis. Ich habe gehört, es gibt Probleme.«
»Oh ja, die gibt es.« Sofia verschränkte die Arme vor der Brust. »Leni ist verschwunden, und ich habe keine Ahnung, wohin sie diesmal abgehauen sein könnte. Sie sagte, sie müsse auf die Toilette, und ich war so naiv, sie einfach gehen zu lassen.«
»Vermutlich fand sie, dass es Zeit für eine Pause wäre. Sie ist in dieser Beziehung sehr eigen«, sagte Hannah mit schiefem Grinsen. »Ich werde mich gleich auf die Suche machen. Ich werde ihr sagen, dass sie zur Strafe morgen noch eine Stunde dranhängen muss.«
Hannah konnte Sofia an der Nasenspitze ansehen, dass sie mit dieser Lösung nicht wirklich zufrieden war.
»Sie muss lernen, dass Gehorsam wichtig ist und dass man Befehle nicht einfach ignorieren kann«, sagte sie. »So klug sie auch ist, aber mit dieser Lektion hat sie große Probleme.«
Sie ist vier, lag es Hannah auf der Zunge, aber sie verkniff sich den Kommentar. Sofia wusste selbst, wie alt Leni war. Ihre Erfahrung mit körperlich und geistig fortgeschrittenen Kindern war ja der Grund gewesen, warum Hannah sie eingestellt hatte. Allerdings glaubte sie nicht, dass Sofia jemals zuvor eine solche Schülerin gehabt hatte. Leni war selbst für Sofias Verhältnisse ein gutes Stück außerhalb der Skala.
»Sobald ich sie gefunden habe, werde ich mit ihr darüber reden«, sagte Hannah. »Mach dir keine Gedanken. Nimm dir für heute frei und genieße den Abend mit deinem Mann. Wir sehen uns dann morgen wieder, einverstanden?«
Sofia rang einen Moment mit sich, dann zuckte sie die Schultern. »Von mir aus. Aber du musst ihr dringend einschärfen, dass das so nicht weitergeht. Ich gebe mir wirklich alle Mühe, aber was zu viel ist, ist zu viel.«
Hannah nickte. Ein Stück weit fühlte sie sich persönlich angegriffen. Was Leni tat, fiel auf sie zurück. Es gelang ihr nicht, zwischen sich und ihrer Tochter zu trennen. Das war genau der Grund, warum sie John gerne diese Dinge erledigen ließ. Einer plötzlichen Eingebung folgend, sagte sie: »Darf ich mal sehen, woran ihr gerade gearbeitet habt?«
»Aber natürlich, komm mit.«
Sofia führte Hannah durch den Haupteingang des kleinen Museums nach hinten ins Konferenzzimmer. Der Blick über die Hügel und die antike Polis war atemberaubend. Die Schatten fingen bereits an, länger zu werden. Durch die Fenster fiel spätnachmittägliches Licht und erzeugte honigfarbene Streifen auf dem Linoleumboden.
Da der Raum nur selten benutzt wurde, hatten sie ihn kurzerhand zu einem Schulzimmer umfunktioniert. Überall lagen persönliche Dinge herum. Dinge, die Leni immer um sich haben wollte. Stofftiere, Schmusekissen und Malzeug. Leni liebte es, zu malen und zu zeichnen, sie konnte ganze Blöcke mit ihren Bildern füllen und so ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Um der Flut der Bilder Herr zu werden, hatte John eine große Kiste ins Zimmer stellen lassen, in der die Kunstwerke aufbewahrt wurden. Wenn die kreative Energie nicht nachließ, würden sie bald einen neuen Anbau benötigen.
»Mathematik, wie ich sehe«, sagte Hannah mit Blick auf die Tafel. Zahlenkolonnen bedeckten das dunkle Feld.
»Prozente, Zinsberechnung und Dreisatz«, erläuterte Sofia. »Wir haben am Donnerstag damit begonnen.«
»Und wie schlägt sie sich so?«
»Verständnis und Anwendung waren noch nie ihr Problem«, sagte Sofia. »Wie gesagt, es ist der Gehorsam, an dem es hapert. Ich erwische sie immer wieder dabei, wie sie unter dem Tisch andere Dinge tut.«
»Zum Beispiel?«
Sofia holte einen Schlüssel aus ihrer Handtasche und schloss die Schreibtischschublade auf. »Den musste ich ihr neulich abnehmen, weil mich das Geräusch genervt hat.« Sie ließ einen Rubikwürfel in Hannahs Hand fallen.
»Sie löst das Ding mittlerweile in einer halben Minute. Sagt, es helfe ihr, sich zu konzentrieren. Aber ich glaube, dass der Unterricht sie langweilt.«
Hannah drehte ein bisschen an dem Würfel herum, stellte aber schnell fest, dass sie keine Ahnung hatte, wie das funktionierte. Was logische Knobeleien betraf, war sie schrecklich unbegabt. »Prozente und Zinsrechnung? Ab welcher Klasse wird das normalerweise unterrichtet?«
»Ab der sechsten. Ich weiß, das ist ein bisschen früh, aber Leni ist überaus begabt, und es schien ihr Spaß zu machen. Jedenfalls glaubte ich das …«
Sechste Klasse, dachte Hannah. Da waren die Kinder elf. Sie gab Sofia den Würfel zurück. »Wie gesagt, ich rede mit ihr. Mal schauen, was ich herausbekommen kann. Wir sehen uns morgen zur gewohnten Zeit, okay?«
»Ja. Adió und alles Gute.«
Hannah machte sich auf den Weg, den Kopf voller Gedanken. Am meisten beschäftigte sie Sofias trauriges Lächeln am Ende des Gesprächs. Sie konnte sich täuschen, aber es hatte verdammt nach Mitleid ausgesehen.
Hannah hatte eine ziemlich genaue Vorstellung, wo sie Leni finden würde. Ohne große Hast wandte sie sich nach Norden. Der Weg führte leicht bergan, bis hin zu einem Punkt, an dem rechts die Straße nach Meligalas abzweigte. An dieser Stelle passierte die Fahrbahn eine antike Fundstätte und verlief danach in Serpentinen wieder bergab. Als sie zum ersten Mal mit dem Auto hier hochgekommen war, hatte sie nicht glauben können, dass dies wirklich der offizielle Weg war. Er führte mitten durch den neun Kilometer langen Wall, der zu den besterhaltenen Stadtmauern Griechenlands zählte. Hier befand sich das Arkadische Tor mit dem runden Innenhof und einer umgestürzten zyklopischen Kalksteinsäule, die wie ein Fremdkörper in die Landschaft ragte. Die mächtigen Kalkquader waren vielerorts von Bränden geschwärzt worden, die über die Jahre hier gewütet hatten. Der letzte war erst ein gutes Jahr her.
Seit Griechenland angefangen hatte, Brandschäden an Bäumen mit EU-Geldern zu subventionieren, fackelten viele Landbesitzer ihren Baumbestand lieber selbst ab, als sich mit der mühseligen und wenig lukrativen Gewinnung von Olivenöl oder Obst über Wasser zu halten. Oft bekam man es auch mit kriminellen Bodenspekulanten zu tun. Die Methode hatte sich bewährt: Verbrenne den Wald und errichte über Nacht Hausfundamente. Wenn die Sache ans Licht kam, war es bereits zu spät. Der Bürgermeister hatte das Bauprojekt durchgewinkt, die Gemeinde, die Familien sowie die Landbesitzer schauten weg, denn schließlich profitierten alle davon. Dass die Feuer oft außer Kontrolle gerieten und die Natur dabei auf der Strecke blieb, interessierte niemanden. Man setzte nebendran einfach noch ein paar Fundamente. Eines von vielen Beispielen, die einen fragen ließen, wie ein Konstrukt wie Europa überhaupt funktionieren konnte.
Sie entdeckte Leni weiter links in den Hügeln. Am Boden kauernd und ganz offensichtlich mit irgendetwas beschäftigt, schien ihre Tochter die Welt um sich herum völlig vergessen zu haben. Ihr pinkfarbenes T-Shirt leuchtete hell auf dem dunklen Untergrund.
Hannah verkniff es sich, zu rufen. Auch weil sie den Zauber dieses Ortes nicht stören wollte, vor allem aber deshalb, weil es ohnehin nichts genutzt hätte. Leni besaß, was Befehle betraf, ein sehr selektives Gehör. Sie würde sie ignorieren, wenn ihr der Ton nicht passte.
Schnaufend erklomm Hannah die zyklopische Kalksteinmauer und stieg den Hang empor. Die Natur eroberte das Gelände bereits wieder zurück. Überall wuchsen trockenes Gras und kleine Sträucher. Aber es würde noch Jahrzehnte dauern, bis die Bäume zurück waren.
Einige Schritt von ihrer Tochter entfernt, blieb sie stehen. Leni hielt einen ausgehöhlten, verkohlten Schildkrötenpanzer in der Hand. Das hässliche, angeschwärzte Ding vors Auge haltend, spähte sie durch die Öffnung in die Ferne.
»Hallo Leni.«
Keine Antwort.
»Was machst du da?«
»Ausschau halten.«
»Ja, das sehe ich. Aber nach was?«
»So Sachen halt.«
»Aha. Interessant.« Hannah kauerte sich neben ihre Tochter und versuchte zu erkennen, worauf sie ihr Augenmerk richtete.
»Sofia vermisst dich.«
Sie warf ihrer Tochter einen Seitenblick zu, doch die Reaktion war gleich null. »Sie war sehr enttäuscht, dass du nicht ins Klassenzimmer zurückgekommen bist.«
»Sie hat diesen Ausblick geliebt«, sagte Leni. »Sie alle haben ihn geliebt.«
»Wer? Sofia?«
»Die Schildkröte. Und all die anderen, die hier gelebt haben. Die Schlangen, die Eidechsen. Die Mäuse und Käfer. Sie vermissen ihren Hügel.«
»Haben sie dir das gesagt?«
Leni nickte ernsthaft. »Sie haben mich gerufen und gefragt, ob ich Auge und Ohr für sie sein kann. Ich sagte ja. Und dann habe ich ihnen erzählt, was ich sehe. Hier, willst du auch mal?« Sie hielt ihr den Panzer hin.
Zögernd nahm Hannah das Ding und hielt es vors Auge. Der Panzer stank immer noch nach verbranntem Horn.
»Die Dinge sehen anders aus, findest du nicht?«
»Das tun sie«, erwiderte Hannah verblüfft. »Irgendwie größer. Obwohl der Bildausschnitt kleiner ist.«
»Manchmal hat sie davon geträumt, ein Vogel zu sein. Die Schildkröte, meine ich. Dann ist sie hier hochgekommen und auf den Stein geklettert.« Leni klopfte auf einen nahe gelegenen Felsen, dessen Oberseite wie eine schräge Rampe geformt war.
»Früher stand hier ein alter Olivenbaum, in dessen Schatten sie sitzen konnte. Doch der ist auch verbrannt. Mit allem anderen.«
»Oh, meine Kleine. Ich hab dich lieb.« Hannah konnte nicht anders, sie musste ihre Tochter umarmen.
Leni verzog das Gesicht. »Ich bin keine Kleine.«
Doch, das bist du, dachte Hannah und löste sich von ihr. Auch wenn sie nicht so aussah. Aber dass das so war, dafür konnte Leni nichts. Niemand konnte etwas dafür.
»Nein, natürlich nicht.« Sie wischte eine Träne aus ihrem Augenwinkel und sah hinüber zu dem Felsen. Möglich, dass eine Schildkröte bis dort hinaufkam, sehr wahrscheinlich war das aber nicht. Diese Tiere waren nicht besonders geländegängig.
Sie gab Leni den Panzer zurück. »Und was sagen wir jetzt Sofia?«
»Ich werde mich bei ihr entschuldigen und ihr erklären, dass ich gerufen wurde. Sie wird es verstehen.«
»Meinst du?« Hannah war da eher skeptisch.
»Aber klar. Sie versteht mich immer.«
»Na dann …« Angesichts von so viel Grundvertrauen musste Hannah schmunzeln. Sie fand Trost in dem Gedanken, dass Leni zwar aussah und redete wie eine Zehnjährige, aber in Wirklichkeit erst vier war. Ihr kleines Mädchen eben. Dass sie noch nie Ich hab dich lieb gesagt hatte, wog schwer auf Hannahs Seele. Tagtäglich hoffte sie darauf, aber noch schien Leni nicht bereit dafür zu sein.
Sie erinnerte sich an die schicksalhaften Ereignisse auf Spitzbergen. Daran, wie sie auf der Suche nach dem versunkenen Hyperborea von einem tödlichen Virus befallen worden war. Vier Wochen hatte sie im Koma gelegen und erst nach ihrem Erwachen erfahren, dass sie schwanger war. Ebendieser Schwangerschaft hatte sie es zu verdanken, dass sie nicht verreckt war, so wie alle anderen. Leni war ihr Schutzengel gewesen. Ihre ungeborene Tochter hatte den aggressiven Krankheitserreger besiegt und aus ihrem Körper vertrieben – allerdings fast um den Preis ihres eigenen Lebens. Eigentlich hätte sie kurz nach der Geburt sterben müssen, doch Hannah hatte das nicht zugelassen. In einem Anflug von Wahnsinn und Tollkühnheit war sie zum Ort des Geschehens zurückgekehrt, hatte das Serum besorgt und ihre Tochter damit gerettet. Ein Leben für ein Leben, das war nur fair.
Dass Lenis Erbgut durch das Virus verändert worden war, hatte sie erst später erfahren. Genauso wie die Tatsache, dass die mentale und körperliche Entwicklung ihrer Tochter stark beschleunigt ablief. So stark, dass sie bereits vor ihrem ersten Geburtstag laufen und sprechen konnte. Mit zwei hatte sie ersten Unterricht bekommen und besaß jetzt mit vier das geistige Niveau einer Gymnasiastin. Wie diese Entwicklung weiter verlief und ob Lenis Lebensspanne dadurch beeinträchtigt wurde, wusste niemand. Und wenn es nach Hannah ging, sollte es auch nicht thematisiert werden.
Leni war kein Kind wie jedes andere, aber sie besaß das gleiche Recht auf einen unbeschwerten und fröhlichen Start ins Leben. Schlimm genug, dass die Ärzte in Oslo ihr ständig mit irgendwelchen Untersuchungen zugesetzt hatten. Als dann noch Einzelheiten über das sogenannte Wunderkind an die Presse durchgesickert waren, hatte Hannah die Reißleine gezogen. Sie hatte Stromberg gebeten, ihr und ihrer Familie beim Verschwinden zu helfen, und der alte Mann hatte es getan. Er hatte sie nach Griechenland transferiert, ihr und ihrem Mann eine neue Arbeitsstelle besorgt und sämtliche Spuren ihrer Identität und ihres Verbleibs getilgt.
Das war jetzt zwei Jahre her. Zwei Jahre voller Sorge, Bedenken und Ängste. Zwei Jahre aber auch, in denen sie über ihre Tochter und die Art, wie sie die Dinge anpackte, nur staunen konnte.
Leni stand auf, ließ den Schildkrötenpanzer den Hügel hinabrollen und sagte: »Wir sollten los. Papa ist bald da.«
Hannah runzelte die Stirn. »John? Der kommt erst morgen wieder.«
»Nein, tut er nicht. Er ist auf dem Weg. Und er bringt Besuch mit.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehte Leni sich um und rannte den Hügel hinab.
Hannah stand auf und staubte ihre Jeans ab. Ihr schwirrte der Kopf. Leni konnte so blitzschnell umswitchen, dass es ihr manchmal unheimlich war. Auch ihre offensichtliche Unfähigkeit, Emotionen auszudrücken, war und blieb verwirrend. Hannah hatte lange gebraucht, damit klarzukommen, doch sie hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Vielleicht eines Tages, wenn sie am wenigsten damit rechnete …
Bei der Sache mit John konnte es sich nur um einen Irrtum handeln. Gestern früh noch hatte er ihr bestätigt, dass er erst übermorgen eintreffen würde. Daher konnte es keinen Zweifel geben. Dass Leni an ihren Vater dachte, wertete Hannah aber als gutes Zeichen. Es waren die kleinen Dinge, an denen man sich erfreuen sollte.
Ohne übertriebene Hektik und mit einer Geschwindigkeit, die den schweißtreibenden Temperaturen entsprach, folgte sie ihrer Tochter die Straße zum Dorf hinab.
Sie hatte etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als sie ein entferntes Dröhnen hörte. Sie blieb stehen und beschirmte ihre Augen mit der Hand.
Die Sonne stand schon recht niedrig, doch vor dem goldenen Abendhimmel war ein blinkender Punkt zu sehen, der von Süden her auf sie zukam. Das Dröhnen klang jetzt eindeutig nach Rotoren.
»Ein Helikopter?«, murmelte Hannah. Sofort fiel ihr Lenis Bemerkung wieder ein. Das konnte nur ein Zufall sein – auch wenn Hannah nicht so recht an Zufälle glaubte.
Unbewusst ihren Schritt beschleunigend, setzte sie den Weg fort. Kein Zweifel, der Helikopter kam näher. Ob Leni das Motorengeräusch gehört hatte? Eigentlich unmöglich. Aber Kinder verfügten ja bekanntlich über Ohren wie Eulen, zumindest, wenn etwas sie interessierte.
Der Helikopter ging in den Sinkflug über. Er schien tatsächlich zu ihnen zu wollen.
John?
Langsam bekam Hannah doch Zweifel. Aber warum sollte er früher heimkommen? Und warum hatte er sie nicht angerufen?
Sie verließ die Straße und eilte die Zufahrt zum Parkplatz hinunter. Wieder am Kassenhäuschen vorbei und mitten durch das Amphitheater. Giorgos saß immer noch auf dem Stuhl neben dem Fundtisch, hatte die Beine hochgelegt und süffelte an seinem Bier. Aus dem Radio drangen griechische Schlager.
»Hallo, Hannah, ich …«
Sie ignorierte ihn und setzte ihren Weg fort. Mittlerweile rannte sie eher.
Leni war bereits unten und hatte die weite, staubige Fläche des Stadions betreten. Am entgegengesetzten Ende erhob sich schimmernd der Tempel des Hermes und Herakles – den Beschützern der Jugend.
Der Helikopter drehte eine Runde, dann öffneten sich seitlich ein paar Luken, und das Fahrwerk kam heraus. Auf der blau-silbernen Außenhülle stand seitlich in kleiner Schrift: Stromberg Enterprises.