Badener Stadtkrimi – Heißes Blut - Gabrielle Allmendinger - E-Book

Badener Stadtkrimi – Heißes Blut E-Book

Gabrielle Allmendinger

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Beschreibung

Zwei Leichen an einem abgerutschten Hang. Die Skelette eines erwachsenen Mannes und eines Kindes. Die Kriminalbeamten Urs und seine Kollegin Uschi haben keine Ahnung, wie kompliziert dieser Fall noch werden wird. Und auch nicht, dass diese Funde etwas mit einer Frau zu tun haben, die im Moment in der ganzen Stadt per Flyer nach der Mutter ihrer adoptierten Tochter sucht. Das hört sich alles nicht gut an ...

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Seitenzahl: 320

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Inhalt

Impressum 2

Einleitende Bemerkung 3

Montag, 6. Juli 2015, Ländliweg 2, Kantonspolizei Baden 5

Dienstag, 7. Juli 2015, Ländliweg 2, Kantonspolizei Baden 20

Freitag, 26. Juni 2015, Spital in Palermo 25

Donnerstag, 2. Juli 2015, Geelig, Gebenstorf 31

Donnerstag, 2. Juli 2015, Elternhaus von Hansueli, Untersiggenhal 48

Freitag, 3. Juli 2015, Elternhaus von Hansueli, Untersiggenhal 51

Wochenende, 4./5. Juli 2015, Elternhaus von Hansueli, Untersiggenhal 56

Montag, 6. Juli 2015, Hotel Blue City Baden 58

Montag, 6. Juli 2015, Geelig in Gebenstorf 64

Dienstag, 7. Juli 2015, Hotel Blue City Baden 67

Dienstag, 7. Juli 2015, Restaurant Piazza, Baden 74

Fast zur selben Zeit in Untersiggenthal 80

Dienstag, 7. Juli 2015, Ländliweg 2, Baden 98

Dienstag, 7. Juli 2015, Untersiggenthal 103

Dienstag, 7. Juli 2015, Restaurant Rebstock, Baden 108

Dienstag, 7. Juli 2015, Hotel Blue City Baden 113

Mittwoch, 8. Juli 2015, Ländliweg 2 121

Mittwoch, 8. Juli 2015, Kantonsspital Baden 125

21. Juni 1974, Geelig in Gebenstorf 133

Mittwoch, 8. Juli 2015, Kantonsspital Baden 143

Mittwoch, 8. Juli 2015, Biergarten Baden 150

Dienstag, 7. Juli 2015 153

Mittwoch, 8. Juli 2015, Limmatufer 160

Mittwoch, 8. Juli 2015, Ländliweg 2 168

Mittwoch, 8. Juli, Von-Rechenberg-Weg 182

Ein paar Stunden zuvor, in der Umgebung von Baden 187

Mittwoch, 8. Juli 2015, Ländliweg 2 188

Mittwoch, 8. Juli 2015, Kantonsspital Baden 191

Mittwoch, 8. Juli 2015, Autofahrt zurück nach Baden Mittwoch, 8. Juli 2015, Nussbaumen 197

Mittwoch, 8. Juli 2015, Baden 203

Donnerstag, 9. Juli 2015, Nussbaumen 207

Donnerstag, 9. Juli 2015, Vernehmungszimmer Baden 215

Donnerstag, 9. Juli 2015, Hertenstein 220

Donnerstag, 9. Juli 2015,

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2021 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99107-367-3

ISBN e-book: 978-3-99107-368-0

Lektorat: Volker Wieckhorst

Umschlagfoto: Franzisca Guedel | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Einleitende Bemerkung

Selbstverständlich gibt es die Kantonspolizei in Baden und natürlich existieren auch die beschriebenen Plätze, Gebäude und Orte.

Doch darf diese Tatsache nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich beim vorliegenden Regionalkrimi um reine Fiktion handelt. Alle agierenden Personen und Institutionen sowie deren Verbindungen zueinander sind frei erfunden. Mögliche Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sowie mit Handlungen (in der Gegenwart oder in der Vergangenheit) sind rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.

Der Schwache kann nicht verzeihen.

Verzeihen ist eine Eigenschaft des Starken.

Mahatma Gandhi, 2.10.1869 bis 30.01.1948,

Montag, 6. Juli 2015, Ländliweg 2, Kantonspolizei Baden

„Hey, Uschi, du frischgebackene Ermittlungs-Assistentin! Was machst du denn heute hier? Ich dachte, du wolltest heute frei machen und mit deiner Schwester ein Hochzeitskleid kaufen?“ Anita, eine der beiden Sekretärinnen bei der Kantonspolizei, geht auf ihre Chefin zu und umarmt sie zur Begrüßung.

„Guten Morgen, Anita.“ Uschi löst sich aus der Umarmung. „Ich war eben bei Moser und habe Brötchen gekauft.“ Uschi hält eine Papiertüte der Bäckerei in die Luft und legt sie gleich danach neben die Kaffeemaschine.

„Ich habe mit meiner Schwester und meiner Mam erst um 10 Uhr abgemacht. Es ist so heiß, dass ich nicht lange schlafen konnte. Also dachte ich, ich schau bei dir vorbei und trink mit dir Kaffee.“

„Gute Idee – obwohl mir bei diesen Temperaturen ein kühles Bier lieber wäre!“

„Ilona hat Glück mit dem Wetter für ihre Wanderferien. Ich habe gehört, dass es heute im Wallis 37 Grad geben soll!“ Ilona, die zweite Sekretärin, ist am letzten Samstag mit ihrem Mann für eine Woche in die Ferien gefahren. Seit ihre beiden Töchter ausgezogen sind, verbringen die beiden ihre ganzen Ferien jeweils in den Bergen. Sie wandern, biken, spielen Tennis, und ab und zu gehen sie auch Klettern. Diesmal haben sie sich vorgenommen, einige Walliser Berge zu besteigen.

Anita hat ihre schwarzen, schulterlangen Haare zu einem Knoten gebunden, der durch ein knallgelbes Haarband gehalten wird. Um ihre eher üppige Figur schwingt ein weites, leichtes, weißes Leinenkleid, und ihre Füße sind nackt.

„Wo sind deine Schuhe?“, fragt Uschi.

Die habe ich ausgezogen – schau!“ Anita zeigt auf ihren Schreibtisch.

„Was?“

„Schau darunter!“

Uschi zieht den Bürostuhl etwas vor und sieht ein Becken mit Wasser, davor ein Badetuch. Sie schaut Anita fragend an.

„Eisgekühltes Wasser!“, erklärt Anita. „Den Tipp habe ich vom Radio. Ich stecke meine Füße da rein, und die Hitze wird gleich erträglicher.“ Anita lacht übers ganze Gesicht. An ihren Ohren hängen lustige, große Ohrringe in Form einer Zitrone, und eine große Halskette, ebenfalls mit einem Zitronenanhänger, hüpft auf ihrer Brust auf und ab, während sie lacht.

„Du weißt dir offensichtlich zu helfen! Ist Urs noch in der Sitzung?“

„Ja – ich habe ihn heute Morgen nur kurz gesehen. Er ging dann schnell in sein Büro und gleich darauf zum Stadthaus. Er war ungewöhnlich gut gelaunt für einen Montagmorgen!“

Uschi huscht ein Lächeln über das Gesicht. Sie weiß, warum Urs gut gelaunt ist. Nun ist das leidige Thema für ihn endgültig gelöst.

***

Als sie damals, 2009, beide bei der Kantonspolizei einen neuen Job gefunden hatten, war auch noch die Stelle für eine Ermittler-Assistenz ausgeschrieben. Aber Urs konnte sich nicht vorstellen, mit jemandem zusammenzuarbeiten. Er ist ein Einzelgänger und ein komischer Kauz und hat jeden Versuch, ihm eine Assistenz zur Seite zu stellen, mit Erfolg vereiteln können.

Stattdessen bezog er Uschi in all seine zu lösenden Fälle mit ein, und obwohl sie als Leiterin der Verwaltung angestellt war, übernahm sie gerne diese Zusatzaufgaben. Sie fand einen guten Umgang mit Urs, der anfänglich auch auf sie seltsam wirkte, und ihre Zusammenarbeit wurde schon bald sehr erfolgreich. Obwohl sich Urs damit über Verordnungen hinwegsetzte, ließ man ihn gewähren. Seine Aufklärungsrate ist hoch, und er löst die Fälle meist in kurzer Zeit.

Nach den Neuwahlen 2013 hatte sich Daniel Meier, ein ehrgeiziger Politiker, zum Ziel gesetzt, Ordnung in die Abteilung Verbrechensaufklärung zu bringen. Die Assistenzstelle wurde erneut ausgeschrieben, und schließlich folgte eine Anstellung. Uschi, die ihren Arbeitsplatz inzwischen in Urs‘ Büro eingerichtet hatte, zog wieder zurück in die Kanzlei zu ihren Sekretärinnen. Herr Imbühl, der neue Ermittlungsassistent, hatte jedoch schon während der Probezeit wieder gekündigt. Urs sprach kaum ein Wort mit ihm und tat so, als gäbe es ihn nicht. Er ließ ihn allein im Büro sitzen und besprach seine Fälle weiterhin mit Uschi, die ihn immer wieder darauf ansprach und ihm riet, sich nun mit der neuen Situation abzufinden und mit Herrn Imbühl zu arbeiten. Doch Urs ließ sich diesbezüglich nichts sagen. Nach der Kündigung von Herrn Imbühl berief der zuständige Ressortvorsteher Meier eine Krisensitzung ein, zu der nebst Urs auch Uschi und ihre Sekretärinnen eingeladen waren. Urs wurde eröffnet, dass die momentane Situation nicht weiter tragbar sei und keine weiteren Ausnahmen mehr geduldet werden können. Uschi wurde vorgeworfen, dass sie sich nicht an ihre Stellenbeschreibung gehalten habe und weiterhin Urs bei seiner Arbeit unterstütze, und die beiden Sekretärinnen wurden abgemahnt, weil sie Herrn Imbühl geschnitten haben sollen.

„Was? Wir sollen ihn geschnitten haben? Das wüsste ich aber!“, empörte sich Anita. „Ich habe ihm jeden Morgen Kaffee gebracht, war freundlich und nett zu ihm und war sogar einmal nach Feierabend auf ein Bier mit ihm im Biergarten!“

„Das stimmt wirklich nicht, dass er von uns geschnitten wurde“, bemerkte nun auch Uschi in ruhigem Ton. „Ich gebe zu, dass ich mich nicht immer an meine Stellenbeschreibung gehalten habe. Doch Herr Imbühl hat sich auch nicht um die Arbeit gerissen. Er kam oft zu spät zur Arbeit, weil er vor dem Gubrist-Tunnel im Stau gestanden habe, doch er hätte ja auch mal früher losfahren können. Am Nachmittag verabschiedete er sich dann auch meist um drei, halb vier Uhr, um nicht nochmals in den Stau zu geraten, wenn er zurück nach Opfikon fuhr.“

„Genau!“, warf Anita ein. „Deshalb kam er auch mit auf ein Bier. Er hat tatsächlich einmal bis fünf Uhr gearbeitet und wollte erst später fahren, wenn der Feierabendverkehr vorbei sei!“

Urs sagte nichts und hörte nur zu. Uschi schaute mehrmals zu ihm, doch sein Gesichtsausdruck blieb, wie man es von ihm kannte, emotional stabil. Es war nicht zu erkennen, woran er dachte. Sie befürchtete, dass er in den nächsten Minuten kündigen würde, und das wollte sie vermeiden.

„Ich mache eine Weiterbildung!“, platzte sie heraus. Alle Augen richteten sich auf sie, auch Urs schaute sie mit seinen dunklen Augen erstaunt an.

„Was meinst du damit?“ Ilona fand als Erste ihre Sprache wieder.

„Ich weiß auch nicht genau … Aber ich könnte mich doch als Ermittlungsassistentin weiterbilden und offiziell mit Urs zusammenarbeiten.“ Uschi erschrak über ihre eigenen Worte. Hatte sie das tatsächlich angeboten? War das überhaupt möglich?

Meier horchte auf. „Gute Idee, Frau Frei.“ Er nickte. „Unkonventionell, aber nicht abwegig.“

Nun mischte sich auch Urs ein: „Uschi, du willst dich weiterbilden?“ Sein Gesicht hellte sich auf.

„Ja, warum nicht?“ Uschi war immer noch etwas überrascht über diese Wendung, doch sie fand Gefallen an dieser Idee.

***

„Die Feier am Freitag war wunderschön!“ Anita hat zwei Kaffee auf den Besprechungstisch gestellt, an dem Uschi schon Platz genommen und sich ein Brötchen mit Sonnenblumenkernen aus der Papiertüte genommen hatte.

„Ja … und schön, dass ihr alle gekommen seid!“ Uschi streift sich mit ihrer linken Hand durch das kurz geschnittene Haar. Sie hat sich für die Diplomfeier am letzten Freitag, mit dem nun ihre Weiterbildung zur Ermittlungsassistentin abgeschlossen war, die Haare ganz kurz schneiden lassen. Eigentlich wollte sie nur die Spitzen schneiden, denn es hat lange gedauert, bis ihre Haare endlich bis zu den Schultern reichten. Doch am Freitag war es derart heiss, dass sie sich schließlich einen Kurzhaarschnitt verpassen ließ.

„Steht dir wirklich super!“, bemerkt Anita.

„Danke schön. Ich fühl mich auch gut mit den kurzen Haaren.“ Sie hat sich in ihr blondes Haar außerdem ein paar hellere Strähnchen färben lassen. Die Sonne hat ihr Sommersprossen auf die Nase gezaubert, und zusammen mit ihren grünen Augen ergibt dies ein frisches, jugendliches Bild. Ihre 35 Jahre sind ihr nicht anzusehen, zumal sie an ihrem freien Tag eine kurze Jeanshose, ein weißes Trägershirt und orangene Flipflops trägt, was sie sich mit ihrer zierlichen Figur gut leisten kann.

„Und? Gefällt es dir noch immer in deiner neuen Wohnung?“, fragt Uschi.

„Es ist einfach super! Nur habe ich oft keine Zeit, sie zu genießen! Ich konnte mir nun zwar diese Eigentumswohnung leisten, weil ich damals, als du mit deiner Weiterbildung begannst, mein Pensum aufgestockt habe. Doch nun sitze ich die ganze Woche im Büro!“

„Tja, man kann eben nicht alles haben!“

„Das kannst du laut sagen. Wenn wenigstens jemand auf mich warten würde, wenn ich abends nach Hause komme. Doch länger als acht Monate hält es wohl kein Mann mit mir aus.“ Anita stöhnt und beißt herzhaft in ihr Brötchen, das sie mit der Butter, die sie im Kühlschrank fand, bestrichen hat.

„Ich weiß genau, was du meinst. Am schlimmsten finde ich die Wochenenden, an denen ich allein zu Hause bin und in meiner Wohnung umhertigere. Doch es ist noch nicht aller Tage Abend“, mahnt Uschi. „Wer weiß? Vielleicht haben wir einfach noch nicht den Richtigen gefunden …“

„Ich werde nächstes Jahr fünfzig, junge Frau! Es hat schon viele Abende in meinem Leben gegeben, und wenn es Mr. Right für mich gäbe, wär ich ihm bestimmt begegnet. Du hast noch alle Zeit der Welt mit deinen 35 Jahren!“

„Dein Wort in Gottes Ohr!“, lacht Uschi.

„Vielleicht suchst du zu weit?“ Anitas Stimme hat etwas Anzügliches.

„Wie meinst du das?“, will Uschi wissen.

„Nur so. Man sagt doch: Warum denn in die Ferne schweifen – sieh, das Gute liegt so nah!“, lacht Anita.

„Du und deine Fantasie! Träum weiter!“, kontert Uschi und zieht einen Flyer, der auf dem Besprechungstisch liegt, zu sich: „Was ist denn das für ein Flyer?“

„Den hab ich von der Kollegin unten. Eine komische Sache. Eine Frau sucht offensichtlich die leibliche Mutter ihrer Tochter. Mehr weiß ich auch nicht.“

„Ihrer Tochter? Dann ist sie doch die Mutter …“

„Nein, eben nicht. Sie hat das Kind wohl aufgezogen, doch sie ist nicht die leibliche Mutter.“

Uschis Telefon klingelt. Während Uschi das Telefon entgegennimmt, räumt Anita die Kaffeetassen zur Seite und begibt sich wieder an ihren Schreibtisch. Die Füße stellt sie in das Becken und wendet sich ihrer Arbeit zu.

„Das war meine Schwester“, sagt Uschi, als sie ihr Telefonat beendet hat. „Sie ist jetzt mit meiner Mam unterwegs zum Brautmodegeschäft Milojka. Ich mach mich dann auch auf den Weg.“

Anita schaut von ihrer Arbeit auf: „Sag ihr einen lieben Gruß von mir und viel Spaß! Ich bin überzeugt, dass ihr die richtigen Kleider finden werdet! Heiratet deine Schwester in Weiß?“

„Sie hat mal was von Rot gesagt …“

„Hmmm.“ Anita verzieht ihr Gesicht. „Rot! Hoffentlich kannst du ihr das ausreden!“

„Anita! Musst du immer so direkt sein?“

„Yep!“

Uschi lacht: „Du bist voll in Ordnung, Anita! Ich versuch mein Bestes!“

Uschi fährt den kurzen Weg über die Hochbrücke nach Wettingen mit ihrem Velo, das sie vor dem Gebäude der Kantonspolizei abgestellt hat. Die Bauarbeiten beim Schulhausplatz haben eben begonnen, und Uschi muss erst einen kleinen Umweg gehen, bevor sie auf die Straße gelangt. Obwohl es erst kurz vor 10 Uhr morgens ist, ist die Hitze schon stark spürbar, und sie hofft, dass der Laden für Brautmode in Wettingen über ein Klimagerät verfügt. Im Körbchen an ihrer Lenkstange liegt ein Moët & Chandon in einem Kühlelement, zusammen mit vier Gläsern. Sie ist sehr gut gelaunt und freut sich, gleich den ganzen Laden für Brautmode nur für sich, ihre Mam und ihre Schwester zur Verfügung zu haben. Die Geschäftsführerin ist eine alte Bekannte ihrer Mutter und hat sich bereit erklärt, an diesem Montag das Geschäft nur für die drei Frauen zu öffnen.

Am 12. September werden ihre Mam und ihr Paps sich erneut das Jawort geben. Als vor 3 Jahren überraschend eine junge Frau aufgetaucht war, die sich als Tochter ihrer Mutter Bea vorstellte, brach diese endlich ihr Schweigen. Es stellte sich heraus, dass Nina, diese junge Frau, die ihrer Mutter zum Verwechseln ähnlich sieht, Uschis Halbschwester ist. Damals, Bea besuchte noch die Kantonsschule in Baden, wurde sie nach einem „One night stand“ schwanger. Zusammen mit ihrer besten Freundin reiste sie nach der Matur für ein halbes Jahr in die Türkei. Dort brachte sie Nina heimlich zur Welt. Ihre Freundin fand, dass es das Beste sei, dieses Kind zur Adoption freizugeben. Anfänglich glaubte Bea auch, dass dies das Beste für sie und ihr Kind sei. Doch nach der Geburt konnte sie sich nicht mehr vorstellen, das kleine Mädchen wegzugeben. Ihre Freundin hatte jedoch andere Pläne und entführte ihr das Kind in der Nacht vor ihrem Rückflug. Bea war geschockt. Sie flog nach Hause und hat niemals mehr ein Wort mit ihrer damaligen Freundin gesprochen. Sie vertraute sich niemandem an und ertrug still ihr Leid. Später heiratete sie Gerry, der ebenfalls keine Ahnung davon hatte. Auch wenn Bea kurz nach ihrer Hochzeit ein weiteres Mädchen, Uschi, zur Welt brachte, konnte sie den Verlust ihrer ersten Tochter nie ganz verkraften, und schließlich zerbrach ihre Ehe an diesem dunklen Geheimnis.

Nachdem Nina aufgetaucht war, veränderte sich ihre Mutter zusehends. Die stille, der Welt entrückte Frau blühte richtiggehend auf. Heute ist sie lebensfroh, fröhlich und immer gut gelaunt. Kurze Zeit später haben Uschis Eltern wieder zusammengefunden, sehr zur Freude der beiden Halbschwestern. Als ihr Paps schließlich erneut um Beas Hand angehalten hatte, war das Glück für ihre Mam vollkommen. Er vermietete seine Wohnung in Wettingen und zog zurück in das Haus in Ennetbaden.

Ihre Halbschwester Nina wohnte anfänglich auch da, verliebte sich dann aber schon bald nach ihrem Umzug in die Schweiz und zog mit ihrem Freund zusammen nach Nussbaumen. Beim Gedanken an Nina huscht Uschi ein Lächeln übers Gesicht. Sie kann sich eine Welt ohne Nina nicht mehr vorstellen. Nina ist für sie nicht nur die Schwester, die sie sich als Kind oft gewünscht hatte. Nina ist auch ihre beste Freundin geworden. Die beiden sprechen über alles miteinander, und es vergeht keine Woche, in der sie keine Zeit miteinander verbringen.

Nun heiratet ihre „große“ Schwester einen lieben Mann, und Uschi freut sich so sehr für sie. Sie kennt ihren zukünftigen Schwager aus einem Selbstverteidigungskurs, den sie vor langer Zeit besucht hatte, und traf ihn später ab und zu in Baden an, wo sie sich grüßten und ein paar Worte wechselten. Während Uschi die leichte Steigung von der Hochbrücke Richtung Wettingen an der Kantonsschule Baden vorbeifährt, erinnert sie sich, wie Nina und Thomas sich kennengelernt haben.

Im Frühling 2013 besuchte sie mit Nina einmal mehr am Samstag den Gemüsemarkt in Baden. Sie hatte für den Abend ein paar Freunde eingeladen, die sie in ihrer Altbauwohnung in der oberen Halde in Baden bekochen wollten. Nina, als gelernte Köchin, war selbstverständlich mit von der Partie und ließ es sich nicht nehmen, das Gemüse frisch vom Markt zu kaufen. Uschi liebte diese Markteinkäufe mit ihr. Sie stellte sich jeweils etwas abseits und beobachtete ihre Schwester, wie sie mit den Händlern feilschte.

An diesem Samstag kreuzte Thomas wieder einmal ihren Weg und grüßte sie. Nach einem kurzen Wortwechsel zeigte Uschi auf Nina: „Dort am Stand, das ist meine Schwester. Wir sind am Einkaufen.“

„Ziemlich resolut, deine Schwester“, lachte Thomas.

„Ja, resolut ist sie auch …“ In diesem Moment drehte sich Nina freudestrahlend nach Uschi um und ging auf sie zu: „Wir haben alles, Schwesterchen!“ Sie hielt eine braune Papiertüte hoch.

„Gut gemacht! Darf ich dir Thomas vorstellen? Wir kennen uns von früher. Thomas, das ist Nina, meine Schwester.“

Uschi fühlte förmlich, wie es knisterte, als sich Ninas und Thomas Blicke trafen. Kurze Zeit später saßen sie vor dem Restaurant Rose auf der Weiten Gasse. Dass es noch etwas kühl war, um draußen Kaffee zu trinken, störte wohl nur Uschi. Thomas und Nina schienen nicht viel wahrzunehmen, was um sie herum geschah. Als Uschi sich schließlich nach einer halben Stunde erhob und meinte, dass sie noch einiges zu tun haben bis am Abend, fragte Nina: „Ist es okay, wenn Thomas heute Abend auch zum Essen kommt?“ Uschi schaute erst Thomas, dann Nina erstaunt an und meinte: „Ja, natürlich!“ Ihr war klar, dass sie soeben Zeugin einer beginnenden Liebe war.

Als Uschi bei Milojka ankommt, stehen ihre Mam und Nina schon vor dem Laden und betrachten ein schlichtes, elegantes, langes, roséfarbenes Kleid im Schaufenster. „Das wär doch was für Uschi! Schau mal, Nina …“

„Was wäre was für mich?“ Uschi parkt ihr Velo vor dem Laden und läuft auf Nina und ihre Mam zu, um sie herzlich zu umarmen.

„Guten Morgen, Uschi!“ Ihre Mutter ist, einmal mehr, bester Laune. Obwohl sich Uschi langsam daran gewöhnt haben sollte, ist sie immer noch etwas erstaunt über die Kraft, die ihre Mutter, seit Nina wieder in ihr Leben trat, ausstrahlt. Jahrelang hatte sie, nach dem Weggang ihres Vaters, als Teenager und junge Frau die Verantwortung für sich und ihre Mutter übernehmen müssen. Ihre Mutter war unentschlossen, etwas lebensfremd und meistens in Gedanken versunken. Uschi fühlt noch immer große Dankbarkeit über diese Wendung in ihrem Leben. Ihre Mutter ist glücklich, ihre Eltern haben sich wieder gefunden, und sie hat eine große Schwester, die sie fest ins Herz geschlossen hat. Und um das Maß an „Kitsch“ vollzumachen, werden Mutter und Schwester im September Doppelhochzeit feiern!

„Schau …“ Nina zeigt auf das Schaufenster. „Dieses Kleid ist so wunderschön!“

„Es geht heute aber nicht um mich, Nina. Du und Mam, ihr sollt ein Kleid für eure Hochzeit aussuchen!“

„Liebe Uschi, das werden wir!“ Nina gibt ihrer jüngeren Schwester einen Kuss auf die Stirn. Eine Angewohnheit von Nina, die sich Uschi gern gefallen lässt. „Doch du wirst dir auch ein Kleid aussuchen! Schließlich bist du unsere Brautführerin. Das haben Mam und ich bereits beschlossen!“

Gegen 13.00 Uhr haben alle drei Frauen ihr Kleid für die Hochzeit gefunden. „Du siehst aus wie eine Prinzessin, Nina!“ Uschi hebt ihr Champagnerglas und trinkt den letzten Schluck aus. Sie ist wirklich froh, dass sie Nina davon überzeugen konnten, ein weißes, langes Kleid für ihre Hochzeit zu wählen. Karla, die Geschäftsführerin, hat einfühlsam und geduldig jeden Wunsch der drei Frauen ernst genommen und sie sehr gut beraten. Mit ihrer Unterstützung konnte sich Uschi gegen das bodenlange roséfarbene Kleid, das ihr Nina und Mam aufschwatzen wollten, wehren, und sie hat sich stattdessen ein Kostüm in smaragdgrün ausgesucht. Ihre Mutter entschied sich für ein schlichtes Etui-Kleid mit Bolero-Jacke in rauchblau.

Beim Hinausgehen bemerkt Uschi einen Flyer neben der Kasse. „Woher hast du diesen Flyer?“, fragt sie Karla.

„Ach, der wurde am Freitag hier abgegeben.“

„Wer hat ihn abgegeben?“, will Uschi wissen.

„Eine ältere Frau war das. Sie meinte, sie suche die leibliche Mutter ihrer Tochter. Ihre Tochter ist wohl schwer krank und braucht eine neue Niere. Mehr weiß ich leider nicht. Ich habe ihr nur mein Bedauern ausgesprochen, ihr alles Gute gewünscht und musste dann wieder Kundschaft bedienen. Warum?“

„Nur so. Danke nochmals für deine gute Beratung und dass wir heute unsere Kleider aussuchen durften. Tschüss, Karla.“

„Gern geschehen. Bis nächsten Freitag sind die Änderungen gemacht, und ihr könnt die Kleider abholen. Tschüss, Uschi.“

Uschi geht nach draußen, wo ihre Mutter und Schwester schon auf sie warten. Sie hat das Gefühl, gegen eine unsichtbare Wand zu laufen, als sie aus dem klimatisierten Laden in die Sommerhitze hinaustritt.

„Gehen wir etwas kleines essen?“, fragt Uschi. „Ich habe Hunger!“

„Gute Idee“, pflichtet Nina ihr bei. „Ich weiß auch schon wo. Paps und Thomas erwarten uns schon zu Hause. Ich habe etwas Kleines vorbereitet, was Thomas heute Morgen mit nach Ennetbaden gebracht hat, und ich bin sicher, die beiden Männer warten schon darauf, das Fleisch auf den Grill zu legen.“

„Mmmhhh … das ist eine sehr gute Idee!“, freut sich Bea, und Uschi stimmt ein: „Eine Köchin in der Familie ist äußerst praktisch! Was gibt es denn?“

„Es ist sehr heiß, weshalb ich verschiedene Salate, Saucen und frische Häppchen zubereitet habe. Wir müssen nur noch kurz über die Straße zum Metzger, um das Fleisch abzuholen.“

„Ich habe mein Velo dabei. Ist es okay, wenn ich schon mal losfahre, während ihr das Fleisch abholt?“

„Ja, fahr du nur. Wir kommen gleich nach.“ Bea umarmt ihre Tochter und flüstert ihr ins Ohr: „Ich bin so glücklich, Uschi.“ Uschi spürt die Freude und das Glücksgefühl ihrer Mutter und zwinkert ihr zu: „Hab dich lieb, Mam. Bis später.“

„Das war einmal mehr ein wunderbares Essen, Nina. Danke sehr!“ Gerry steht vom Tisch auf und beginnt, die leeren Teller zusammenzustellen. Bea hilft ihm dabei, und die beiden verschwinden in der Küche.

„Ich habe noch ein fruchtiges Dessert zubereitet. Mögt ihr dieses jetzt schon, oder wollt ihr erst einen Kaffee?“, fragt Nina.

„Im Moment bin ich so voll, dass ich nichts mehr runterbringe. Ein Kaffee und ein kleines Schnäpschen zum Verdauen wären super.“ Thomas hält sich den Bauch. „Hey, was ist denn da los?“ Thomas zeigt zum gegenüberliegenden Hang. „Was suchen die vielen Leute da oben?“

Uschi dreht sich um. Oberhalb der Wiese, wo die Ehrendingerstraße durchführt, unterhalten sich ein paar Leute, die wegen der Obstbäume nicht gut zu erkennen sind. Während Nina in die Küche geht, um Kaffee zu machen, stehen Uschi und Thomas auf und gehen auf die Terrasse, die etwas erhöht vom Sitzplatz über eine Treppe erreichbar ist. „Dein Handy klingelt“, bemerkt Thomas, geht kurz zurück zum Sitzplatz und holt Uschis Telefon.

„Hallo Urs!“ Uschi nickt Thomas zu, um sich für das Holen des Handys zu bedanken, und geht ein paar Schritte zum hinteren Teil der Terrasse, während Thomas angestrengt zum Hang hinaufschaut. Er bemerkt gar nicht, dass Uschi zurückkommt und nun plötzlich neben ihm steht: „Ich komm gleich hoch – in fünf Minuten bin ich da.“ Uschi beendet das Telefonat.

„Das glaubst du nicht“, meint sie zu Thomas. „Urs ist da oben, mit Lang und ein paar Leuten der Spurensicherung. Ich muss da rauf.“

„Was ist denn los?“, fragt Thomas.

„Ich darf noch nichts sagen, sorry.“ Uschi geht runter zum Sitzplatz, wo ihre Eltern und Nina den Kaffee aufgetischt haben.

„Was macht ihr denn auf der Terrasse?“, fragt Gerry.

„Ich habe einen Einsatz. Urs ist da oben.“ Sie zeigt den Hang hinauf auf die Ehrendingerstraße. „Esst mir nicht das ganze Dessert weg! Ich komme wieder zurück.“

„Du hast doch frei …“ Bea ist etwas enttäuscht, dass Uschi nun weggeht.

Gerry legt Bea den Arm um die Schultern. „Sie kommt ja wieder, mein Schatz, es wird wichtig sein.“

Uschi geht vom Sitzplatz ein paar Meter Richtung Friedhof, wo sie den kleinen Bach überqueren kann. Dann läuft sie die Wiese hinauf. Sie kennt den Bauern, dem dieses Land gehört, schon seit ihrer Kindheit und weiß, dass er nichts dagegen hat, wenn sie die Wiese überquert, anstatt die Straße außen herum zu nehmen. Verschwitzt und leicht außer Atem kommt sie wenig später bei Urs an.

„Es tut mir leid, dass ich dich an deinem freien Tag stören musste, aber ich dachte, das interessiert dich!“ Urs kommt Uschi entgegen, als er sie sieht.

„Hallo Urs“, keucht Uschi. „Kein Problem und danke, dass du mich angerufen hast. Hallo Lang! Lange nicht mehr gesehen!“ Dr. David Lang, der langjährige Amtsarzt, war bis letzte Woche für zwei Monate in Kanada, wo er das Helikopterfliegen erlernen wollte. „Hast du die Prüfung geschafft?“, fragt Uschi.

„Ich habe nur geübt – die Prüfung mache ich nächstes Jahr.“ Lang steht auf, zieht seinen rechten Handschuh aus und reicht Uschi die Hand: „Aber dir darf man gratulieren, Frau Ermittlungsassistentin, habe ich gehört!“

„Danke schön.“ Uschis Atem geht wieder ruhig. „Also … was habt ihr gefunden? Knochen?“

„Du kannst dich doch erinnern, dass es Anfang Mai so lange und intensiv geregnet hat, dass der Hang hier in Ennetbaden herunterkam. Im Zusammenhang mit der Straßensanierung der Ehrendingerstraße hat man eine zusätzliche Stütze zur Kantonsstraße betoniert, und heute sollten die Arbeiten abgeschlossen werden, indem der Grund bis zur Straße wieder aufgefüllt wird. Dabei fanden zwei Bauarbeiter einen großen Knochen und haben uns angerufen.“ Urs zeigt zu den Bauarbeitern, die gespannt den Fortgang der Knochenbergung beobachten.

„Welche Art Knochen?“, will Uschi wissen.

„Es sind eindeutig menschliche Knochen“, erklärt Lang. „Ich schätze, die Arbeiter haben einen Oberschenkelknochen eines erwachsenen Menschen gefunden. Wie lange dieser Knochen hier liegt, kann ich im Moment noch nicht sagen. Ich denke allerdings, dass dies keine alten Römer waren.“

Urs kritzelt etwas in seinen Block, als sie die Stimme eines Arbeiters vernehmen: „Hallo! Hierher!“ Der Mann winkt, und Urs, Uschi und Lang gehen ein paar Schritte die Straße hinunter. „Hier sind noch mehr Knochen!“, ruft der Arbeiter.

Zwei Stunden später kehrt Uschi zurück zu ihren Eltern, Nina und Thomas.

„Du kommst gerade rechtzeitig“, meint Nina. „ Wir haben eben mit dem Dessert angefangen.“ Nina steht auf und holt auch für Uschi einen Fruchtbecher mit selbst gemachtem Kirschensorbet in der Küche.

„Was war los da oben? Ist der Hang wieder heruntergekommen?“ Bea schaut ihre Tochter fragend an.

„Nein, Mam, dann wäre ich wohl die falsche Person gewesen, die gerufen wurde“, lacht Uschi. „Zwei Bauarbeiter, die den Hang nach Abschluss der Reparaturarbeiten wieder auffüllen wollten, haben menschliche Knochen gefunden. Das hört ihr sowieso heute Abend in den Nachrichten.“

„Ein Skelett?“, fragt Thomas.

„Ja – besser zwei Skelette. Ein Erwachsener und ein Kind. Das Kind war bei seinem Tod etwa ein Jahr alt. Mehr können wir im Moment nicht sagen. Die Funde sind unterwegs nach Aarau, wo sie forensisch untersucht werden.“

„Nein! Das glaube ich nicht! Wie kommen denn zwei Tote in diesen Hang? Sogar ein Kleinkind!“ Bea ist ganz aufgeregt.

„Das müssen wir jetzt herausfinden, Mam. Wir wissen es auch nicht.“

„Seit wann liegen die denn da?“ Bea kann sich kaum beruhigen.

„Auch das wissen wir noch nicht. Lang, das ist unser Amtsarzt, meint, es seien wohl keine Römer …“ Uschi nimmt einen Löffel Kirschsorbet in den Mund: „Mmmmhhhh … Nina, das Sorbet ist ein Genuss!“

„Wie kannst du jetzt ein Sorbet loben, wenn du eben noch vor zwei Skeletten gestanden hast!“, empört sich Bea.

„Mam, das ist mein Job. Im Moment können wir nichts tun, als auf Ergebnisse der Untersuchung zu warten. Lass uns den Tag zusammen noch genießen.“

„Na gut“, lenkt Bea ein. „Für mich wäre dieser Job allerdings nichts!“

Dienstag, 7. Juli 2015, Ländliweg 2, Kantonspolizei Baden

„Guten Morgen, Urs!“ Uschi ist schon seit einer Stunde im Büro, als Urs müde die Tür öffnet und zu seinem Schreibtisch geht.

„Guten Morgen, Uschi.“ Er seufzt und setzt sich.

„Hast du nicht gut geschlafen?“, fragt Uschi, die vor der Pinnwand steht, die sie in der Zeit ihrer Ausbildung wieder aktiviert hat. Vor vier Jahren hatte sie diese für Urs gekauft, um ihm eine Hilfestellung für die Verbrechensaufklärung zu geben. Doch obwohl Urs sich bemüht hatte, diese Pinnwand zu nutzen, wurde er nicht warm damit. Schließlich wurde sie in eine Ecke des Büros gestellt und diente fortan als Pinnwand für weise Sprüche und Postkarten.

Während der Ausbildung zur Ermittlungsassistentin entdeckte Uschi die Pinnwand für sich neu, platzierte sie mitten im Büro, hängte die weisen Sprüche und die Postkarten mit Klebstreifen an die Wand und benutzt sie seitdem wieder als Gedächtnisstütze.

„Hast du denn schlafen können?“, will Urs wissen. „Es war so heiß diese Nacht, dass ich kaum ein Auge zugebracht habe!“

„Ich habe sehr gut geschlafen“, lacht Uschi. „Auf meiner Dachterrasse.“

„Du Glückliche!“ Urs steht wieder auf und stellt sich neben sie an die Pinnwand. „Ich habe noch etwas für dich … für deine Pinnwand.“ Urs holt aus seiner cremefarbenen Leinenhose zwei kleine Plastiktüten und reicht diese Uschi.

„Ketten?“

„Ja, zwei Halsketten. Die haben wir gestern noch gefunden, als du zurück zu deinen Eltern gingst. Auffällig dabei ist, dass an beiden Goldketten ein Kreuzanhänger ist, der zwar verschieden in der Größe, aber sonst genau gleich aufwändig gearbeitet ist. Beide Anhänger tragen auf der Rückseite die Initialen CP. Ich glaube, das sind die Initialen eines Goldschmieds.“

„Kann ich die rausnehmen?“, fragt Uschi.

„Ja, es gibt keine verwertbaren Spuren auf diesen Ketten.“

Uschi hängt die beiden Ketten an die Pinnwand, jeweils neben die Zettel, auf denen MANN/FRAU und KIND zu lesen ist.

„Ich habe Anita schon mal den Auftrag gegeben, uns Vermisstenmeldungen von damals herauszusuchen. Sie fragte nach dem Zeitpunkt …“

„Gute Frage!“

„Ja, ich weiß. Doch hat Lang nicht etwas von 20 Jahren gesagt gestern?“

„Stimmt – er sagte, es können 20 oder 40 Jahre sein … oder 60 oder mehr. Ausschließen könne er nur, dass es keine Römer seien.“ Urs freut sich über den Enthusiasmus seiner „neuen“ Kollegin.

„Nun“, meint Uschi, „ich habe mir überlegt, dass es nicht so viele Vermisstenmeldungen geben wird, bei denen ein Baby vermisst und nicht gefunden wurde. Außerdem glaube ich, dass die Vermisstenmeldung im Raum Baden eingegangen sein müsste. Die Stelle, an der die Knochen gefunden wurden, ist nicht so leicht zugänglich für Leute, die nicht wissen, wie man da hinkommen kann …“ Urs unterbricht Uschi: „Meine liebe neugebackene Kollegin.“ Er lächelt sie an. „Es freut mich, mit welchem Eifer du die Sache angehst. Deine Überlegungen sind auch überaus nachvollziehbar. Dürfte ich dich trotzdem erst zu einem Kaffee bitten? Ich bin sicher, Anita wartet schon auf uns.“

Uschi seufzt. „Ja, gehen wir rüber zu Anita. Bevor wir keine weiteren Anhaltspunkte haben, ist es sowieso müßig, sich zu intensiv mit diesem Fall zu beschäftigen.“ Sie schaut Urs an und bemerkt, dass er sich die Haare geschnitten hat.

„Hey, du warst ja beim Coiffeur! Steht dir gut, das etwas kürzere Haar!“

„Coiffeur? Du kennst doch meine Mutter …“

„Deine Mutter hat die Haare geschnitten? Das hat sie aber wirklich gut gemacht!“

Obwohl Urs ein gut aussehender Mann ist, groß, sportlich, dunkles Haar, das an den Schläfen langsam ergraut, und ganz dunkelbraune Augen, ist er noch immer ungebunden und lebt im Haus seiner Mutter. Sie ist eine energische Frau, forsch und willensstark, und schon mehr als einmal hat sich Urs über sie beklagt. Doch die Tatsache, dass sein Vater früh verstorben ist und er ohne Geschwister allein mit seiner Mutter aufwuchs, hat die beiden zusammengeschweißt. Urs hält sich, was sein Privatleben betrifft, sehr bedeckt. Uschi war ein paarmal zum Essen bei Urs und seiner Mutter eingeladen. Von ihr weiß Uschi, dass Urs schon Freundinnen gehabt habe und sie einerseits hoffe, dass er sie endlich zur Großmutter mache – doch andererseits sei sie auch sehr froh darüber, nicht allein wohnen zu müssen.

„Hier riecht es …“ Uschi hält sofort inne, als sie sieht, dass Anita am Telefonieren ist. Diese schaut nur kurz auf und nickt Urs und Uschi zur Begrüssung zu. „… nach Kaffee“, beendet Uschi ihren Satz ganz leise und geht zur Kaffeemaschine, um drei Tassen einzuschenken. Urs setzt sich an den Besprechungstisch, nimmt seinen Kaffee entgegen und gibt reichlich Zucker hinzu.

„Sie können sofort bei uns vorbeikommen. Ländliweg 2. Ja, dort, wo jetzt die große Baustelle ist … Genau. Ja, gehen sie da einfach durch … Bis gleich. Auf Wiederhören.“ Anita hat das Telefonat beendet, zieht ihre Füße aus dem Wasserbecken, trocknet sie ab und kommt ebenfalls zum Besprechungstisch.

„Dieser Lärm den ganzen Tag!“, stöhnt sie. „Ich weiß gar nicht, was schlimmer ist: der Baulärm oder die Hitze! Das soll jetzt zwei Jahre so weitergehen?“

„Einmal musste es ja sein … Die sprechen schon so lange über die Umgestaltung dieses Verkehrsknotens. Nimm’s sportlich, Anita“, versucht Uschi zu beschwichtigen.

„Sportlich? Was habe ich mit sportlich zu tun? Doch einige Bauarbeiter sind richtig knackige Männer … Ah, bevor ich es vergesse: Gleich kommt die Frau vorbei, die die Flyer verteilt hat.“ Anita zeigt auf den Flyer, den sie gestern mit hochgebracht hatte und der noch immer auf dem Besprechungstisch liegt.

„Ein solcher Flyer liegt auch bei uns zu Hause! Meine Mutter hat ihn gestern vom Kaffeetreff mit ihren Freundinnen mitgebracht. Sie hat mit dieser Frau gesprochen – Verena Rossi. Sie sei die Schwägerin der Gesuchten und hat deren Tochter in Italien aufgezogen. Warum will sie vorbeikommen?“

„Ja, das hat sie mir auch erzählt, dass sie ihre Schwägerin suche. Sie sagte, sie habe uns eine dringende Mitteilung zu machen und möchte dies gern persönlich tun. Sie wird in ca. 15 Minuten hier sein. Sie wohnt offensichtlich im Blue City Hotel.“

Auf dem Flyer ist eine hübsche, blonde Frau abgebildet, die Urs auf Mitte 20 schätzt. Aufgrund der Kleider muss das Bild in den 70ern aufgenommen worden sein. Darunter steht der Name MELANIE ROSSI, geb. 30.6.1951.

„Dieser Flyer ist äußerst laienhaft gestaltet“, bemerkt Uschi. „Das Foto ist alt und verblichen, und ich bezweifle, dass sie damit Erfolg haben wird.“

„Sie hat eine dringende Mitteilung?“, fragt Urs weiter.

„Ja, mehr weiß ich auch nicht.“

„Wie hat sie geklungen? Nervös? Ruhig?“, fragt Urs weiter.

„Sie scheint mir etwas aufgeregt gewesen zu sein“, antwortet Anita, während sie zum Kühlschrank geht und eine Flasche Wasser herausholt.

„Lasst uns jetzt Kaffee trinken. Ich habe uns Gipfeli mitgebracht“, unterbricht Uschi die Fragerunde. „Diese Frau Rossi wird ja gleich da sein. Du kannst sie dann alles fragen, was du willst, Urs!“

Als nach 30 Minuten keine Frau Rossi auftaucht, schlägt Uschi vor, nochmals zur Fundstelle der Knochen zu gehen. „Vielleicht ist der Frau etwas dazwischengekommen, und ich möchte nicht den ganzen Morgen hier auf sie warten. Gehen wir noch mal nach Ennetbaden, Urs?“

„Was möchtest du da? Ich weiß gar nicht, ob nicht schon alles zugeschüttet ist.“ Urs scheint nicht erbaut zu sein, sich in dieser Hitze draußen aufzuhalten.

„Zugeschüttet? Das glaube ich nicht. Ich überlege mir: Wenn ihr diese Ketten gefunden habt, wäre es doch auch möglich, dass man zum Beispiel einen Ehering finden könnte …“ Urs unterbricht Uschi: „Überredet. Du wirst sowieso keine Ruhe geben. Wir können gehen.“ Er nimmt einen letzten Schluck Kaffee und leert auch das Glas Wasser, das Anita ihm eingeschenkt hat.

Kurz vor Mittag kommen Urs und Uschi zurück ins Büro und gehen gleich zu Anita.

„Nichts!“ Uschi zuckt mit den Schultern. „Wir haben leider nichts mehr gefunden.“ Anita hat eben ihre Schuhe angezogen und will das Büro verlassen. „Gehst du essen?“, fragt Urs.

„Ja. Kommt ihr mit? Ich hätte da sowieso etwas, was ich euch erzählen möchte.“

„Warum nicht? Ich bin dabei. Ich gehe nur noch schnell ins Büro“, meint Uschi und verschwindet.

„Ist diese Frau Rossi noch aufgetaucht?“, will Urs wissen.

„Nein, sie war nicht da. Sie hat sich auch nicht mehr gemeldet. Lang hat euch aber gesucht. Es gibt Neuigkeiten wegen der beiden Skelette. Er kommt am Nachmittag kurz vorbei, so gegen 16 Uhr.“

Urs reibt sich das Kinn, sagt kein Wort und zieht seinen Schreibblock hervor, in dem er sich ein paar Notizen macht, während sie noch auf Uschi warten.

Freitag, 26. Juni 2015, Spital in Palermo

„Bist du ganz sicher, dass du ihr jetzt die Wahrheit sagen willst?“, fragt Giovanni seine Frau und streicht ihr liebevoll über den Kopf. Die beiden sitzen vor dem Spitalzimmer ihrer Tochter Tanja, die nicht ihre leibliche Tochter ist.

„Sie wird wütend sein“, bemerkt er.

„Wir hätten ihr das vor langer Zeit schon sagen sollen, Giovanni. Sie hat ein Recht zu wissen, wer ihre Eltern sind.“ Verena weiß, dass sie recht hat, doch bisher brachten sie es nicht übers Herz. Bereits als kleines Mädchen kränkelte Tanja oft und war nicht sehr belastbar. Sie war für Giovanni und Verena, die nie eigene Kinder gehabt haben, der Mittelpunkt ihres Lebens, ihr Sonnenschein, ihr Ein und Alles. Sie befürchteten stets, dass Tanja die Wahrheit nicht verkraften könnte.

Während ihres Wirtschaftsstudiums in Catania verliebte sich Tanja in Marco, ein Pizzajolo in einem nahen Restaurant bei der Universität. Es hat einige Zeit gedauert, bis Giovanni und Verena sich damit abgefunden haben, dass Tanja und Marco nach Abschluss ihres Studiums heiraten wollten. Doch schließlich haben sie der Verbindung ihren Segen gegeben und Marco in ihrem Familienbetrieb, dem hübschen, kleinen Restaurant „Bellavista“ in Castelmola, von dessen Terrasse aus man einen freien Blick auf den Ätna hat, aufgenommen. Damals haben Giovanni und Verena darüber nachgedacht, Tanja die Wahrheit über ihre Herkunft zu sagen. Doch Maria, ihre Nonna, riet ihnen davon ab: „Macht das Mädchen nicht unglücklich vor ihrer Hochzeit“, hat sie gesagt. „Ihr seid ihre Mamma und ihr Papa – und du, mein Sohn, geleitest sie zum Altar. Was hat sie davon, wenn sie weiß, dass du nicht ihr Papa, sondern ihr Onkel bist?“ Am Tag nach der Trauung, auf dem Weg zum Flughafen, wo die beiden ihre Hochzeitsreise antreten wollten, erlitten sie einen schweren Autounfall. Marco war sofort tot. Tanja war sehr schwer verletzt und leidet seither an einer Niereninsuffizienz. Es war einmal mehr nicht die richtige Zeit, sie einzuweihen.