Bahnfahring - Thomas C. Breuer - E-Book

Bahnfahring E-Book

Thomas C Breuer

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Beschreibung

Die Bahn stellt mich wieder ins Gleis. Was anderswo großspurig als Downsizing verkauft wird, praktiziert die Bahn schon längst. Das Essen im Bordbistro will nicht kommen? Das ist slow-food im wahrsten Sinne des Wortes. Außerdem bist du fett genug. Die Bahn ist nicht nur für Wellnesser geeignet, sondern auch ideal zum Auspendeln. Wenn jetzt noch die unbequemen ICE-Sessel durch Lotussitze ersetzt werden und man dem Dalai Lama die Standardansagen überlässt, werden sich meine Chakren nicht mehr einkriegen, und mildester Stimmung darf ich in meinem Tagebuch diesen Satz der chinesischen Geschwindigkeitsphilosophin Tai Ming zitieren: "Die Bahn kann mir keinen Unmut bereiten / Ich hänge mein Herz nicht an Abfahrtszeiten." Thomas C. Breuer, geboren 1952 in Eisenach, lebt als freier Schriftsteller in Rottweil und in Zügen von DB und SBB, seit 40 Jahren auch als Kabarettist unterwegs auf Kleinkunstbühnen (Deutschland, Schweiz, Nordamerika). Über 3.300 Auftritte, regelmäßige Rundfunkarbeit für WDR, SWR und Schweizer Radio SRF1. Diverse Preise und Auszeichnungen, darunter der Salzburger Stier 2014, der bedeutendste Radio-Kabarettpreis im deutschsprachigen Raum. Thomas C. Breuer möchte sich - trotz teils grotesker Erlebnisse - keinesfalls einreihen in den Chor der Bahnverächter. Tausendmal lieber sitzt er lieber im Zug statt im Auto. Davon erzählen seine Bahnerlebnisse in u. a. Skandinavien, Spanien, Tschechien, Österreich, Kanada, USA und Costa Rica.

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für Beatrice

Thomas C. Breuer, 1952 in Eisenach geboren, lebt als freier Schriftsteller in Rottweil und den Abteilen von DB und SBB. Seit 1977 auch als Kabarettist unterwegs auf Kleinkunstbühnen in Deutschland, der Schweiz und Nordamerika. Über 3.000 Auftritte, 31 Bücher, regelmäßige Rundfunkarbeit für WDR, SWR und Schweizer Radio SRF. Preisträger 2014 des Internationalen Radio-Kabarettpreises„Salzburger Stier“.

Thomas C. Breuer

Bahnfahring

Bahnfahring

Dieses Buch soll sich keinesfalls einreihen in den Chor der Bahnverächter. Die Bahn, und ich kann mir lebhaft vorstellen, was die meisten nun wieder denken, die Bahn – und ich für meinen Teil habe dieses Gegreine gründlich satt, dieses penetrante, ja: obsessive Gejammer und Genöle – die Bahn hat mich zu einem besseren Menschen gemacht, ach: erzogen, wenn nicht therapiert. Yessiree, die Bahn! Ich bin deutlich gelassener als früher, bald schon zermürbungsresistent. Überhaupt sind wir Deutsche viel relaxter geworden, und der Gewinn der Weltballfußmeisterschaft 2014 ist wirklich nicht der einzige Grund dafür.

Wer bei den Verwirrspielen der Fahrplangestaltung nicht eine stoische Gelassenheit an den Tag legt, hat schon verloren. Das Stehen auf freier Stecke verschafft kontemplative Momente – andere gehen dafür für teuer Geld ins Kloster. Abtei und Abteil, diese beiden Begriffe trennt nicht zufällig nur ein einziger Buchstabe. Ein zusätzliches Stündchen in einem Mischwald bei Minden optimiert den Blick für die Natur: War da nicht eben ein Füchslein im Gebüsch? Oder eine Sesamratte? Auch die Technik kommt nicht zu kurz. Endlich Zeit um herauszufinden, wie man den Bahn-Navigator im Internet bedient. Notfalls kann man den Dreijährigen zwei Sitzreihen weiter konsultieren. Der Zug ist notiert mit „plus 60 Minuten“? Ob das stimmt? Vielleicht weiß WikiLeaks mehr. Ein zweistündiger Stoppover in Koblenz? Erkunde die Umgebung des Bahnhofs. Gönne dir einen Cappuccino im Eiscafé Brustolon. Knüpfe Freundschaften mit anderen Gestrandeten. Verzögerungen im Betriebsablauf stärken das Gemeinschaftsgefühl, da herrscht Adventsstimmung das ganze Jahr über. Immer häufiger kommt es zu Wohlfühlverspätungen und man will gar nicht mehr weg. Ich kenne ein älteres Ehepaar, das nach einem mehrstündigen Zwangsaufenthalt in Ibbenbüren bloß nach Hause gefahren ist, um seine Siebensachen zu packen.

Bleibe gelassen und du wirst nichts verpassen. Bahnfahring ist eine stete Unterweisung in Demut. Der aktuelle Bahnchef sei dein Guru, der Weg sei das Ziel. Wer sich über Verspätungen aufregt, hat nicht begriffen, worum es geht: Um Besinnung. Besinnlichkeit. Besinnungslosigkeit. Zeit als Geschenk – quality time!

Wer Distanz zu technischen Unzulänglichkeiten wie nicht schließenden Türen gewinnt, kann sich öffnen. Reduziere deine nichtigen Bedürfnisse – Klimaanlage, Heißgetränke – und du vermeidest Enttäuschungen. Die Bahn vertritt konsequent einen ganzheitlichen Ansatz. Nicht nur die Seele wird versorgt, auch der Körper: Der Zug verkehrt in umgekehrter Reihenfolge? Ein kostenloses Angebot zu sportlicher Betätigung. Also das Gepäck gerafft und im Slalom ans andere Ende des Bahnsteigs geeilt. Das fördert die Rechts-Links-Koordination und hält fit, vor allem, wenn die Änderung zwei Minuten vor Einfahrt des Zuges bekannt gegeben wird – also immer. Für Gepäckstücke sind die Waggons sowieso nicht gedacht: Was bedeutet das für den erfahrenen Reisenden? Ballast abwerfen. Der Weg ist der Weg. Making by doing.

Die Bahn beweist häufig Menschlichkeit. In der Reihe vor mir sitzt ein Fahrgast mit ungültigem Ticket im Erste-Klasse-Abteil im ICE – also weder für die Klasse noch für den Zug als solchen. Der Kundenbetreuer schaut mich an, nachdem er den Mann unbehelligt hat weiterreisen lassen und fragt mich: „Fühlen Sie sich jetzt benachteiligt? Ich schüttele den Kopf. „Hier ist die Kunst des Wegguckens gefordert“, meint er und erklärt mir, dass sich der Aufwand nicht lohnen würde mit Bahnpolizei und der zu erwartenden Verspätung bzw. dass man vielleicht von Hanau bis Fulda diskutieren müsste, wo der Mann, vermutlich ein Perser, eh aussteigen muss. Der Kundenbetreuer hat lässig mal eben fünfzig Karmapunkte einsacken können, und der Verwaltungsaufwand entfällt.

Die Bahn überrascht derzeit mit einer innovativen Wellness-Offensive, denn Bahnkunden leiden häufig unter verzögerten Verspätungsphobien, denen gezielt entgegengesteuert werden soll. Ein Teil des Personals befindet sich gerade im Ausland zur Umschulung, aber präzise ab irgendwann einmal bald werden die Schaffner in ayurvedischer Seidenhandschuhmassage ausgebildet sein, die auf Anfrage im Ganzkörperabrieb eingesetzt werden kann. Auf der gesamten Eifelstrecke Trier – Köln verkehrt z.B. ein sog. Hamam, also ein türkisches Dampfbad, wo Reisende die typischen Anwendungen wie Seife-Bürsten-Massagen genießen können, man muss sich das vorstellen wie in einer Waschstraße, nur ohne Auto. Nach und nach wird vollkommen neues Rollmaterial zum Einsatz gelangen, wobei man auf das aggressive Verkehrsrot RAL 3020 zugunsten von anthroposophischen, also abgemilderten Tönen verzichten will. Man bemüht sich also um eine möglichst artgerechte Haltung des Kunden und legt Wert auf Authentizität. Die Waggons der neuen Generation wurden streng nach feng-shui-Gesichtspunkten angefertigt, die Achsen z.B. ausschließlich mit Aromaöl eingeschmiert. Obendrein werden die Abteile alle drei Stunden über die Klimaanlage mit einem Elixier aus Pfingstrosenwurzel und Maulbeerbaumrinde durchgespült.

Die Bahn stellt mich wieder ins Gleis. Was anderswo großspurig als Downsizing verkauft wird, praktiziert die Bahn längst. Das Essen im Bordbistro will nicht kommen? Das ist slow-food im wahrsten Sinne des Wortes. Außerdem bist du fett genug. Die Bahn ist nicht nur für Wellnesser geeignet, sondern geradezu ideal zum Auspendeln. Wenn jetzt noch die unbequemen ICE-Sessel durch Lotussitze ersetzt werden und man dem Dalai Lama die Standardansagen überlässt, dürften sich meine Chakren kaum mehr einkriegen, und mildester Stimmung kann ich in meinem Tagebuch einen Satz der chinesischen Geschwindigkeitsphilosophin Tai Ming zitieren : „Die Bahn kann mir keinen Unmut bereiten / Ich hänge mein Herz nicht an Abfahrtszeiten.“

Das Godotbähnchen

Hätte ein besonderer Tag werden sollen, ein Meilenstein in der glorreichen Verkehrsgeschichte dieses tapferen, kleinen Bundeslandes, der 25. September 2008. Endlich ist es soweit, der Tag ist da, ich bin da. Glücklicherweise ist niemand Offizielles aus Mainz da. Die haben wohl irgendwie Lunte gerochen, die Jubiläumsfahrt mit Minister Hering im historischen Triebwagen ist rechtzeitig abgeblasen worden, wie immer wissen die mehr als wir. In Indien gehen mobile Wahrsager durch die Züge. Die würden in Deutschland schon bei den exakten Ankunftszeiten durchdrehen, und bei der Hunsrückbahn an der Frage, ob überhaupt je was verkehrt. Das Wort „verkehrt“ bietet ja mehrere Interpretationsmöglichkeiten.

Als Minister Hering noch Bürgermeister von Hachenburg im Westerwald war, habe ich einmal eine historische Fahrt in seinem Auto erlebt, als er mich nach einem Auftritt am nächsten Morgen, sonntags um halb acht, so heroisch wie selbstlos nach Koblenz hinunter zum Bahnhof fuhr. Für Emmelshausen gilt heute: Der Zug ist nicht da. Nicht einmal der neue, den sie sich zum hundertjährigen Jubiläum der Hunsrückbahn geleistet haben. Ursache war nicht etwa eine Antriebsschwäche des Schienenfahrzeugs, sondern ein geradezu augenblicklicher Verschleiß der Radreifen. Umständlich hatte man eigens einen Schienenschleifzug organisieren müssen – Schleifzüge sind rar und kosten entsprechend. Die Radreifen ließen sich davon ohnehin nicht beeindrucken. Zehn Millionen Euro hat die DB Netz in neue Gleise für eine 16 Kilometer lange Strecke gesteckt – das ist nun der Dank. Nicht einmal das Schmieren der Radreifen hat etwas gebracht, einer der seltenen Fälle übrigens, bei dem Schmieren keine Wunder bewirkt hat.

Sie haben mich vor Monaten zur Eröffnungsveranstaltung gebucht, jetzt haben sie mich im sicheren Wissen, dass nichts Weltbewegendes passieren wird, anreisen lassen, sozusagen als 1-Personen-Eingreiftruppe, möglicherweise als De-Eskalations-Spezialist, ja, Gruppentherapeut. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich es hinauf nach Emmelshausen geschafft habe, wahrscheinlich mit dem Bus von Koblenz. Mit einem großen Bahnhof kann das Viereinhalbtausend-Seelen-Städtchen leider nicht aufwarten, wobei die Veranstaltung im kleinen Bahnhof stattfinden soll. Gut, ehrlich gesagt ist er sogar eher klein und wird schon lange für Kleinkunst genutzt, also immerhin sinnvoll.

Die örtlichen Honoratioren sind stoisch entschlossen, den Abend zu vollstrecken, ihre Mienen bewegen sich zwischen finsterer Gelassenheit und fatalistischer Fröhlichkeit. Wahrscheinlich haben sie den bereits kaltgestellten Sekt im Vorfeld weggepütgert, vielleicht bei der halbfeierlichen Enthüllung der Bronzeskulptur namens „Knochenflicker Pies“. Der Knochenflicker war der Vorläufer des Chiropraktikers. Ein Anlass also ohne Anlass. Ab und zu splinzt einer von ihnen verstohlen nach draußen, in der vagen Hoffnung, dass der Zug wider Erwarten doch noch eintrifft. Dabei wissen längst alle Beteiligten Bescheid, seit Wochen schon. Aber die Deutsche Bahn gibt ja ihre Verspätungen ebenfalls stets häppchenweise durch. Hier trifft sie allerdings keine Schuld. Ausnahmsweise. Das haben andere versemmelt. Oder veremmelt? Mit und gleichzeitig ohne Pauken und Trompeten.

Knapp eine Hundertschaft Zuschauer hat sich eingefunden. Ich habe die Texte eigens für diesen Abend zusammengestellt, teils völlig neu geschrieben, teils alte überarbeitet, und das für so einen Hennenschiss. Aufwand und Ergebnis stehen in keinem Verhältnis zueinander, was natürlich auch seinen Reiz hat, denn seien wir gerecht: So etwas passiert selten. Wie oft habe ich schon für absolut unaufwändige „Events“ oder „Galas“ das Drei- bis Vierfache kassiert, die mich – von der durch sie verursachten schlechten Laune einmal abgesehen – kaum ein Arschbackenrunzeln gekostet haben.

Manchmal saufen offizielle Anlässe sang- und klanglos ab. Ein Redakteur der Rhein-Neckar-Zeitung hat mir erzählt, man habe ihn einmal gebeten, bei der Preisverleihung eines Gourmetmagazins die Laudatio zu halten. Der Chefkoch, der den Preis bekommen sollte, musste kurzfristig absagen: Lebensmittelvergiftung. Bei der Einweihung des nigel-nagel-neuen Polizeipräsidiums in Heidelberg Ende der 90er-Jahre stellte man fest, dass die nigel-nagel-neue Tiefgarage für Mannschaftswagen unbefahrbar war, weil: zu niedrig.

Emmelshausen am 2. August 1908: Die Eröffnungsfahrt verläuft ohne Beanstandung, die preußischen Lokomotiven vom Typ T26 versehen klaglos ihren Dienst. Die Strecke in den Hunsrück hinauf zu hämmern, das macht man nicht eben mit links: Der Rauenbergtunnel fordert ein Menschenleben, und 1906 wird ein Arbeiter während der Bopparder Orgelbornkirmes bei einer Meinungsverschiedenheit in einer Wirtschaft erschossen. Ein Feldrutsch bei Leiningen schließlich kostet dreizehn Arbeiter das Leben, Gaffer lösen noch dazu einen weiteren Erdrutsch aus, bei dem fünf von ihnen sterben. Die Gegenwart ist zumindest unblutig, dafür unbefriedigend. Emmelshausen am 25. September 2008: Wie eine Cannes-Premiere ohne den Film oder eine Taufe ohne Säugling oder eine Buchvorstellung ohne Buch – wobei: Das wiederum habe ich schon öfter erlebt: Einmal kamen die Bücher tatsächlich gar nicht, beim zweiten Mal eine Stunde vor Showtime – via IC-Kurier – und beim dritten Mal brachte sie ein von Eis und Schnee entnervter Drucker zur Halbzeitpause.

Soviel zur Erhabenheit des Kulturbetriebs. Dumm allerdings, dass die lokalen Tourismusheinis gerade angefangen hatten, die Verlängerung der Bahntrasse von Emmelshausen nach Simmern, ihrer Schienen längst beraubt, als Radwanderweg zu vermarkten. Der Schienenersatzverkehr – vulgo Bus – von Boppard auf die Höhe transportiert leider keine Fahrräder. Die Hunsrückbahn hat schon manche Krise und sicher auch manchen Knallkopf überlebt. So schrieb die Bopparder Zeitung am 3. Januar 1910: „Die Zustände auf der Hunsrückbahn sind derart, dass wohl der ganze Verkehr eingestellt werden muss ...“

Sicher werden die sich verschärfende Energiekrise und der drohende Verkehrskollaps zum Wohl des Schienenbetriebs beitragen, bei weiter steigenden Benzinpreisen bleibt die Verlängerung bis Leiningen oder darüber hinaus keine Utopie. In Großbritannien werden wegen der Wohnungsnot in den Städten – die Immobilienpreise sind innerhalb von zehn Jahren um 55 % gestiegen – in den nächsten Jahren mehr als 1.000 Kilometer Gleise wieder in Betrieb genommen. Umso mehr müssen sich dann die Angebote an die Bedürfnisse der heutigen Zeit anpassen, sogar bei der Hunsrückbahn. Um in Zukunft bestehen zu können, darf sich der neue Betreiber Rhenus Veniro Innovationen nicht verschließen. (Wer denkt sich eigentlich solche Namen aus? Rhenus Veniro – das klingt, als müsse man es in der Apotheke kaufen.) Mag der Unterhalt der Bahn bis auf Weiteres geregelt sein – was fehlt, ist die Unterhaltung. Da böten sich Themenwaggons an, die z. B. dem Orientexpress nachempfunden wurden oder Serviceleistungen wie etwa in den Kenyan Railways von Ruiru nach Nairobi: Dort findet der Fahrgast im Wagen 3 einen Prediger, der jeden Morgen eine Art Gottesdienst abhält mit Gebeten, Gesängen und Table-Dance. Also das, was man heute „Spirit-Rail“ nennen könnte. Vielleicht liegt das Geheimnis in der Entschleunigung, denn bis zur Stilllegung war die Fahrt eher ein Quickie. In den Anfangstagen brauchte man für die Reise von Simmern nach Boppard noch 2 1/2 Stunden.

Hartmut Mehdorn – schön, dass der Name noch einmal auftauchen darf – hatte bereits ein Grußwort formulieren lassen: „Der neuen Hunsrückbahn wünsche ich allzeit gute Fahrt!“ Wann das allerdings genau sein soll: „Allzeit“, vermag aktuell niemand zu sagen. Keine 123 Tage nach der offiziellen Einweihung, am 4. Mai 2011 um 5:23 Uhr, wird der Bahnbetrieb endlich wieder aufgenommen, allerdings eingeschränkt. Bereits im darauffolgenden Dezember erhält einer der drei Triebwagen eine uneingeschränkte Zulassung vom Eisenbahn-Bundesamt.

Beim Passieren des Bahnhofs Boppard schaue ich seither reflexartig, ob das weiß-blaue, gelbbetürte Godotbähnchen am Gleis wartet. Die offizielle feierliche Eröffnung allerdings gestaltete sich als ein Ereignis von großer Ausgebliebenheit. Nach Emmelshausen haben sie mich nie wieder eingeladen. Nicht mal ein kaltes Buffet haben sie springen lassen, dabei ist gerade in Eisenbahnerkreisen der Hunsrück als Feinschmeckerregion bekannt, nicht zuletzt durch einen kulinarischen Tempel in Gestalt der Firma Sander Gourmet in Wiebelsheim, die, das durften geneigte Leser der Zeitung Bahn-Mobil entnehmen, jene Plumpsackmenus herstellt für die Kombidämpfer in den Speisewagen der Bahn-AG, das Prinzip heißt Cook & Chill, wahrscheinlich, weil einem dabei einiges gefrieren kann. Die produzieren außerdem nicht nur für Essen auf Rädern, sondern auch die leckeren Sägespänefilets für Ikea und beliefern sogar Hotels der höchsten Kategorie.

Anders als die Moselbahn sollte die Hunsrückbahn friedlichen Zwecken dienen. Erstere wurde als Kanonenbahn gegen die Franzosen eingerichtet, wobei nie ganz klar war, ob man damit die Kanonen selbst oder das Kanonenfutter in Gestalt von Soldaten transportieren wollte. Ich habe bei der Recherche das Buch „100 Jahre Hunsrückbahn“ aufmerksam studiert und fühlte mich dabei an meine Schulbücher in den 60er-Jahren erinnert – in denen klaffte zwischen 1933 und 1945 ebenfalls eine große Lücke. Schon wenn man das Kapitelverzeichnis durchschaut, fällt dies auf: 1917 Unfall. Sprung auf 1938: Das neue Bahnhofsrestaurant in Boppard, was einem nicht zwingend als Erstes in den Sinn kommt, wenn man an dieses Jahr denkt, und schon sind wir im Schuljahr 1944/45. Die Nazis werden nur mal am Rande erwähnt. Dafür ist mir vorne bei den Grußworten ein anderer Begriff begegnet, den ich so noch nie gehört habe: „Liebe Eisenbahnfreundinnen ...“ War sie nicht immer eine Männerdomäne, die Eisenbahn, eines ihrer letzten Rückzugsgebiete? Selten, dass in den Sendungen des großen Hagen von Ortloff einmal eine Frau auftauchte.

Bei der Bahn ist vieles ein wenig heikel geworden in den letzten Jahren. Der jeweilige Bundesverkehrsminister kommt häufig aus dem autofixierten Bayern. Gelegentlich erwecken sie den Eindruck, dass die Blutbahnen zum Gehirn unrentable Nebenstrecken sind. Bei der Bahn walten Minutendiebe, Stundendiebe, im vorliegenden Hunsrückfall sogar Tagediebe, ja, diese klassische Betätigung erfährt hier eine absolut moderne Auslegung. Ein Verspätungsbonussystem, das wär’s: Frequent-Loser-Meilen. Vielleicht gibt es in der Bahnzentrale irgendwo einen Minutensammler, der Minuten hortet bzw. auf dem freien Markt weiter verscherbelt an Leute, die chronisch klamm sind an Zeit. Was genau macht der Pofalla eigentlich bei der Bahn AG? Die originellste Verspätungsbegründung lautet natürlich: „Auf Grund einer Verzögerung im Betriebsablauf ...“ Natürlich auf Grund einer Verzögerung – was denn sonst?

Diebstahl im Minutentakt. Was könnte ich mit all den Stunden anfangen, welche die Bahn mir jährlich klaut, gerade jetzt, wo mir die Zeit knapp wird. Der letzte Monat war besonders ergiebig, meine persönliche Verspätungsbestleitung von 2007 wurde noch übertroffen. Über die Urkunde des Bundespräsidenten habe ich mich natürlich ganz arg gefreut, die hängt jetzt neben der von den Bundesjugendspielen 1966. Das war natürlich ein Scherz, ich habe nie eine Urkunde bei den Bundesjugendspielen bekommen. Was glauben Sie denn, warum ich Künstler werden musste? Reine Kompensation. Und was habe ich mir dafür eingehandelt? Eine bahntraumatische Belastungsstörung.

Was mir 2008 entgangen ist, da oben im Hunsrück? Eher nichts, ich hatte die Reise schon vorsorglich zu Beginn der Nuller Jahre unternommen und darüber notiert: „Das Hunsrückbähnlein benötigt für die paar Meilen von Boppard nach Emmelshausen stolze 20 Minuten. Obwohl sie sich an der legendären Darjeeling-Bahn zu orientieren scheint, haben wir es keineswegs mit einem Pampaexpress zu tun: Hier finden sich voll ausgerüstete Kids mit Gameboys und iPods, gerade wie anderswo. Eigentlich sollten sie die Linie serienmäßig mit Wlan-Anschlüssen ausstatten, das würde die Jugend in Scharen in die Bahn locken. Was macht die Bahn stattdessen? Deklariert die Route zur Nostalgiestrecke. Konsequenterweise hätten sie dann den Bahnhof Boppard mit Thonetstühlen bestücken müssen. Das Bähnlein besteht aus einer Diesellok und zwei reichlich unromantischen Waggons, und was das Tempo angeht, so unterschreiten sie sicher die Werte der Zahnradbahn, die 1908 hier verkehrte.

Selbst auf diesen doch eher beschaulichen 15 Meilen das Mühltal hinan bringt die Bahn eine Verspätung von fünf Minuten zuwege. Das Schienennetz ist marode, weswegen die Deutsche Bahn, so habe ich der Presse entnehmen dürfen, immer mehr sog. Langsamfahrstellen einführen muss, die der Bahnler „La“ nennt. Boppard nach Emmelshausen: Lalalalalalalalalaa. Das ganze Land ist eine Langsamfahrstelle. Die Fahrt selbst ist eher profan. Was habe ich erwartet? Dass Edgar Reitz die Karten kontrolliert? Also bitte, der Mann ist über 70. Gut, wer Oregon mag, sollte sich das mal gönnen: Wald, Wald, Wald, minus die Rodungsflächen. Millionen von Zecken, die nur darauf warten, sich auf einen neuen Wirt zu schwingen. Die Romantik findet ihr jähes Ende, wenn der Zug die Autobahn überquert. So viel zum Thema Abgeschiedenheit. Buchholz bietet als Haltepunkt einen knallroten Kubus, der auch nicht eben nostalgisch anmutet. Übersehen wird ihn der Lokführer sicher nicht.

Bereits im Dezember 2011 erhielt der neue Streckenbetreiber eine uneingeschränkte Zulassung für einen der drei Triebwagen. Zwei mussten noch zum Knochenflicker, aber ab Januar 2012 ging’s richtig los. Nur mich haben sie halt nicht dabei haben wollen.

Stadt-Express SE 23034

Mannheim. Ludwigshafen-Stadt. Ludwigshafen Hauptbahnhof. Ludwigshafen-Mundenheim. Ludwigshafen-Rheingönheim. Limburgerhof. Schifferstadt. Böhl-Iggelheim. Haßloch. Neustadt/Wstr.-Böbig. Neustadt/Wstr., Lambrecht. Neidenfels. Weidenthal. Frankenstein. Hochspeyer. Kaiserslautern Hauptbahnhof. Kaiserslautern-Kennelgarten. Kaiserslautern-Vogelweh. Einsiedlerhof. Kindsbach. Landstuhl. Hauptstuhl. Bruchmühlbach-Miesau. (Homburg. Limbach. Kirkel. Rohrbach. St. Ingbert. Scheidt. Saarbrücken-Ost. Saarbrücken Hauptbahnhof. Völklingen. Bous. Saarlouis. Dillingen. Beckingen. Merzig. Mettlach.) Saarburg. Konz. Trier Hauptbahnhof. DB-Fahrplan

Vom Stadt-Express hieß es weiland im Fahrplan mit dem prosaischen Namen „Städteverbindungen“, er schaffe „schnelle Direktverbindungen in die Zentren. Außerhalb von S-Bahnen hält der SE an allen, innerhalb von S-Bahn Netzen nur an ausgewählten Stationen.“ Auf der Anzeigetafel las sich das wie folgt: „Hält nicht an allen Stationen.“ Die Wahrheit ist, dass zwischen Ludwigshafen Hbf und Trier maximal zwei ausgelassen werden, eine davon im Saarland. Oftmals tönt es aus den Lautsprechern: „Mit Halt auf allen Unterwegsbahnhöfen“ – was die Frage aufwirft, ob es wohl auch andere gibt, also solche, die nicht unterwegs zu finden sind. Der Stadt-Express ist längst Geschichte. Wikipedia schreibt dazu: „Die Deutsche Bahn hat die Produktkennung SE bzw. CB vom Markt genommen. Die Leistungen werden seitdem durch Regionalbahn- oder Regional-Express-Verkehre erbracht. Einige dieser Linien setzen das Konzept des Stadt-Express heute noch um.“ Vielen Dank fürs Erste. Höchste Zeit für einen Nachruf.

Wir schreiben das Jahr 2001. Der Startbahnhof ist Mannheim, wo auch der DB-Zug „Notfalltechnik“ daheim ist: Spreizen, Schneiden, Werkzeug, steht auf einem signalroten Waggon. Aktuell verdeckt er den schwer demolierten IC, der am 4. August 2014 von einem Güterzug aus dem Gleis gekickt worden ist. Da hatten die Notfalltechniker sozusagen ein Heimspiel. Mannheim ist nicht eben für seine vornehme Zurückhaltung bekannt. Deshalb passt der folgende Dialog zweier Streckenarbeiter sehr gut. In der Schließfächerhalle (Umkleiden haben sie anscheinend keine) ziehen sich die beiden nach getaner Arbeit um. Nach der Durchsage „Dieser Zug hat 70 Minuten Verspätung!“ meint der eine: „Clever. Personenschaden am Gleis, das erspart ihnen die Entschädigung!“ Sagt der andere: „Hat sich wieder einer geopfert.“ Der Rekord für Nachzahlgebühren bei den Schließfächern am Mannheimer Hauptbahnhof liegt übrigens bei 90 Euro Nachzahlgebühr. Welche Geschichten sich da wohl hinter verbergen?

Da Freitag ist, habe ich mich für die Erste Klasse entschieden, um den Kontakt zur kämpfenden Truppe auf ein Minimum zu reduzieren. Reine Notwehr. Autoren, die sich in ihren Werken mit der Eisenbahn beschäftigt haben, wie Tim Parks oder Peter Bichsel, schwören auf die 2. Klasse, weil es da angeblich mehr zu beobachten gibt. Ich teile diese Auffassung nur bedingt, denn dank Bonusmeilen und Sparpreisen entbehrt die 1. Klasse längst jeglicher Exklusivität. Sie ist nur etwas weniger voll. Ich brauche die Nähe zum sog. „einfachen Volk“ nicht unbedingt im Zugabteil. Zudem beflügelt die Fahrtzeit von knapp dreieinhalb Stunden den Wunsch nach etwas mehr Komfort. So man denn von solchem sprechen kann: Der SE kommt weitgehend ohne aus, ohne Speisewagen, ohne Kaffeeküch‘, ohne Minibar, ohne Tischchen, ohne Fußkussservice. Immerhin hat man sich inzwischen dazu durchringen können, den Umgangston geringfügig freundlicher zu gestalten. Nachdem ich mich mit meinem Gepäck durch die Tür zur 1. Klasse gezwängt habe, was nicht ungefährlich ist, pflegen diese doch zuzuschnappen wie Alligatoren, lasse ich mich auf einem blassblauen, leidlich bequemen Sitz nieder. In eine Art Naturholz hat man mittels einer Art innovativer Laubsägearbeit eine Art Flaschenhalter eingelassen, der allerdings verschwindet, wenn man die Armlehne herunterkippt.

Schon in Mannheim ist das Luxemburger Ehepaar eingestiegen. Er passiert zügig das Raucherabteil, das aus einem Glaskasten mit vier Sitzen besteht und mich an den gläsernen Pranger am Flughafen in Salt Lake City erinnert, wo armselige Raucher den spöttischen Blicken der Öffentlichkeit preisgegeben werden, mit freundlicher Unterstützung von Reynolds Tobacco. Seine Frau folgt ihm nur bis zur Schiebetür desselben und biegt dann ab. Er schaut reichlich verdutzt und dreht sich dann zu ihr um und nickt ihr dann zu: „Ah, do kanns do fümme!“ Sie setzt sich hin und fümmt sogleich. Soeben bestätigt sich, was ich jüngst in einem SAT-1-Bericht über die Letzebuerger erfahren durfte: „An ihrer Muttersprache halten die Einheimischen fest.“

Im Ludwigshafener Hauptbahnhof hat man das ewig Provisorische kultiviert, nervöses Baustellenambiente, die Anlage ist diffus, die schnörkellosen Geraden sollen wohl so etwas wie einen Orientierungsrahmen bieten, verlieren sich aber eher im – ja, wo genau eigentlich? Um nicht vollends abzuheben, haben sich viele Menschen hier ein ordentliches Polster angefressen. Auch möglich, dass die Amerikaner in paarundfünfzig Jahren Besatzung ihr Schönheitsideal am Markt durchgesetzt haben. Draußen ein Bunker. Dann Kastenbauten. Ludwigshafen ist die Vollendung der Gradlinigkeit. Mehr Kästen, mehr Bunker. Wer die Stadt kennt, weiß, dass sie damals Letztere dringend benötigt hat. Nur: Warum flattern nach dem Abzug der GIs noch so viele „Stars & Stripes“ in den Schrebergärten?

Der Zugbegleiter krempelt sich zunächst gewissenhaft die Ärmel hoch und verspricht: „Isch kumm nochher nomma!“ Was sich als leere Drohung erweist. „Ich muss ...“, sagt er noch – und verstummt. Ein Beamter des Bundesgrenzschutzes entert das Abteil, incl. Reizgas am Gürtel. Wieso dürfen die eigentlich immer 1. Klasse reisen, erwarten den Reisenden dort besondere Fährnisse, in Mundenheim womöglich? Grautöne, wieder Bunker, Graffiti, das Ruhrgebiet im 1:1-Nachbau, und zwar schäbbich, wie man dort sagt. Nach einer solchen Prüfung kommt einem alles andere als Idylle vor. In Rheingönheim wirbt ein Plakat: „One Night For The Blues“. Mit einer Nacht werden sie wohl nicht auskommen. Limburgerhof grüßt per Graffito: „He mein Babe, gib mir noch eine Chance, ich liebe dich.“ Wer mit Babe gemeint ist, ob Svenja, Sven oder vielleicht Florian Gerster, entbirgt sich leider nicht. Das Elend setzt sich fort, so dass einem der Golfplatz vor Schifferstadt fast schon zynisch vorkommt.

Der Bahnmann läuft unmotiviert die Gänge auf und ab, als müsste er sich sein Revier gehend erschließen. Wobei ich mir nicht vorstellen kann, dass die anderen Züge so sehr anders gestaltet sind. Noch mehr Grenzschutz. Muss ich Angst haben? Wovor? „Hier spricht der Zugführer. Sollte ein Mitarbeiter der Deutschen Bahn AG im Zug sein, bitte beim Zugführer melden. Besten Dank!“ Die Luxemburger Lady fümmt ungerührt weiter. Wenn der Zugführer noch Zeit findet, seinen Dank auszudrücken, kann es so schlimm nicht sein, versuche ich mich zu trösten. Mittlerweile guckt er ungelogen circa alle 17 Sekunden auf seine Uhr, ich habe ihn im Blick, da ich im ersten Wagen vorne sitze. Immerhin scheint er redselig, spricht jedenfalls unablässig mit sich selbst.

Gerne würde ich nun hinter das Geheimnis kommen, warum sich acht Gleise auf den Bahnhof Schifferstadt zu bewegen, während die 700.000 Einwohner zählende Stadt Valencia mit deren sechs auskommt? Allerdings bin ich mal von einer Lesung nach 23 Uhr in die Schalterhalle von Schifferstadt gekommen um festzustellen, dass selbige nachts als Café genützt wird. Die Bude war voller Karten spielender Menschen. Nightlife. Wenn in besagter Lokalität Männer das Raufen anfangen, dann kann es gut sein, dass hier einfach nur zwei Schifferstädter Ringerhelden trainieren, denn diese Gemeinde ist Kontaktsport durch und durch. So pflegt man hier Männerfreundschaften: ein wenig schwiemelig, ein wenig schwitzig, handfest und dennoch nicht anrüchig. Mittlerweile gibt es sogar ein Ringermuseum. Darüber hinaus kann Schifferstadt mit einer Pechhüttenstraße, einem geschlossenen Imbisswagen Hähnchen Grill und einem Restpostenlager inklusive Getränkeabholmarkt aufwarten. Was soll das überhaupt sein, ein Abholmarkt? Gibt es vielleicht Märkte, wo man seine Getränke hinbringen kann? Auf der anderen, schäbigeren Seite der Gleise, die man z.B. in Cincinnati „over the rhine“ nennen würde, wirbt eine Schrift für „ANDESPRODUKTE“. Falls es einmal eine Benefizveranstaltung zugunsten des fehlenden „L“ geben sollte – ich bin dabei!

Parallel zum Schienenstrang verläuft kurze Zeit die Autobahn, auf der sich ein Container westwärts schiebt, der auf einen LKW geschraubt wurde. Auf den Feldern bauen sie Spargel an und, das erwähne ich jetzt ungern, Kohl. Wir laufen in Haßloch ein. Hier müssen die Amüsierwütigen raus, ab zum Holidaypark. Die Werbung für die Kunsthalle Mannheim, die in diesem Zug überall aushängt, scheint mir verschwendet, da fehlt die Zielgruppe. Leichte Hungergefühle stellen sich ein. Wir zockeln durch einen Landstrich, in dem die Buchstabenkombination „www.“ unverwüstlich für „Weck, Wooscht und Woi“ steht. Häufiger sieht man jetzt Männer zusteigen in karierten Holzfällerhemden und Freaklederhosen, gerne in braun. Abgerundet werden diese beliebten Ensembles mit einer Schirmmütze, die ihre Träger als Mitglied der Taliban-Milizen des 1. FC Kaiserslautern ausweist. Was sonst noch gerne getragen wird: Jeansanzüge. Oder Tarnfarben. Irgendwo, verdammt, muss es hier doch auch Kleidung aus erster Hand zu kaufen geben.

Noch mehr Spargel. In Böbig hätte ich Anschluss nach Grünstadt, wenn mir danach wäre. Dazu fällt mir das Friedensspektakel ein, zu dem man mich am 18. September 1982 eingeladen hatte, weil die keine Ahnung hatten, was für ein unfriedlicher Zeitgenosse ich sein kann. Unter dem Hinweisschild „Friedensfestival“ wies ein weiterer Pfeil in dieselbe Richtung: „Zum Schießstand.“ Spargel ab, Auftritt Wein. Die Hänge des Pfälzer Waldes. Autofahrer haben es besser, die werden auf ihrem beschwerlichen Anstieg zum Pfälzer Wald mit dem Schriftzug „Sausenheimer Honigsack“ belohnt, wuchtige Lettern, die hollywoodgleich in einen Wingert gerammt wurden.

Das Schulzentrum Böbig speist den Zug mit ein paar Zöglingen. „In Kürze erreichen wir den Bahnhof Neustadt Weinstraße. Mit etwas Glück erreichen Sie dort noch ...“ Hat das der Schaffner gerade tatsächlich gesagt? Vielleicht schaut er gar nicht bekümmert drein, sondern ist ehrlich besorgt. Womöglich bildet die Bahn ihre Mitarbeiter neuerdings in Mitfühl-Schulungszentren aus. Das Glück mit dem Anschluss möchte ich jedermann gönnen und gelegentlich selbst mal erleben. Die Bahnhofsunterführung von Neustadt ist videoüberwacht, was beruhigend ist zu wissen, anscheinend werden immer wieder welche gestohlen.

„Hier noch ein Hinweis: Sollten Sie aussteigen ... am Bahnsteig ... Schließen Sie die Wagentüre! Besten Dank!“ Byebye, Zentralverriegelung – ob das der Grund ist für seine sorgenvolle Miene? Keine Zeit zur beinharten Recherche, jetzt geht es in den Busch. Eine Idylle, aber gleichzeitig ein enger Canyon, der Alptraum eines jeden Mobilfunkteilnehmers, ein „Tal der Ahnungslosen“. GIs aus den Appalachen dürften keine Mühe haben, sich heimisch zu fühlen. An jedem Bahnhof soll fortan eine Person leicht verloren herumstehen, frei nach Ringelnatzens „Warten auf Weiss-nicht-was“. Mit Hauenstein wird der erste Bahnhof ausgelassen. Sicher klagt die Gemeinde seit 28 Jahren erfolglos durch alle Instanzen. In Lambrecht habe ich einmal eine halbe Stunde auf dem Bahnsteig zugebracht, nur weil ich in Neustadt in den Zug in die falsche Richtung gehechtet bin, aus dem ich erst in Lambrecht wieder raus kam. Da blieb mir ausreichend Zeit, darüber nachzudenken, was es mit dem Kuckucksbähnel auf sich hat und ob das als Metapher für die chronisch klamme Deutsche Bahn AG zu verstehen ist, über der ständig die Gerichtsvollzieher kreisen. Häuschen wie aus dem Faller-Bausatz, aus der Zeit, als die Straßen nach verloren gegangenen Provinzen benannt wurden und die Welt, weil schwarz-weiß, noch in Ordnung war.

Mit Neidenfels endlich einmal ein Ort, der nach einer Untugend benannt wurde. 19 Fahrschüler, 2 Wanderer, eine Frau mit Einkaufstüten. Das typische 12:45 Uhr-Publikum. Auf einem Nebengleis ein gelber Hebekran, auf dessen Führerhaus jemand in gotischen Lettern „August der Starke“ geschrieben hat. Weidenthal wirbt mit zwei Bundeskegelbahnen, was irgendwie offiziell und großartig klingt, wie vom Bundesinnenminister persönlich gewartet. Die Berge drumherum sind aus rotem Sandstein gefertigt, der Rest ist grüne Wildnis. Zum Kontrast stellen die Pfälzerwäldler blaue Tonnen in ihre Gärten.

Die Luxemburgerin fümmt. Ihre Intensität erinnert mich an einen Brief, den ich in den späten Siebzigern aus dem Großherzogtum erhalten habe, auf dem ein Stempel prangte: »Alcohol un Tubak sinn Drogen. Drogen maachen futti!« Hoffentlich hält sie durch. Entlang der Strecke wird emsig gearbeitet. Frankenstein, Ausstieg in Fahrtrichtung rechts. Der Bahnhof sieht arg gerupft aus, als hätte sich eben jener drüber hergemacht. Unschlüssig ruht er in der feuchten Enge des Tals, alles scheint sich in der Phase des Übergangs zu befinden; niemand scheint aber zu wissen, von wo nach wo. „Teenage Wasteland“ brüllt mir Roger Daltrey zufällig vom Kopfhörer aus ins Ohr und weiß gar nicht, wie Recht er damit hat. Natürlich gehorcht er der Zufallsdramaturgie der Titelreihung meiner Kassette. Ja, ganz recht, zu den Zeiten, als in Zügen geraucht werden durfte, hörte man noch Kassette. Ging auch. Dafür kam man ohne Klingeltöne aus. Den allseits bemängelten Geburtenrückgang in dieser Republik vermag ich übrigens auf diesem Trip nicht zu bestätigen, aber das kann an der Tageszeit liegen, die von den sog. Fahrschülern dominiert wird.

Zu Hochspeyer will mir auf Anhieb nichts einfallen und später noch weniger, außer dass auf dem Bahnsteig wieder einer rumsteht. Es wäre übertrieben, hier vom alpinen Gegenentwurf zu Speyer zu sprechen. Bolzplätze kündigen Kaiserslautern an. Links, gleich oberhalb des Firmengeländes von Schuster & Co., der Betzenberg, wo der Ministerpräsident jeden zweiten Samstag zum Fotoshooting erscheint. Ja, der Betze, umgehend denke ich an die Walz aus der Palz, beliebt vor allem in Albanien. Nach dem Sieg der albanischen Nationalmannschaft in Tirana gegen Russland haben viele Mütter ihren Sohn auf den Vornamen Briegel taufen lassen. „Die Pfalz ist ein einziger großer Fußball!“, hat Franz Beckenbauer schon 2003 erkannt. Irgendwann kommt die WM, derentwegen sie anscheinend die halbe Stadt abreißen, für Lauterer reine Dibbelschisserei: „Zu Gast bei Freunden!“ Keinem dürfte klar sein, dass diese Freunde rote Teufel sind. Rote Teufel, rote Socken, rote Zahlen. „Die Pfalz ist Kampf!“, betont der aktuelle FCK-Boss gerne. Der Betze ist die Hölle, und die Rasenheizung eine moderne Variante des Fegefeuers. Klar andererseits, dass ein solcher Anziehungspunkt unbedingt neuer Bahnsteige bedarf, obwohl von hier viele Bahnlinien abgehen, die sicher zeitnah stillgelegt werden, um den Fahrplan zu entflechten und Platz zu schaffen für neue Züge wie den schnittigen TransRegioPfalz, ganz in silber-metallic und gelber Beschriftung.

Schade, dass ich nicht nach Kusel muss. Was ich jedenfalls an den Pfälzern mag, ist ihre umschweifreduzierte Art: In Kaiserslautern habe ich mich dummerweise im Februar 1990 zu einem Auftritt anlässlich einer „alternativen“ Faschingsveranstaltung verpflichten lassen. Alternativ zum üblichen Besäufnis hatte man sich entschlossen, sich bewusst zu betrinken. Oder nachhaltig, aber dieses Wort war damals noch nicht en vogue. Ich rauf auf die Bühne, wollte mit etwas leicht Erfassbarem beginnen: „Die Nachrichten!“ Brüllte einer von unten: „Jetzt nicht!“ Ich: „Wann dann?“ Der Eine: „Später!“ Darauf ich: „Fein. Dann kannst du ja weitermachen!“ Sprach‘s und verließ die Bühne.

Wachablösung. Abgang besorgter Schaffner, Auftritt neuer Schaffner. Am Ortsausgang ruhen riesige Kabeltrommeln mit aufgewickeltem Geschläuch, womöglich randvoll mit fertigen Telefongesprächen, die nur auf Teilnehmer warten. Habe mich als Kind oft gefragt, ob Vögel, die auf Überlandleitungen hocken, Telefonate abhören können, mittlerweile ist das eher ein Thema für Maulwürfe. Was aber mögen das für Leute sein, die in Kennelbach zusteigen? Warum gibt es in Vogelweh das Ausgangsschild in der englischen Version? Wegen des Opelwerks, weil der AutoherstellerGeneral Motorsgehört? Wieso nennen sie den Ort nicht gleich: Birdpain? Was sich GM z. B. in Bochum geleistet hat, war ein „pain in the ass“. In Einsiedlerhof stehen überraschend viele Häuser, die Einsiedler kommen im Rudel. In einem Schrebergarten in Kindsbach lockt eine laubfroschgrüne Hütte mit der Aufschrift „Zum blauen Klaus“. Ich bin so dankbar, das sehen zu dürfen.

Ein Hochgeschwindigkeitszug gestattet keine Details, im Stadt-Express aber ist der Übergang zwischen Beschleunigung und Bremsweg so nahtlos wie harmonisch wie komisch. Ähnlich wie Bayern ist die Pfalz Promille-Hoheitsgebiet, ohnehin war sie während einhundertfünfzig Jahren bayrisches Terrain, Die Bahn verkauft sicher nicht wenige Tickets an Führerscheinverlierer, jedes Weinfest wird daher von den Bahnlern freudig begrüßt. Trotzdem gibt es in manchen Gemeinden, aus denen Politiker nach Mainz entsandt wurden, geheime Stillhalteabkommen mit den Ordnungskräften.

Der neue Schaffner fällt nicht weiter auf. Die Luxemburgerin fümmt unverdrossen. Aus ihrem Glasverschlag ist sie nie wieder herausgekommen, mittlerweile sieht man sie kaum vor lauter Dunst, weswegen ihr Mann keine Anstalten macht, sich zu ihr zu gesellen. Nächster Halt: „Laandstool“, wie die Amerikaner sagen. Landstool, Ramstine, Kaiserslaughter, wo Deutschland am amerikanischsten ist. Stripmalls, Straßenkreuzer, Fast Food, das ganze elende Sortiment. Kein Zufall, dass ganz in der Nähe, in Zweibrücken (Two Bridges) das erste Outletcenter der Republik aufgemacht hat. Ramstein ist seit dem 28. August 1988 sogar den meisten Amerikanern in den Staaten bekannt, eine traurige Berühmtheit.

Gleich am Bahnhof wartet die Multisportanlage Topfit auf Kundschaft. Wenn ich die Körperumfänge der Menschen auf den Bahnsteigen betrachte – große Umsätze können sie nicht tätigen. Solange „Promis“ wie Reiner Calmund, der längst über eine Postleitzahl verfügt, als Vorbilder durch die Privatsender walzen, und leider nicht nur dort, darf man sich nicht wundern. Von Landstuhl nach Hauptstuhl, was mich wiederum an meine Cola erinnert. Bruchmühlbach-Miesau. Vor Selbstbewusstsein strotzen die Ortsnamen nicht gerade. Die Westpfalz wird darin nur übertroffen vom Großraum Bad Hersfeld mit so aufbauenden Gemeinden wie Sieglos, Stärklos und Machtlos. Auffällig in dem Zusammenhang die Schlurferei und Schleicherei, mittels derer sich vor allem Jugendliche durch die Gänge bewegen, mit meist herabhängenden Schultern.

We are now entering the Saar Sektor, mithin ein Gebiet von der Größe des Saarlandes. Begeistert hat mich einmal im Saarbrücker Hauptbahnhof der Hinweis auf der Herrentoilette: „Urinal 25 Cent, mit Händewaschen 40 Cent.“ (Am Landauer Hauptbahnhof erfreut den Reisenden ein kleines Täfelchen: „Vorsicht Zugverkehr.“ Überraschung. In Koblenz warnt ein Schild: „Ende des Bahnsteigs. Bitte nicht weitergehen!“ Koblenzer benötigen das.) Den Saarländern sollte man generell nicht ohne Vorbehalt begegnen, schließlich waren sie es, die sich 1956 unbedingt den Deutschen anschließen wollten, freiwillig weg vom Franzos’, da ist Argwohn angebracht. Gerne steigt man in diesem Bundesland auch gruppenweise zu, und circa zwei Minuten nach Abfahrt geht auch schon einer mit der Schnapsflasche und einem kleinen Gläschen rum, das er jedem vollschenkt, und alle trinken aus dem gleichen Gefäß, knapp zwanzig Jahre Sozialdemokratie gehen nicht spurlos vorüber, aber streng genommen ist das die Nichtraucherversion der Haschpfeife. Der Tipp des Tages: Grundsätzlich meide man die Gesellschaft von Personen, die große Kühltaschen in den Waggon wuchten. Einheitliche T- oder Sweatshirts signalisieren ebenfalls Gefahr.

Mit dem Passieren einer Kapelle (im Fenster oben links) wird das Saartal dramatisch – bzw. wurde es früher. Damalsjadamals, da war das unverfälschte Landschaft, geradezu mystisch, nur die Saar und die Gleise, aber keine Asphaltpiste. Heute wird die Saar als Bundeswasserstraße verwaltet. Sattes Grün, der moosfarbene Fluss, Trost spendende, wohlgeordnete Wildnis. Der Ausbau ab 1974 hat alles zuschanden gemacht, wie wenn man eine Märklinanlage mit der Flex bearbeitet und dann geflutet hätte. Im rheinland-pfälzischen Teil darf man schon froh sein, dass man den Fluss nicht kurzerhand überdacht hat wie in Idar-Oberstein. Beeindruckend das Sandsteinwerk südlich von Taben, Regen hat die Erde zu feuerrotem Schlamm zermanscht, von hier bezieht Dante höchstwahrscheinlich die Grundsubstanz für sein Inferno und die Lauterer die Farbe für die Trikots.