Baltische Lebenswege Neue Folge - Arne Mentzendorff - E-Book

Baltische Lebenswege Neue Folge E-Book

Arne Mentzendorff

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Beschreibung

Welcher Wissenschaftler wollte lange vor dem Internet ein geistiges globales Netzwerk errichten? Welche Bauerntochter wurde zunächst verschleppt, kam dann in höchste Kreise und gelangte schließlich an die Spitze eines großen Reiches? Welcher spätere weltbekannte Politiker saß in Riga einer Künstlerin für eine Engelsfigur Modell? Welcher Dichter verbrachte einen baltischen Winter in einem kaum beheizbaren Sommerhaus? Nach der ersten Folge der "Baltischen Lebenswege" gilt es nun abermals in 33 Geschichten, den Namen derjenigen Personen herauszufinden, die sich hinter den beschriebenen Lebenswegen verbergen. Versteckte Hinweise und Umschreibungen bekannter Tatsachen helfen dabei. So wird die Lektüre wieder zu einem vergnüglichen Streifzug durch baltische Kultur und Geschichte.

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Seitenzahl: 140

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Inhalt

„Ich musste also reisen“

„Dumme Hausfrau mit Windeln“

Nationalheiligtum aus Moskau

Gemeinsame Mahlzeiten und Streiche

Mütterlicher Lug und Trug

Märchenhafter Aufstieg

„Aufsehenerregender Fremdling“

„Ich habe keine Tränen mehr“

Große Kunst im Scheidungsparadies

Sorgen um die Werke

„Leben im Durcheinander“

Acht Falken für den König

Glühender, geheimnisvoller Sommer

Nicht besser James?

Leidenschaft und Maßlosigkeit

„Rausch des Augengenusses“

„War ich denn eine Besatzerin?“

Lachsalven aus dem Druckerraum

Der verlorene Sohn

Engel in der Botschaft

Gestalten aus der Vergangenheit

Angst vor Attentaten

Kadaver-Ungehorsam

„Kein größeres Opfer“

Überwinterung im Sommerhaus

Opfer fürs „fremde“ Land

Vom Feuerwerker zum Netzwerker

Die Glocken von Vineta

„Wir jedoch wollen dawider sein“

„Ich möchte lernen, Sie zu lieben“

Das Hauptwerk des „liebsten Papas“

Ehrgeiziger Abenteurer

Schreiben unter dem Joch

Lösungen

1. „Ich musste also reisen“

Der junge Mann war in der Stadt außerordentlich beliebt. Seitdem er mit 20 Jahren nach Riga gekommen war, flogen ihm die Herzen zu. „In Liefland“, so schrieb er später in einem Brief, „besaß ich in kurzer Zeit die ganze Liebe der Stadt, die Freundschaft dreier der würdigsten Leute, die ich kenne; die Hochachtung der originalsten Köpfe, die mir mit in meinem Leben aufgestoßen sind… bei alle dem habe ich in Liefland so frei, so ungebunden, gelebt, gelehrt, gehandelt – als ich vielleicht nie mehr im Stande seyn werde, zu leben, zu lehren u. zu handeln.“ Auch bei seinen Schülern kam er gut an. Einer erinnert sich: „Seine Lehrmethode war so vortrefflich, sein Umgang mit seinen Schülern so human, daß sie keiner Lection mit größerer Lust beiwohnten als derjenigen, die von ihm gegeben ward.“

Aber glücklich war er dennoch nicht. Er litt unter depressiven Anwandlungen und meinte, dass er durch seine Amtsgeschäfte zu wenig zu seinen eigentlichen Interessen käme und dass er hier „in Siberien“ lebe, „wo ich keinen Briefwechsel unterhalten kann“ – dabei korrespondierte er durchaus mit den großen Geistern seiner Zeit.

Immerhin gab es auch Leute, die ihm nicht wohlgesinnt waren. Nicht nur mit seinem Vorgesetzten lag er in Streit, sondern er führte auch eine jahrelange publizistische Auseinandersetzung mit einem Hallenser Professor für Philosophie und Beredsamkeit.

Neben seinen dienstlichen Aufgaben widmete er sich nämlich der Schriftstellerei. Ein befreundeter Verleger brachte seine Werke anonym an die Öffentlichkeit. Der besagte Professor, als streitsüchtiger Kritiker bekannt, ließ in einer von ihm herausgegebenen Zeitschrift den Namen des Autors nennen und seine Werke in schlechtem Licht dastehen. Es folgte eine literarische Fehde, in deren Verlauf sich der junge Autor dazu hinreißen ließ, die Urheberschaft einiger seiner Schriften öffentlich abzustreiten, wodurch er sich unmöglich machte. Der Kritiker wurde ihm zunehmend zum Klotz am Bein.

Um sich aus seiner Lage zu befreien, bat er um die Entlassung von seinen Ämtern mit dem Ziel, eine längere Auslandsreise antreten zu können. Man gab dem mit Bedauern statt und sicherte ihm zu, dass er nach seiner Rückkehr erneut in Amt und Würden gelangen könne.

Nach viereinhalb Jahren in Riga verließ er die Stadt und schiffte sich ein – ohne genau zu wissen, wohin die Reise eigentlich gehen sollte. Er überließ es mehr oder weniger dem Zufall. Eigentlich wollte er in Kopenhagen einen von ihm verehrten Dichter besuchen. Er ging dort aber doch nicht von Bord und setzte stattdessen seine Reise bis nach Frankreich fort. Dort brachte er seine Eindrücke und Gedanken zu Papier.

In seinen Aufzeichnungen sah er seinen Lebensabschnitt in Riga als eine Zeit der Enge, der mangelnden Entfaltungsmöglichkeiten:

„Ich gefiel mir nicht als Schullehrer, die Sphäre war [für] mich zu enge, zu fremde, zu unpassend, und ich für meine Sphäre zu weit, zu fremde, zu beschäftigt… Alles also war mir zuwider. Mut und Kräfte gnug hatte ich nicht, alle diese Misssituationen zu zerstören, und mich ganz in eine andre Laufbahn hineinzuschwingen. Ich musste also reisen…“

Kurland beschreibt er als eine „moralische und literarische Wüste“, aus Riga sei der Geist der Hansestädte gewichen. Aber er denkt an eine Rückkehr und hat große Pläne: Es geht ihm darum, „die Barbarei zu zerstören, die Unwissenheit auszurotten, die Kultur und Freiheit auszubreiten“. Er hegt konkrete Vorstellungen zur Schulreform. In der Schule soll die Vermittlung des Lebendigen erfolgen, nicht das Einpauken toter Sprachen. Er will Livland zu einem Ausgangspunkt für eine neue Reformation machen, ein „zweiter Zwinglius, Calvin und Luther dieser Provinz“ werden. Er fragt: „Kann ichs werden? Habe ich dazu Anlage, Gelegenheit, Talente?“ Und antwortet schließlich: „…Nächte und Tage darauf denken, dieser Genius Livlands zu werden, es tot und lebendig kennenzulernen, alles praktisch zu denken und zu unternehmen, mich anzugewöhnen, Welt, Adel und Menschen zu überreden, auf meine Seite zu bringen wissen – edler Jüngling, das alles schläft in dir, aber unausgeführt und verwahrlost!“

Während er solchen ehrgeizigen Plänen anhing, rückte die reale Rückkehr nach Riga aber in weite Ferne. Dortige Freunde, die ihn finanziell unterstützten, fürchteten, dass sie nicht nur ihn, sondern auch ihr Geld nicht mehr wiedersehen würden. In der Tat nahm er nacheinander verschiedene Stellungen in Deutschland an; schließlich landete er in einer Residenzstadt, die durch ihn und andere zu einem geistig-kulturellen Mittelpunkt wurden.

Wer wollte „Reformator“ in Livland werden, kehrte dorthin aber nicht mehr zurück?

2. „Dumme Hausfrau mit Windeln“

„Die Erfahrung zeigt“, so schrieb sie einmal, „dass es einen Schrecken, eine Aufregung ohne Ende nicht gibt, wenn man überhaupt überlebt. Auch das Furchtbarste kann Gewohnheit werden.“

Das hätte auf sie selbst und ihr Schicksal bezogen sein können, aber die Sätze stehen im Zusammenhang mit der Schilderung des Lebens einer Vorfahrin, die über 200 Jahre zuvor gelebt hatte. Diese soll, als Kind von Truppen Peters des Großen aus Narva verschleppt und später an den Zarenhof gelangt, den Kopf des enthaupteten Thronfolgers Alexej wieder angenäht haben, damit dem Volk ein unversehrter Leichnam präsentiert werden konnte. Ein prächtiges Perlencollier mit einem Smaragd, das sie erhielt, soll der Lohn für diesen makabren Dienst gewesen sein.

Das Schmuckstück wurde über die Generationen vererbt, und schließlich trug es auch die Nachfahrin, um die es hier geht, voller Stolz. Und auch sonst klammerte sie sich an Relikte der Vergangenheit, an überlieferte Erinnerungen an eine baltische Heimat, die nicht die ihre war.

Ihre Mutter entstammte der Familie derer von Stackelberg, ihr Vater war reichsdeutscher Diplomat. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde er in Russland verhaftet und für anderthalb Jahre in die Peter-und-Pauls-Festung in Sankt Petersburg eingekerkert. Bei Wasser und Brot musste er es in einer winzigen Zelle aushalten. Von dieser Zeit blieb er gezeichnet. Nach dem Krieg ließ sich die Familie in Deutschland nieder.

Aber bald begab man sich auf Spurensuche in der alten Heimat. Die Tochter konnte sich später genau erinnern, wie die Eltern mit der Elfjährigen das Gut ihrer Großeltern in der Nähe von Narva aufsuchten. Es war alles zerstört. „Als das Haus bei den Kämpfen abbrannte, wurde die Scheune von dem dort beheimateten Gesindel geplündert, die gefangenen Bolschewiken hineingesperrt und mit dem Gebäude verbrannt. Vetter Steno Stackelberg berichtete, dass er kurz darauf mit weißen Truppen vorüberritt – es habe noch nach verbrannten Menschen gerochen.“

Der Hausrat war durch Plünderungen in alle Winde verstreut. Ihre Eltern machten sich daran, Bücher, Gemälde und Möbel wiederzubekommen. Da die Mutter durch Heirat deutsche Staatsbürgerin geworden war, hatte sei Anspruch auf Wiederbeschaffung. Manchmal mussten Zeugen das Eigentum der Familie an den fraglichen Gegenständen bestätigen. Das Mädchen war dabei, als die Eltern einen Aufsatzschrank mit Schnitzereien zu diesem Zweck zu einem Schreiner brachten:

„Er war alt, krank und erblindet. Ich sehe vor mir noch den Raum wie ein Biedermeierbild: der kahle Holzboden, wenig Möbel und in der Ecke einer schmalen Biedermeierbettstatt ein reizender, glattrasierter weißhaariger Mann, peinlich sauber. Als meine Mutter ihm vorgestellt wurde, richtete er sich mühsam auf, um der Baronessa die Hände zu küssen. Dann wurde das Schränkchen an sein Bett getragen, er tastete es ab, nickte und sagte: ja, ja, es habe in jenem Zimmer in der Ecke gestanden.“

„Ich spürte zutiefst, dass auch dies Heimat sei“, schrieb sie später – dabei war sie selbst in Süddeutschland aufgewachsen. Als sie sechzehn war, tauchte in der Garnisonsstadt, in der ihr Elternhaus stand, ein knapp sechs Jahre älterer Leutnant auf, der hier seine militärische Ausbildung weiterführte. Sie heirateten drei Jahre später. Die Ehe mit dem Berufssoldaten brachte häufige Umzüge und lange Abwesenheitszeiten des Mannes mit sich.

Eines Morgens – sie machte mit ihren inzwischen vier Kindern Urlaub bei der Familie ihres Mannes – trat ihre Schwiegermutter ins Zimmer und berichtete ihr vom gewaltsamen Tod des Ehemannes. In ihre Trauer mischte sich Angst, denn sie meinte, auch selbst in Gefahr zu sein. Ihren beiden älteren Kindern erzählte sie: „Der Papi hat sich geirrt, deshalb hat man ihn erschossen.“ Dabei war sie ganz und gar nicht der Auffassung, dass er sich geirrt habe. Aber die Wahrheit konnte sie nicht einmal ihren Kindern sagen.

In der übernächsten Nacht wurde sie, die mit dem fünften Kind schwanger war, abgeholt. Ihre Strategie war, sich als „dumme kleine Hausfrau mit Kindern und Windeln und schmutziger Wäsche“ darzustellen. Sie erlebte schwere Monate, und außerdem erfuhr sie vom Tod ihrer Mutter, die ebenfalls inhaftiert war. Die Mutter, die in ihrer baltischen Heimat mit drei Sprachen – Deutsch, Russisch und Französisch – aufgewachsen war, hatte an ihre Tochter ihren kosmopolitischen Geist weitergegeben, der im völligen Widerspruch zur herrschenden Lehre vom „Untermenschentum“ stand.

Die Tochter hat schließlich überlebt, konnte ihr fünftes Kind gesund zur Welt bringen und auch ihre anderen Kinder wiedersehen, die zwischenzeitlich unter anderem Namen in ein Heim gebracht worden waren. Sie überlebte ihren Mann um mehr als sechzig Jahre. Wie war ihr Name?

3. Nationalheiligtum aus Moskau

Seinen Zeitgenossen blieb er in Erinnerung als ein alter weiser Mann mit weißem Bart. Er war das erste Ehrenmitglied der neu gegründeten Universität seines Landes. Nach seinem Tode im Alter von 87 Jahren erhielt er ein Staatsbegräbnis.

Er selbst blieb bis zum Ende bescheiden. „Ja, etwas habe ich in meinem Leben doch geschafft“, soll er gesagt haben, als ihm Freunde einen Tag vor seinem Tod Bücher brachten, die er herausgegeben hatte. Immerhin wurde er von seinen Landsleuten als „geistiger Staatsgründer“ angesehen.

Er stammte aus einfachen Verhältnissen. Da die früh verwitwete Mutter eine höhere Schulbildung nicht finanzieren konnte, kam der begabte Junge nur aufgrund einer Empfehlung auf die Academia Petrina, das Elite-Gymnasium in Mitau. Nach deren erfolgreichem Abschluss schrieb er sich in Dorpat als Student der Mathematik und Astronomie ein. Er veröffentlichte in seiner Studienzeit zahlreiche populärwissenschaftliche Aufsätze auf dem Gebiet der Himmelskunde.

Allerdings konnte er das Studium nicht beenden, da ihm das Geld fehlte. Auf Einladung zweier Freunde, mit denen er sich schon als Student kulturell-politisch betätigt hatte, ging er nach Sankt Petersburg. Mit ihnen brachte er dort eine Zeitung heraus, die ein zwiespältiges Echo fand: Die einen sahen darin eine „Erleuchtung“, die anderen einen „bösen Kometen“ in Gestalt eines „atheistischen, niederträchtigen Blattes“. Er erinnerte sich: „Wir stachen mitten ins Hornissennest.“ Es kam zu immer größeren Problemen mit der Zensur, und die Gegner sorgten schließlich dafür, dass das Erscheinen der Zeitung nach wenigen Jahren eingestellt wurde.

Er musste sich eine neue Arbeit suchen und wurde als Hauslehrer bei einer adligen Familie angestellt, die auf einem Gut in der Nähe von Moskau wohnte. Als die Kinder erwachsen waren, unterrichtete er noch einmal dreizehn Jahre an einer Moskauer Mädchenschule.

In dieser Zeit begann er mit jenem Projekt, das ihn berühmt machte. Dabei arbeitete er daran beileibe nicht allein. Er war nicht einmal der Initiator gewesen. Ein Freund, den er in Moskau kennengelernt hatte, hatte ursprünglich mit dem Unternehmen begonnen und die Sache dann an ihn weitergegeben. Es gab öffentliche Aufrufe, bei dem Projekt zu helfen. Die Resonanz war gewaltig. Er stand nun in Moskau an der Spitze eines Netzwerkes mit zahlreichen Helfern und Zuträgern in der Heimat. Ein größeres Problem war die Systematisierung und Einordnung alles dessen, was gesammelt wurde. Dies bewältigt zu haben, war seine große Leistung. Als Hilfsmittel hat er dazu eine Art Datenträger konstruieren lassen.

Schließlich kehrte er in seine Heimat zurück, wo er sein Werk fortsetzte. Bald konnte er seine Ergebnisse in Buchform publizieren. Er war 31 Jahre in der Fremde gewesen, und er fand seine Heimat gewandelt vor: Angehörige des früheren Bauernvolkes hatten ein städtisches Bürgertum gebildet, und aus der Bewegung, die er einst mit wenigen Freunden angestoßen hatte, war ein breiter Strom geworden.

So hat er in seinem langen Leben eine Zeitenwende durchgemacht: Seine Eltern waren einst noch Leibeigene gewesen, und zur Zeit seiner Geburt gab es in seinem Volk keine Wissenschaftler oder Schriftsteller. Als er starb, war daraus eine Nation mit einem eigenen Staat geworden. Sein Anteil daran wird als so bedeutend eingeschätzt, dass sein „Datenspeicher“, den er aus Moskau mitgebracht hatte, heute wie ein Nationalheiligtum gehütet wird. Als Tourist kann man nur einen Nachbau besichtigen. Aber auch seine naturwissenschaftliche Herkunft wurde nicht vergessen: Zu seinem 150. Geburtstag wurde nach dem einstigen Astronomiestudenten ein Planetoid benannt. Nach wem?

4. Gemeinsame Mahlzeiten und Streiche

„Theurer Jugendgenosse!“ So überschrieb der 39-Jährige einen Brief an einen Freund, den er einst beim Studium kennengelernt hatte. Damals waren beide nicht nur dadurch eng verbunden gewesen, dass sie die „Mahlzeiten und Uebungen gemeinschaftlich hielten“ (so schrieb der Freund), sondern auch durch gemeinsame Streiche. Als sich ein anderer junger Mann eingeschlossen hatte, um ungestört zu arbeiten, hängten sie ein Schild an seine Tür, wonach hier „zwei junge Elephanten“ zu sehen seien. Das dauernde Geklingel der Neugierigen muss den Ruhesuchenden zur Verzweiflung getrieben haben.

Er hatte zunächst in Berlin ein Jurastudium begonnen, sich dann aber den Naturwissenschaften zugewandt. Seiner wissenschaftlichen Karriere, die mehrere Forschungsreisen einschloss, setzte er dann aber selbst ein Ende. In dem besagten Brief an den Studienkameraden skizzierte er seinen seitherigen Werdegang:

„Nachdem ich in einer innigen Allianz mit dem Präsidenten der Geologischen Gesellschaft von Frankreich und England – die beiläufig sich besser bewährt hat als die entsprechenden politischen Allianzen, – Rußland geognostisch durchforscht hatte und in hochmüthiger Selbstzufriedenheit auf den einsamen Pfaden der Wissenschaft nach neuen Eroberungen für den menschlichen Verstand herumjagte, wurde mir die Verpflichtung zu Theil, eine Frau glücklich zu machen, ein Landgut mit den hier zu Lande daran hängenden Regierungsverpflichtungen einträglich zu bewirthschaften, Kinder zu erziehen, ja selbst große Lümmel zu bessern.“

Er hatte die Tochter eines Ministers geheiratet und von seinem Schwiegervater ein großes, aber heruntergewirtschaftetes Gut in Estland als Mitgift bekommen. Obwohl kein Geringerer als Alexander von Humboldt, einer seiner wissenschaftlichen Förderer in Berlin, ihn umzustimmen versucht hatte, zog er sich von der Wissenschaft zurück, um auf diesem Gut tätig zu sein.

„Nach hartem Kampfe“, so schreibt er weiter an den Freund, „ist es mir gelungen, den stolzen Verstand zu bändigen und die Aufgaben des Herzens zu würdigen. Also meine Frau hält jetzt sehr viel von mir, meine Bauern sind unter meiner Regierung zufriedener als zuvor… Ich erziehe vortreffliche Pferde, feine Schafe, edle Schweine und mittelmäßige Rinder; steigere den Ertrag von Feldern und Wiesen durch Be- und Entwässerung, habe die Frohne abgelöset und mich zum Präsidenten des Estländischen Vereins der Landwirthe aufgeworfen… Auf den Landtagen hört man mich an, und ich sitze im Rathe der Männer in Reval. Im Kleinen habe ich auch erfahren, daß Politik dasjenige Gebiet ist, auf dem mit dem größten Aufwande von Charakter und Geist das Geringste producirt wird. Willst Du ein Land sehen, wo man ohne Büreaukratie lebt und zwar viel besser als mit studierten Juristen und Schreibern, so komme her.“

Dieser Aufforderung ist der Freund einige Jahre später nachgekommen, als er beruflich in Sankt Petersburg zu tun hatte. „Die beiden Jugendfreunde“, so erinnerte sich später die Tochter des Gastgebers, „machten zusammen große Spaziergänge, besuchten die Dorfleute“, da es den Gast interessierte, „Land und Leute in Estland kennen zu lernen. Er richtete Fragen an die Bauern, scherzte mit ihnen, wobei mein Vater natürlich den Dolmetscher machen musste.“ Einen Bauern sprach er darauf an, dass der Gutsherr ihnen Häuser mit Schornsteinen gebaut habe und „sie nicht mehr in rauchigen Stuben wohnen ließe. ‚Ach Herr‘, antwortete der Bauer, ‚seit ich den Schornstein verstopft habe, lässt sich auch mit ihm leben.‘“ Diese Antwort habe „große Heiterkeit“ bei dem Gast erregt, sodass er „meinen Vater mit dem Erfolge seiner Reformen“ geneckt habe.

Tatsächlich hatte sich der Gutsbesitzer für Reformen im Hinblick auf eine Verbesserung der sozialen und rechtlichen Lage der Bauern eingesetzt. Denn er hatte sich nicht einfach auf sein Gut zurückgezogen, sondern bekleidete mehrere Ämter, in denen er politisch wirken konnte. Einige Jahre hatte er auch die Aufsicht über eine Institution inne, der er das „Baltisch-Provinzielle“ nehmen und die er zu einer internationalen Einrichtung machen wollte. Jedoch wurde er in den Konflikt zwischen baltischen Autonomie- und russischen Vorherrschaftsbestrebungen hineingezogen. Erst sah er sich genötigt, einen Bediensteten zu entlassen, der sich russischen Ansprüchen entgegengestellt hatte. Kurz darauf legte er selbst sein Amt nieder, um dagegen zu protestieren, dass lutherische Staatsdiener gezwungen werden sollten, zu kaiserlichen Gedenktagen den russisch-orthodoxen Gottesdienst zu besuchen.