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Barcelona Eiskalt E-Book

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Beschreibung

Die Jagd nach einem erbarmungslosen Killer führt den Berliner Kommissar Josef Hadersucht nach Barcelona. Die Stadt gleicht einem Hexenkessel, denn die Volksabstimmung für die Unabhängigkeit Kataloniens steht bevor. In dieser aufgeheizten Stimmung fahndet auch Lucia Costa nach einem Serienmörder. Schon bald kreuzen sich ihre Wege. Suchen sie denselben Mann? Und wie viel Zeit bleibt ihnen, bis der Mörder erneut zuschlägt? Für Lucia Costa und Josef Hadersucht beginnt ein Wettlauf um Leben und Tod.

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Göttlicher und Walter

Barcelona Eiskalt

Thriller

Zum Buch

Kaltes Katalonien Barcelona gleicht einem Hexenkessel. Vor der Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Kataloniens prägen Demonstrationen, Gewalt und politische Intrigen die Stimmung auf den Straßen. In der aufgeheizten Lage jagt die katalanische Polizei um Inspektor Ortega einen Serienmörder. Die eiskalte Präzision, mit der der Täter zuschlägt, schockiert die ehemalige Top-Ermittlerin Lucia Costa. Sein Vorgehen ähnelt dem Täter, wegen dem sie vor Jahren traumatisiert aus dem Polizeidienst ausgeschieden war. Hat der Eismann wieder zugeschlagen? Zeitgleich ermittelt Kommissar Josef Hadersucht in Berlin den Mordfall der jungen spanischen Prostituierten Marisol Hernández. Als herauskommt, dass Hadersucht eine Liebesbeziehung mit der Ermordeten hatte, wird er vom Fall abgezogen. Der Kommissar fährt nach Barcelona und beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln. Schon bald drängt sich der Verdacht auf, dass es sich bei dem Täter in Barcelona und Berlin um den gleichen Mann handeln könnte. Für Lucia Costa und Josef Hadersucht beginnt ein Wettlauf um Leben und Tod.

Guido Walter lebt in Berlin und arbeitet als Journalist und Autor. Seine Artikel wurden in »Der Spiegel«, in der »FAZ« und anderen deutschen Tageszeitungen und Magazinen veröffentlicht. Sein Buch über die Architektur in der Fernsehserie »Tatort« schrieb er gemeinsam mit Alexander Gutzmer, Oliver Elser und dem Tatort-Darsteller Udo Wachtveitl.

Der Fotograf und Autor Björn Göttlicher lebte 25 Jahre lang in Katalonien. Seine Bilder wurden in deutschen und internationalen Magazinen veröffentlicht, darunter »Der Spiegel«, »Stern«, »Merian« und »GEO«. Er schreibt beim mit dem Grimme-Preis ausgezeichneten Portal Riffreporter als »Fotograf mit Fragen«. Nach mehreren Büchern über das Fotografieren ist »Barcelona Eiskalt« sein erster Thriller. Er lebt derzeit in Bamberg.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Björn Göttlicher

ISBN 978-3-7349-3132-1

19.30 Uhr. Club Ooops!. Berlin

Marisol begann, vor der Webcam zu posieren. Im lila Ne­gligé, auf ihrem privaten Frotteehandtuch, jede Bewegung nach Kundenwunsch, im Studiolicht. Komplimente fürs glatte schwarze Haar und die eintätowierte Schlange nahm sie mit geübtem Lächeln hin. Sie sah über die Tatsache hinweg, in welch schäbigem Raum sie sich befand.

Mit diesem fensterlosen Kellerraum von zehn Quadratmetern machten die Betreiber des Clubs auf Studenten-WG, mit Postern angesagter Influencer und Eichhörnchen im Regal, die das Wort »LOVE« festhielten. Wie sie die Viecher hasste. Und dann die Kerzen. Im silbernen Kerzenhalter. Für jeden Kunden eine frische Funzel, vorgespielte Romantik. Dabei war der Typ am Ende der Leitung pervers. Marisol tröstete sich mit dem Gedanken, dass ihn der halbstündige Live-Chat sechzig Ooops!-Coins kostete, eine Fantasiewährung des Bordellbetreibers, ein Coin ein Euro. Mit dem Webcam-Job kam Marisol auf hundertfünfzig Euro am Tag. Wenig Geld für eine Stadt, die so teuer geworden war wie Berlin. Deswegen hatte sie mit der anderen Sache angefangen. Was sie besser gelassen hätte.

Als der Kunde weg und die Webcam aus war, dimmte Marisol das grelle Licht. Es wich dem Schimmer der Neonlampe, der ihren Rollkoffer grün statt grau erscheinen ließ. Ihr ganzer Besitz lag verstreut darauf, Smartphone und Ladekabel, Kosmetiksachen. Eine Stunde Ruhe vor den Männern. Rein in Jeans, Shirt und Fellweste. Lohnte sich zwar von der Zeit her kaum, fühlte sich aber nach Freizeit an. Die junge Spanierin schwitzte, denn es war brüllend heiß, der Club drehte die Heizung auf, damit sie und die anderen Mädels halb nackt herumlaufen konnten. Marisol kratzte sich an der Hüfte, an der das Etikett immer scheuerte, irgendwann würde sie das Scheißteil abschneiden. Jemand klopfte. Bescheuert, dachte Marisol, da kommt wieder einer aus der Tiefgarage hoch und hat sich in der Tür geirrt. »Die Treppe ist auf der anderen Seite.« Ihr Deutsch war so mittel, aber den Satz konnte sie inzwischen auswendig.

»Marisol? Ich bin’s!« Mit der Stimme waren schlagartig Erinnerungen da. An eine Zeit, in der man sie herumgestoßen hatte. Marisol lauschte angestrengt. Nichts. Langsam näherte sie sich der Tür, barfuß. Alles Einbildung. Oder war es Wirklichkeit? Sie drehte den Schlüssel, drückte die Klinke herunter und spähte hinaus. Ein Stoß kalter Luft glitt in den Raum. Das gelbe Licht der Garage wirkte trostlos. Ihr Nissan stand dort, wo er immer stand. Beruhigend. Sie machte einen Schritt zurück, und in der Sekunde, als sie die Tür zuziehen wollte, sprang jemand aus dem Halbdunkel und drückte ihr den Mund fest zu. Er war mittelgroß und kräftig, mit Leichtigkeit stieß er sie in den Raum zurück, sie fiel aufs Bett. Zwischen Wut und Zorn schwankend, konnte sie nicht fassen, dass er sie hier gefunden hatte. Sein Blick glitt über die Kameras auf den Stativen, dann wandte er sich Marisol zu, die ihn mit schreckgeweiteten Augen ansah.

»Du?«

»Du freust dich nicht.« Es klang enttäuscht. »Das hier hast du doch nicht nötig.«

»Ich schreie, wenn du nicht sofort verschwindest. Keinen Schritt näher.« Sofort bereute sie ihre Worte. Zurückweisung mochte er nicht. Er wollte immer alles für sich.

Der Mann trat langsam auf sie zu, zog einen Seidenschal aus der Lederjacke und stellte eine Leinentasche neben sie auf den Boden. »Für dich. Kleines Geschenk.«

»Behalt deinen Scheiß.« Worte, aus denen Ekel sprach.

Er bewegte sich wie in Zeitlupe, sie robbte auf dem Bett zurück, von Angst ergriffen, bis ihr Hinterkopf die Wand berührte.

»Leg den Schal um.«

Sie schüttelte panisch den Kopf. Sie hatte Angst. Das schien ihm zu gefallen, er grinste. Plötzlich war er über ihr, sprang auf ihren Bauch, sodass sie aufschrie. Er wickelte ihr den Schal um den schlanken Hals. Als labte er sich daran, zog er ihn an beiden Enden stramm und würgte sie, bis ihr die Zunge aus dem Mund trat. Und alles im wilden Schmerz versank.

18.30 Uhr. Berlin

Eine Stunde bevor Marisol starb, hielt der Mann, mit dem sie eine flüchtige Affäre hatte, vor seiner Wohnungstür inne. Josef Hadersucht, achtundvierzig, Polizeibeamter mit gesichertem Einkommen und einer bemerkenswerten Quote aufgeklärter Fälle, litt unter Einsamkeit. Die Schuld daran gab er seiner Ex-Frau Gabriele, oder vielmehr dem Moment, der sie zur Ex-Frau gemacht hatte. Bei der Trennung, die so unerwartet wie traumatisch über ihn hereingebrochen war. Um dem zermürbenden Gefühl des Alleinseins zu entgehen, nahm er die Nähe von Menschenansammlungen in Kauf, die er vor ihrem Weggang gemieden hatte. Selbst an einem kalten, regnerischen Abend wie diesem war ihm die eigene Wohnung ein Graus. Die Ödnis seines Daseins drängte ihn auf die Straße. Draußen im Humboldthain ging die Straßenbeleuchtung an. Hadersucht band sich den Kaschmirschal um und tigerte zur S-Bahn-Station, fuhr einsam und verlassen Richtung Alexanderplatz. Dort wartete das Oktoberfest, drei Wochen Dauerbespaßung nach Vorbild der Münchener Wiesn. Bier, Grillfleisch, Humtata. Das grauschwarze Haar klatschnass vom Regen, tauchte Josef Hadersucht um Viertel nach sieben im Gewühl des Alexanderplatzes unter. Von den Buden zog der Geruch nach Kandis und gebrannten Mandeln herüber. In Holzblockhütten verkauften Kunsthandwerker ihren Kram, nebenan wurde Bier ausgeschenkt. Das Gefühl der Verlassenheit wich in der Menschenmenge keinen Schritt. Josef wischte sich Regenwasser vom grauen Mantel, den ihm Gabriele geschenkt hatte. War es zum Geburtstag gewesen oder zu Weihnachten? Er hatte es vergessen. Mehr als ein Jahr war das mit der Trennung jetzt her, doch es kam ihm vor wie gestern. Alles in ihm weigerte sich zu akzeptieren, dass sie nicht wieder zu ihm zurückkehren würde. Das Klärungsgespräch hatte er verpatzt, wer sonst? Es war die reine Qual gewesen. Nichts als eine Auflistung seiner Fehler, für die er selbst blind war. Gabriele hatte die Scheidungspapiere daraufhin mit derart ausdrucksloser Miene unterschrieben, als wäre jedes Gefühl in ihr abgestorben. Und das nach siebzehn Jahren Ehe. Die meisten davon glücklich, wie er fand. Gabriele behandelte ihn wie Luft, meldete sich höchstens, wenn sie etwas haben wollte, das sie in der ehelichen Wohnung vergessen hatte. Sie war nun schon lange ausgezogen, und Josef hauste allein. Er ließ die Heizung in jedem Zimmer laufen, als könnte ihm dies die Wärme zurückbringen, die mit Gabriele gegangen war. »Du haust hier wie ein Penner, der es warm hat«, hatte seine Tochter Annika einmal zu ihm gesagt. Woraufhin er sie mit Leidensmiene ansah, nach Verständnis heischend. Zu viel verlangt von einer neunzehnjährigen Rebellin.

Ein kalter, klarer Wind wehte Sprühregen durch die Buden. Vor ihm naschte ein Bengel an einem Paradiesapfel, sein Gesicht vom Zuckerguss rot verschmiert. Josef feixte belustigt, der Junge grinste zurück, die Mutter bemerkte es und zog den Kleinen fort. Josef verbarg sein Gesicht im Mantelkragen, als sei an den Verdächtigungen der Helikoptermutter etwas dran. Er kam sich vor wie ein alter Strolch. Dachte an das Bild, das er abgab, und dann an seine volljährige Tochter. Er war untröstlich. Sie fehlte ihm ebenso wie Gabriele. Sein Sozialleben war in sich zusammengestürzt, als sie sich eine eigene Wohnung gesucht hatte. Josef begann nur widerwillig, mit sich selbst über sein Leben ins Gericht zu gehen. Lieber lenkte er sich ab. War er all die Jahre zu eigensinnig gewesen? Hatte er zu wenig zugehört? War er zu weich? Aus seiner Sicht hatte er alles gegeben. Für die Familie. Für den Job. Hatte Extrastunden gemacht, die von Gabriele angestrebte Beförderung bekommen, hatte auf Fußball und Bowling verzichtet. Beschlichen ihn nächtens solche Gedanken, haderte er mit sich selbst und fühlte sich hilflos wie ein Neugeborenes. Das musste sich ändern. Nur wie?

Vorerst ließ er sich buchstäblich durch die Menschen treiben, verschaffte sich durch seine Größe Platz, erntete bei Körperkontakt strafende Blicke. Ein Quarkbällchen bei der Weltzeituhr linderte den Hunger, der ihn im Gegensatz zu seinen Frauen nie verließ. Bei den Fahrgeschäften fiel ihm auf, wie sorglos die Menschen waren. Gaben sich dem schlichten Kirmesvergnügen ohne nachzudenken hin. Fanfarenhaftes Aufjaulen aus Richtung Autoscooter, grelle Lichter, regennasse Aufbauten. Für einen Moment glaubte er, im Gedrängel Gabriele zu sehen. Jede Geste eine Provokation, jedes Wort Grund für einen Streit. Das Ende der Beziehung war Schock und Erleichterung zugleich. Er war nicht tot, auch wenn es sich so anfühlte. Sinnlose Gedanken voller Schmerz. Die Frau im Mantel sah ihr nur ähnlich. Sich den Gefühlen zu stellen, die auf ihn einhämmerten, erschien ihm ein Ding der Unmöglichkeit. Er schnäuzte sich kräftig und steuerte den Losverkäufer an, der ihm einen zugedeckten Eimer hinhielt. Der hat doch nicht wirklich was gelernt, hätte Gabriele gesagt. Der Wind wehte dem Budenbesitzer Regen ins Gesicht, was dieser stoisch zur Kenntnis nahm. Hadersucht zog drei Nieten und wäre deswegen am liebsten in Rage geraten. Doch er erntete nur bedauerndes Schulterzucken sowie im Hintergrund die mikrofonverstärkte Ansage »Gewinne, Gewinne, Gewinne«.

Das Motodrom verhieß eine Viertelstunde Ablenkung. Ohrenbetäubender Lärm, Benzingeruch. Dicht an dicht rollten vier Motorradakrobaten durch den hölzernen Kessel. Freihändig, mit verdeckten Augen, zu dritt an der Steilwand. Dröhnender Applaus der Umstehenden und draußen eine Art Interview durch den Chef. Ob man zufrieden sei. Wenn ja, dann wäre ein Like auf Facebook nett. So was in echt und für Autos, das würde mir besser gefallen, dachte er deprimiert. Ein Autodrom, das hätte was.

Ein Blick auf die Armbanduhr. Viertel nach acht. Hadersucht steuerte die U-Bahn-Station Alexanderplatz an. Stand an der U8 eingekeilt zwischen einer parfümierten Frau und einem bärtigen Jüngling mit Trolley und dicken Kopfhörern. Etwa eine halbe Stunde später verließ er an der Station Osloer Straße die U-Bahn. Es goss wie aus Eimern. Im Laufschritt durch den Regen, und zwei Straßenecken weiter kam er atemlos an. Ooops! – der Genießerclub. Der Wolkenbruch war vorbei, in den Pfützen vor dem dreistöckigen Gebäude spiegelte sich der Schriftzug. Das Etablissement lag hinter einer schmutzigen Fassade am Ende einer Sackgasse. Im Haus daneben alles dunkel, abendlich verwaiste Büros. Rechts weitläufig der Abstellplatz eines Autohändlers. Im ersten Monat der Trennung war es ihm gelungen, den Drang nach schnellem Sex zu unterdrücken. Dann lief alles auf Befehl von ganz unten. One-Night-Stands, flüchtige Affären mit bitterem Ausgang, danach erstmals käuflicher Sex. Um zu vergessen. Um sich nicht einsam zu fühlen, wenn auch nur für ein paar Minuten.

Hadersucht trat durch milchige Plastikvorhänge und war in einer anderen Welt. Eine übertrieben geschminkte Mittvierzigerin mit violettem Lidschatten und blondem, an den Spitzen lila auslaufendem Haar winkte von der Bar. Jackie Scholl, die Wirtschafterin des Ooops!. Hadersucht warf einen letzten Blick auf die Armbanduhr, es war Viertel vor neun. Dann reichte er Jackie die Uhr samt anderen Wertgegenständen über den Bartresen, nahm den Spindschlüssel in Empfang.

»Das ist der letzte, Josef.«

»Gutes Omen«, brummte er. Die Umkleide war unisex. Logisch. Warum getrennt umziehen, wenn man nebenan übereinander herfiel? Um die Ecke drehte sich eine Frau vorm Spind Zöpfe und hob das fleischfarbene Strumpfhosenknäuel auf, das ihr runtergefallen war.

»Bin gleich für dich da, Schatz.« Es klang teilnahmslos mit einer Prise Bitternis, denn das hier war Arbeit, kein Vergnügen.

Josef entkleidete sich, hing die vom Regen feuchten Klamotten auf Bügel und schloss den Spind ab. Dann band er sich ein Handtuch um, schlüpfte in die bereitstehenden Badeschuhe, duschte und ging aufs Klo. Im Badezimmer leuchtete eine Kerze, ein gescheiterter Versuch, so etwas wie Hygge zu erzeugen, wie es in der skandinavischen Variante der Gemütlichkeit ja neuerdings hieß. Die Waschmaschine rumpelte nebenan. Durch einen zur Vagina ausgemalten Durchgang kam er zur Bar. Am Tresen saß Alfred auf einem Hocker, ein weißhäutiger Hüne mit Pferdeschädel und schlechten Zähnen, der jede vorbeikommende Frau mit dem Spruch »Darf ich zum Tanz bitten?« ansprach. Josef grüßte kurz, lugte dann in den Aufenthaltsraum, in dem sich ein Dutzend Männer auf abgewetzten Sofas drängte. Handtuch um die Hüften gewickelt, starrten sie zu einer Wand hin, auf die ein Beamer FKK-Urlaubsbilder mit heißen Girls projizierte, von denen sich hier keine blicken ließ. Ein voller Aufenthaltsraum bedeutete, dass im Partyraum was nicht stimmte, das wusste Josef längst. Vor der Spielwiese, wie sie im Ooops! das Trumm von einem Bett nannten, sahen Männer einem jungen Paar beim Sex zu, das so mit sich selbst beschäftigt war, dass den Anstehenden die Hoffnung schwand, irgendwann mitmachen zu dürfen.

»Ich habe Jackie gefragt, ob ich die Hälfte vom Eintritt wiederkriege, wenn ich jetzt gehe. Rate mal, was die geantwortet hat.« Liam wartete Josefs Antwort nicht ab. »Die meinte, wenn du ins Kino gehst und dir der Film nicht gefällt, fragste ja auch nicht danach, ob du die Hälfte wiederkriegst.« Liam war ein rotgesichtiger Typ um die fünfzig, ein netter Kerl aus London, der als Autor eines längst eingestellten Rockmagazins in Berlin hängen geblieben war und sich als Stammgast, als sogenannter Stammi, ungern verarschen ließ. Liam machte den Mund auf, wenn ihm etwas nicht passte, im Gegensatz zu den älteren Deutschen wie Alfred, die auf keinen Fall auffallen wollten an einem Ort, der nicht den landläufigen Moralvorstellungen entsprach.

»Ich würde dir das Geld auch nicht wiedergeben.« Zu Josefs Worten seufzte die Frau auf der Matte, als wolle sie was beisteuern.

»Das kann man ja wohl nicht vergleichen«, entgegnete Liam scharf. Alfred, der Mann mit dem Pferdekopf, ging dazwischen. »Der Typ da auf der Matte, das ist kein Gast. Das ist ein Mitarbeiter des Clubs. Das hat Methode. Der nimmt die ewig in Beschlag, und wir sollen nebenan Urlaubsdias gucken. Alles abgekartet.«

Liam nickte zögerlich, ein Hauch Enttäuschung huschte über sein Gesicht, als wäre ihm erst jetzt klar geworden, dass er einem Nepp aufgesessen war. Alfred versetzte ihm einen Stich.

»Gibt hier durchaus private Frauen, die nach Feierabend in den Club kommen, aber sobald eine von denen auftaucht, zieht Jackie ein professionelles Mädel ab.« Josef reichte es. »Anstatt hier rumzumeckern, solltet ihr mal anfangen, mit den Frauen zu reden. Kleiner Tipp: Die meisten rauchen und treffen sich im Raucherzimmer, da kommt man sich schnell menschlich näher.«

Liam winkte ab. »Sprichst wohl aus Erfahrung.«

»Ich hab da jemanden kennengelernt.«

Liam sah ihn rätselnd an. »Wen denn?«

»Marisol.«

»Die kenn ich«, sagte Alfred. »Die läuft immer nackt rum, tolle Figur, aber bei der läuft nichts.«

»Mach einen eigenen Laden auf und mach alles besser«, sagte Josef brüsk. Das mit Marisol hätte er nicht erzählen sollen. Wo steckte sie bloß? Er ließ die beiden stehen und schlappte mit Badeschuhen durch den Laden, fand die Spanierin aber nicht. War er verknallt? Bestimmt. Marisol war eine iberische Schönheit, die ihre Herkunft zur Marke gemacht hatte. Lange schwarze Haare, dunkler Teint. Im schulterfreien Top wirkte sie wie aus einem Film von Pedro Almodóvar entsprungen. Sich außerhalb der Normalität zu bewegen, war ihr Normalzustand. Doch das Gefühl, ausgenutzt zu werden, nagte die ganze Zeit an Josef. Hier im Ooops! war die junge Spanierin stets nett zu ihm gewesen, wollte ihn aber nie zu Hause besuchen, sondern ausschließlich in Hotels treffen, vier Sterne aufwärts. Marisol liebte Candle-Light-Dinner, bei denen er immer zahlte und sich in der Selbstverständlichkeit, mit der die dunkeläugige Frau das hinnahm, ausgenutzt fühlte. Am Buffet traf er Liam wieder. Das Angebot an Speisen war schlicht, aber von der Bulette bis zur Weintraube für jeden was dabei. »Sorry für eben«, sagte der Brite. »Schon krossen Schweinebraten probiert?«

Ein Ventilator brummte, um die Monotonie lautmalerisch zu unterstreichen. Zwei nackte Männer, belangloses Gelaber. Josef belegte sich ein Brötchen mit dem angepriesenen Schweinebraten, als an der Bar ein Riesengeschrei losbrach. Alles voll Blut. Jemand ist tot. Unten in der Tiefgarage. Ruft die Polizei. Schnell. Polizei war schon da, dachte Josef Hadersucht. Und wusste eines genau. Er war zu hundert Prozent zur falschen Zeit am falschen Ort.

09.00 Uhr. Barcelona

Kein Ort auf der Welt roch wie das Raval. Ein Gemisch aus Kanalisation, feuchter Wäsche und dem Salz des Meeres. Dieser Duft war Heimat. Als der Polizeihubschrauber übers Haus flog, spürte Lucia Costa den Boden unter ihren nackten Füßen vibrieren. Rotorblätter peitschten die Luft, brachten die Milchglasscheiben im Badezimmer zum Erzittern. Für einen Augenblick hielt die Katalanin inne. Nationalfeiertag. Eine Million Menschen wurden auf den Straßen Barcelonas erwartet. Fahnenträger, Gesänge, Proteste. Für die Unabhängigkeit Kataloniens. Freiheit und Demokratie. Sie war besorgt ob der in der Luft liegenden Gewalt. Die Vorahnung kommenden Unheils machte sich in ihr breit, ließ sie innerlich beben. Sie spürte Kälte in sich aufziehen. Der Helikopter der spanischen Polizei flog über dem Häusermeer der Altstadt eine Ellipse. Die Bordkamera seines fliegenden Auges scannte jede Bewegung am Boden. Das Knattern klang in der Ferne nach. Lucia zog sich das T-Shirt hoch und betrachtete sich im Spiegel. Ihre Brustwarzen und die Bauchdecke. Fünf Wunden waren verheilt. Alle, bis auf die mit dem tiefen Schnitt. Die der Arzt in der Notaufnahme hatte klammern müssen. Sie fuhr mit dem Finger sanft über die blutverkrustete Wunde. Die Stelle brannte. Lucia setzte die Rasierklinge auf die linke, kleinere Brust und schnitt sich ins Fleisch. Langsam und gleichmäßig, nicht zu tief. Das Blut rann den Bauch hinunter. Sie sah dabei zu, ohne eine Miene zu verziehen, wie eine unbeteiligte Person. Das gelang, solange die körpereigenen Opiate eine Weile den ersehnten Schmerz dämpften. Der dann mit aller Macht kam. Lucia Costa war achtunddreißig Jahre alt und hatte vor zwölf Monaten ihren Job bei den Mossos d’Esquadra, der katalanischen Regionalpolizei, hingeschmissen. Sie brauchte eine Auszeit, eine Veränderung. Die kam anders als erwartet. Das Leben hatte bittere Pillen für Menschen bereit, die sich zu sicher wähnten. Lucia hatte ihr Kind verloren. Eine Totgeburt. Das Schicksal hatte ihr all das genommen, auf das sie ihr Leben ausgerichtet hatte. Der Sinn, der alle Rückschläge rechtfertigen sollte. Zu viel Verlust in so wenig Zeit. Der Job bei der katalanischen Polizei. Das Kind. Und sein Vater, Jordi, der die Trennung nicht akzeptierte. Lucia wusste, dass sie unfair zu ihm gewesen war. Aber sie ertrug seine Nähe nicht. Nicht nach alldem. Von ihren Dämonen ahnte Jordi nichts. Mit denen kam sie allein besser klar. Der Schmerz zerriss sie, erlöste sie vom Druck und den Bildern der Nacht. Arme, Beine und Geschlechtsteile fremder Menschen. Ihr Bauch, der sich im Zeitraffer aufblähte und das schreiende Neugeborene im weiten Bogen auf die Straße spie, wo es wie tot liegen blieb. Alles gebannt, in diesem zur Sucht gewordenen Moment der Hochstimmung. Lucia entfernte das Blut mit einem Taschentuch und tackerte sich Leukostrip auf die pochende Wunde. Sie kannte sich damit aus. Ihre Brust pochte vom Ritzen. Der Schmerz schwand, die Selbstzweifel kamen, wie jedes Mal. Du bist so ein Wrack, Lucia. Fast vierzig und Endorphinjunkie. Verfallen den Drogen, die der eigene Körper produziert. Genervt vom Lärm und Gestank des Müllwagens schloss sie das Fenster. Schlurfte ohne Strümpfe über den kalten Boden in der Küche. Ihre Füße waren wie Eis. Dicke Socken lagen neben der leeren Flasche Priorat im Staub. So ging es nicht weiter. Im Morgengeruch des Kaffees zog sie die schweren Gardinen zur Seite und trat auf den Balkon. Der Heli war meilenweit weg. Ein seltener Moment der Ruhe im Barrio Chino, dem Raval. Ein paar Leute gingen ihre Straße, die Carrer del Carme, entlang. Ein Windzug wehte ihr eine Haarsträhne unter die Nase. Lucia trat einen Schritt zurück, schob die Tür zu, schlüpfte in Kaki-Bluse, Jeans und Chucks. Eine Pferdeschwanzfrisur bändigte ihre dunkelblonden krausen Haare. Wer im Raval wohnte, machte sich nicht groß zurecht. Wie die Tussen aus den bergigen Vierteln der Stadt. Lucia hatte keine Probleme damit, Gefühle und Weltschmerz zu zeigen, anstatt diese zu unterdrücken, wie es ihr Beruf als Polizistin erforderte. Ihr Hang zu autoaggressivem Verhalten äußerte sich im Privaten. Sie kippte den Kaffee in drei Schlucken herunter. Lucia war so gut wie pleite. Die unbezahlten Rechnungen auf dem Schreibtisch stapelten sich. »Ich halte Sie für den Dienst als Nachtwächterin für überqualifiziert, würde Sie aber gerne kennenlernen.« Das Schreiben des HR-Managers der Security-Firma. Total vergessen. Warum hatte sie das mit den Mossos erwähnt, tadelte sie sich. Klar, dass der sie für zu gut hielt. Sie nahm ihr iPhone zur Hand, tippte die Nummer ein und ließ sich durchstellen. Eine tiefe, gedehnte Stimme erklang. »Ich erinnere mich an Sie. Die Ex-Polizistin, richtig?«

»Sie sagen es.«

»Sie sehen gut aus auf dem Bewerbungsfoto. Kompliment.«

»Ist es für Sie in Ordnung, wenn wir uns auf meine Bewerbung konzentrieren?«

»Sicher. Der Job ist aber leider bereits vergeben. Werten Sie das bitte nicht als Urteil über Ihre Person und Ihre Eignung für diese Position.«

»Ist schon okay. Ich verzichte gern darauf, von Ihnen bewertet zu werden.«

»Sie sind verärgert, und das verstehe ich gut. So etwas ist schmerzhaft. Könnten Sie sich als kleines Trostpflaster vorstellen, heute Abend mit mir essen zu gehen? Oder morgen? Oder an einem anderen Abend?«

Schweigen. »Aber gern!«

»Wirklich? Das ist fantastisch.«

»Nein.«

»Wie nein?«

»Das war ein Witz.« Lucia lachte schallend, das erste Mal seit langer Zeit. Es wirkte befreiend.

»Was habe ich denn so Lustiges gesagt?«

»Vergessen Sie’s! Ich gehe sicher nicht mit Ihnen essen.«

»Und warum nicht?«

»Bezahlen Sie das Essen?«

»Selbstverständlich.«

»Ich kann mich ja dann auf andere Art erkenntlich zeigen.«

»Das wäre bezaubernd.«

»Davon träumst du doch. Cabrón!« Sie drückte das Gespräch weg. Wischte sich eine Lachträne von der Wange. Die Schachtel mit den Rasierklingen blendete sie im Sonnenlicht. Etwas hielt sie zurück. Es war Zeit, zurückzukehren. Elisabeths Wunsch. »Lucia, lass dich nicht hängen«, hatte ihre Mutter gesagt. »Folge deiner Bestimmung.« Als Teenager hatte sie derlei mütterliche Weisheiten ignoriert. Jetzt, da Elisabeth alt war, dachte Lucia mit Wehmut daran zurück. Sie wollte ihre Mutter um nichts in der Welt verlieren, auch wenn die beiden über lange Jahre hinweg ein schwieriges Verhältnis zueinander gehabt hatten. Heute ist der Tag der Entscheidung, Lucia. Heute rufst du ihn an. Trotz der Konsequenzen. Sie zögerte. Die Erinnerung war mit einem Mal wieder da. Das schreckliche Grinsen im Gesicht der erfrorenen Frauen. Das plötzliche Verschwinden des Serienmörders, den die Presse »Señor Fresco« getauft hatte, den Eismann. Lucia atmete tief durch. Und tippte auf die Nummer von Miguel Ortega. Der Inspektor der katalanischen Polizei ging sofort ran. Begierig saugte sie den vertrauten Lärm im Hintergrund auf. Das war das Revier. Ihr Revier. Vor ihrem geistigen Auge tauchte der Ort auf, der vier Jahre ihr Arbeitsplatz gewesen war und den sie vor einem Jahr so abrupt verlassen hatte. Eloy, der junge Ehrgeizling mit seinen mahlenden Kiefern und dem verbissenen Gesicht. Maria, eine Seele von Mensch, aber stets so auf ihre Akten konzentriert, dass die Pflanzen an ihrem Fenster regelmäßig vertrockneten. Und Miguel, der Grandseigneur, ein echter Gentleman und der geborene Anführer. Wenn sie sich auf jemanden freute, dann auf ihn. Sie hörte seine sonore Stimme schon, bevor sie erklang.

»Lucia. Qué tal?«

»Hola Miguel. Gut. Und selbst?«

»Sollte ich dich fragen oder willst du?«

»Du.«

»Okay. Hast du nachgedacht?«

»Ich überlege. Weiß nicht, ob ich dazu schon bereit bin.«

»Ich versinke in Arbeit, muss drei Ermittlungsgruppen zusammenstellen.«

»Was ist mit deinem Assistenten Eloy?«

»Soll zwei von denen leiten. Drei sind zu viel.«

Eine seltsame Aufwallung von Glück. Das willst du doch. Sag ja. »Okay.«

Ein endlos langer Atemzug von Miguel Ortega. »Danke, Lucia. Nur eines vorab, damit es nicht zu Missverständnissen kommt. Ich hab im Moment keine Planstelle, aber das kriegen wir hin. Verspreche ich dir hoch und heilig. Also pro forma nur zur Probe, okay?«

»Das ist doch lächerlich. Jetzt, wo ich will, ist keine Kohle da?«

»Natürlich ist es lausig! Du weißt doch, wie der Laden läuft.«

»Wie immer eben.« Sie resignierte. Fuhr dann fort. »Na, sag es schon.«

Ortega lachte. »Okay. Du bist die beste Ermittlerin, die ich je hatte. Tut das gut? Oder soll ich dich mit weiteren Komplimenten zutexten?«

»Schon okay, hatte heute schon ein paar. Ein Typ, der mit mir essen gehen wollte und vielleicht einen Job für mich hat.« In seinem Bett, ergänzte sie in Gedanken. Gegen Essen.

»Willst deinen Preis hochtreiben? Tut mir leid, aber ich kann nicht einfach für dich eine Planstelle aus dem Boden stampfen, jetzt, wo alle so in Aufregung sind wegen des Referendums.«

»Na gut. Ich bin dabei. Notfalls bezahlst du mich eben mit Gutscheinen für die Kantine. Wann geht’s los?«

»Ich mag deinen Humor. Aber es passt gut, dass du jetzt anrufst. Eloy hat ein Telefonat aus Deutschland gekriegt. In Berlin ist eine junge Prostituierte ermordet worden, die aus Barcelona stammt. Wir sollen Amtshilfe leisten. Ausgerechnet jetzt. Ich möchte, dass du die Ermittlungsgruppe im Fall, warte, ich schau nach …« Lucia hörte ihn in Papieren kramen, »Marisol Hernández leitest. Zunächst kümmerst du dich um ihre Mutter, Dolores. Versuch, alles über die Familie rauszukriegen.«

»Okay. Ich kümmer mich darum.«

»Aber sag denen nicht gleich, dass ihre Tochter tot ist.«

»Wie bitte? Das ist gegen die Vorschriften. Das kannst du nicht von mir verlangen.«

Ortega seufzte. »Na gut. Knall es den Leuten vor den Latz. Ganz wie du willst. Ich fürchte nur, dass wir dann keine brauchbaren Aussagen mehr bekommen. Dann wird das mit der Amtshilfe ein Problem und davon haben wir gegenwärtig mehr als genug.«

»Okay. Verstehe.«

»Bist du dir da sicher, Lucia? Ich hol dich gegen einige Widerstände hier wieder rein. Gib denen jetzt bitte keine Argumente nach dem Motto, sie ist nach der Fresco-Sache psychisch nicht in der Lage, den Job zu machen.«

»Ist gut, Miguel. Ich werde ihr nichts sagen.«

»Gut. Adéu.«

Lucia knallte das Smartphone auf den Küchentisch und hielt inne. Sie hatte es getan. Sie hatte zugesagt. Sie war wieder Teil des Polizeicorps. Und sollte gleich zu Beginn so eine miese Nummer durchziehen. Ein Auftrag, der nach Ärger roch.

22.30 Uhr. Berlin

Männer nur mit Handtüchern bekleidet standen nervös am Bartresen. Josef sah an sich herab. Geschiedene neigten dazu, an Gewicht zuzulegen oder abzunehmen. Drei Kilo in sechs Monaten waren es bei Hadersucht mehr geworden. Nur wegen seiner imposanten Körpergröße von eins vierundneunzig ging er als stattlicher und nicht als dicker Mann durch.

Jackie Scholl verschaffte sich an der Bar Gehör. »Liebe Leute, das ist leider eine ernste Sache. Ich muss euch alle bitten, bis zum Eintreffen der Polizei hierzubleiben. Ich kann verstehen, dass ihr nach dem Vorfall schnell nach Hause möchtet, aber wir sind an die Anweisung der Polizei gebunden.«

Liam war wieder auf hundertachtzig. »Dürfen wir uns wenigstens umziehen?«

»Die Beamten müssen zunächst die Daten aufnehmen. Habt bitte dafür Verständnis.«

»Totaler Nepp hier«, brüllte Liam. »Und jetzt das. Ich Idiot. Ich Arsch. Nie wieder!«

Josef Hadersucht nutzte den Tumult, um schnell seine Sachen aus dem Spind zu klauben und zu türmen. Um zweiundzwanzig Uhr dreißig eilte er zur U-Bahn. Keine Viertelstunde später hechtete er die Treppen zur Wohnung in der Pankstraße hoch. Drei Zimmer, Küche, Bad. Ein großzügig geschnittenes Wohnzimmer mit Bücherregalen bis zur Decke und einem Esstisch aus Vollholz, eine Durchreiche zur winzigen Küche. Er warf sich auf das zweischläfrige Sofa und knipste den Fünfundfünfzig-Zoll-Fernseher an. Seine Verzweiflung war so groß, dass er sich nicht auf die Sitcom mit dem Konservenlachen konzentrieren konnte. Eine halbe Flasche Whiskey half ihm dabei, wegzudämmern. Der erwartete Anruf von Renko Horstmann ereilte ihn um zehn nach sieben. Eine Dreiviertelstunde später stand Hauptkommissar Josef Hadersucht in der Tiefgarage des Sexclubs, den er um halb elf verlassen hatte. Ein irrer, absurder Rollentausch vom Kunden zum Ermittler.

Da lag sie, angestrahlt von künstlichen Lichtquellen. Zusammengesackt auf dem Fahrersitz ihres Nissan. Kollegen in Einwegoveralls, Mundschutz und Handschuhen sicherten Spuren im Schein der Lampen. Das Blitzlicht des Tatortfotografen grellte. Marisols linker Arm hing schlaff aus der Fahrertür, ein Finger berührte den Boden. Eine Blutlache hatte sich darunter gebildet. Hadersucht schnappte nach Luft, drohte zu hyperventilieren. Sie war mehr als hübsch. Übel zugerichtet, bis auf das Gesicht. Als wenn so etwas Schönes nicht zerstört werden dürfte. Aus seiner Gefühlsverwirrung schälte sich die Wahrheit. Er hatte eine Affäre mit einer Prostituierten gehabt. Die jetzt tot vor ihm in der Garage lag. Aus Versehen zerquetschte er mit dem Fuß ein Spurenhütchen. Alle Blicke richteten sich auf ihn.

»Was starrt ihr mich so an? Hängt mein Schwanz raus?«

»Schlecht geschlafen?«, konterte Renko Horstmann.

Josef überging es, das fehlte noch, dass er ausgerechnet diesem Knallkopf etwas über sich verriet. »Hat jemand den Tatzeitpunkt?«

»Die Wirtschafterin Jacqueline Scholl fand die Tote um einundzwanzig Uhr fünfzehn hier in der Garage. Die Tat muss in den drei Stunden davor passiert sein.«

Renko Horstmann war groß wie Josef, aber schlanker und mit gröberen Gesichtszügen. Er trug gern Hawaiihemden, langärmelige sogar, was heute unter der Lederjacke aber nur zu erahnen war. Renko deutete mit dem Kugelschreiber auf Schnittstellen in der Haut des Mädchens. »Die klaffenden Wunden am Hals und auf der Brust deuten auf einen Angriff mit einer scharfen Waffe hin. Dutzende Einstiche am Körper, mindestens fünf am Hals. Blutspuren an der Längsseite des Autos. Hämatome an beiden Handgelenken. Die Frau trug Bluse, Jeans und Fellweste, alles mit Blut vollgesogen. Die angetrockneten Blutspritzer auf dem Lenkrad und der Frontscheibe lassen den Schluss zu: Fundort gleich Tatort.«

»Fundort gleich Tatort«, echote Josef tonlos. Ihn packte die Wut. »Ist das alles, was dir dazu einfällt? Wir leben hier in einer Stadt, die von blutrünstigen Bestien bevölkert wird, die alles hinschlachten und morden, denen nichts und niemand mehr heilig ist.«

»Ganz ruhig, Josef.«

»Unterbrich mich nicht. Mich kotzt das einfach alles an, dieses ganze sachliche Getue hier. Habt ihr denn keine Gefühle mehr?«

Renko sah ihn rätselnd an. »Sorry, aber du erinnerst mich gerade an den Typen, der letztens in Neukölln über das Sperrband drüber ist und rumbrüllte.«

»Weil jemand seine Frau umgebracht hat. Was würdest du da machen?«

»Und du?«

Josef hielt inne. Dann zuckte er die Schultern, bezähmte sich mühsam. »Was ist mit den Verletzungen am linken Unterarm?«

»Sie wollte ihn wahrscheinlich abwehren, hat den Arm gehoben.«

»Möglich. Wie gehen wir also vor?« Josef blickte apathisch in die Runde, bevor er weitersprach. »Stellt die Personalien der Frau fest, leuchtet ihr Umfeld aus.«

In Renkos Blick wuchs Zweifel. »Und was ist mit den fünfzehn Männern, die im Aufenthaltsraum rumsitzen?«

»Seit gestern Abend?«, platzte es aus Josef heraus. »Nehmt die Personalien auf und lasst sie gehen. Ich mach mich jetzt vom Acker«, fügte er hinzu, bevor jemand nachfragen konnte.

»Das kannst du nicht machen.«

»Wirst du schon sehen.«

Ein herausfordernder Blick von Renko durchbohrte ihn. »Was ist mit dem Meeting um neun?«

»Macht ihr ohne mich. Ich muss mal ausschlafen.«

»Und die Besprechungsrunde um vier?«

»Weiß ich noch nicht.«

Josef wich allen Blicken aus, das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war, von Liam oder Alfred erkannt zu werden. Am Ausgang dann der nächste Schock. Die Überwachungskamera. Wie konnte er so blöd sein? Renko war ein fähiger Kriminalist, kein Zweifel, dass er auf einer Auswertung der Bänder bestehen würde. Dass Hadersucht Etablissements besuchte, war ein offenes Geheimnis im Revier. Das Gerücht kam auf, als Josef eines Nachts vor Renkos Augen in eine Straße gelaufen war, in der Männer zu dieser Zeit gewöhnlich nur ein Ziel ansteuerten. Es war gedankenlos von ihm gewesen. Mit der sicheren Gewissheit, dass sich die Dinge für ihn zuspitzten, ging er zu seinem Wagen. Gegen die Ausmusterung des weinroten Ford Granada Baujahr 1982 hatte Josef dreimal erfolgreich interveniert. Eine Weile verharrte er reglos im Wagen, dann betätigte er die Zündung und raste los, Richtung Humboldthain.

Gegen Mittag fiel er in seiner Wohnung auf dem Sofa in einen luziden Schlaf, in dem ihm Bilder der toten Marisol verfolgten. Die echte trat zu diesem Zeitpunkt in einer Zinkwanne ihre letzte Reise an, in die Leichenfächer der Forensik. Während Josef schlief, packten die Kollegen der Spurensicherung ihre Sachen. Horstmann und ein weiterer Kollege blieben als Letzte am Tatort zurück. »Hast du einen Schimmer, was mit Josef los ist? Er sieht schlecht aus.«

Renko blickte in die rehbraunen Augen von Dirk Bassek. Der Kommissaranwärter trug Funktionsjacke und Chinos. »Bei Josef dachte ich immer, das ist der Typ, der den Job im Griff hat.«

»Ab heute denkst du das nicht mehr. Zeig mal. Ist das der Führerschein?«

»Ausgestellt in Spanien. Marisol Hernández. Dreiundzwanzig Jahre alt. Laut Auskunft der Wirtschafterin hat sie oben im Club gearbeitet.«

»Habt ihr die Familie ausfindig gemacht?«

»Sind wir dran. Anfrage an die Kollegen in Katalonien läuft.«

»Hast du da nicht mal einen kennengelernt?«

Bassek nickte. »Eloy irgendwas. Vargas, glaube ich. Nerviger Typ. Morddezernat der Mossos d’Esquadra in Barcelona. Keine Ahnung, ob der sich an mich erinnert. Der Workshop ist ewig her.«

»Der bei Interpol damals?«

Bassek nickte stumm.

Renko knöpfte sich den Mantel zu. »Halt mich auf dem Laufenden. Ich muss jetzt los.«

Renko Horstmann trat aus der Garage und ging zum Wagen. Ließ den Motor des Dienst-BMW im Leerlauf brummen. Er hauchte Wärme in die Hände und tippte ins Smartphone. Doro Schiller, die Psychologin des Landeskriminalamtes, meldete sich. Ihre Stimme klang ernst, leicht quengelig.

»Renko. Alles okay?«

»Nein. Es gibt ein Problem mit Josef.«

Er schilderte ihr kurz die Situation am Tatort und schloss mit dem Verdacht, dass Josef das Opfer womöglich gekannt haben könnte.

»Habt ihr darüber geredet?«, fragte Doro.

»Nein. Es ist nur so ein Gefühl. Ich dachte sofort an diese München-Sache.«

»Ich weiß. Die Polizisten, die sich während der Dienstzeit im Bordell vergnügten, den Besitzer über Razzien informierten und in den Handel mit osteuropäischen Mädchen einstiegen.«

»Genau. Fellner ist deswegen super sensibel. Nicht gut für Josef.« Renko hielt inne. Er wäre im letzten Sommer nach der Pensionierung des alten Köster gern Teamleiter im Morddezernat geworden, aber der Posten war an Josef Hadersucht gegangen. In Renkos Augen eine Fehlentscheidung, die korrigiert werden musste. Aber es durfte nicht so aussehen, als würde er dies aktiv betreiben. Doro Schiller unterbrach seine Gedanken. »Kannst du ihn vorbeischicken?«

»Schwierig. Du kennst ihn.«

»Und du kennst die Vorschriften.«

Renko atmete tief durch. »Wir reden hier über meinen Chef, okay?«

»Warum rufst du mich an, wenn ihr das unter euch regeln wollt?«

Renko Horstmann seufzte. »Weil ich die Vorschriften kenne?«

»Gut«, brach Doro das Schweigen. »Ich werde das klären. Wenn Josef zu Prostituierten geht, sieht das bei einem Polizeibeamten zwar niemand gern, aber letztlich ist es seine Privatsache. Etwas anderes ist, wenn er eine Beziehung zum Mordopfer hatte und dann bei der Ermittlung keine investigative Distanz mehr aufbringen kann. In diesem Fall würde ich Fellner vorschlagen, ihn von der Leitung des Falls zu entbinden.«

Renkos Herz schlug höher, gleichzeitig bekam er etwas Muffensausen. »Das muss vorerst unter uns bleiben, Doro. Das ist zunächst nur eine Vermutung. Josef und Milieukontakte, das passt nicht.«

»Werden wir dann sehen. Mach’s gut.«

Renko steckte das Handy weg und verfluchte sich sogleich. Dass Doro Schiller mal hinter Josef her gewesen war, galt auf dem Revier als offenes Geheimnis. Die Trennung von Gabriele hatte die Psychologin als günstige Gelegenheit erkannt, Josef mit Avancen zu überhäufen, die er charmant, aber deutlich zurückgewiesen hatte. Seitdem sann Doro auf Rache. Die Möglichkeit dazu hatte ihr Renko jetzt verschafft.

10.00 Uhr. Barcelona

Die Seilwinden wimmerten, der Diesel qualmte. Für Jesus Santos hielt der Blick aus dem Fenster an diesem kühlen Morgen Ungemach bereit. Vor der Zentrale der Lokalpolizei Mossos d’Esquadra waren Abschleppwagen im Einsatz, die die von Demonstranten demolierten Einsatzwagen der paramilitärischen Einheit Guardia Civil zur städtischen Vertragswerkstatt brachten. Als Delegierter war Santos der Regierung in Madrid gegenüber dafür verantwortlich, dass es in Barcelona ruhig blieb. Davon konnte derzeit keine Rede sein. Täglich demonstrierten mehr Menschen auf den Straßen, was in den Kreisen der Macht zu wachsendem Unbehagen führte. Mit Wehmut dachte Santos an die Franco-Zeit zurück. Damals hatte man mit den katalanischen Chaoten wenig Federlesen gemacht. Santos riss sich vom Anblick der Fahrzeuge los, setzte sich wieder hinter seinen ausladenden Schreibtisch. Er trug eine elegante schwarze Hose, ein violettes Hemd und eine gepunktete Krawatte. Die Anzugjacke hing über dem Bürostuhl. Er klappte den Anzugschrank auf, drehte sich auf dem Stuhl zum Innenspiegel hin und kämmte sein gegeltes Haar zurück. Dann übte er sein Zahnpastalächeln, was ihm immer gegen Nervosität half. Eine gewisse Anspannung hatte ihm den Morgen vergällt, seit seine Sekretärin ihm den Anruf der Zentrale für halb eins angekündigt hatte. Die Zentrale aus Madrid rief stets anonym an, es bestand die Gefahr, einen Spinner am Apparat zu haben, der irgendeine Beschwerde loswerden wollte. Es kam auf die Absprache eines exakten Zeitpunkts an, an dem Santos bedenkenlos den Hörer abnehmen konnte. Es klingelte auf die Minute genau. Der Anrufer sprach hohl wie durch eine Pipeline, es knackte und hallte. »López hier.«

»Hier Santos. Viva la Patria.«

Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen. Im Hintergrund Getuschel. López sprach schnell, Jesus Santos hörte angestrengt zu, bevor er antwortete: »Gut. Wird erledigt. Noch heute. Sofort.«

López dankte und legte auf. Santos starrte eine Weile aufs Telefon. Dann begann er, seine Stiftebox, den Mini-Ventilator und den Locher auf dem Schreibtisch gerade zu rücken, als ließen sich so die Dinge draußen in Ordnung bringen. Sein Blick fiel auf das Ölgemälde an der Wand. Das Valle de los Caídos. Das Tal der Gefallenen mit dem hoch aufragenden Kreuz. Hier, im tiefsten Inneren einer enormen Krypta, lag Francisco Franco begraben. Der höchste Ausdruck von Patria. Er liebte den Anblick. Diese verdammten Linken. Wollten den Leichnam des Generalissimo exhumieren lassen. Wenn Santos daran dachte, kam ihm die Galle hoch. Seine Sekretärin Cindy steckte ihren Blondschopf in den Türrahmen und kündigte einen uniformierten Besucher an. Santos seufzte. Eloy Vargas. Er hatte seine Karriere bei den Mossos nach Kräften gefördert. Der Mann war auf Linie, keine Frage. Andererseits war Eloy das Musterexemplar eines anstrengenden Menschen. Ein beflissener Kofferträger, der allen auf die Nerven ging. Eloy salutierte, nahm erst nach Aufforderung Platz. Die Gelegenheit, jemanden zusammenzufalten, ließ sich Santos selten entgehen. »Lass mich gleich vorausschicken, Eloy, dass ich unzufrieden bin.«

Der Gast zuckte zusammen. »Ganz gleich, was es ist, ich werde das geraderücken.«

»Ja, das sagen alle. Und bei mir stapeln sich die Rechnungen. Jede weitere Demonstration kostet uns eine fünfstellige Summe.«

»Uns?«

»Ja, uns. Unseren Staat. Das ist es nämlich. Die da draußen wollen einen anderen Staat, eine Republik. Deswegen haben sie keinen Respekt.« Eloy wollte etwas entgegnen, aber Santos schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab. »Jetzt komm mir nicht mit Demonstrationsrecht. Ich will dieses Pack nicht auf der Straße sehen. Holt endlich mal die Knüppel raus.«

»Wird erledigt, Commandante.«

»Nenn mich nicht so. Ich bin nicht Tejero.«

»Tejero?«

»Oberstleutnant Antonio Tejero war der Verantwortliche für den Putsch vom 23. Februar 1981. Der letzte Mann, der die Diktatur verteidigt hat. Du Dummkopf!«

»Der ist doch gescheitert, oder?«

»Leider. Ist sonst noch was?«

Eloy begann zaghaft. »Ja. Eine Personalie.«

»Muy bien. Ein Name wäre nützlich.« Santos liebte es, ein Ekel zu sein.

»Lucia Costa.«

»Was ist mit der? Wo wir uns doch alle Mühe gegeben hatten, dieses eigensinnige Weibsstück loszuwerden.«

»Sie fängt wieder bei uns an.«

»Warte mal. War die nicht traumatisiert wegen dieses Serienmörders? Wie hieß der gleich?«

»Fresco!«

»Ich kann mich gut erinnern. Aber ist ja prima, wenn sie wieder mitmacht. Dann können wir uns an ihrer geschmeidigen Art erfreuen und schauen, ob sie sich diesmal wehrt, wenn ihr einer von den Jungs auf die Titten starrt.«

Eloys Mundwinkel zuckten. »Ich verstehe, dass Sie an so was Ihre Freude haben. Aber diese linksgestrickte Lucia sympathisiert doch insgeheim mit den Separatisten und Podemos.«

Santos seufzte. »Wer hat sie denn zurückgeholt? Etwa Ortega?«

Eloy nickte. »Er ist personalverantwortlich. Genauso eigensinnig. Da kann ich nichts machen.«

»Geduld, mein Freund. Schau ihr auf die Finger und liefere mir etwas Handfestes. Mach einen auf Kumpel. Wird dir bei deinem Naturell doch nicht schwerfallen, oder?«

Eloy Vargas versuchte sich an einem Lächeln. Es missriet ihm, es wirkte wie das ertappte Grinsen eines Kindes, das man beim Klauen erwischt hat.

»Dann schauen wir mal, wie lange uns die Kleine mit den großen Gefühlen hier auf die Nerven geht.«

01.15 Uhr. Barcelona

Der war es, dachte Lucia Costa. Verdammt gut gelaunt, seine Unverschämtheit strömte aus allen Poren. Ein Kerl in ärmelloser Lederweste. Seine japanischen Tätowierungen zur Schau stellend sah der Typ von seinem Drink auf. Für einen Moment. Sie erwiderte den Blick ebenso kurz, tanzte weiter zu den Elektrobeats, in die sie eingetaucht war. Sie trug wenig am Leib, kaum mehr als ein wärmendes Jäckchen über dem Top. Die zwei Tequilas, die sie intus hatte, legten ihr einen Kontrollverlust nahe. Es war das erste Mal seit Langem, dass sie Lust verspürt hatte, in Barcelona allein auszugehen. Bis vor nicht allzu langer Zeit lief ihr Körper komplett auf Notstrom. Im Überlebensmodus. Ein vergessen geglaubter Anteil ihrer Persönlichkeit forderte nun sein Recht ein. Alles änderte sich, alles war in Bewegung, dachte sie sich. Ja, das Jamboree war ein wüster Abschleppladen. Hier blieb niemand lange allein. Das galt für beide Geschlechter. Lucia wollte was erleben, deshalb der Mini und die High Heels. Im Alltag war sie eher sportlich dezent gekleidet, aber in Jeans und Converse hätte sie der Türsteher im Tanzclub am Plaza Reial ausgelacht, und sie wollte um keinen Preis riskieren, weggeschickt zu werden. Der Laden machte mit Samtvorhängen, Holztischchen und Kandelabern auf den Chic der Dreißigerjahre. Lucia hatte beim Betreten den Arbeitstag gedanklich passieren lassen, sie war wieder gut in den Job reingekommen. Miguel Ortega, ihr alter und neuer Chef, war froh über ihre Rückkehr. Im Gegensatz zu diesem Emporkömmling Vargas. Bei dem würde sie vorsichtig sein müssen. Entweder er fürchtete um seinen Posten oder er hatte eine Abneigung gegen sie als Frau in leitender Position. Sei’s drum. Sie brauchte Party. Beat. Rhythmus.

Sex. Wie ferngesteuert bewegte sie sich auf der Tanzfläche, spürte Berührungen an Hautstellen, die sich nach mehr sehnten als dem glatten Stahl einer Rasierklinge. Sie hätte eine ihrer Freundinnen anrufen können, zum Reden, aber dafür blieb an einem anderen Tag genug Zeit. Nach langer Phase der Trauer um ein Kind, das nie das Licht der Welt erblicken durfte, sehnte sie sich nach dem, was ein Mann ihr geben konnte. Ihr Innerstes wollte Hitze statt Kälte, wünschte sich schmachtende Blicke.

Der Typ an der Bar musterte sie. Er bewegte sich genau richtig. Wenn er jetzt nichts falsch machte, dachte Lucia, dann hatte er sie. Der Gedanke war ihr peinlich, doch der Typ war scharf. Er hatte etwas Überlegenes an sich, sie taufte ihn deshalb den Don. Aber jetzt durfte Don mal in die Gänge kommen. So hoch war die Hürde nicht. Ihre Blicke trafen sich erneut. Zum vierten oder fünften Mal. Sie fühlte sich schön und sicher. Nicht jeder traute sich, eine wie sie anzusprechen. Aber den Anfang musste er schon machen. So wollten es die ungeschriebenen Gesetze der Nacht. Ihre Blicke, im richtige Moment verteilt, würden ausreichen. Lucia tanzte am Rande der Menschentraube in Sichtweite, Don redete mit Kumpels, er war der Lauteste an der Bar, alle schienen ihn zu mögen. Eine Tusse mit wildem Haar und Vuitton-Täschchen näherte sich Lucias Zielobjekt, lachte ihn offensiv an. Das reichte jetzt. So machte der Beat keinen Spaß. Lucia hörte auf zu tanzen und kam zur Bar, stellte sich direkt neben die Konkurrentin und winkte dem Barkeeper. Die Tequilas hatten sie mutig gemacht. Don bemerkte es, und da war sie, die Einladung zum Drink. Das säuerliche Gesicht der anderen war köstlicher als jeder Campari Orange. Lucia hatte ihn an der Angel, diesen Don, der in Wahrheit Ricardo hieß. Keine halbe Stunde später hockte sie hinten auf Ricardos Kawasaki. Das Motorrad parkte er in der Carrer del Carme, direkt vor Lucias Wohnung, es war kurz nach zwei Uhr. Er ging vor ihr Treppe hinauf. Währenddessen starrte sie im Licht der Glühbirnen auf seinen Hintern und kicherte dabei vor Vergnügen. Sie schloss auf, ließ ihn hinein. »Bitte schön!«

»Hast du was zu trinken?«

Es klang grob, Lucia machte der herrische Ton nichts aus. Der Don war durstig. Jetzt legte er los, dachte sie, aber wenn er sich nicht benahm, würde er rausfliegen. »Bist du zum Trinken hergekommen?«

Grinsend entledigte er sich der Lederjacke, packte sie bei den Hüften. Welch kitschiger Machismo, klar, aber neu und aufregend, prickelnd. Das pure Leben. Er schob sie zum Tisch, drehte ihren Körper mit energischer Sanftheit um die Achse, zog ihr das Kleid hoch, die Strumpfhose herab, küsste ihren Nacken. »Genau so«, säuselte sie. Er zog sich sofort die enge Jeans herunter und schnaufend ein Kondom über, dann drang er in sie ein. Lucia konnte sich im großen Wandspiegel dabei zusehen, das turnte sie ein wenig an. Er bugsierte sie zum Bett, ließ sie aus seinen mächtigen Armen hinabgleiten. Lucia übernahm den aktiven Part, setzte sich rittlings auf ihn, bewegte ihre Hüfte, bis sie ihn in sich spürte an der Stelle, die ihr behagte. Sie gab ihm eine Ohrfeige, er riss die Augen verwundert auf, unternahm nichts, selbst als sie heftiger zuschlug. Lucia hatte das lange nicht mehr gemacht, sodass sie glaubte, ihre Unsicherheit durch Ruppigkeit ausgleichen zu müssen. Sie wusste nicht, wie ihr Körper reagieren würde, eine endlos lange Zeit war er nicht mit Lust und Verlangen in Verbindung zu bringen gewesen. Sie hatte mit ihm ein Kind getötet, so fühlte es sich an. Ihr Körper brachte die Erfahrung von Leid mit sich, und deswegen bestrafte sie sich selbst mit der Klinge. Es verwunderte sie, dass Liebe und Verbundenheit zu einem Partner nicht notwendig waren und sich die heiße Erregung einstellte, als wäre sie aus einem tausendjährigen Schlaf erweckt worden.

Sie kam mit einem lang gezogenen Schrei, hielt seine beiden Arme dabei fest umklammert, sodass er sich nicht bewegen konnte, was ihn wie ein Kind erstaunte. Sie lachte und weinte gleichzeitig, es war eine ungeheure Woge der Erleichterung, die sie umfasst hielt, und es dauerte so lange, dass sie danach nicht wusste, wohin mit ihrer befreiten Energie. Sie hatte sich von ihm genommen, was sie wollte, sah ihn eine Weile von oben an, dann rollte sie sich zur Seite und an ihn heran, bis sie friedlich wurde. Als er das Bett verließ, sich anzog und beim Hinausgehen die Türe leise schloss, tat sie so, als würde sie schon schlafen.

12.30 Uhr. Barcelona

Durch den Vorhang blickte Ulv Moreno in den klaren Vormittagshimmel. Seine Wohnung lag im dritten Stock eines gepflegten Hochhauses in Santa Coloma de Gramenet, einem Stadtteil am Rande Barcelonas. Seine Behausung in der Carrer de Cristòfol Colom thronte auf einem Hügel. Das Interesse des Ingenieurs galt weniger dem Panorama als dem sich anbahnenden Sexleben des jungen Paares von gegenüber. Gleich war es wieder so weit. Er richtete sein Monokular aus, sein rechtes Auge ruhte auf der Linse. Er drehte sie einige Zentimeter rechts vom Balkon weg, den eine katalanische Flagge zierte, hin zum Fernsehzimmer nebenan. Neuer Blickwinkel, neuer Kick. Der Ingenieur wusste von früheren Observationen, dass die beiden Verliebten es am Abend selten bis ins Bett schafften und sich bereits auf einem Sofa aus Kunstleder liebten. Wenn der Wind günstig stand, konnte er die Lustschreie der beiden sogar hören. Der Gedanke daran ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen. Er führte ein seltsames Leben hier, seit er aus Dänemark in dieses Land gekommen war. Jung und heimatlos, allein gelassen in der Fremde.

Das Schrillen der Türglocke riss ihn aus seiner Beobachtung. Über die Gegensprechanlage öffnete er dem Mann vom Lieferdienst. An der Haustür nahm er die Pizza Tonno entgegen, zahlte und machte es sich auf dem Wohnzimmersofa bequem. Wie Hunderte Male zuvor, schob er das Video »Mondo Cane« von Gualtiero Jacopetti in den Rekorder und spulte vor zu seiner Lieblingsszene. Die mit den Haien. In einem fremden, exotischen Land. Ein Junge aus dem Dorf wurde beim Schwimmen im Meer von einem Hai angegriffen und getötet. Die Fischer machten das Boot los und fuhren aufs Meer hinaus. Als sich der Hai in ihren Köder verbiss, zogen sie ihn mit Enterhaken an der Bootswand hoch, sperrten sein Maul auf und stopften ihm Seeigel hinein. Sie ließen den Hai ins Wasser zurück, beobachteten seine verzweifelten Befreiungsversuche, zogen ihn am Haken hoch und fütterten ihn weiter mit Seeigeln, bis zum Tod. Das zufriedene Grinsen der Fischer verfolgte ihn sogar bis in seine Träume.

Ulv hatte sich oft ergötzt an den brutalen Szenen in »Mondo Cane«. Die Snuff-Sachen aus dem Darknet mochte er nicht, er mochte die Klassiker. Zum Beispiel »Gesichter des Todes« von Conan Le Cilaire, der kam seinem Lieblingsfilm gleich, dieser Film war mit seinen Schlachtungen, Kriegsaufnahmen und Hinrichtungsszenen ebenso brutal. Schon als Junge war der Ingenieur von Todesarten fasziniert gewesen, seit er bei seinem Onkel ein Buch dazu gefunden hatte. Von den Persern, die Menschen mit Honig mästeten und in einem Boot gefesselt in einen Sumpf voller Insekten treiben ließen. Oder von den Chinesen, die Menschen einen Bambusspross in den Anus trieben, der im Körper aufblühte. Aber am faszinierendsten war Kälte. Eiseskälte. Ein lebendes Wesen erfrieren zu lassen. Als Junge hatte er einmal ein Kaninchen in einen Käfig gesteckt und beim Verdursten zugesehen. Ein Höhepunkt war, als er eine Katze in einen Eisschrank im Keller seines Onkels gesperrt hatte, sie hatte gezappelt und gekreischt, war gegen den Deckel gesprungen, bevor sie erfroren war.

Doch was war das alles gegen den Tod eines echten Menschen? Seit Jahren suchte ihn dieser Gedanke heim. Wie erregend, wie berauschend war die Erfahrung, einem anderen alles, sein Leben, zu nehmen. Es war vier Jahre her, dass er Onkel Gilbert getötet hatte. Er hatte ihn in den Keller gelockt unter dem Vorwand, ihm unbedingt etwas zeigen zu wollen. Stattdessen hatte Ulv Moreno seinen Onkel in die Tiefkühltruhe gestoßen. Sie lief auf vollen Touren, während Onkel Gilbert darin strampelte und sich mit aller Kraft wehrte, bis ihm diese ausging. Er trommelte länger als gedacht voller Verzweiflung und Drohungen ausstoßend gegen den Deckel, den Ulv abgeschlossen hatte.

Der Onkel kam aus dieser Truhe niemals mehr heraus. Bis heute lag er darin, Ulv rührte sie nicht mehr an. Er hatte gewusst, dass er es Gilbert nur heimzahlen konnte, wenn er alt und stark genug war. »Entweder ich unterwerfe mich der Angst, oder ich beute diese Angst aus und unterwerfe andere«, war sein Mantra in dieser Zeit gewesen.