11,99 €
The first time you fall in love, it changes you forever. Für immer. Ava steht kurz vor dem Highschoolabschluss und dennoch weiß sie schon jetzt, wie ihr Leben für immer aussehen wird. Aufopferungsvoll kümmert sie sich um ihre schwer traumatisierte Mutter. Und niemals würde Ava sie allein lassen. Als sie Connor begegnet, ist er der Erste, der sich nicht von Avas Schutzmauern einschüchtern lässt. Mit jeder Berührung zeigt er ihr, dass sie sich bei ihm fallen lassen kann. Doch Ava weiß, dass Connors "Für-Immer" nicht mit ihrem zu vereinen ist. Der "First & Forever"-Zweiteiler (beide Bände erscheinen zeitgleich!): First & Forever, Band 1: Be My First First & Forever, Band 2: Be My Forever Intensiv. Berührend. Sexy.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
TRIGGERWARNUNG:
Dieses Buch enthält Themen, die potenziell triggern können.
Deshalb findet ihr auf hier einen Hinweis zum Inhalt.
ACHTUNG: Dieser enthält Spoiler für die gesamte Handlung.
Deutsche Erstausgabe
Als Ravensburger E-Book erschienen 2023
Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg
© 2023 Ravensburger Verlag GmbH
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2019 unter dem Titel »Heartache & Hope«.
Copyright © 2019 by Jay McLean
Editor: Tricia Harden (Emerald Eyes Editing)
Published by arrangement with Trident Media Group LLC.
Umschlaggestaltung unter Verwendung von Motiven von Shutterstock: © tomertu und © Ensuper
Übersetzung: Tamara Reisinger/www.tamara-reisinger.de
Lektorat: Nina Schnackenbeck
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-473-51168-6
ravensburger.com
Für Jordan McLean
Im einen Moment bist du noch auf deiner ersten Lagerfeuerparty, trinkst dein erstes Bier. Du trägst den Hoodie des Jungen, in den du seit Monaten verknallt bist. Er legt seinen Arm um deine Hüfte, zieht dich näher an sich. Er senkt den Kopf und flüstert ganz nah an deinem Ohr: »Du bist wunderschön, Ava.«
Heute ist dein fünfzehnter Geburtstag, und die Welt liegt dir zu Füßen. Du starrst in das Feuer vor dir, beobachtest die lodernden Flammen, die Funken, die immer wieder neu aufsteigen … und du denkst dir: Das ist das Leben.
Dein Handy klingelt. Du ziehst es aus der Tasche, liest den Namen deines Stiefvaters auf dem Display, drückst den Anruf weg und steckst das Telefon wieder ein.
Der Junge küsst deinen Nacken, du trinkst einen weiteren Schluck Bier. Dann schließt du die Augen, während du die sanfte Berührung seiner Lippen an deiner Haut genießt.
Dein Handy klingelt erneut.
Doch du ignorierst es jedes Mal.
Irgendwann macht ihr es euch auf der Ladefläche des Pick-ups gemütlich, deine Hände graben sich in seine Haare, seine liegen schwer auf deinen Brüsten – und du fühlst dich so sehr zu diesem Jungen hingezogen, dass du diesen Moment, dieses Leben in vollen Zügen genießen willst.
Dieses Leben.
Dieses perfekte Leben.
Es ist drei Uhr morgens, als du zur Haustür reinstolperst, vollkommen betrunken. Dein Stiefvater sitzt gekrümmt auf dem Sofa, eine einzelne kleine Lampe taucht das Wohnzimmer in ein schwaches Licht voller Schatten.
»Ich hab dich angerufen«, sagt er, aber du bist so neben der Spur, dass es dir egal ist. »Es geht um deine Mutter.«
Einen Tag nach deinem fünfzehnten Geburtstag sitzt du mit deinem Stiefvater in demselben Wohnzimmer, in dem er die ganze Nacht auf dich gewartet hat. Die Nacht ist inzwischen zum Tag geworden, doch im Gegensatz zu ihm schaust du nicht zur Tür. Nein. Du starrst auf dein Handy.
Und wartest.
Zwei Tage nach deinem fünfzehnten Geburtstag kommt der Anruf. Weder du noch dein Stiefvater haben in den letzten Stunden ein Auge zugetan. Dein Stiefbruder ist auf dem Weg von Texas nach Hause, und du fängst wieder an, deine Hände zu kneten.
Und du wartest.
Drei Tage nach deinem fünfzehnten Geburtstag erfährst du, dass es um deine Mutter so schlimm steht, dass sie sie nicht wie geplant nach Deutschland, sondern direkt nach Hause bringen. Zu dir. Zu ihrer Familie.
Vier Tage nach deinem fünfzehnten Geburtstag kommt dein Stiefbruder heim. Du suchst bei ihm nach Mut, findest sie in seinen Augen, in seinen Händen, mit denen er deine festhält, während ihr nichts weiter tun könnt, als zu warten.
Fünf Tage nach deinem fünfzehnten Geburtstag fliegst du nach Washington D.C. Du siehst deine Mutter zum ersten Mal seit fünf Monaten. »Sei vorsichtig.« Das waren die letzten Worte, die sie zu dir gesagt hat. Sie hat dich angelächelt, wie Mütter es immer tun, wenn sie ihre Kinder beruhigen wollen, und du hast den Schmerz und die Angst hinuntergeschluckt, Schwäche durch Mut ersetzt und ihr Lächeln erwidert.
Sechs Tage nach deinem fünfzehnten Geburtstag suchst du nach genau diesem Lächeln in ihrem Gesicht, während du an ihrem Krankenhausbett sitzt. Aber du findest es nicht. Kannst es auch gar nicht finden, weil die Hälfte ihres Gesichts fehlt. Die Hälfte ihres Arms ebenfalls.
Eine Granate, haben sie gesagt.
Sieben Tage nach deinem fünfzehnten Geburtstag sagst du dir: Das ist das Leben. Und es hat nur sieben Tage gedauert, bis dir klar geworden ist, dass es ganz und gar nicht perfekt ist.
LeBron James war in seiner Kindheit bettelarm gewesen, hatte eine alleinerziehende Mutter und null Beziehungen gehabt. Seine Highschool war komplett unbekannt gewesen, bevor er und seine drei Freunde aufgetaucht waren und die Basketballliga aufgemischt hatten. Mit achtzehn, in seinem Abschlussjahr, wurde er direkt von den Cleveland Cavaliers unter Vertrag genommen und wechselte zur NBA. Sie zahlten ihm 18,8 Millionen Dollar für vier Jahre. Selbst Nike bot ihm einen Werbevertrag über mehr als 100 Millionen Dollar. Und das alles, bevor er auch nur ein NBA-Spiel gespielt hatte.
Er hat im wahrsten Sinne des Wortes das Spiel – und sein Leben – herumgerissen.
Natürlich bin ich nicht wie LeBron James.
Niemand ist das.
Abgesehen davon, dass wir beide nur von einem Elternteil großgezogen wurden, haben wir nicht viel gemeinsam. Mich selbst mit LeBron zu vergleichen, wäre, als würde ich meinen Träumen hinterherjagen.
Außerdem musste LeBron nicht in seinem Abschlussjahr die Schule wechseln, um auch nur den Hauch einer Chance zu haben, von irgendwelchen Scouts entdeckt zu werden.
Ich laufe bereits zum gefühlt tausendsten Mal die Auffahrt runter, jeder Zentimeter meiner Haut ist mit Schweiß bedeckt, und ich versuche, die Müdigkeit wegzublinzeln. Wir sind die ganze Nacht durchgefahren. Dad steht am Ende des gemieteten Umzugswagens und stellt den letzten Karton, den wir noch in den Lkw gestopft bekommen haben, auf den Boden. Bleiben nur noch die ganzen Möbel. Das wird ein Spaß.
»Wohin soll der?«, frage ich, nachdem ich einen großen, schweren Karton hochgehoben habe.
»Was steht drauf?« Dad ringt nach Atem. Er hat mehr zu kämpfen als ich.
Ich werfe einen Blick auf den Karton, auf das »Irgendwohin« in Dads Handschrift, und verdrehe die Augen. »Hier steht ›Irgendwohin‹.«
Dad lacht. »Das muss gewesen sein, als ich langsam den Verstand verloren habe. Wenn nur jemand da gewesen wäre, um mir zu helfen …«
Ich zucke mit den Schultern. »Ich hatte keine Zeit.« Besser gesagt, keine Lust.
»Stell ihn einfach ins Wohnzimmer. Wir sehen die Kartons dann später gemeinsam durch, aber ich muss jetzt los.«
»Wohin?« Ich bleibe auf halbem Weg zur Tür stehen und schaue erst zum Umzugswagen, dann zu Dad und wieder zum Umzugswagen. »Und wer hilft mir dabei, die Möbel auszuladen?«
»Fang erst mal mit den kleineren Sachen an. Ich bin in ein paar Stunden zurück.«
»Ein paar Stunden?« Ich stelle den Karton ab und wische mir mit dem Saum des T-Shirts den Schweiß aus den Augen, bevor ich mich nach einem Gartenschlauch umsehe, mit dem ich mich ertränken kann. Aber vermutlich brauche ich dafür nicht mal Wasser. Mein Selbstmitleid würde reichen. Davon habe ich schließlich mehr als genug.
Ich beobachte meinen Dad, der an mir vorbeiläuft und dann versucht, mit dem Fuß die Haustür zu öffnen, während er zwei schwere Kartons auf einmal trägt. Shit. Ich muss mich zusammenreißen und aufhören, mich ständig zu beschweren. Er hat weitaus mehr aufgegeben als ich. Davon abgesehen ist er nur meinetwegen hier. Aus keinem anderen Grund. Schnell laufe ich zu ihm und halte ihm die Tür auf.
»Mach dir keine Sorgen, Paps. Lass dir ruhig Zeit, ich schaff das schon«, sage ich und zwinge mich zu einem Lächeln.
»Überanstrenge dich nicht, Connor. Nur die kleineren Sachen.«
Nachdem Dad weg ist, versuche ich als Erstes, das Dreisitzersofa allein aus dem Wagen zu heben. Warum? Weil ich manchmal dumm bin und nicht gern auf andere höre.
»Hey, brauchst du Hilfe?«, fragt plötzlich ein Typ hinter mir und greift schnell nach dem anderen Ende des Sofas, damit es nicht von der Kante der Ladefläche rutscht. »Dachtest du ernsthaft, du könntest das allein tragen?«
Seine Worte hätten mich wütend gemacht, wenn er dabei nicht gelacht hätte. Außerdem ist der Typ riesig. Er könnte glatt Shaqs verlorener Sohn sein – wenn Shaq einen Sohn hätte. Daher ist es wahrscheinlich besser, mich nicht direkt mit ihm anzulegen.
»Anscheinend«, murmle ich.
Zusammen schaffen wir es, das Monstrum in wenigen Sekunden ins Wohnzimmer zu tragen.
»Hey, Mann. Danke«, sage ich und stoße meine Faust gegen seine, während wir das Haus wieder verlassen.
»Kein Ding.«
Eigentlich erwarte ich, dass er geht, dahin zurück, wo er so plötzlich hergekommen ist, aber er läuft einfach zurück zum Umzugswagen, klettert rein und kommt mit einer Matratze zum Vorschein.
»Mann, ehrlich, du musst mir nicht helfen.«
»Ich hab nichts weiter vor.« Er springt runter und hebt die Matratze auf seine Schulter, als würde sie nichts wiegen.
»Ich kann dir aber nichts dafür zahlen oder so.«
Er schüttelt den Kopf. »Mann, hör auf.« Dann deutet er auf den Rest unserer Sachen im Wagen. »Aber ich mach das hier nicht allein.«
»Schon klar.«
Eine Stunde später ist der Umzugswagen leer. Ich bin vollkommen schweißgetränkt. Genau wie Trevor – nach dessen Namen ich erst vor einer Minute gefragt habe.
»Ich würde dir ja was zu trinken anbieten«, sage ich, während ich die Tür des Umzugswagens schließe, »aber wir haben nicht wirklich was da.«
Er schaut nachdenklich zu unserem Haus. »Habt ihr ’ne Klimaanlage?«
Ich nicke. »Ich denke schon.«
»Okay«, sagt er und klopft mir auf den Arm. »Dann mach sie an. Bin gleich wieder da.«
Kurz darauf läuft die Klimaanlage im Wohnzimmer, und Trevor kommt mit zwei Flaschen Bier zurück, von denen er mir eine in die Hand drückt. Ich nehme sie, ohne nachzudenken, und leere die halbe Flasche in einem Zug, während er es sich auf dem Sofa bequem macht und die Füße auf den »Irgendwohin«-Karton legt. »Ich wohn übrigens nebenan.«
Ich setze mich auf den Schreibtischstuhl ihm gegenüber. »Hab ich mir schon gedacht. Ich kann dir gar nicht genug danken, Mann. Mein Dad musste weg, du bist also genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen. Oder zum falschen, je nachdem.«
Er lacht. »Ich hätte dir meine Hilfe nicht angeboten, wenn ich nicht hätte helfen wollen«, sagt er mit tiefer Stimme.
»Okay, danke. Noch mal.«
Er prostet mir mit seiner Bierflasche zu und sieht sich im Raum um. »Du lebst also mit deinen Eltern hier?«
»Nur mit meinem Dad.«
»Ist er das? Der Kerl, der gerade die Verandatreppe hochläuft?«
Ich schaue aus dem Fenster hinter mir, und tatsächlich … Zu spät fällt mir ein, dass ich immer noch die Bierflasche in der Hand halte. Dummerweise ist es das Erste, was Dad sieht, als er ins Haus kommt.
Das Zweite ist Trevor.
»Das ist Trevor«, sage ich an Dad gewandt und versuche, die Flasche einfach zu übergehen. »Er wohnt nebenan.«
Dad räuspert sich und nimmt mir das Bier aus der Hand. »Freut mich, dich kennenzulernen, Trevor. Ich nehme an, mein Sohn hat vergessen zu erwähnen, dass er noch minderjährig ist.«
»Oh, sorry. Meine Schuld.« Trevor steht auf, um Dad die Hand zu schütteln. »Um ehrlich zu sein, hab ich auch nicht gefragt.«
Dad nickt nur und nimmt einen großen Schluck von meinem Bier. »Du hast ihm geholfen, die Möbel reinzutragen?«
»Ja, Sir.«
Als Dad wortlos seinen Geldbeutel hervorholt, zucke ich leicht zusammen. Innerlich winde ich mich allerdings noch viel mehr.
Dad zieht einen Zwanzigdollarschein heraus, doch Trevor steckt nur demonstrativ die Hände in die Taschen und schüttelt den Kopf. »Das ist gut gemeint, Sir. Aber ich hab bloß gesehen, wie Ihr Sohn mehr heben wollte, als wir alle zusammen wiegen. Und ich wollte nicht, dass er sich verletzt, wissen Sie?«
»Nun gut, danke. Ich weiß das sehr zu schätzen.«
Trevor mustert mich neugierig. »Minderjährig?«
Mein Gesicht wird vor Verlegenheit ganz rot, also nicke ich nur.
»Highschool?«
»Jap.«
»West High?«
»Nope. St. Luke’s Academy.«
Trevor hebt überrascht die Augenbrauen. »Ach? Das war früher auch mal mein Revier.« Er sieht sich in dem kleinen Drei-Zimmer-Küche-Bad-Farbe-blättert-von-den-Wänden-Mietshaus um, sieht unser Zeug, das überall herumsteht. Einen kurzen Moment lang bleibt sein Blick an einem gerahmten Larry-Bird-Trikot hängen, dann dreht er sich mit einem Grinsen wieder zu mir. »Lass mich raten. Basketballstipendium?«
»Yeah«, sagen Dad und ich gleichzeitig, und Dad fügt hinzu: »Spielst du auch?«
Trevor blickt auf seine Füße hinunter. »Football. Also, ich hab mal gespielt. Momentan nicht mehr.«
»Du gehst aufs College?«, fragt Dad, während ich mir auf die Zunge beiße, um nicht mit »OmeinGott, Dad. Hör auf, du bist so peinlich!« oder so rauszuplatzen.
»Nö. Ich arbeite Vollzeit. Hab meine eigene Firma«, erklärt Trevor, zieht eine Visitenkarte aus seinem Geldbeutel und gibt sie Dad. »Elektriker. Wenn Sie etwas brauchen, meine Nummer steht drauf.«
»Gut zu wissen.«
Trevor lächelt uns beide an. »War echt nett, aber ich muss los. Ich hoffe, ihr lebt euch gut ein.«
»Hey, danke noch mal«, sage ich, während Dad nickt und dann hinzufügt: »Bist du sicher, dass du kein …?«
Trevor, der bereits auf halbem Weg zur Tür ist, hebt nur abwehrend die Hand. »Nicht nötig.«
»Okay, aber wenn du kein Geld nehmen willst, dann komm doch einfach in den nächsten Tag mal vorbei. Dann werfe ich uns ein paar Steaks auf den Grill.«
Trevor bleibt stehen, die Hand bereits an der Türklinke. Als er sich umdreht, grinst er übers ganze Gesicht. »Also, das Angebot kann ich nicht ausschlagen.« Er nickt noch mal zum Abschied, bevor er das Haus verlässt.
Dad wartet, bis Trevors Schritte auf der Veranda verklingen und er außer Hörweite ist, bevor er sagt: »Netter Kerl.«
»Yeah.«
»Gutes Bier.«
Ich presse die Lippen zusammen, doch Dad lacht nur.
»Kommst du mit?«
»Wohin?«
Ohne meine Frage zu beantworten, stellt Dad die leere Bierflasche auf eine Kiste mit der Aufschrift »Spross« und geht nach draußen.
Ich folge ihm zu einem Haufen Metall auf vier Rädern.
»Also?«, fragt Dad und schaut mich abwartend an. Dann erscheint auf seinem übermüdeten, überarbeiteten und von den alltäglichen Problemen gezeichneten Gesicht ein breites Grinsen. Ein leichtes Zucken meiner Mundwinkel, der Ansatz eines Lächelns reicht dazu vollkommen aus.
»Gefällt es dir?«
Das ist eindeutig die falsche Frage. Denn mal ehrlich, ob es mir gefällt? Nein. Das Auto ist nicht mehr als ein verbeulter Haufen Scheiße. Reif für die Schrottpresse. Es sieht aus, als hätte es jemand komplett zerlegt, dann wieder zusammengebaut, nur um es dann noch mal komplett zu zerlegen. Rost zieht sich fast über das gesamte Dach des Zweitürers. Die Griffe wurden – so wie es aussieht – durch Kleiderhaken ersetzt. Die Heckscheibe … Nun ja, es gibt keine. Nur eine schwarze Plastikplane. Also … Ob es mir gefällt? Scheiße, nein. Ob ich mich darüber freue? Auf jeden Fall.
»Ist das dein Ernst, Dad?« Mein Grinsen ist inzwischen genauso breit wie seins. »Das wäre nicht nötig gewesen. Ich meine, du hättest es nicht tun müssen. Es ist schon schwer genug mit dem Umzug, und …«
»Connor«, unterbricht er mich mit erhobener Hand, mit der anderen streicht er über die verstaubte Motorhaube. »Es ist mein Job, mir darüber Gedanken zu machen, was zu schwer ist und was nicht.« Er atmet tief ein, sodass sich seine Schultern heben, während er sich auf die Spur konzentriert, die er gerade in den Staub gemalt hat.
Als sich unsere Blicke wieder treffen, kann ich die Erschöpfung in seinen Augen sehen. Er ist völlig ausgelaugt, fix und fertig. Er versucht zwar, es zu verbergen, indem er das Lächeln von eben wieder aufsetzt, aber ich merke, dass es nachlässt, langsam, aber sicher.
Ich inspiziere das Auto genauer. Oder tu zumindest so, denn meine Gedanken sind ganz woanders. Sie drehen sich um ein und dasselbe Ereignis, führen mir alle möglichen Szenarien, die meine Zukunft für mich bereithalten könnte, vor Augen. Und nicht mal meine gesamte Zukunft, sondern nur den morgigen Tag.
Am ersten Tag des Abschlussjahres sind alle etwas nervös, aber wenn man als neuer Mitschüler – noch dazu nur dank eines Stipendiums – an eine Schule voller reicher Kids kommt, die vermutlich schon von Weitem riechen können, dass ich weniger Geld habe als sie? O ja, morgen wird ein schlimmer Tag. Und wenn ich dann auch noch mit diesem Auto aufkreuze? Das wird die Hölle … Aber das werde ich Dad auf keinen Fall erzählen. Und auch sonst niemandem. Allerdings habe ich, wenn ich ehrlich bin, auch niemanden außer Dad. Zwischen Tallahassee, Florida, und Shemeld, North Carolina, liegen 598 Meilen. Auf der Landkarte zumindest. Aber für meine sogenannten Freunde und Teamkollegen zu Hause ist es, als wäre ich auf den Mars gezogen. Ab dem Moment, in dem sich die ersten Gerüchte herumgesprochen hatten, dass ich wegziehen würde, um meine Träume besser verwirklichen zu können, habe ich auch keine Einladungen und Anrufe mehr bekommen. In der einen Sekunde war ich noch der Held des Teams und in der nächsten wurde ich zugespamt mit »Fick dich, du Verräter«-Nachrichten.
In was für einer Zeit wir doch leben.
Ich greife nach dem improvisierten Türgriff und ziehe daran. Als Metall über Metall schabt, verziehe ich schmerzhaft das Gesicht.
»Das wird schon wieder. Ich glaube nicht, dass es in letzter Zeit viel gefahren wurde«, sagt Dad und tritt leicht gegen den Reifen. Die Radkappe löst sich und fällt auf den Boden, wo sie sich noch kurz weiterdreht. Immer im Kreis.
Während ich die Drehungen verfolge, spüre ich, wie ein Lachen in meiner Brust aufsteigt. Ich presse die Lippen aufeinander, versuche, es zurückzuhalten, da ich Dad auf keinen Fall enttäuschen will.
Doch in dem Moment fängt Dad selbst an zu lachen. Erst ist es leise, tief in seiner Brust, aber bereits einen Moment später bricht es vollends aus ihm heraus, ein dröhnendes Lachen, das so ansteckend ist, dass ich auch lospruste.
»Verdammt, das ist wirklich eine Schrottkarre«, murmelt er, nachdem er sich halbwegs gefasst hat.
»Ist es nicht«, versichere ich ihm. Doch, ist es.
»Na ja, so hast du wenigstens eine Möglichkeit, rechtzeitig zur Schule und zu den Spielen zu kommen. Es geht schließlich nur darum, das Ziel zu erreichen, richtig?«
Ich nicke. Das »Ziel« ist in diesem Fall der Plan für meine Zukunft – und die St. Luke’s Academy ist nur der erste Schritt dorthin. Mein Agent Ross hat den Umzug vorgeschlagen, und Dad und ich haben uns schon früh darauf geeinigt, dass das, was Ross sagt, auch gemacht wird – und Ross sagt: »Trust the process« – Vertrau auf den Weg.
Also vertraue ich darauf.
Ross hat daraufhin alles für den Umzug organisiert. Alles, was ich tun muss, ist, zur Schule zu gehen, Basketball zu spielen und meinen Notendurchschnitt zu halten – dann wird Ross dafür sorgen, dass ich ein Stipendium an einem der besten D-1-Colleges bekomme.
Vier Jahre.
Collegeabschluss.
NBA.
Das Ziel: NBA-Finale.
Ross ist kein großer Fan von dem Collegepart des Plans, aber Dad will, dass ich einen Abschluss habe. Und wenn ich ehrlich bin, ich auch. Ein Profisportler kann seine Fitness nur für eine gewisse Zeit aufrecht erhalten. Davon abgesehen, eine größere Verletzung kann den ganzen Plan ruinieren – und was dann?
Ich fange den Schlüssel auf, den Dad mir zuwirft.
»Du musst mich zu meinem Wagen fahren.«
»Was? Machst du dir denn gar keine Sorgen, dass dein Image darunter leidet, wenn du von mir in dem Teil hier herumkutschiert wirst?«, frage ich mit gespieltem Entsetzen.
»Junge«, erwidert er spöttisch, während er die Beifahrertür öffnet, »mit dir gesehen zu werden, hat mein Image schon vor langer Zeit zerstört.«
Die Schulflure sind verlassen, die erste Unterrichtsstunde hat schon längst angefangen. Durch die dünnen Wände und Türen hört man die lauten, autoritären Stimmen der Lehrer, die ihr Wissen an die Schüler weitergeben.
Die St. Luke’s Academy ist die prestigeträchtigste Highschool im Umkreis von fünfzig Meilen, und ich kann froh sein, dass ich hier zur Schule gehe. Zumindest, wenn man die Lehrer fragte.
Ich laufe die Haupttreppe hinunter ins Erdgeschoss, vorbei an der Mahagonitür, über deren Rahmen die Worte Vincit qui se vincit eingraviert sind. Übersetzt bedeutet das: Es siegt, wer sich selbst besiegt.
Also im Prinzip: Beherrsche dich selbst, dann wirst du auch die Welt beherrschen. Was jedoch zwischen den Zeilen steht, ist: St. Luke’s bringt dich zur Perfektion, wirft dich raus in die reale Welt und hofft darauf, dass du weißt, was zum Teufel du jetzt überhaupt tun sollst.
Ich sehe mich nach allen Seiten um. Hier unten im Erdgeschoss ist es genau wie in den oberen Stockwerken: Die Gänge sind wie ausgestorben. Über mir brummt die Klimaanlage und lässt mich frösteln. Plakate und Flugblätter flattern im Luftzug. Das größte nimmt sogar eine ganze Wand ein, reicht von einer Tür bis zur nächsten: »Wildcats! Wildcats! Wildcats!« An dieser Highschool gibt es nur zwei Gruppen: Sportler und Streber.
Mein Stiefbruder gehörte zu den Sportlern.
Genau wie ich, bis vor zwei Jahren.
Auf jeden Fall mehr als zu den Strebern.
Jetzt gehöre ich zu keiner Gruppe mehr. Ich bin eine Einzelgängerin, bewege mich irgendwo am Rand, unbemerkt und ungesehen.
Unsichtbar … zumindest bis jetzt.
Der lange, enge und menschenleere Flur scheint sich ins Endlose zu ziehen, der Ausgang fällt immer weiter zurück. Obwohl die Klimaanlage mir eine Gänsehaut beschert, spüre ich, wie mir langsam der Schweiß ausbricht, im Nacken, am Haaransatz … Ich presse das Psychologiebuch an meine Brust und halte den Kopf gesenkt. Ein Schritt nach dem anderen. Die Wände scheinen immer näher zu kommen. Vor der Tür zum Klassenzimmer bleibe ich stehen, als wäre ich festgefroren, und versuche, mein Ohr nicht gegen das Holz zu pressen, um zu lauschen. Ich wünschte, ich könnte einfach weglaufen, stattdessen atme ich kurz ein und wieder aus. Zerknülle den Zettel in meiner Hand: eine Nachricht von unserer Schulpsychologin, die mein Zuspätkommen begründet. Die Sätze sind so geschwollen formuliert, dass ich Probleme habe, sie zu verstehen – obwohl es darin um mich geht. Es ist, als wollte sie die Wahrheit verstecken, eine Wahrheit, die jeder hier bereits kennt. In der Nachricht sollte einfach nur stehen: »Seid nett. Ihr wisst alle, was sie durchgemacht hat.«
Ich atme noch einmal ganz tief ein, um meine Nerven zu beruhigen, bevor ich entschlossen mit der Schulter die Tür aufdrücke. Sie gibt unerwartet leicht nach, sodass ich regelrecht in den Raum stolpere. Meine Schuhe quietschen auf dem Marmorboden, als ich versuche, mein Gleichgewicht wiederzufinden.
»Miss Diaz«, brummt Mr McCallister, eine Hand auf meinem Arm, um mich zu stützen.
Ich spüre, wie meine Wangen sich rot färben. Schnell drücke ich ihm die Nachricht der Schulpsychologin in die Hand. Um uns herum herrscht absolute Stille. Kein einziger Laut, nicht mal ein Flüstern, ist zu hören. Mr McCallister macht sich gar nicht erst die Mühe, die Notiz zu lesen; er legt sie einfach auf seinen Tisch und deutet ins Klassenzimmer. »Setzen Sie sich bitte, damit wir hier weitermachen können.«
In dem Moment vibriert mein Handy in meiner Rocktasche.
Ignoriere es.
Aber ich kann nicht. Gerade als ich es herausziehen will, räuspert sich Mr McCallister. »Jetzt, Miss Diaz.«
Ich schlucke und schaue nervös auf. Alle Augen sind auf mich gerichtet, aber ich weigere mich, die Blicke zu erwidern.
Es gleicht einem Wunder, dass mich meine Beine überhaupt zu dem einzigen noch freien Platz tragen. Ich lasse die Tasche fallen und setze mich; der Kloß in meinem Hals ist inzwischen fast so groß wie der Basketball, der aus irgendeinem Grund unter dem Tisch liegt.
Mr McCallister dreht sich wieder zur Tafel und fängt an, den Lehrplan aufzuschreiben. Es dauert eine Weile, doch schon bald hört man nur noch das eifrige »Tapp, tapp« der Tastaturen.
»Hey«, flüstert jemand neben mir. Eine männliche Stimme.
Ich habe keine Ahnung, wer der Kerl ist, und ich reagiere auch nicht, als er sich vorstellt: »Ich bin Connor.« Stattdessen öffne ich mein Psychologiebuch auf der ersten Seite.
»Ich bin neu hier …«, fügt mein Sitznachbar hinzu. Es ist klar, dass er auf eine Antwort von mir wartet.
»Hi, ich bin Ava«, sage ich in Gedanken. »Willkommen in meiner persönlichen Hölle. Ich bin nur aus einem einzigen Grund hier: weil meine Schuldgefühle mich dazu zwingen.«
Doch in der Realität schweige ich.
Er wird schon bald alles erfahren, was es über mich zu wissen gibt.
Das Auto ist nicht ein einziges Mal abgesoffen.
Eigentlich ein Wunder.
Ich war heute Morgen früher in der Schule, etwa eine halbe Stunde, bevor ich hätte hier sein müssen. Denn ich wollte wegen meiner neuen Schrottkarre auf keinen Fall in eine peinliche Situation geraten. Nicht dass ich mich wirklich dafür schämen würde. Das tue ich nicht. Aber der erste Eindruck zählt schließlich. Ich wollte das Highschooljahr nicht unbedingt als »der Typ« beginnen.
Natürlich ist das sinnloses Wunschdenken. Ein Auto auf dem Parkplatz, ein Schüler auf dem Campus. Zähl zwei und zwei zusammen und heraus kommt meine Wenigkeit.
Die ersten zwanzig Minuten habe ich allein in der Sporthalle verbracht, um mich an den Hartholzboden zu gewöhnen, der in den nächsten Monaten mein zweites Zuhause werden würde. Irgendwann sind auch meine neuen Teamkollegen dazugekommen.
Rhys, der Teamkapitän, war der Erste, der mich begrüßte. Danach folgte sein Kumpel Mitch und dann der Rest der Jungs. Abgesehen von Rhys schienen sich allerdings alle mehr für mein Auto als für mich zu interessieren. Obwohl Rhys sie schließlich gebeten hat, nicht länger auf mir herumzuhacken, haben sie trotzdem weitergemacht.
Das erste offizielle Training der Saison war eine absolute Katastrophe. Ich hatte im Sommer Stunden damit verbracht, mir die Spiele und meine Positionen einzuprägen. Eigentlich dachte ich, ich wäre perfekt vorbereitet. Mann, lag ich falsch. Aber so was von falsch. Ich war viel zu langsam. Die Bälle flogen mir so schnell um die Ohren, dass ich sie nicht mal fangen konnte. Ebenso eine ganze Tirade an Beleidigungen und Drohungen. Und die kamen nur von Coach Sykes. Später in der Umkleide hat niemand ein Wort mit mir gesprochen – abgesehen von Rhys. Das alles passierte noch vor dem ersten Klingeln, quasi meine Einführung in den scheißelitären Teil der St. Luke’s Academy.
Danach kam die erste Stunde, Psychologie. Von da an ging alles nur noch bergab. Niemand wollte sich neben mich setzen, und abgesehen von ein paar Mädchen, die mich schüchtern anlächelten, wurde ich völlig ignoriert.
Und dann hat sie den Raum betreten – wie ein Babyvögelchen, das sein Nest zum allerersten Mal verließ: mit einem wilden Rudern der Arme. Nach dem Start, den ich hier heute Morgen hingelegt hatte, dachte ich eigentlich, alle würden sie auslachen, aber dem war nicht so. Vielleicht nahm man die Dinge abseits vom Spielfeld ernster, oder vielleicht lag es daran, dass das Mädchen verdammt sexy war: natürlich gebräunte Haut und unglaublich lange Beine, die unter dem Rock hervorschauten. Ich hätte nie erwartet, dass ich so auf den Mädchen-in-Schuluniform-Look abfahren würde, aber wow …
Was für ein Auftritt! Aber vielleicht ist das auch nur mir aufgefallen. Vielleicht habe ich ein bisschen zu sehr auf sie geachtet. Sie hat sich neben mich gesetzt, auf den einzigen Stuhl, der noch frei war … und hat einfach nichts gesagt oder getan. Selbst als ich es endlich geschafft hatte, meine Gedanken so weit zu beruhigen, um mich vorzustellen … keine Reaktion. Während die ganze Klasse damit beschäftigt war, sich Notizen zu machen, hat sie nur geradeaus geschaut und leise mit den Fingern auf dem Tisch herumgeklopft.
Erst als ungefähr vierzig Minuten später die Schulglocke läutet, bewegt sie sich wieder. Wir sehen uns an, während wir unsere Sachen zusammenpacken, und unsere Blicke treffen sich. Diesmal sieht sie nicht weg. Im Sonnenlicht, das durch das Fenster fällt, leuchten ihre Augen in einem hellen Braun – es ist dieselbe Farbe wie der Hartholzboden, über den ich regelmäßig schlittere. Ihre Lippen öffnen sich leicht, und meine ganze Aufmerksamkeit richtet sich automatisch auf ihren Mund. Ich versuche es noch mal, doch dieses Mal strecke ich ihr meine Hand hin. »Hi, ich bin Connor. Heute ist mein erster …« Ich verstumme, als sie sich umdreht und zur Tür geht.
Eine Hand landet auf meiner Schulter und ich drehe mich überrascht um. »Vergiss es«, sagt Rhys, der meinem Blick folgt.
Ich zucke nur mit den Schultern. »Ich hatte nicht vor, sie anzubaggern.«
Er schüttelt den Kopf. »Nein. Ich meinte damit nicht, dass sie vergeben ist. Ich meinte eher, dass sie nicht mehr ganz …«, er tippt sich mit dem Finger gegen die Schläfe, »da ist.«
»Nicht mehr ganz richtig im Kopf«, fügt Mitch hinzu, der hinter Rhys auftaucht. Er macht mit dem Finger eine kreisende Bewegung neben seinem Ohr – das universelle Zeichen für verrückt – und flüstert: »Völlig unzurechnungsfähig.« Mitch mustert mich von oben bis unten, und sein Blick bleibt an meinen ausgelatschten Sneakers hängen. »Aber wenn ich ehrlich bin, ihr beide würdet gut zusammenpassen. Ghetto und Ghetto. Das perfekte Paar.«
Ich sollte ihm eine reinhauen. Einmal für mich. Und dann noch zweimal für das Mädchen ohne Namen. Stattdessen lasse ich ihn stehen und versuche, mir selbst einzureden, dass Menschen manchmal einfach Arschlöcher sind. Und Highschool-Kids? Die bringen es verdammt noch mal zur Perfektion.
Außerdem bin ich nicht hier, um Freunde zu finden.
Ich bin hier, um Spiele zu gewinnen.
Angst- und Belastungsstörungen: Wie gehe ich damit um?
Ich lese nun schon zum tausendsten Mal den Titel der Infobroschüre, während ich ungläubig den Kopf schüttle. Schließlich bin nicht ich diejenige, die eine posttraumatische Belastungsstörung hat. Vielleicht hätte ich anders reagiert, wenn die Schulpsychologin mir Infomaterial darüber gegeben hätte, wie man mit Menschen umgeht, die eine Belastungsstörung haben. Ich verstehe auch nicht wirklich, warum ich überhaupt zur Schulpsychologin gehen soll, aber Trevor hat mit dem Rektor darüber gesprochen, wie wir »mein letztes Jahr so angenehm wie möglich« gestalten können – und das ist nun mal einer der Punkte auf einer sehr langen Liste. Daher muss ich jetzt jeden Montag und Mittwoch eine halbe Stunde lang auf einem unbequemen Stuhl sitzen und über mich selbst reden: was in meinem Leben so passiert, wie ich mich dabei fühle und wie ich mit allem umgehe.
Ich habe zu keinem dieser Punkte irgendwas zu sagen, daher verbringe ich diese Termine damit, Miss Turner – einer Frau, die nicht viel älter ist als ich selbst – davon zu überzeugen, dass es mir gut geht. Sehr gut sogar. Dass die Situation zu Hause keine Auswirkungen auf die Schule, auf meine Noten oder meine Zukunft hat.
Vincit qui se vincit: Es siegt, wer sich selbst besiegt.
Und ich bin eine Siegerin.
Ich wiederhole die Worte wie ein Mantra, während ich an dem Ring um meinen Daumen herumspiele.
Ich wünsche mir so sehr, dass diese Worte stimmen, denn sie waren das Letzte, was mein Stiefvater William zu mir gesagt hat, bevor er abgehauen ist. »Du bist eine Siegerin, Ava. Du schaffst das.« Damals habe ich ihm keine Antwort gegeben; ich habe ihm nur die Tür aufgehalten und zugesehen, wie er in seinen Wagen stieg und die Straße hinunter verschwand. Es war mir egal. Ich habe ihn auch nicht gefragt, warum er mich beziehungsweise uns verlässt. Die Antwort war glasklar: Er liebte uns nicht. Deshalb hat er uns auch verlassen. Denn Liebe bedeutet, dass wir bei den Menschen, die wir lieben, bleiben wollen. Dass wir sie nicht im Stich lassen. Dass wir diejenigen, die wir lieben, in unserer Nähe haben wollen.
Zumindest dachte ich das … bis ich eines Tages die Badezimmertür geöffnet und vor Entsetzen einen lauten Schrei ausgestoßen habe. In dem Moment musste ich einsehen, dass auch Liebe Grenzen hat. Ich bin auf die Knie gefallen und habe mich völlig blutverschmiert an das letzte bisschen Hoffnung geklammert – und mir ist klar geworden, warum William uns wirklich verlassen hat. Denn manchmal reicht Liebe einfach nicht aus. Genauso wenig wie das Schulmotto, das uns vom ersten bis zum letzten Tag immer wieder daran erinnert, dass wir alles und jeden besiegen müssen. Immer. Wenn dir jedoch die Tränen die Sicht verschleiern, deine Hände unkontrolliert zittern, dein Hals von den vielen Schluchzern, die dich immer wieder überfallen, bereits vollkommen wund ist und du nach dem Telefon greifst, dich fragst, wen du anrufen sollst, wer dir helfen soll … dann versagst du.
Dann rufst du nicht den Notruf, obwohl du genau weißt, dass du es tun solltest.
Erneut drohen mich die Schuldgefühle zu erdrücken, sodass mir sogar das Atmen schwerfällt, und ich spiele wieder an dem Ring herum.
Ich bin keine Siegerin.
Ich bin eine Versagerin.
Eine absolute Versagerin.
***
Gegen halb sechs, als draußen eine Autotür zuknallt, packe ich die Infobroschüre und meine Schulsachen zusammen, die auf dem ganzen Küchentisch herumliegen, und mache mich daran, das Abendessen zuzubereiten.
Mit schweren Schritten betritt er das Haus. Er hat den Kopf gesenkt, in der einen Hand den Werkzeugkasten, in der anderen seine Arbeitsmütze. Von der Küche aus beobachte ich, wie er sich auf die Couch neben der Tür fallen lässt, um seine Schuhe auszuziehen. Seine Schultern hängen nach unten, und die Haare stehen wirr in alle Richtungen. Er wirkt nicht nur müde, sondern vollkommen erschöpft, strahlt aber dennoch Verantwortungsbewusstsein aus – und ich hasse es. Ich hasse es, dass er sich um uns kümmert, obwohl er eigentlich seine eigenen Träume verfolgen sollte: Football spielen und seinen Abschluss an der Texas A&M University machen.
Ich frage gar nicht erst, wie sein Tag war, ich weiß es auch so.
»Wie war der erste Schultag?«, will er wissen. Dabei schaut er nicht einmal von seinen Schuhen auf.
»Gut«, lüge ich.
Er nickt, bohrt aber nicht weiter nach. Stattdessen sieht er zur Schlafzimmertür auf der anderen Seite des Wohnzimmers. Hinter dieser Tür liegt der Grund für unsere Situation und weshalb er die Verantwortung übernimmt. Er murmelt etwas, was ich nicht verstehen kann. Als er sich zu mir dreht, ein schwaches Lächeln auf den Lippen, spüre ich einen Stich im Herzen, und der Kloß in meinem Hals wird wieder größer. Meine Augen beginnen zu brennen, aber ich kämpfe dagegen an.
»Essen ist in zehn Minuten fertig«, sage ich.
Er seufzt. »Danke, Ava.«
Am liebsten würde ich ihn anschreien. Ihm sagen, dass es nichts gibt, wofür er sich bei mir bedanken müsste. Ich bin diejenige, die ihm dankbar sein sollte … die für immer in seiner Schuld stehen würde. Und ich wollte ihm sagen, wie sehr ich ihn liebe.
Aber wenn ich eins gelernt hatte, nachdem mein Stiefvater uns verlassen hatte, dann das:
Liebe ist kein Nomen.
Liebe ist etwas, was du durch deine Handlungen zeigst.
Etwas, was du beweisen musst.
Etwas, was du nur durch harte Arbeit erschaffst.
Liebe ist nicht etwas, was einfach nur existiert, weil du es sagst.
Liebe ist kein Nomen.
Liebe ist ein Verb.
Es ist gerade mal eine Woche her, dass die Schule angefangen hat, und ich zähle schon die Tage, bis dieses Jahr vorbei ist. Ich bin mir sicher, dass es besser wird. Es muss. Sobald die Basketballsaison losgeht, kann ich meine ganze Energie auf den Ball konzentrieren. Aber jetzt? Ich habe das Gefühl … festzustecken. Irgendwo zwischen meinem alten Leben und meinem neuen. Ich habe immer noch Probleme, mich zurechtzufinden – nicht nur, was die Lage der Klassenräume betrifft, sondern auch im Hinblick auf soziale Hierarchie. Die Kids hier sind anders, der Unterricht ist herausfordernder, die Lehrer sind strenger und die Mädchen … die Mädchen sind auf einem ganz anderen Level. In der letzten Woche bin ich öfter angesprochen worden als in meinem ganzen Leben davor. Die Mädchen hier wissen, was sie wollen – und ich bin mir sicher, dass sie auch gewohnt sind, es zu bekommen. Ich könnte natürlich lügen – ihnen sagen, dass ich eine Freundin habe, da, wo ich herkomme. Wenn ich ehrlich bin, fühle ich mich hier einfach nur verdammt fehl am Platz, und jeden Morgen, wenn ich aufwache, habe ich das Gefühl zu ertrinken.
Das alles erzähle ich Dad, während wir in unserer Garage Gewichte heben.
»Es könnte schlimmer sein«, meint Dad nur.
»Ja? Wie?«
Er hilft mir, die Hantel zurück in die Halterung zu legen und reicht mir eine Flasche Wasser. Dann zieht er die Augenbraue hoch und sieht mich an, als wollte er fragen: Willst du das wirklich wissen?
Ich trinke die halbe Flasche in einem Zug leer und schüttle den Kopf. Nein, ich will es nicht wissen. Ich habe es schon zu oft gehört. Dad ist Rettungssanitäter, er hat schon alles gesehen. Er hatte ziemliches Glück, dass er hier auch einen Job als Sanitäter gefunden hat. Der Nachteil ist allerdings, dass er nachts arbeiten muss.
Ich bewundere ihn für das, was er macht. Wirklich. Aber manchmal wünschte ich, ich könnte mich einfach über die Dinge beschweren, ohne dass er mir das vorhält. Manchmal will ich einfach nur Dampf ablassen, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Und manchmal will ich auch einfach an meine alte Schule zurück und Basketball spielen, als würde nicht meine ganze Zukunft davon abhängen.
Fairerweise muss ich aber zugeben, dass Dad mir nie das Gefühl gegeben hat, ich wäre allein für meine Zukunft verantwortlich.
Aber das bedeutet nicht, dass ich mich nicht manchmal so fühle.
Profibasketballer zu werden, ist unser Ticket hier raus. Unsere Rettung. Es ist schon schwer genug, als alleinerziehender Vater ein Kind großzuziehen, aber wenn dieses Kind auch noch ein gut bezahlter Sportler werden will? Dann ist das eine ganz andere Nummer. Trainingslager, Spielkleidung, Ausrüstung, Sprit, um zu den Trainings und Spielen zu fahren – Spiele, von denen Dad bis vor ein paar Jahren kein einziges verpasst hat –, Gleittage, Essen … Und ich esse verdammt viel. Es ist eigentlich ein Wunder, dass er immer noch irgendwie das Dach über unserem Kopf bezahlen kann.
»Es ist nur ein Jahr, Connor. Häng dich rein. Bleib konzentriert. Lass dich nicht ablenken …«
»Von Mädchen?«, unterbreche ich ihn mit einem Grinsen.
»Es braucht nur eines«, murmelt er, während er die Gewichte von der Hantel nimmt.
Seine Worte treffen mich hart. Schnell senke ich den Blick. »Es könnte schlimmer sein«, wiederhole ich Dads Worte.
Er verschränkt die Arme vor der Brust, und jetzt fragt er: »Ja? Wie?«
Ich zucke mit den Schultern. »Ich könnte nichts weiter als ein Fleck auf deinem Bettlaken sein.«
»So habe ich das nicht gemeint, Sohn«, sagt er, seine Stimme voller Reue.
»Nein? Das ist aber das, was ich gehört habe, Dad.«
Ich war als Kind ziemlich unbeholfen, ein Einzelgänger, ängstlich, hatte kaum soziale Kompetenzen. Nach mehreren Gesprächen mit meinen Lehrern hat Dad dafür gesorgt, dass ich alles Mögliche ausprobierte, um mein Selbstvertrauen und das Gefühl, irgendwo dazuzugehören, zu stärken. Egal wo.
Rückblickend ist mir klar, dass Dad alles in seiner Macht Stehende getan hat, um mir dabei zu helfen, nicht nur meinen Platz in der Welt zu finden, sondern mich in meiner eigenen Haut so wohl wie möglich zu fühlen. Die meiste Zeit meines Lebens hat er die Rolle von zwei Elternteilen übernommen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schwierig das für ihn gewesen sein muss. Er ist immer für mich dagewesen. Immer. Das ist vielleicht auch der Grund, warum solche Worte wie die von gestern Abend – Worte, die er ohne Hintergedanken und böse Absichten sagt – mich so tief treffen.
Tiefer, als ich jemals zeigen würde.
Der Punkt ist, ich habe knapp ein Jahr damit verbracht, alle möglichen Dinge auszuprobieren: Baseball, Football, Fußball, Karate, Pfadfinder, Nähen. Egal, was einem noch so einfällt, ich habe es ausprobiert. Aber nichts davon hat mir Spaß gemacht, nichts hat mich wirklich begeistert. Bis ich zum ersten Mal einen Basketball in der Hand hatte. Ich war damals zehn, und irgendetwas hat einfach … »klick« gemacht.
Meine Trainer meinten, ich sei der geborene Sportler, was vermutlich Sinn ergibt, wenn man sich meine Gene ansieht.
In den darauffolgenden Jahren hat sich viel verändert.
Je mehr ich auf dem Spielfeld gab, desto leichter wurde es abseits von Basketball. Und der Wachstumsschub, der nicht zu enden schien, tat noch sein Übriges. Plötzlich hatten sich alle für mich interessiert. Sogar einige Mädchen. Zu meinem Glück war Dad immer da, um mich an die unendlich lange Liste an Prioritäten zu erinnern – und mit einem Mädchen auszugehen? Das stand nicht mal in einer Fußnote.
Es ist also keine große Überraschung, dass sich meine Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht auf ein bisschen Rumknutschen auf unseren Siegesfeiern beschränken. Ich war noch nie in einer Beziehung, hatte noch nicht mal ein Date. Daher ist die Wucht an Aufmerksamkeit und Angeboten, die ich hier plötzlich bekomme, ziemlich einschüchternd, was noch untertrieben ist, und verdammt unangenehm. Vor allem, wenn es nicht aufhört. Wie zum Beispiel bei diesem einen Mädchen, Karen, das es irgendwie schafft, mich jeden Morgen an meinem Spind abzupassen. Sie ist auf jeden Fall hübsch, wie man es eben sein kann, wenn man das Geld dafür hat. Perfektes Make-up, passend zu ihrer perfekten Haut, perfekt gestylte Haare und perfektes Auftreten. Ich bin mir sicher, sie wäre perfekt für einen Jungen, der genauso perfekt ist wie sie. Aber für mich? Ich habe nicht das geringste Interesse an ihr, und ich habe auch nicht wirklich die Zeit, mich darum zu bemühen, an ihr Level an Perfektion heranzukommen. Ich habe dafür absolut keine Zeit … zumindest, wenn es nach meinem Dad geht.
Aber sie ist irgendwie immer in meiner Nähe. Bestes Beispiel: Montagmorgen. Erste Stunde. Psychologie. Und rate mal, wer in meinem Kurs ist?
Genau, Karen.
Karen, die mich gerade quer durch den Raum anstarrt. Oder vielleicht sieht sie auch zu dem Mädchen neben mir: Ava, deren Namen ich über meine Mitschüler herausgefunden habe, da sie immer noch nicht mit mir redet, obwohl sie in jeder Psychologiestunde neben mir sitzt.
Sie ist mir echt ein Rätsel.
Außerhalb dieses Klassenzimmers habe ich sie noch nie gesehen, nicht mal in der Cafeteria. Nicht dass ich nach ihr Ausschau gehalten hätte. Lüge. Und wenn sie nicht gerade möglichst unauffällig unter dem Tisch nach ihrem Handy greift, gibt sie keinerlei Lebenszeichen von sich. Es ist, als würde sie in einer Blase leben – und alle akzeptieren das.
Manchmal, wenn wir so wie jetzt nebeneinandersitzen, frage ich mich, wie es wohl wäre, diese Blase zum Zerplatzen zu bringen.
»Ah, bevor ich es vergesse …« Mr McCallisters laute Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. »Den Aufsatz über angeborene versus anerzogene Faktoren der Entwicklung schreiben Sie bitte in Zweiergruppen. Sie haben drei Sekunden Zeit, sich einen Partner zu suchen.«
Am anderen Ende des Klassenzimmers weiten sich Karens Augen, und ihr Blick richtet sich auf mich. Stuhlbeine kratzen über den Boden, Schüler stolpern durch den Raum, während Panik in mir hochkriecht. Reflexartig – dummerweise – greife ich nach Ava, genau in dem Moment, in dem sie sich erheben will. Kaum eine Sekunde später steht Karen vor uns, ihr Blick wandert von mir zu Ava und dann zu meiner Hand an Avas Arm. Avas Augen sind weit aufgerissen, als sie zu mir sieht, dann zu Karen, dann zu der Stelle, an der ich sie berühre.
Hinter mir räuspert sich jemand. Rhys. Er mustert uns mit unverhohlener Verwirrung.
»Ava?«, sagt Karen und deutet auf mich.
Avas Schultern heben sich, als sie tief einatmet – und dann zieht sie ihren Arm aus meinem Griff. Vor Scham schließe ich die Augen, während meine Wangen vermutlich rot anlaufen. Was zum Teufel habe ich mir nur dabei gedacht?
»Ava?«, wiederholt Karen mit fester Stimme. In ihrem Ton schwingt etwas mit, was ich nicht genau erkennen kann.
»Bist du okay, A?«, fragt Rhys. Es ist das erste Mal, dass ich mitbekomme, dass einer meiner Mitschüler so mit Ava spricht, als würde er sich Sorgen machen. Und von Rhys hätte ich das am allerwenigsten erwartet.
Ava schluckt nervös, ihr Blick flackert zu mir, bevor sie schnell wieder wegsieht. »Ich arbeite lieber mit Rhys«, sagt sie so leise, dass ich sie kaum höre.
Doch ich verstehe sie. Mein Magen zieht sich zusammen, und ich muss wieder an meine Kindheit denken. Unbeholfen, ängstlich, ein Einzelgänger. Ich beiße mir auf die Zunge, sowohl physisch als auch metaphorisch, und versuche, gegen meine Unsicherheit anzukämpfen. Dennoch komme ich nicht gegen das Gefühl an, jemand würde mich vorschnell verurteilen. Aber am schlimmsten ist, dass genau die Person, die mir in der ganzen Schule bisher absolut keine Aufmerksamkeit geschenkt hat, diejenige ist, die mich verurteilt.
»Zweiergruppen, nicht Vierergruppen!«, ruft unser Lehrer und deutet auf uns. »Da offenbar keiner von Ihnen die einfachsten Anweisungen befolgen kann, nehme ich Ihnen die Entscheidung ab. Ava und Connor. Rhys und Karen.«
Rhys unterdrückt einen Fluch. Mit zusammengepressten Lippen wendet er sich an Ava. »Kommst du damit klar?«
»Na toll«, murmle ich. »Da fühl ich mich gleich viel besser.«
Ich beobachte Ava, warte auf eine Reaktion, aber sie ignoriert mich weiterhin. Nicht so Rhys; er bekommt ein kaum wahrnehmbares Nicken.
Karen stampft mit dem Fuß auf, dreht sich abrupt um und stürmt zu ihrem Platz zurück. Kurz darauf folgt Rhys ihr.
Ich wende mich zu dem Mädchen neben mir um, meine Unsicherheit verwandelt sich in Wut. »Ich bin nicht dumm.«
Ihr Blick findet meinen, während sie langsam den Kopf schüttelt. »Es tut mir l…«
»Nein«, unterbreche ich sie, weil ich ihr Mitgefühl nicht hören will. »Mir tut es leid. Es tut mir leid, dass ich dich enttäusche, bevor du mich überhaupt kennengelernt hast.« Ich atme tief durch, um meine Fassung wiederzuerlangen. »Ich bin nicht dumm«, wiederhole ich, nun ruhiger. »Nur weil ich hier neu bin und ein Sportstipendium habe, heißt das nicht, dass ich ein Idiot bin. Ich arbeite genauso hart wie du, wenn nicht sogar härter, weil ich noch etwas zu beweisen habe. Ich erwarte nicht, dass du die ganze Arbeit machst, falls es das ist, was du denkst.«
Verwirrt sieht sie mich an. »Connor, oder?«
»Ja …?«
»Lass mich eins klarstellen, Connor.« Sie spuckt meinen Namen regelrecht aus. »Ich habe keinerlei Erwartungen an dich, weil ich mir noch nicht mal Gedanken über dich gemacht habe. Nicht ein einziges Mal. Du bist mir völlig egal. Es gibt also keinen Grund, mir eine Meinung über dich zu bilden. Also, lass uns einfach anfangen.« Sie knallt ein Blatt Papier zwischen uns und schreibt unsere Namen an den oberen Rand, bevor sie mich anfunkelt, als würde sie mich am liebsten ermorden. »Denkst du, es liegt an den angeborenen oder anerzogenen Faktoren, dass du glaubst, dein überdramatisches Gejammer sei etwas anderes als egozentrisches Anspruchsdenken?«
In meinem Kopf dreht sich alles, trotzdem fällt mir kein schlagfertiger Konter ein. Nicht mal eine gute Antwort. Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, wie es wäre, ihre Blase zum Zerplatzen zu bringen, und nun … war sie es, die meine komplett zerstörte.
Einer der einzigen beide Freunde, die ich noch habe, ist eigentlich ein Freund meines Bruders beziehungsweise Stiefbruders. Er war schon an seiner Seite, als ich Trevor kennengelernt habe – damals, als ich nicht mehr als ein Kinderkartenkind war, das ein leuchtend violettes Kleid und regenbogenfarbene Socken getragen hat. Seitdem war er so gut wie jeden Tag da. Von der Grundschule über die Middle School bis zur Highschool; wo Trevor Knight war, war auch Peter Parker. Und ja, das ist sein richtiger Name.
Nach ihrem Highschoolabschluss sind beide auf die Texas A&M University verschwunden. Wir sind zwar zusammen aufgewachsen, aber durch den Altersunterschied von vier Jahren war klar, dass wir gewisse Dinge zu unterschiedlichen Zeiten erleben würden. Als die beiden an die Highschool kamen, war ich gerade mal in der Fünften – und versuchte, mich zwischen Harry Styles und Justin Bieber zu entscheiden, während der Soundtrack von »Glee« aus meinem Zimmer schallte.
Doch jetzt, wo ich älter und weiser bin, wo die Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe, mich dazu gezwungen haben, erwachsen zu werden, kommen mir die vier Jahre Altersunterschied gar nicht mehr so viel vor.
Peter wuchs im »richtigen« Teil der Stadt auf, derselbe Teil, in dem auch Trevor und ich groß geworden sind, bevor wir unser Haus verkaufen mussten, um die Arztrechnungen meiner Mutter zu bezahlen. Der Teil mit den riesigen noblen Häusern und Booten im Garten. Für gewöhnlich verreisen seine Eltern den Sommer über, jedes Jahr in ein anderes Land, und für gewöhnlich begleitet er sie. Doch nicht so letztes Jahr. Letztes Jahr hat Peter den Sommer damit verbracht, Trevor mit seinem Unternehmen zu helfen. Trevor hat ihm im Gegenzug angeboten, ihn dafür zu bezahlen – so viel, wie er sich leisten kann. Aber Peter lehnt jeden Cent ab, da er genau weiß, dass wir das Geld dringender brauchen als er.
Er ist auch für mich zu einem guten Freund geworden, ein Fels in der Brandung, auf den ich mich immer verlassen kann – und von dem ich nie geglaubt hätte, wie sehr ich ihn brauchen würde.
Das ist auch der Unterschied zwischen Trevors Freunden und meinen: Als unsere Welt zusammengebrochen ist, war Peter an unserer Seite. Meine sogenannten Freunde hingegen haben aufgehört vorbeizukommen, da sie zu viel Angst hatten vor der Frau mit dem halben Gesicht und dem abgetrennten Arm.
Bald darauf haben sie auch aufgehört anzurufen.
»Mir gefällt, was du aus dem Haus gemacht hast.« Peter grinst, während er sich mit seinem ganzen Gewicht neben mich auf die Couch fallen lässt. »Es sieht sehr …«
»Nach secondhand aus?«, beende ich seinen Satz.
Er schüttelt den Kopf und stellt eine Schüssel Popcorn auf meinen Schoß. Peter ist übers Wochenende zu Hause, und als er gehört hat, dass Trevor nach Feierabend noch arbeitet, hat er angeboten vorbeizukommen, damit ich nicht allein bin.
»Nein«, sagt er. »Es hat teilweise etwas von deiner Persönlichkeit.« Er greift hinter sich nach einer Decke und legt sie sich über die Beine. »Das hier zum Beispiel«, fährt er fort, während er den Stoff zwischen seinen Fingern reibt. »Es hat etwas von … Boho-Chic.«
»Du meinst Hippie?«
Mit einem Glucksen legt er den Arm hinter mir auf die Sofalehne und macht es sich bequem. »Also, Ava. Erzähl mal: Wie läuft es so bei dir?«
»So wie immer, eigentlich. Ich zähle die Tage, bis die Schule endlich vorbei ist.« Ich starte den Film, lasse den Ton aber stumm.
»Wenn die Schule erst mal vorbei ist, wirst du sie vermissen«, versichert er mir.
Ich schnaube ungläubig. »Deine Vorstellungen von der Highschool und meine sind sehr unterschiedlich, Peter.«
»Ja, könnte sein.« Er nimmt sich eine Handvoll Popcorn, bevor er fragt: »Bist du immer noch mit diesem Rhys befreundet?«
Ich nicke, während ich mich auf die Anfangsszene des Horrorfilms konzentriere, den Peter ausgesucht hat.
»Hilft er dir noch in der Schule? Und bringt dir die Mitschriften aus den Kursen, die du verpasst?«
»Ja«, antworte ich langsam. Auf dem Bildschirm läuft gerade ein blondes Mädchen eine Treppe hoch, an deren Ende der Killer bereits auf sie wartet.
»Gut«, sagt er zufrieden, bevor er fortfährt: »Er ist ein guter Kerl, Ava. Er ist nur nicht gut genug für dich.«
»Okay«, murmle ich, da es egal ist, was er denkt.
»Ava?« Peters Beine berühren meine. Er ist näher als noch vor ein paar Minuten, und ich spüre, wie sich ein unbehagliches Gefühl in mir ausbreitet.
»Ja?«, presse ich hervor.
Sein warmer Atem streicht über meine Wange, während seine Finger über die Haut an meiner Schulter gleiten. Es ist nicht das erste Mal, dass er das macht. Es wird auch nicht das letzte Mal sein. Und es wäre so leicht, ihn einfach zu benutzen, mit jemandem zusammen zu sein, der einen auch ohne Erklärungen versteht und der einem auch ohne Entschuldigungen verzeiht.
Nervös schlucke ich. »Wenn Trevor wüsste, was du gerade denkst, würde er dich mit bloßen Händen umbringen.«
Die Art und Weise, wie Stephen Curry die Verteidiger mit einem Crossover hinter dem Rücken austrickst, ist von historischer Bedeutung. Er hat bewiesen, dass ein hammermäßiger Sprungwurf über Sieg oder Niederlage entscheiden kann. Möglicherweise macht ihn das sogar zum besten Ballführer in der NBA.
Und ich?
Ich kann nicht mal den verdammten Ball fangen, wenn er mir direkt zugespielt wird.
Es ist nun einen Tag her, seit Ava mich in der Luft zerrissen hat. Nach einem weiteren katastrophalen Training hocke ich nun in der Umkleide und starre auf meine Hände, versuche, sie anzuspornen. Jahrelang habe ich nur für diesen Sport gelebt. Ich habe sogar davon geträumt, wenn ich wach war. Mit all den Dingen, die ich zu Hause kaputt gemacht habe, weil ich nicht aufhören konnte, mit dem Basketball rumzuspielen, könnte man glatt ein ganzes Haus füllen. Aber jeder Rasen, den ich gemäht habe, um diese Dinge zu ersetzen, war es wert. Sogar jeder Hausarrest, den ich bekommen habe, war es wert. Und jede Stunde, die ich damit verbracht habe, Spielaufzeichnungen anzusehen, Spiele zu analysieren oder davon zu träumen, wie es wäre, im Madison Square Garden zu spielen … jede einzelne Stunde war es verdammt noch mal wert.
Aber hier? Jetzt? Hinterfrage ich alles.
»Hast du jemals den Film ›Kleine Giganten‹ gesehen?«, fragt Rhys, als er sich neben mir auf die Bank fallen lässt.
Ich dachte, ich wäre der Einzige, der noch in der Umkleide ist, aber offenbar habe ich mich geirrt. »Der mit den schwächlichen Kids, die es nicht ins Team geschafft haben und deshalb beschließen, ihre eigene Footballmannschaft zu gründen?«, frage ich und schlage die Spindtür zu.
Er nickt. »Da gibt es diese eine Stelle, an die ich immer denke, wenn ich einen schlechten Tag hab. Es geht im Prinzip darum, dass Football zu achtzig Prozent in deinem Kopf ist und nur zu vierzig Prozent körperliche Stärke.«
Mit gerunzelter Stirn starre ich ihn an. »Das ergibt keinen Sinn.«
Er tippt sich mit dem Finger an die Schläfe. »Du bist viel zu verkopft«, sagt er und drückt meine Schulter. »Entspann dich, der Rest kommt von selbst.« Ich zwinge mich, ruhig zu atmen, als Rhys aufsteht und hinzufügt: »Kennst du Miss Turner?«
»Nein.«
»Sie ist die Schulpsychologin.«
Meint er das ernst? »Mir geht’s gut.«
»Ich habe für dich für morgen nach der Schule einen Termin ausgemacht.«
Ich merke, wie sich erneut Frust in mir breitmacht. »Mann, ich brauche keine …«
»Trust the process«, unterbricht er mich, unwillkürlich muss ich an Ross denken, an Dad und an all die Erwartungen, die unglaublich schwer auf meinen Schultern lasten.
Rhys wendet sich zur Tür, bleibt aber noch mal stehen. »Und, hey. Nicht dass ich denke, dass das Ganze etwas damit zu tun hat, dass du so scheiße spielst – du könntest immerhin auch einfach ein grottenschlechter Basketballer sein –, aber die Sache mit Ava? Versuch, es nicht persönlich zu nehmen, okay?«
***
Versuch, es nicht persönlich zu nehmen.
Es ist drei Uhr morgens, und Rhys Worte gehen mir immer wieder durch den Kopf. Wie eine Schallplatte, die hängt.
Und ich habe es versucht.