Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Bea Busch betreibt an Duisburgs Dellplatz mit Hingabe »Beas Büdchen«, zentrale Ausgabestelle von Presseerzeugnissen, Getränken, Zigaretten und bunten Tüten, garniert mit taufrischem Klatsch und bodenständigen Lebensweisheiten. Alles geht hier seinen geregelten Gang, bis ein Mann in Beas Zeitungsbox auftaucht - nackt, männlich, attraktiv und tot. Doch als die Polizei erscheint, ist die Leiche weg und damit auch das Interesse der Kripo. Also ermitteln Bea und ihre lebenslustige Freundin Meta Kowalewska in Eigenregie. Endlich können sie ganz ungeniert alle ausfragen und beobachten …
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 289
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Günter von Lonski
Beas Büdchen
Ruhrpott-Krimi
Ewich gibbet nich Alles geht im Duisburger Viertel am Dellplatz seinen unspektakulären Gang, bis eine Leiche in der Zeitungsbox von »Beas Büdchen« auftaucht. Die Polizei erscheint, doch die Leiche ist weg und damit auch deren Aufklärungsinteresse. Also stürzen sich Büdchenbetreiberin Bea Busch und ihre Freundin Meta Kowalewska in die Ermittlungen. Ein willkommener Vorwand, um ihre »allgemeinen Beobachtungen, Erkundungen und Befragungen« zu intensivieren. Als hilfreich erweist sich dabei Beas Opernfreund Kriminalkommissar Schymanczek. Im Laufe ihrer Recherchen kommen sie unlauteren Geschäften von Metas Untermieter auf die Spur, im nahen Zoo Duisburg dreht sich alles um Liebe, Eifersucht, böse Blicke, giftspritzende Zähne und messerscharfe Raubtierkrallen. Und der ehemalige Stahlarbeiter Sobotta entdeckt nicht nur seine Liebe zu Bea, sondern auch das Geheimnis von Duisburg auf einem alten Stadtplan, und macht damit »Beas Büdchen« zum Mittelpunkt des Universums.
Günter von Lonski, geboren 1943 in Duisburg, lebt in der Region Hannover. Er verbindet den Humor des Ruhrgebiets mit der Treffsicherheit des Nordens. Der Autor hat das Gymnasium durchlitten, Schriftsetzer gelernt, an der Universität der Künste Berlin studiert, war Texter sowie freier Werbeberater für Großunternehmen. Seit 1983 ist er freiberuflicher Schriftsteller, 2007 gründete er eine Theatergruppe mit Uraufführung eigener Stücke. Im Jahr 2010 erhielt er einen Literaturpreis für seine Kriminalgeschichten. Günter von Lonski schreibt Romane, Krimis, Theaterstücke, Musicals, Anthologien, Kinderbücher, Jugendbücher, Hörspiele, Satiren, Glossen und Schulbuchbeiträge.
Mehr Informationen zum Autor unter: www.vonlonski.net
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Immer informiert
Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie
regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.
Gefällt mir!
Facebook: @Gmeiner.Verlag
Instagram: @gmeinerverlag
Twitter: @GmeinerVerlag
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2022 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Christine Braun
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © mauritius images / Werner Otto
ISBN 978-3-8392-7330-2
Im Juni 2021 wurden die Trinkhallen des Ruhrgebiets (auch »Bude« oder »Büdchen« genannt) als immaterielles Kulturerbe Nordrhein-Westfalens ausgewiesen.
Dat soll Kultur sein? – Und dat, dat, dat is’.
Bea Busch
62 Jahre; betreibt »Beas Büdchen« am Dellplatz; scharfe Augen, feine Ohren und ein supergutes Gedächtnis; seit sieben Jahren geschieden; liebt das Leben und die Liebe
Meta Kowalewska
57 Jahre; liebt die Liebe und das Leben; Beas Rivalin um die Deutungshoheit auf und am Dellplatz; hat Obergeschoss und Keller ihres stattlichen Einfamilienhauses an Joop van Houten vermietet; teilt mit ihm den Internetanschluss, wäscht seine Wäsche und erfüllt ihm gelegentlich, aber nicht ungern seine etwas außergewöhnlichen Wünsche
Paul Sobotta
61 Jahre; einer für alle und alles; ehemaliger Stahlarbeiter bei Thyssen; pflegt als Ein-Euro-Mann die Grünanlagen rund um den Dellplatz; verbringt seine freie Zeit bei Bier und Kümmerling unter dem Vordach von Beas Büdchen; nachdem seine letzte Taube verschwunden ist, schafft er sich eine Drohne an
Nico
Wird 17, aufgeweckt, selbstbewusst, kreativ; Mercator-Gymnasium, obere Mittelstufe; hat eine Leidenschaft für Fake News
Joop van Houten
52 Jahre; ehemaliger Bankmanager; nach betrieblichen Unregelmäßigkeiten Rausschmiss und freier Fall; gibt sich trickreich als Zooinsider aus, um seine asiatischen Exportgeschäfte zu begünstigen
Andreas Schymanczek
58 Jahre; glückloser Kripobeamter; Außenseiter; mit seinem Namen gestraft fürs Leben; wird gern bei unspektakulären Fällen eingesetzt; verehrt Bea; gemeinsame Opernbesuche
Aiden Ch. Jackson
38 Jahre; Sonnyboy im Delfinarium; hat ein feines Händchen für Delfine und Damen
Melissa Maywald
28 Jahre; naiv cholerisch; Tierpflegerin im australischen Bereich bei Sumpfwallabys, Bürstenschwanz-Rattenkängurus und besonders bei den niedlichen Koalas – außerdem bei Wombats, Beutelteufeln, Kurzschnabeligeln und Emus
Ramona Pundenz
29 Jahre; Ausübende der Gothic-Kultur; gelernte Tierpflegerin; wäre gern Delfintrainerin, auch um Aiden nahe zu sein; Hemmnis: Sie kann nicht schwimmen
Willy Wohlgemuth
Rentner; Rosenliebhaber und Koi-Züchter; Ehefrau Evelina; Böningerstraße; Nachbarn: Rauhut, Wilsemann, Frau Lutz
Ghazanfar Yavuz
besitzt eine Änderungsschneiderei; kultiviert; drei Töchter, die älteste heißt Hürrem, die mittlere Emine; versucht mit dezenten Schritten, Bea für sich zu gewinnen
Ein klatschnasser Morgen. Dellplatz – das grüne Hexagon im Herzen Duisburgs, wie Dr. Harnischfeger vom nahen Gymnasium bei offiziellen Reden häufig einfließen lässt. Manchmal sagt er auch: das grüne Herz im Hexagon Duisburgs. Bea Busch nennt es »mein Reich«. Ihr Büdchen auf grauem Grund im Schatten von Silberahornbäumen – wenn denn mal die Sonne scheint.
Bea stellt ihr Fahrrad in den Fahrradständer und nimmt ihre Tasche aus dem Gepäckträgerkorb. Ihr liegt der »falsche Hase« von gestern Abend noch schwer im Magen. Obwohl sie ihm ein, zwei Flaschen Bier mit auf seinen einsamen Weg gegeben hat.
Bea Busch, jenseits der Lebensmitte, ist eine Frau in den besten Jahren. Propper beisammen, findet nicht nur sie. Im Kopf klar, Körper mit originalen und originellen Rundungen, alle Lustzonen noch voll einsatzfähig, wenn der Passende käme. Mit selbstbewusstem, solidem Schick: modisch achtbare Schnürschuhe, eine schmale Hose, darüber ein knielanger Kaftan – in Lila, das hebt.
Sie will die überdimensionierte Zeitungskiste aufschließen, die seitlich am Büdchen angebaut ist, kommt aber nicht gleich klar. Dann der Schreck: Das Schloss wurde aufgebrochen! Sie hebt den Deckel an. In der Kiste liegt etwas, das da nicht hingehört: ein länglicher Gegenstand in Plastikfolie, zweimal geknickt. Bestimmt keine Liebesgabe, sieht eher nach verpacktem Müll aus. Tapetenreste, Teppichboden oder eine tote Ziege. Gab’s auch schon. Ekelhaft, kann man schlecht mit dem Fahrrad nach Hochfeld zum Recyclinghof bringen.
Sie will so schnell wie möglich ins Trockene, zieht an dem Paket, dreht es nach rechts und links, hebt es ruckartig an. Die dunkelgraue Folie platzt auf, eine verkrampfte Hand winkt ihr zu.
Ein Schrei, ein Fluch – im Schatten von St. Joseph besonders unangemessen. Bea stützt sich am Büdchen ab, atmet tief ein und stoßweise aus. In schwierigen Situationen wird sie ganz ruhig, um sich nach Überwindung des ersten Schocks einen ausgeprägten Schluckauf zu leisten.
Vielleicht ist es eine Halloweenfigur oder eine ausrangierte Schaufensterpuppe? Alles Ausreden. Bea packt das Paket am unteren Ende, zieht kräftig, bis die Verpackung auf ganzer Länge aufreißt.
Da liegt das Elend schutzlos vor ihr. Ein Mann. Nackt, noch nicht alt, vermutlich tot, aber durchaus ansehnlich, was Bea mit einem zwanghaft gelenkten Blick feststellt.
Endlich kann sie ihren Blick von dem adretten Körper trennen. Sie schließt ihr Büdchen auf, zwängt sich durch den Spalt – weiter lässt sich die Tür nicht öffnen, weil im Inneren alles zugestellt ist – seitwärts hinein. Tür zumachen, zum Handy greifen, Notruf wählen. Eine Begriffsstutzige am Telefon fragt zu viel und tut zu wenig. Bei Bea meldet sich der Schluckauf. Sie solle nichts anfassen, eine Polizeistreife mache sich sofort auf den Weg.
Bea kann den Schluckauf unterdrücken, denkt an den Nackten in der Kiste. Sie wird ein Heidschnuckenfell opfern, um ihn zu bedecken. Sonderangebot, im Verkauf unter der Ladentheke ohne Quittung 62 Euro, Einkauf: 28,40.
Sie öffnet die Tür, hebt widerstrebend den Deckel der Kiste an. Bin ich denn meschugge? Der Tote ist abgehauen, einfach weg, verschwunden!
Schon will Bea den Notruf abblasen, besinnt sich aber und sagt sich: Lass die Jungs ruhig kommen. Vielleicht ist was Knackiges dabei.
Nach einer Weile erscheint die Polizei in Form zweier Beamter. Unaufgeregt, missmutig. Kein Toter, kein Schaden, ein paar Zeilen fürs Protokoll:
Duisburg-Mitte – Um 7.29 Uhr wird ein Vorfall am Dellplatz gemeldet. Eine leblose männliche Person sei in der seitlich an »Beas Büdchen« angebauten Zeitungskiste aufgefunden worden. Die eintreffenden Kräfte des Streifendienstes Duisburg-Mitte konnten weder in der Zeitungskiste noch im näheren Umfeld des Kiosks eine leblose Person ausfindig machen. Verdächtige Spuren wurden ebenfalls nicht entdeckt. Der Einsatz wurde um 8.31 Uhr beendet.
Die beiden Polizisten verabschieden sich mit einem nachsichtigen Lächeln.
Bea kommt aus ihrem Schluckauf nicht mehr heraus. Sie gönnt sich ein Schlückchen Mariacron, schön kalt aus dem Kühlschrank, setzt sich dazu auf den Hocker in ihrem Büdchen. Als von außen gegen das kleine Fensterchen geklopft wird, das umrandet ist von Zeitschriftentiteln, »Bild«-Aufreißern und der Eiskarte, schreckt sie zusammen.
Meta, die Kowalewska. »Die ›Gala‹, bitte.«
Ist etwa schon wieder Donnerstag? Wieder eine Woche rum. Keine »Tina«, keine »Lisa«, keine »Bella«, keine »Bild der Frau« – die »Gala« muss es sein. »Wegen der Rezepte«, sagt Meta.
Bea schiebt das Fensterchen zur Seite.
»Bist du krank?«, fragt Meta, die in der Nachbarschaft von »Beas Büdchen« ein stattliches Einfamilienhaus besitzt.
»Ne, nur fix und fertig.«
Die Nachbarin steckt ihre Nase schnuppernd ins Büdchen: »Hast du getrunken?«
»Das fragst gerade du?«
»Die Beine?«, will Meta Kowalewska mitfühlend wissen.
»Mir platzt der Kopf.«
»Dann nimm dein Stirnband«, rät Meta abwesend. Sie überfliegt die aufgefächerten Auslagen und die angeklebten Werbeposter. »Streiken die bei der ›Gala‹?«
»Nicht dass ich wüsste.« Bea schielt nach der Flasche Mariacron. Außer Reichweite. »Bin heute Morgen noch nicht zum Auspacken gekommen. Kannst du mir mal die Zeitungspakete aus der Kiste geben? Die Kiste ist offen.«
»Wie heißt das Zauberwort?«
»›Gala‹-Entzug.«
»Na schön, aber das kriegst du zurück!« Metas Gesicht verschwindet aus dem Fensterchen.
Bea greift sich den Mariacron, hat keine Zeit für Feinheiten, nimmt einen Schluck direkt aus der Flasche.
Plötzlich ein hohes C mit Purzelbäumen und Überschlägen, ausdrucksstärker als von der Callas. Bea ist nicht sonderlich alarmiert, Meta hasst Ratten. Sie gönnt sich noch einen kleinen Schluck und will die Flasche gerade wieder absetzen, da erscheint Metas entsetzter Gesichtsausdruck im Fensterausschnitt. Schreckgeweiteter Mund, aufgerissene Augen, Sprache verschlagen.
»Nun beruhige dich erst einmal«, sagt Bea. »Willst du auch ein Schlückchen?«
Meta findet ihre Sprache wieder. »Mit Schnaps ist niemandem geholfen. In der Zeitungskiste liegt ein Toter!«
»Das glaubt mir keiner«, zischt Bea. Schon zwängt sie sich zur Tür hinaus, steht neben Meta an der Zeitungskiste mit der abgestützten Klappe und starrt hinein. »Das ist er!«
»Wer?«
»Der Kerl von heute Morgen.«
Unter der Plastikfolie, die dieses Mal nur achtlos auf den Toten geworfen wurde, ragen zwei stramme Waden und zwei gepflegte Füße heraus.
»Du hast gewusst, dass ein toter Kerl in der Kiste liegt? Ich sollte mich wohl mit Herzinfarkt gleich danebenlegen.«
»Das war so: Ich habe ihn heute Morgen entdeckt und sofort die Polizei angerufen. Aber als die gekommen ist, war der Kerl verschwunden.«
»Verschwunden?«
»Wenn ich’s dir doch sage.«
»Wie kann denn ein Toter –«
»Kannst du glauben oder es lassen!« Bea geht zurück ins Büdchen, holt das Heidschnuckenfell und legt es über den Toten. Dann nimmt sie ihr Handy aus der Jackentasche, wählt den Notruf.
Die Vermittlung meldet sich. Bea glaubt, die Stimme vom letzten Anruf zu erkennen. »Hier spricht Bea Busch von ›Beas Büdchen‹ am Dellplatz. Um es kurz zu machen: Der Tote ist wieder da.«
»Welcher Tote?«
»Den ich Ihren Kollegen vor nicht mal zwei Stunden zeigen wollte, der aber bei ihrem Eintreffen verschwunden war.«
»Aha.«
»Jetzt ist er wieder da und liegt genau an dem Ort, von dem er sich zwischenzeitlich verdrückt hatte.«
»Moment, damit ich es richtig verstehe …«, doch die Vermittlung scheint nichts zu verstehen, »… oder besser, ich vermittle Sie an das zuständige Fachkommissariat. Bleiben Sie bitte in der Leitung.«
Ein Klacken, nichts, Klacken, nichts … »Moment noch, bitte.« Klacken, nichts, Klacken, nichts … »Moment.« Klacken, nichts … »Ich kann Sie leider nicht direkt verbinden, die Kollegen sind alle –«
»Kriminalkommissariat 11 – Todesermittlungen, Brand … nuschelnuschel … Kriminalkommissar … nuschelnuschel …«
»Hier ist Bea von ›Beas Büdchen‹ am Dellplatz. Der Tote ist wiederaufgetaucht.«
»Da sind Sie leider bei mir an der falschen Adresse. Ich verbinde Sie direkt …« Abgedecktes Mikrofon, undefinierbare Gesprächsfetzen. »Kollege Schymanczek übernimmt.«
»Schymanczek.«
»Hier ist Bea von ›Beas Büdchen‹ am Dellplatz.«
»Wer?« Schymanczek scheint zu kauen.
»Herr Schymanczek, wir kennen uns!«
»Sind Sie Opfer, Beschuldigte oder Zeugin?«
Er muss von einer Brotstulle abbeißen, ein frisches Brötchen würde sich krosser anhören. Bea hatte mal ein Angebot an Belegten, aber die Studimosis essen heute nicht mehr von der Hand, sondern im Bistro. »Wir kennen uns aus der Oper.«
»Sind Sie Sängerin?«
»Nein, Abonnentin.«
»Und der Name?«
»Sie Domingo, ich Pavarotti.«
»Wenn das wieder ein Juxanruf sein soll, liebe Kollegin, ich kann auch anders!«
»Sie haben doch ein Opernabonnement wie ich und sitzen zwei Reihen vor mir, und in den Pausen –«
»Ach, Sie sind das! Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie nicht an Ihrem prägnanten Mezzosopran erkannt habe. Was kann ich für Sie tun?«
»Sie müssen mich von einem Toten befreien, der sich in meine Zeitungskiste verirrt hat. Kommen Sie so schnell wie möglich, ich halte das nervlich nicht mehr lange durch.«
Meta schüttelt den Kopf, ist mit Beas spaßiger Situationsschilderung keineswegs einverstanden.
»Wenn er schon tot ist, brauchen wir uns doch nicht so zu beeilen.«
Meta hat die Antwort des Kommissars gehört, dreht die Handflächen gen Himmel, schickt ihren Blick hinterher und seufzt vernehmlich. Das hast du nun davon, soll ihr gestischer Kommentar ausdrücken.
»Jetzt mal Spaß beiseite«, sagt Bea. »Wenn man ganz genau hinsieht, könnte man meinen, dass seine Augen unter den Lidern gelegentlich zucken.«
»Dann ist also noch Leben drin?«
»Das ist kein Scherz, Herr Kommissar!«
»Ich habe verstanden. Wir kommen sofort. Mit Blaulicht!«
Bea beendet das Gespräch. »Mit Blaulicht«, sagt sie zu Meta.
Meta schließt den Deckel der Kiste. »Nun könnte ich doch einen Mariacron vertragen.«
Bea nimmt sie mit ins Büdchen, sie schließen von innen ab. Wer mit den Augen rollt, kann vielleicht auch noch die Füße bewegen.
Bea fischt mit zwei Fingern die Pinnekes hinter dem Dosenbier hervor, schenkt randhoch ein und prostet Meta zu. »Auf ex!«
»Auf deinen oder meinen?« Meta kippt den Schnaps.
»Auf keinen, die haben es nicht verdient!« Bea lässt sich nicht lumpen und gießt nach.
Meta Kowalewska, weißblondes Haar, trägt besonders gern Lack und Leder in Schwarz oder einem sehr dunklen Rot. Sie setzt auf ihr verjüngendes Lachen, dekolletierte Oberteile und ihr Kobra-Tattoo zwischen den appetitlichen Hügeln. Bea nennt das Kunstwerk bei guter Laune Luftschlange, bei schlechter Hundehaufen.
Meta eilt stets mit hoch erhobenem Kopf und dezent hüpfendem Busen durch die Gegend, sieht alles, hört alles, kennt jeden und trägt mit Eifer zum Grundrauschen des Dellviertels bei. Nachdem ihr Mann sie wegen eines Torbens verlassen hat, hat sie sich einen angesehenen Scheidungsanwalt genommen, die Türschlösser in dem stattlichen Einfamilienhaus austauschen lassen und sich einen Untermieter gesucht. Der umtriebige Joop van Houten scheint Beziehungen zum Zoo Duisburg zu haben, läuft zumindest ständig mit einem Zoo-Cap herum, mäht Metas Rasen, wechselt die Glühbirnen und ist insgesamt sehr aufmerksam – in Ehren, alles in Ehren.
Die Polizei kündigt sich mit vollem Besteck an. Wenn schon, denn schon. Ein unspektakulärer Mann kurz vor dem Pensionsalter steigt müde aus dem anthrazitfarbenen BMW. Männer in seinem Alter ähneln sich alle, sind nur am Haar- und Bauchansatz zu unterscheiden.
Bea begrüßt ihn mit einem bedrückt freundlichen Lächeln. »Herr Schymanczek, wie schön …«
Der Name hat ihm die ganze Karriere vermasselt. Herausforderung für jeden Spaßvogel, sich mit einem Späßchen zu profilieren.
»Wo liegt er denn, der Halbtote?« Schymanczeks Joke kommt gut an, bei ihm. Er knarzt wie der Lachende Hans im Zoo. Er spricht mit Bea, doch sein irritierter Blick wird immer wieder magisch von der Kobra auf den prallen Sonnenhügeln angezogen.
Bea verzögert die Antwort, sie mag sich nicht mit seiner geteilten Aufmerksamkeit zufriedengeben. »Ich denke, die Zeit drängt?«
Jetzt hat Bea Schymanczeks volles Interesse.
»Direkt zu Ihren Füßen, Herr Kommissar!«
Schymanczek schaut sich um, kann kein Opfer einer Straftat ausmachen. Bea deutet mit dem Kopf auf die Zeitungskiste. Schymanczek erweist sich als Mann der Tat: Ohne lange zu fackeln, hebt er den Deckel, stützt ihn mit einem innen liegenden Besenstiel ab und sagt: »Aha!«
In der Kiste liegt ein Schaffell, aus dem zwei Füße hervorragen.
»Ich habe ihn zugedeckt«, sagt Bea ungefragt, »ich konnte nicht mehr hinschauen, er lag da so zerzaust und nackt.« Das »nackt« hat sie bewusst in Richtung Meta abgeschossen.
Schymanczek fotografiert mit seinem Handy. »Er hat also noch gelebt, als Sie ihn entdeckt haben?« Diese Frage gilt ausschließlich Bea.
Die belohnt die volle Aufmerksamkeit mit einer zügigen Antwort: »Dann wäre er wohl aufgestanden, als ich den Deckel aufgeklappt habe.«
»Oh«, sagt Meta, das ganze Durcheinander hemmt ihr morgendliches Denkvermögen.
»Am Telefon haben Sie behauptet, seine Lider würden gelegentlich noch zucken.«
»Das soll ich gesagt haben?«
»Alle Telefongespräche werden in der Zentrale mitgeschnitten.«
»Dann scheint der Datenschutz in Ihrer Zentrale noch nicht angekommen zu sein.«
Schymanczek sucht nach Worten.
»Wenn ich es mir genau überlege, hat nichts mehr gezuckt«, sagt Bea.
Meta gluckst. »Man steckt ja nicht drin, Herr Kommissar, aber der Mann ist mir bekannt, und es ist sehr, sehr schade um ihn. Er ist einer der Delfintrainer aus dem Zoo, wenn nicht sogar der Leader. Er wird allen fehlen.«
»Also kennen Sie ihn?«, fragt Schymanczek.
»Nein«, sagt Meta Kowalewska, »ich weiß nur, wer er ist.«
Schymanczek funkelt sie böse an, solche Haarspaltereien mag er gar nicht.
Zu Metas etabliertem Freizeitprogramm gehören gemeinsame Ausflüge in den Zoo mit ihrem Untermieter Joop van Houten, der sich in vertrauter Runde als Privatbeauftragter des Zoos bezeichnet und sich mit einem privilegierten Zugang zum Zoo brüstet.
»Der Delfintrainer verbreitete eine Aura von Freiheit und Freizügigkeit um sich, die alle … Es ist so traurig …« Verstohlen wirft sie dem Verblichenen ein Kusshändchen zu.
Bea verdreht die Augen und schüttelt den Kopf, Schymanczek seufzt, dreht sich um, tippt auf sein Handy und fordert Unterstützung von der Gerichtsmedizin und der Kriminaltechnik an. Mit dem Fall könnte ihm endlich eine Beförderung winken, zumindest ein neues Namensschild für den Schreibtisch: »Andreas Sch.« Dann würde das blöde Grinsen der Vorgeladenen endlich aufhören. Er zieht sich in den Dienstwagen zurück, muss später die angeforderte Unterstützung einweisen. Warum sie sich bei ihm bloß immer so viel Zeit lässt?
»Ich muss mich ein wenig hinlegen«, sagt Meta Kowalewska, »das ist einfach zu viel für mein empfindliches Nervenkostüm. Meine Kopfschmerzen machen sich wieder bemerkbar.«
»Erhol dich gut.« Da war doch noch etwas … »Und die ›Gala‹?«, versucht Bea, die Enteilende aufzuhalten, aber die hat sich bereits anderen Dimensionen zugewandt. »Ich leg sie dir zurück!« Obwohl … so groß ist die Nachfrage nun auch nicht.
Am nächsten Tag. Bea widmet sich einem Kreuzworträtsel, aber nur mit Bleistift und die Buchstaben aufs Papier gehaucht, schließlich muss sie die Zeitschrift noch verkaufen. Dabei ist sie wählerisch: Sie löst nur Kreuzworträtsel, bei denen es etwas zu gewinnen gibt. Man muss sehen, wo man bleibt.
Ein harter Fingerknöchel klopft gegen das Schiebefenster. Bea schreckt zusammen. Kundschaft! Die verspricht Abwechslung.
Bea nimmt eben gerne am Leben teil. Sie hat es zur Überbrückung der kundschaftslosen Zeiten schon mit einem Mini-Fernseher im Büdchen versucht, aber darauf waren die Menschen kleiner als ein Kirschlutscher, und so hat Bea ihr Fernsehgerät Frau Adomschik geschenkt. Frau Adomschik ist Spätaussiedlerin, hat Brustkrebs und kann sich keine Perücke leisten – erst recht keinen Fernseher.
»Ah, der Herr Sobotta, alles wieder in Ordnung gebracht?«
»Nun ja …«
»Ohne Sie würde es hier aussehen wie bei Hempels unterm Sofa.«
»Wenn den Müll keiner wegräumen würde, würden ihn die Leute vielleicht nicht einfach liegenlassen. In Düren wurden Abfallkörbe einkassiert, weil zu häufig Hausmüll darin entsorgt wurde. Na ja, den Ratten wird’s recht sein.«
Für Herrn Sobotta gilt die Logik von Ursache und Wirkung: Schmeißt du Chrom und Nickel in die Schmelze, kommt rostfreier Stahl raus. Löwenzahn ist da keine Lösung.
Paul Sobotta, 61, ehemals Stahlarbeiter bei Thyssen, heute Hartz IV, pflegt als Ein-Euro-Mann die städtischen Grünanlagen rund um den Dellplatz. Seine großzügig bemessenen Pausen verbringt er gern unter dem Vordach von Beas Büdchen.
»Machste mir mal ein KöPi und nen Kümmerling?«
»Verkauft ein Büdchen Flaschenbier, welches in unmittelbarem Umfeld konsumiert wird, so handelt es sich um einen erlaubnispflichtigen Ausschank.«
»Wer sich erwischen lässt, ist selber schuld.« Erst nach Kümmerling und zwei Schluck Bier setzt Sobotta die Konversation fort. »War gestern wohl einiges los bei dir?«
»Bitte …« In das Thema möchte Bea nicht einsteigen. Die Ereignisse treiben ihr immer wieder Tränen in die Augen. Alles noch zu frisch, morgen vielleicht oder übermorgen. Aber bis dahin …
»Dann eben einen Kümmerling für beide.« Sein rechter Zeigefinger macht eine kreisende Bewegung, um Bea in den Umtrunk einzubeziehen. »Prost!«
»Prost!«
»Ahhh … tut gut.«
Bea greift zur angebrochenen Tüte Salzlakritz – extra stark und würzig.
Nun folgt Sobottas Bericht aus dem Viertel. Vorher noch einen Schluck aus der Bierflasche, Mund mit dem Handrücken abgeputzt. »Wenn das so weitergeht, bekommt der Wohlgemuth in kürzester Zeit einen Herzinfarkt.«
»Wie alt ist er jetzt?«
»Bah, wie fies du sein kannst!«
»Bestell ihm schöne Grüße und gute Besserung«, sagt Bea. Das wird wohl nichts mehr mit einem locker flockigen Plausch. »Bis die Tage dann.« Sie will das Fensterchen schließen.
Sobotta hält von außen dagegen. »Wir brauchen deinen fundierten Rat.«
Bea nimmt die Hand vom Fenster, greift nach der offenen Tüte, steckt sich ein Lakritz in den Mund und hält Sobotta die Tüte hin.
»Danke.« Sobotta entschuldigt sich mit der Bierflasche im Anschlag. Bea zieht die Tüte zurück, Sobotta schenkt ihr ein Lächeln. »Du hast vielleicht gesehen, dass Wohlgemuths erst vor ein paar Wochen die Giebelwand neu verputzt und gestrichen haben. Seit gestern ist alles ruiniert.«
»An der falschen Stelle gespart? Sie hätten eben einen Profi beauftragen sollen.«
»›Mein Willy ist Profi genug‹, sagt Wohlgemuths Frau Evelina.« Sobotta schaut über seine Schulter, fühlt ein Unbehagen, und hinter ihm steht wirklich einer. Mehr ein halber, Nico heißt er und besucht die Oberstufe im Mercator-Gymnasium, weiß Bea.
»Eine Bunte Tüte ohne Veilchenpastillen.«
»Du bist aber ein Feinschmecker!« Bea zieht unter der Theke eine spitze weiße Tüte hervor und beschriftet sie mit einem kecken Schriftzug: »Du meine Güte – ne BUNTE TÜTE!«
»Ist für meine kleine Schwester, nicht für mich!« Nico lacht, findet seinen Einfall super, sein Grinsen sprengt die Gesichtszüge.
Bea kann ihm nicht böse sein. Sie macht die Tüte besonders voll – Lakritzschnecken, Colaflaschen, Halbmonde, Schnuller, drei versteckte Veilchenpastillen, Riesenerdbeeren – und kassiert einen Euro.
Der Junge kramt schon im Weggehen mit einer Hand in der Tüte.
»Ein Büdchen ohne Bunte Tüte«, sinniert Sobotta, »ist wie das Steigerlied ohne Arschleder.«
»Du wartest wohl auf meinen Protest wegen deiner unflätigen Ausdrucksweise, doch wo du recht hast, hast du recht.«
»Wie auch immer.« Sobotta scheint enttäuscht, er liebt die kleinen Kabbeleien mit Bea. »Kehren wir zurück zum Ernst des Lebens: Bei Wohlgemuths hat ein verkommenes Subjekt …«
»Du stehst kurz vor einer Gelben Karte!«
»Warte doch erst mal ab. Bei Wohlgemuths wurde also ein riesiges Schriftzeichen an die Wand gesprüht, in Pink und Rot. Sie wissen nicht, was es heißen soll. Vielleicht ist es eine Schweinerei oder sogar eine Drohung.«
»Pink und Rot sind die Modefarben der Saison.« Bea selbst trägt ein ausdrucksstarkes Mausgrau.
Sobotta holt ein Papiertaschentuch aus der Tasche und putzt sich die Nase. »Rauhuts Südseite ist auch versaut und Wilsemanns Carport und der Müllcontainer von Frau Lutz.«
»Da muss die Polizei ran.«
»Polizei, Polizei«, Sobotta schnieft noch einmal kräftig aus. »Die setzen ein Protokoll auf, und damit ist die Sache erledigt.«
»Aber irgendetwas muss doch geschehen!«
»Du hast doch so ein feines Näschen.« Sobotta schnäuzt ein letztes Mal und wirft das Papiertaschentuch in den Abfalleimer vor dem Büdchen. »Die betroffenen Anwohner haben eine Belohnung für die Ergreifung des Täters ausgesetzt.«
Eine Geldzuwendung käme Bea gerade recht. Im nächsten Monat haben zwei ihrer Nichten Geburtstag. »Ich nehme für meine kleinen Gefälligkeiten kein Geld, das wissen alle«, sagt Bea. »Wie viel steht denn zur Debatte?«
»Sie haben an drei, vielleicht auch vier gedacht.«
»Tausend?«
»Willy ist doch kein Krösus!« Sobotta lacht. »Er will die Rosen in seinem Garten umsetzen, dabei könnte er einige der Stöcke teilen.«
»Ach so.« Bea beschäftigt sich und ihre Kunden seit geraumer Zeit mit ihren Gedanken zur Verschönerung des Büdchens. Ein gefälligeres Ambiente könnte ihre Umsatzzahlen sprunghaft steigen lassen, hat sie in einer Gastronomie-Zeitschrift gelesen. Sie will auf der Rückseite ihres Büdchens die grauen Betonplatten vom schmalen Weg zwischen Hintertür und Parkplatz entfernen, den Boden umgraben und mit robusten Pflanzen aus dem toom-Baumarkt bestücken lassen. Rosen würden sich auch gut machen. »Ich kann mir die Rosen aussuchen?«
»Da müsste ich fragen.« Sobotta stellt die leere Bierflasche zurück ins Büdchen.
Wenn er bloß nicht immer eine solche Knoblauchfahne mit sich herumtragen würde, denkt Bea, doch sie lächelt und will das Fensterchen zuschieben.
»Ich überlege, mir …«
Das lässt Bea nicht Gutes ahnen.
»… eine Drohne anzuschaffen. Natürlich in Tarnfarbe. Es geht schließlich um Leben und Tod. Der Habicht hat sich meine letzte Taube geholt, und nun ist er dran – oder ich.«
»Du hast bloß den Bogen mit den Tauben nicht raus. Tauben gehören eben zu Bergleuten, nicht zu Stahlwerkern.«
»Dat könnte auch dieser Pupser von gegenüber gewesen sein, der mit seinem Luftgewehr aus dem Dachfenster ballert. Ne, was sind das bloß für Zeiten«, sagt Sobotta und zieht von dannen.
Von St. Joseph läuten die Glocken. Es ist 12 Uhr. Der Vormittag ist schneller vergangen, als ein Huhn picken kann. Herr Yavuz schließt seine Änderungsschneiderei, wirft Bea wie jeden Mittag eine Kusshand zu und begibt sich an seinen Familientisch zum Mittagessen. Seine Frau ist vor Jahren an einer verschleppten Lungenentzündung gestorben. So hat Herr Yavuz seine drei Töchter allein durch die schwierige Jugend in Deutschland leiten müssen. Er achtet penibel auf Sauberkeit und Akkuratesse. Seine älteste Tochter Hürrem führt unter widerwilliger Mithilfe ihrer Schwestern den Vierpersonenhaushalt.
Bea zieht ein Schild unter dem Fensterbrett hervor und hängt es von innen an die Scheibe. »Bin gleich zurück. Achtung: Videoüberwachung!« Es ist ihr zu umständlich, vor der Mittagspause alle Zeitschriften in das Büdchen zu holen und sie nach der Mittagspause wieder auszulegen. Sie verlässt das Büdchen durch den Hintereingang, schließt zweimal ab und geht zu ihrem Fahrrad. Es ist ein schönes Fahrrad mit stabilem Rahmen und tiefem Einstieg.
Bea fährt entgegen der Einbahnstraßenregelung die Wallstraße hinauf. Weil sie tief in Gedanken versunken ist, verpasst sie beinah die Böningerstraße, besinnt sich im letzten Augenblick, biegt abrupt ein und holpert über die Bordsteinkante.
Sie kann Wohlgemuths und ihre Mitstreiter gut verstehen, der Graffitikünstler hat wirklich großflächig zugeschlagen, aber am schlimmsten ist es auf der Giebelseite von Wohlgemuths zweigeschossigem Eigenheim. Die schmückt ein großer verschlungener Schriftzug. »Tags« nennt man solche Zeichen, das hat Bea in einem »Spiegel«-Artikel gelesen. Vergeblich versucht sie, die Buchstaben zu entziffern. Es könnten ein E und ein D sein, vielleicht ein F und ein O, am wahrscheinlichsten aber ein B und ein D. Doch zu keiner der Buchstabenkombinationen fällt ihr etwas Sinnvolles ein. Unten rechts ist ein Hut ohne Krempe abgebildet. Oder ist es ein stilisiertes Atomkraftwerk?
Bea nimmt ein Notizbuch aus ihrer Tasche und zeichnet das Graffiti möglichst genau ab. Natürlich in verkleinertem Maßstab. Oder ist es ein größerer Maßstab, wenn man etwas kleiner abbildet, als es in Wirklichkeit ist? Bea klingelt noch kurz bei Wohlgemuths an, um mit ihnen über die Rosen zu sprechen, aber Wohlgemuths sind nicht zu Hause.
Sie fährt zurück zum Büdchen, verkauft Panini-Bilder, mehrere Flaschen Cola, Bier, Zigaretten und Zeitschriften und bearbeitet zwischendurch ein weiteres Kreuzworträtsel – ein tolles Duftset ist zu gewinnen. Fehlt nur noch »übrig gebliebene Geldsumme am Monatsende« mit zehn Buchstaben. Restgeld? Kleingeld? Woher soll sie das wissen? Monatsende und Geld vertragen sich nicht.
*
Bea hat eine unruhige Nacht. Sie träumt von Skeletten, die ihr mit knochigen Fingern gegen die Stirn klopfen, mit braunen Zähnen Lakritze kauen und sich aus leeren Nasenhöhlen schnäuzen.
Bea weiß, dass sie träumt, und zwingt sich aufzuwachen. Sie schaut auf den Wecker, hat erst knapp drei Stunden geschlafen, ist aber hellwach. So kann sie nicht wieder einschlafen. Sie geht in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken, verspürt einen kleinen Appetit und öffnet die Kühlschranktür. Bloß keinen Käse, der liegt zu schwer im Magen, Wurst in der Nacht ist ungesund. Die Schachtel mit den Schokoküssen lacht sie so einladend an. Ein Mini-Schokokuss hat nur 28 Kalorien. Nur 28! Bea streckt die Hand aus, und wie ein verspäteter Blitz aus ihren Träumen erscheint ihr plötzlich das Bild von dem Graffiti an Wohlgemuths Giebelwand vor dem inneren Auge. Ganz deutlich sieht sie die Schriftzeichen vor sich. Aber da war noch etwas, kein Schriftzeichen, sondern …
Bea holt ihr Notizbuch und setzt sich an den Küchentisch. Drei Schokoküsse sind auch erst 84 Kalorien, die baut man bei schweren Träumen schnell wieder ab.
Unten rechts in der Ecke hat der Schmierer keinen Buchstaben, sondern eine kleine Zeichnung hinterlassen. Das ist kein Hut und auch kein Atomkraftwerk, das ist ein … Nur noch ein einziger Schokokuss, dann ist Schluss! Richtig, das könnte ein … Ihr fällt nur Schokokuss ein. Schokokuss gleich Dickmann. Aber sie kennt keinen B. Dickmann. Keinen Bernd, Benno oder … Halt, na klar, Diekmayer, nicht Dickmann. Diekmayer gibt’s hier im Viertel. Der Sohn, Nico, kauft sich bei ihr ab und zu eine Bunte Tüte. Er hat im letzten Jahr den großen Malwettbewerb im Mercator-Gymnasium gewonnen, als ein neues Logo für die Schülerzeitung gesucht wurde. Der Dellplatz-Kurier hat ausführlich darüber berichtet. Jetzt erkennt sie es deutlich: Der erste Buchstabe ist kein B, sondern ein verschnörkeltes N, dessen Mitte der obere Ansatz des D-Bogens kreuzt. Sie wird sich diesen Nico Diekmayer mal zur Brust nehmen, sich ihn vorknöpfen. Das ist immer noch liebevoll, besser als durch Pfahlhängen oder Daumenschrauben ein Geständnis zu erzielen. Bea lächelt, legt sich wieder ins Bett und schließt die Augen.
*
Ungeduldig hält Bea am nächsten Morgen Ausschau nach Nico Diekmayer, doch der lässt sich erst kurz nach eins blicken. Mit wiegendem Schritt geht er am Büdchen vorbei, hört nicht auf Beas Rufe. Sie muss eine leere Plastikflasche nach ihm werfen, damit er die Stöpsel aus seinen Ohren zieht und aufmerksam wird.
Nico kommt näher und reicht Bea die Flasche durchs Fensterchen. »Hier, einmal Flasche zurück.«
»Danke.«
»Macht 25 Cent Flaschenpfand.«
»Lass den Quatsch! Ich muss mit dir reden.«
»Gern – wenn Sie einen Job für mich haben. Ich brauche dringend Geld.«
»Ein Job ist dir sicher, allerdings ohne Bezahlung. In drei Tagen sind alle Graffitis verschwunden, die du in der Böningerstraße an die Wände der Häuser gesprüht hast.«
»Ich komme nie durch die Böningerstraße, und von Graffitis weiß ich nichts.«
Bea zieht ihr Notizbuch unter dem Fensterbrett hervor und tippt auf den Schriftzug. »ND, oder etwa nicht?«
Nico geht einen Schritt zurück, legt den Kopf auf die Seite und grinst. »Wie wollen Sie das denn beweisen?«
»Schon mal was von Infrarotkameras gehört?« Bea hofft inständig, dass Infrarot und nicht Ultraschall die richtige Bezeichnung ist.
»Und ich bin zu erkennen?«
»Wer sonst?«
»Mist!«
»Hättest du dir vorher überlegen sollen.«
»Wie soll ich das ohne Aufsehen in drei Tagen schaffen?«
»Trommel ein paar Freunde zusammen und melde dich bei den Geschädigten. Sag, ihr wollt die Wände renovieren.«
»Tolle Idee. Da kann ich mir gleich ein Schild um den Hals hängen: ›Ich bin ein Obertrottel‹.«
»Gebt euch als ökologische Arbeitsgruppe der Schule aus, das kommt immer gut an.«
»Und wenn nicht?«
»Die Geschädigten waren schon bei der Polizei«, schönt Bea ein wenig die Wahrheit.
Nico überlegt. »Sie verpfeifen mich nicht?«
»Ich kann überhaupt nicht pfeifen – keinen Ton!«
*
Dienstag unter Metas Dach. Familientag. Sie strippt für Joop, er bügelt Wäschestücke, ein gerechter Ausgleich, finden beide.
Meta präsentiert sich auf einem gläsernen Couchtisch, rotes Mieder, schwarze Netzstrümpfe, dazu ein schwarzer Minirock und ein stützender BH – beides aus Leder –, lange schwarze Handschuhe und ein gleichfarbiges Lederhalsband, alles gepflegt und appetitlich. Wenn da nicht die roten Plateauschuhe wären mit der rechts leicht abgeschabten Ausbuchtung am großen Zeh. Hallux valgus – auch Ballenzeh, schiefer Zeh oder Ballengroßzeh genannt. Ein kleiner Schönheitsfehler im ansonsten verlockenden Erscheinungsbild.
Meta feuchtet ihren rechten Zeigefinger an, führt ihn langsam, sehr langsam über das Kinn hinab zu ihren kaum bedeckten Honigmelonen.
Für Joop eine Übung an Selbstbeherrschung wie für einen Trinker das Spülen von Schnaps- und Biergläsern.
Meta tippt der Tattoo-Kobra zwischen die Augen, leckt sich verführerisch über die Lippen, lässt eine Hand hinunter zum Rock gleiten. Plötzlich bricht sie ab, steigt vom Couchtisch, greift sich ins Dekolleté und wirft Joop einen kleinen weißen Knochen auf das Bügelbrett. »Was zu viel ist, ist zu viel!«
Joop will den Knochen an sich nehmen, verbrennt sich die Finger, stellt das Bügeleisen hastig aus und schiebt es in die Halterung.
»Ich habe nichts gegen deine kleinen Freudenspender zur Stimulierung von G-Punkt und/oder Vagina in den perfekten Größen von 19 bis 27 Zentimetern, naturfarben oder in modischem Kolorit. Aber mit einem echten Knochen zu verkehren, das hebe ich mir für den Friedhof auf.«
»Mauseschnäuzchen, das war keine böse Absicht.« Joop pustet sich auf die Hand, wagt es nicht, das Bügelbrett zu verlassen und die Hand unter kaltem Wasser abzukühlen. »Es ist ganz anders, als du denkst.«
»Und wie?«
»Der Knochen war nicht für unsere kleinen Spielchen gedacht. Ich kann mir ehrlich nicht erklären, wie er in deine Wäsche geraten ist.«
»In meine Wäsche? Den hab ich zufällig in einer deiner Jackentaschen gefunden.«
»Du durchsuchst meine Klamotten?«
»Lenk jetzt nicht ab! Oder hast du eine andere? Etwa eine von den Zoomiezen?«
»Lass es mich erklären …«
»Lass dir etwas einfallen, aber sofort, sonst …«
»Bitte …« Joop tastet Meta mit einem Blick von oben bis unten ab. »Bei dem Anblick kann ich mich einfach nicht konzentrieren.«
»Vorher ist nichts mit Entspannung.«
»Zieh dir bitte etwas über, ich koch uns eine Tasse Kaffee, und dann setzen wir uns zusammen.«
Meta kommentiert mit einem erhabenen »Pöh!«, wirft den Knochen in den Aschenbecher, einen Wal aus Metall mit weit geöffnetem Maul, und geht ins Schlafzimmer.
Joop legt sich eine Strategie zurecht, wie er Meta wieder auf den Couchtisch bringen kann. Nachbars Mülleimer scheint ihm am plausibelsten. Doch als Meta zurückkommt, sieht Joop, dass sie geweint hat. Eine bessere Erklärung muss her.
»Setz dich zu mir«, sagt Joop. Meta hat sich Jeans und Sweatshirt übergezogen, sie kann also ruhig näher rücken. »Bei uns in Holland heißt es: De een z’n dood is een ander z’n brood. So viel wie: Des einen Tod ist des anderen Brot. Der Knochen soll ein kleiner Glücksbringer für unsere Liebe sein. Das ist mir spontan eingefallen, als ich bei Buck die Wildschweinsülze gekauft habe. Hendrik Buck hat gelacht, als ich nach einem sauberen Knochen gefragt habe, um ihn dir als Talisman zu schenken. Ich glaube, der ist vom Hasen oder Reh. Entschuldige, war nicht böse gemeint. Mit einer anderen Frau hat das Teil wirklich nichts zu tun.«
Meta sieht ihn prüfend an, eine ganze Weile. Joop lässt sich nicht verunsichern, zeigt unverwandt sein gewinnendes Lächeln. Meta fischt ein Papiertaschentuch aus der Hosentasche, putzt sich die Nase. »Na schön …« Sie steht auf, greift zum Gürtel ihrer Jeans. »Weiter geht’s. Gleich hier!«
*
Es nieselt, Bea schließt das Büdchen, stellt die grünen Blenden vor die Fenster, sichert sie, prüft noch einmal Tür und Zeitungsbox, ob sie auch wirklich verschlossen sind, überquert die Straße und betritt Herrn Yavuz’ Änderungsschneiderei. Herr Yavuz knipst sofort das Licht an seiner Nähmaschine aus, steht auf und küsst Bea zur Begrüßung die Hand.
An jedem ersten Mittwochabend im Monat spielen Bea und Herr Yavuz Dame. Auf dem Samowar steht das Kännchen mit starkem türkischem Tee. Das Damebrett hat Herr Yavuz auf dem kleinen Tisch zwischen den beiden Kleiderständern aufgebaut. Bea setzt sich, Herr Yavuz serviert den Tee in kleinen Gläsern und nimmt aus einem Regal einen mit Alufolie abgedeckten Teller. Er entfernt die Folie und stellt die honigsüßen Leckereien auf den Tisch.
Bea schüttelt den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ich etwas davon nehmen kann.«
»Madame«, sagt Herr Yavuz, »es ist alles von meinen Töchtern mit Liebe zubereitet.«
»Ich muss ein wenig auf meine Figur achten.«
Herr Yavuz lächelt verschmitzt und setzt sich. Bea nimmt sich ein Profiterol und schiebt sich das Windbeutelchen zwischen ihre gespitzten Lippen. Sie kennt schon einige der süßen Verführungen mit Namen.