Beautiful Graves - L. J. Shen - E-Book

Beautiful Graves E-Book

L.J. Shen

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Beschreibung

»Es gibt da diesen Funken, Ever.«

»Du weisst doch, was Funken anrichten können.«

»Sie werden zu Flammen.«

Für Everlynne ist es Liebe auf den ersten Blick, als sie den attraktiven Joe im Spanienurlaub kennenlernt. Noch nie hat sie eine so tiefe Verbindung zu jemandem gespürt. Doch ihnen bleibt nur eine Nacht, bis Ever nach San Francisco zurückkehren muss. Die beiden versprechen sich, in Kontakt zu bleiben, aber ein schwerer Schicksalsschlag veranlasst Ever, Joe aus ihrem Leben zu verbannen. In ihrer tiefen Trauer schottet sie sich von allen ab, bis sie Dominic Graves begegnet. Mit seinem Optimismus und seiner Liebe bringt Dominic sie zurück ins Leben, dennoch kann sie Joe einfach nicht vergessen. Und dann steht er plötzlich wieder vor ihr ...

»Ich liebe L. J. Shen über alles - einfach, weil sie sich immer selbst übertrifft. Mehr Gefühl, mehr Herzschmerz und mehr Liebe!« BOOKWORMIII

Der neue Roman von SPIEGEL-Bestseller-Autorin L. J. Shen

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Seitenzahl: 554

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Motto

Playlist

Prolog

Teil 1

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

Teil 2

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von L. J. Shen bei LYX

Impressum

L. J. SHEN

Beautiful Graves

Roman

Ins Deutsche übertragen von Anne Morgenrau

ZU DIESEM BUCH

Everlynne Lawsons Plan nach der Highschool steht seit Langem fest: Ein Spanienurlaub mit ihrer besten Freundin, bevor sie Kunst an der Berkeley University studiert. Womit sie allerdings nicht gerechnet hat, ist, sich zu verlieben. Als sie den angehenden Autor Joe in Barcelona kennenlernt, ist es für beide Liebe auf den ersten Blick. Sie spüren eine so tiefe Verbindung wie nie zuvor. Doch ihnen bleibt nur eine gemeinsame Nacht, bis Ever nach San Francisco zurückkehren muss. Die beiden versprechen sich, in Kontakt zu bleiben, aber kurz darauf trifft Ever ein schwerer Schicksalsschlag, der sie veranlasst, Joe für immer aus ihrem Leben zu verbannen. Getrieben von schweren Schuldgefühlen und unendlicher Trauer schmeißt sie das College, entfremdet sich von ihrer Familie und zieht ans andere Ende des Landes. Dort schottet sie sich von allem ab, existiert nur noch und lebt nicht mehr – bis sie Dominic Graves begegnet. Der attraktive Krankenpfleger bringt Ever mit seinem Optimismus und seiner Liebe zurück ins Leben. Doch sie kann Joe einfach nicht vergessen. Und dann steht er plötzlich wieder vor ihr, so nah, aber dennoch unerreichbar für Ever …

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Euer LYX-Verlag

Die Dinge, die wir lieben, sagen uns, was wir sind.

Thomas von Aquin

Die Hoffnung ist ein Wachtraum.

Aristoteles

PLAYLIST

Duran Duran – Save a Prayer

Oasis – Don’t Look Back in Anger

Annie Lennox – No More »I Love You’s«

Dubstar – Stars

The Hollies – The Air That I Breathe

Goldfinger – Put the Knife Away

PROLOG

So habe ich mir den Eintritt in diese Kirche nicht vorgestellt.

Schwarz gekleidet, mit tief in den Höhlen liegenden Augen und aufgesprungenen Lippen.

Im Magen nur eine Tasse lauwarmen Kaffee, den ich zusammen mit einer Valium hinuntergestürzt habe.

Es spielt keine Rolle, wie viele Leute hier sind, um mir beizustehen. Die Sache mit Tragödien ist die: Dem großen Alleinsein entkommt man nicht, niemals. Irgendwann holt es einen ein. Mitten in der Nacht. Unter der Dusche. Wenn man sich im Bett umdreht und das Laken an der Stelle, wo eigentlich der Liebste liegen sollte, glatt und unberührt ist.

In den großen Momenten des Lebens ist man immer allein.

Aber ich bin nicht bereit, mich zu verabschieden.

»Du musst nicht bis zum Begräbnis bleiben«, sagt mein Dad. Er kommt wie immer gleich zur Sache. Als wir an den Trauergästen vorbeigehen, halte ich den Blick fest auf das Portal der Kirche gerichtet und vermeide jeglichen Augenkontakt. »Sie werden es verstehen. Du gehst gerade durch die Hölle.«

Vielleicht ist es falsch, sich nicht zu fragen, was die Leute denken, aber mir ist es tatsächlich egal. Ich werde nicht hier sein, wenn der Sarg in die Erde hinabgelassen wird. Wenn sich die Versammlung auflöst, werde ich längst weg sein. Bevor es real wird. Vielleicht bin ich feige, aber ich halte es einfach nicht aus. Ein weiterer verfrühter Abschied.

»Er bekommt bestimmt ein schönes Grab«, höre ich mich sagen. Meine Stimme steigt aus meiner Magengrube empor wie Galle. »Alles an ihm ist schön.«

»War«, verbessert mich jemand hinter mir.

Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, wer es ist.

Der Mann, dem der andere Teil meines Herzens gehört.

Und das war’s. Ich halte es nicht mehr aus. Einen Meter vor dem Eingang zur Kirche gehe ich auf die Knie, senke den Kopf und fange an zu weinen. Um mich herum höre ich die Trauergäste leise murmeln: Armes Kind und: Nicht ihre erste Tragödie oder: Was sie jetzt wohl tun wird?

Die Frage ist berechtigt. Ich habe keine Ahnung, was ich tun werde. Denn selbst in den besten Zeiten war ich immer hin- und hergerissen.

Zwischen dem Mann, den ich jetzt zu Grabe trage.

Und dem, der hinter mir steht.

TEIL 1

1. KAPITEL

Achtzehn

Es beginnt mit einer Mutprobe auf der La Rambla.

Mit dem kaltschnäuzigen Versuch meiner besten Freundin, die Aufmerksamkeit eines Typen auf sich zu ziehen.

»Die Dinger bringen dich um, Bro.«

Pippa greift nach der Zigarette, die zwischen seinen Lippen klemmt. Sie nimmt sie ihm aus dem Mund und bricht sie entzwei.

Wir sind erst seit einer Stunde in Barcelona, und schon sucht sie nach kreativen Todesarten für uns beide.

»Hier. Gern geschehen. Hab dich gerade vor Krebs bewahrt.« Sie wirft ihre im Ombré-Look gefärbten Haare schwungvoll über die Schulter, schlüpft durch die Schiebetüren einer Apotheke und lässt den Typen einfach stehen.

»Tut mir leid. Wir haben vergessen, auch ihre Manieren einzupacken«, murmele ich dem Raucher am Straßenrand zu und nehme meine In-Ear-Hörer heraus.

So machen wir es immer, Pippa und ich. Sie legt das Feuer, ich lösche es. Sie ist heiß und chaotisch, ich bin emotionslos wie eine Eisskulptur bei einer königlichen Hochzeit. Sie könnte es mit einem Laternenpfahl treiben, und ich … Nun, ich vermute nach wie vor, dass ich womöglich asexuell bin, obwohl (oder vielleicht gerade weil?) ich vor ein paar Monaten meine Unschuld verloren habe.

Pippa und ich kennen uns schon ewig. Wir haben uns an unserem ersten Tag im Kindergarten kennengelernt und uns sofort um einen Holzwürfel gestritten (mit dem sie mir der Legende nach auf den Kopf geschlagen hat). Seitdem sind wir unzertrennlich.

Ich bin ein makabres Gothic-Girl in Boots, sie hingegen eine strahlende Ariana-Grande-in-Technicolor-Erscheinung.

Wir sind auf dieselbe Grundschule gegangen, auf dieselbe Mittelschule und dieselbe Highschool, und wir verbrachten die Ferien in denselben Sommerlagern.

Und nun waren Pippa und ich beide an der Universität von Berkeley eingeschrieben.

Es war Pippas Idee gewesen, für zwei Wochen nach Spanien zu fliegen, als letzten großen Auftritt vor dem Beginn des Studiums. Sie ist mütterlicherseits halb spanisch, und Alma, eine Tante von ihr, lebt in Barcelona, was für uns eine kostenlose Übernachtungsmöglichkeit bedeutet.

»Lass uns eine neue Regel aufstellen.« Ich werfe mir den Rucksack über die Schulter, während wir unter dem grün leuchtenden Neonschild mit der Aufschrift FARMACIA: 24 HORAS stehen. »Keinen Ärger mehr mit Einheimischen. Wenn du in eine Schlägerei gerätst, gehe ich einfach weiter und tue so, als ob ich dich nicht kenne.«

Was gelogen ist. Für Pippa würde ich eine Kugel abfangen. Es ist nur so, dass ich es sehr viel lieber nicht tun würde.

»Ach, komm schon!«, schnaubt sie und greift auf dem Weg zur Abteilung für Körperpflege nach einem grünen Körbchen. »Wir haben zwei Wochen Zeit, uns auszuleben, bevor es wieder zurück in die Realität geht. Das College ist eine ernste Angelegenheit, Lawson. Genau jetzt ist der richtige Zeitpunkt für eine Schlägerei. Besonders mit so einer Sahneschnitte wie diesem Typen da.«

Sie wirft Shampoo, Conditioner, Zahnpasta und zwei Zahnbürsten in unseren Korb. Ich lege Paracetamol, Sonnenmilch und Bodylotion dazu. Keiner von uns wollte etwas einpacken, das im Koffer explodieren könnte.

Mitten im Gang für Rasierzubehör bleibt Pippa stehen. »Glaubst du, dass die Pille danach hier frei verkäuflich ist?«

»Warum? Hast du vor, ungeschützten Sex zu haben?«

»Ich bin nur neugierig, okay? Ich habe nicht gesagt, dass ich sie auch nehmen will.« Sie zuckt mit den Achseln, dann nimmt sie mich bei der Hand und zieht mich in den nächsten Gang. Mir fällt auf, dass wir ungefähr fünf Dezibel lauter sind als alle anderen in dem Laden. Der übrigens nicht leer ist. Ein älteres Pärchen redet mit dem Apotheker, eine schwangere Frau schielt nach einer Flasche Abführmittel, und ein Haufen Jungs in Fußballtrikots beschäftigt sich mit Anti-Pilz-Salben.

Pippa bleibt in dem Gang stehen, den wir die Fickabteilung nennen, und fährt mit einem spitzen Fingernagel, auf dem ein Flammenmotiv prangt, über verschiedene Produkte.

»Vergiss nicht, Kondome zu kaufen.« Ich knabbere an meinem schwarzen Nagellack und will schleunigst raus aus dem Laden. Ich sehne mich danach, bei ihrer Tante unter die Dusche zu springen, mir den zwölfstündigen Flug abzuwaschen und mich zu entspannen. »Nur für den Fall, dass du doch was dagegen hast, Chlamydien als Souvenir mitzubringen.«

»Chlamydien sind ein blödes Souvenir.« Pippa sieht mich an und grinst. »Wir brauchen ein richtiges Souvenir. Und deshalb lassen wir uns hier in Barcelona tätowieren.«

»Du lässt dich hier tätowieren«, korrigiere ich. »Ich nicht.«

»Warum nicht? An Angst vor Nadeln kann es ja nicht liegen.« Mit hochgezogener Braue starrt sie auf meinen Nasenring.

Ich drehe ihn, sodass er halb in meiner Nase verschwindet. »Piercings sind in Ordnung, aber ein Tattoo bedeutet, dass man sich festlegt, und das mache ich nicht. Darf ich dich daran erinnern, dass ich mich nicht mal auf eine bestimmte Sorte Frühstücksflocken festlegen kann?«

»Du bist dermaßen auf eine bestimmte Sorte Frühstücksflocken festgelegt«, schnaubt sie. »Reese’s Puffs.«

»Ja, die mag ich, aber genauso gern vernichte ich eine Schüssel Frosted Flakes und Apple Jacks.«

»Apple Jacks.« Pippa schaudert. »Du bist ja echt nicht mehr zu retten. Aber egal, ein Tattoo brauchst du auf jeden Fall. Deine Mutter wird wahnsinnig stolz auf dich sein, wenn du dich endlich traust.«

»Ich kann durchaus damit leben, sie zu enttäuschen.«

Allerdings liegt Pippa da nicht ganz falsch. Barbara »Barbie« Lawson wäre hocherfreut zu hören, dass ich mir den ganzen Arm tätowieren lassen will. Sie selbst hat Tattoos auf dem Rücken, den Waden und den Unterarmen. Zitate, die ihr etwas bedeuten. Sich tätowieren zu lassen ist ungefähr so, als würde man ein einfarbig gestrichenes Zimmer tapezieren, sagt sie immer.

Mom wurde in Liverpool in England geboren und riss mit sechzehn nach San Francisco aus. Sie ist keine typische Mutter. Deshalb liebe ich sie nicht nur als Elternteil, sondern auch als Mensch.

»Ever!«, schimpft Pippa und stampft mit dem Fuß auf. Mein Name ist Everlynne, aber seien wir ehrlich: Dafür ist das Leben zu kurz. »Jetzt komm schon.«

Ich forme mit den Zeigefingern ein Kreuz, als wäre sie ein Vampir.

»Na schön.« Pippa hebt beide Hände, dann sucht sie eine Packung Kondome aus. »Keine Tattoos, aber verderben werde ich dich trotzdem. Ich muss mir etwas einfallen lassen. Everlynne Bellatrix Lawson, du bist ein sehr böses Mädchen. Und mit böse meine ich brav. Viel zu brav. Ekelhaft brav. Wir sind die Generation Z! Mist bauen liegt in unserer DNA, okay? Wir sind mit sozialen Medien und den Kardashians aufgewachsen.«

»Ich baue eine Menge Mist, auch ohne es mit jemandem zu treiben«, erwidere ich, obwohl wir beide wissen, dass das nicht stimmt. Wenn es um Akte der Rebellion geht, bin ich unglaublich langweilig.

»Ich lasse dich mit Tattoos in Ruhe, wenn du mir versprichst, in den nächsten zwei Wochen eins von diesen Dingern zu benutzen.« Sie wedelt mit der Kondompackung vor meiner Nase herum. Gleich werde ich vor lauter Peinlichkeit in winzige Stücke zerspringen. Das Einzige, was mich davon abhält, ist der Umstand, dass ich es schrecklich fände, nicht nur eine Szene zu machen, sondern obendrein noch ein Chaos anzurichten.

Aus dem nächsten Gang ist ein Kichern zu hören. Wir haben also Publikum. Yippie yay.

»Ich bin keine Jungfrau mehr«, sage ich, nehme ihr die Kondome aus der Hand und verstaue sie in den Tiefen des Korbs unter den Tampons und der Zahnpasta.

»Hm, das war mit Sean Dunham. Zählt das überhaupt?«, versetzt Pippa.

Ein Schnauben ist zu hören, aber weil eine Wand aus Kondompackungen mir die Sicht versperrt, kann ich nicht sehen, von wem es kommt. Englisch zu sprechen ist wirklich blöd. Egal, wo auf der Welt man ist, es versteht einen einfach jeder.

»Hey! Wir haben das ganze Programm durchgezogen.«

»Wohl eher durchlitten. Es war doch enttäuschend. Und eine halbe Sekunde später hast du mit ihm Schluss gemacht«, erwidert Pippa.

Richtig. Absolut richtig. Dagegen kann ich nichts sagen.

»Und wenn mir hier keiner gefällt?« Ich verschränke die Arme.

»Dir gefällt ja nie einer«, sagt sie und seufzt. »Ich rechne auch nicht damit, dass du dich hier in jemanden verliebst. Mach’s doch einfach nur zum Vergnügen.«

Die Person auf der anderen Seite des Ganges lacht jetzt laut, und die Stimme gehört definitiv einem Mann. Sie ist tief und rau.

Willst du noch ein bisschen Butter zum Popcorn, Alter?

»Du musst endlich teamfähig werden, Ever. Das ist deine Aufgabe auf dieser Reise. Spaß haben mit einem völlig Fremden. Keine Konsequenzen. Keine Beziehung. Nur eine kurze Affäre im Ausland.«

Ich war der Ansicht, dass die Person auf der anderen Seite des Gangs inzwischen mehr als genug über mein Sexleben (oder das Fehlen desselben) erfahren hatte, und bedachte Pippa mit einem Todesblick.

»Ich werde auf keinen Fall Sex mit einem Fremden haben.«

»Doch, das wirst du.«

»Nein, werde ich nicht.«

»Dann muss ich dich wohl weiter damit nerven, dass du dich tätowieren lässt, genau wie ich.«

Genervt von ihren Mätzchen stöhne ich auf. »Na schön, dann benutze ich eben eins. Besorg du uns lieber mal ein paar Snacks. Ich muss kurz telefonieren.«

»Wenn du Barbie zwecks moralischer Unterstützung anrufen willst – die Mühe kannst du dir sparen. Sie wird auf meiner Seite stehen, das weißt du.« Pippa schwebt davon wie eine Fee, und ihr Kichern hinterlässt eine Spur aus Sternenstaub.

Ich hole mein Handy aus dem Rucksack und warte darauf, dass es mir ein Netz anzeigt.

Ich rufe Mom an. Sie antwortet nach dem ersten Klingeln, obwohl es in Kalifornien entweder sehr früh oder sehr spät ist.

»Ever!«, gurrt sie. »Wie ist es in Barcelona?«

»Wir sind noch nicht mal eine Stunde hier, und Pippa hat bereits versucht, Streit mit einem Eingeborenen anzufangen. Außerdem hat sie Kondome gekauft und versucht, mich zu einem Tattoo zu überreden.«

»Und das findest du natürlich alles ganz schrecklich.« In Moms Stimme ist ein Lächeln zu hören.

»Ach Mom, du kennst mich doch.«

»Na, dann ist ja alles im grünen Bereich in Pipperland.« Pipper. Pippa und Ever. Ich finde es großartig, dass sie uns diesen gemeinsamen Namen gegeben hat. Barbie Lawson ist eine extrem coole Mom.

»Ich vermisse dich jetzt schon«, sage ich und beiße mir auf die Lippe.

»Tatsächlich?« Sie kichert. »Der Grund, warum ich noch wach bin, ist übrigens, dass ich deine alten Fotoalben durchsehe. Ich kann nicht glauben, dass mein Baby auf einem Mädelstrip in Europa ist, auf der anderen Seite des Ozeans.«

Verdammt. Ich werde auf keinen Fall in der Fickabteilung anfangen zu heulen. Auf. Keinen. Fall.

»Ja, ich auch nicht. Ich muss jetzt Schluss machen, Mom. Ich liebe dich.«

»Ich dich auch. Bis zum Mond und zurück.«

Ich beende das Gespräch und will das Handy gerade in meine Gesäßtasche stecken, da ragt ein Schatten vor mir auf und verstellt mir den Weg. Ich hebe den Kopf. Es ist der Typ von der Straße, der mit der Kippe. Pippa hat recht, er ist tatsächlich irgendwie heiß. Erst auf den zweiten Blick. Genau mein Geschmack. Mit dunklen, kantigen Zügen wie eine Mangafigur. Er ist groß, auf mehr als nur konventionelle Art attraktiv und schlank. Seine Haltung erinnert mich an eine verwelkte Sonnenblume. Er hält den Kopf gesenkt, als könnte er sonst nicht hören, was normal große Leute sagen. Er hat dunkelblaue Augen, ein kantiges Kinn und eine etwas zu lange und zu spitze Nase. Wegen dieser durchschnittlichen Nase kommen seine ansonsten makellosen Gesichtszüge umso besser zur Geltung. Ein finaler Geniestreich der Natur, der ihn gleichzeitig attraktiv und ansprechend wirken lässt.

»Wasserbomben«, sagt er mit ausdrucksloser Stimme und amerikanischem Akzent.

»Äh … was?«

Er deutet mit dem Kopf auf das Kondomregal. Ach ja, richtig. Pippas verrückte Forderung, dass ich mindestens ein Kondom benutzen soll.

»Auffüllen und ihr damit auf den Kopf hauen.«

»Das wäre gemein«, sage ich.

»Gemein? Nein. Fair? Auf jeden Fall.«

»Nee, Wasserbombe geht nicht.« Ich spiele an meinem Nasenring herum. »Das wäre gepfuscht.«

Ich will, dass er den Ring sieht. Ich bin mir aber nicht sicher, warum ich das will. Vielleicht weil er eine umgekrempelte, verwaschene Levi’s und abgenutzte Chucks trägt. Oder vielleicht weil sein zerzaustes dunkles Haar und das T-Shirt mit der Aufschrift Anti Social Social Club: Bewerbung zwecklos mich ansprechen, auf dieselbe Art, wie es dich anspricht, wenn du im Zug einen Fremden siehst, der dein Lieblingsbuch liest.

»Ich wusste nicht, dass es hier um moralische Überlegenheit geht.« Er verzieht das Gesicht zu einem leicht durchgeknallten Grinsen. Irgendetwas in mir schmilzt. Es ist warm und klebrig und macht sich in meinem Magen breit. Himmel. Kein Wunder, dass Pippa derart von Kerlen besessen ist. Es fühlt sich an, als säße man in der Achterbahn, nachdem man sich kurz zuvor mit einem Riesen-Burrito vollgestopft hat.

Auf einmal bin ich mir auf extreme Art meiner Arme bewusst. Waren die schon immer so lang? So schwer? So unbeholfen?

»Hast du gelauscht?«, frage ich und versuche, mich mit seinen Augen zu sehen. In diesem Schottenrock und mit den gnadenlos orangefarbenen Haaren. Die Farbe entspricht exakt getrocknetem Herbstlaub. Aber da Rotschöpfe weniger als zwei Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, bringe ich es nicht über mich, sie zu färben.

Er hebt eine Hand und deutet auf eine kleine Packung in seiner anderen Hand. »Ich wollte mir das hier kaufen.«

»Einen Konturenstift?« Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Passend zu deinen falschen Wimpern?«

Hinter seinem Lächeln verbirgt sich etwas Düsteres, das mich lockt näherzukommen und nachzusehen.

»Okay«, sagt er schulterzuckend. »Ich bin reingekommen, um deiner Freundin die Meinung zu sagen, und wegen der großartigen Vorstellung bin ich hiergeblieben. Verklag mich doch.«

»Tut mir leid«, sage ich und muss lachen. »Weißt du, Pippa ist cool. Manchmal möchte ich ihr zwar den Mund zukleben, aber ich werde sie trotzdem immer lieben.«

»Wenn du es sagst.«

»Ja, natürlich sage ich das. Und ich werde es immer wieder sagen. Sie ist meine beste Freundin.«

In einer hinteren Ecke meines Bewusstseins ist mir klar, dass ich gerade ein extrem seltsames Verhalten an den Tag lege. Aber ich möchte mich weiter mit ihm unterhalten.

»Ihr beiden seid ziemlich verschieden.«

»Warum? Weil sie Miss Popular ist und ich ein Gothic Girl?«

»Ja«, sagt er rundheraus.

Dieser Typ ist ein richtiger Rebell. Old-school. Nicht so wie ich mit meinem ästhetisch ansprechenden Nasenpiercing.

Dann sagt er: »Der Mainstream ist nicht revolutionär. Daher kommt nie etwas Gutes. Durchschnitt bedeutet Bequemlichkeit.«

»Ist in diesen Sätzen irgendwo ein Kompliment versteckt?« Ich blinzle.

Seine Mundwinkel wandern kaum merklich nach oben. Plötzlich fühle ich mich ganz leicht. Als könnte ich schweben wie ein Ballon, wenn er mir weiterhin seine berauschende Aufmerksamkeit schenkt. »Wünschst du dir, dass es eins gibt?«

Ich glaube, trotz seines gleichgültigen Tonfalls ist er nicht so lässig, wie er mich glauben machen will. Das Herz in meinem Brustkorb rast. Aber da Hoffnung ein großartiges Rezept für Bruchlandungen ist, versuche ich, die Sache aus allen Blickwinkeln zu betrachten. Vielleicht ist er wegen meiner glamourösen, exzentrischen Freundin hier, und ich muss mich mit einem seiner Kumpels abgeben, während er ihr den Hof macht. Ich habe unzählige Abende bei peinlichen Gesprächen mit irgendwelchen Typen verbracht, während Pippa wild herumflirtete. Normalerweise macht mir das nichts aus, aber ich weiß, dass es mir diesmal wehtun würde, wenn er sie will.

»Was hörst du da?« Er wechselt das Thema und deutet mit dem Kinn auf meine In-Ear-Hörer, während ich gleichzeitig frage: »Und du? Machst du hier Urlaub oder …?«

Wir lachen beide, und ich antworte zuerst: »Den besten Song, der jemals aufgenommen wurde.«

»Never Gonna Give You Up von Rick Astley?« Seine Augen weiten sich vergnügt.

Noch mehr Gelächter. »Nein, aber du bist immerhin im richtigen Jahrzehnt.«

»Herausforderung angenommen.« Er reibt sich die Hände. Ich erkenne, dass sein Interesse geweckt ist. »Also, mal sehen.« Er mustert mich langsam von oben bis unten; auf Brusthöhe bleibt sein Blick hängen, als stünde die Antwort auf meinem Shirt. »Ich sage mal Where Is My Mind? von den Pixies.«

»Falsch, Kumpel.« Ich drehe mein Handy um und zeige ihm die iTunes-App auf dem Display. »Save a Prayer von Duran Duran.«

»Wow. Das ist ein richtig guter Song.«

»Der Lieblingssong meiner Mom.« Ich grinse von einem Ohr zum anderen.

»Du bist dran.« Er hebt sein Handy hoch, scrollt und wählt einen Song aus. »Was höre ich gerade?«

»Gib mir ein Jahrzehnt.«

»Neunziger.«

»Das grenzt die Auswahl nicht gerade ein.« Ich lehne mich an ein Regal mit Gleitmitteln. »Wenn es nicht Smells Like Teen Spirit ist, gibt es Extrapunkte.«

»Danke für das Vertrauen. Du musst britisch denken.«

Ich runzele die Stirn und überlege. »Don’t Look Back in Anger von Oasis.«

»Dein letztes Wort?«

Zögernd nicke ich. »Ja.«

Er dreht sein Handy um und ich sehe, dass ich richtig lag. Oha.Holy Shit. Bin ich gerade auf die männliche Version meiner selbst gestoßen?

»Wie hast du das gemacht?«, fragt er, und sein Blick verändert sich ein wenig. Als hätte ich eine Art Test bestanden.

»Über das Ausschlussverfahren. Im Krieg zwischen Blur und Oasis bist du definitiv für die Band aus der Arbeiterklasse. Und dann noch das Gitarrensolo.«

»Ich finde es nur lustig, eine gleichgesinnte anglophile Amerikanerin zu treffen … in Spanien.«

»Meine Mom ist Engländerin. Und was ist deine Entschuldigung?«

»Hab keine«, sagt er und zuckt mit den Schultern. »Manchmal wird man einfach am falschen Ort geboren. Im falschen Jahrzehnt. In der falschen Ära.«

»Wie wahr«, höre ich mich sagen. »Und jetzt bist du an der Reihe, meine Frage zu beantworten.«

Sein Gesicht fasziniert mich. Es ist, als hätte ich nie zuvor einen Menschen gesehen. Das ist kein normales Everlynne-Verhalten. Wenn ich jemanden kennenlerne, zähle ich normalerweise die Minuten, bis ich mich endlich verabschieden kann. Es ist nicht so, dass ich Menschen hasse. Manche mag ich sogar. Aber ich ziehe es vor, meine Zeit mit sorgfältig ausgewählter Musik, Büchern und Haustieren zu verbringen. Diese drei haben mich bisher nur selten enttäuscht.

»Ich …«, setzt der Kippentyp an, aber da mischt sich Pippa in unser Gespräch ein. Sie schwenkt zwei Plastiktüten.

»Hier. Ich habe jede Menge Schokolade gekauft. Ich habe PMS. Du auch? Seit unsere Zyklen sich synchronisiert haben, fühle ich mich, als ob …« Sie bemerkt den Kippentyp (wie heißt er eigentlich?) und verstummt. Ich schäme mich schon wieder, denn jetzt kennt er nicht nur die Geschichte meines Sexuallebens, sondern weiß auch noch alles über meinen Menstruationszyklus.

»Äh … hi?« Verwirrt legt sie den Kopf schief.

Er fasst in ihre Plastiktüte, holt einen Schokoriegel heraus, reißt die Verpackung auf und verschlingt ihn mit einem Bissen. »Hallo, Zigarettendiebin.«

Pippa bleibt der Mund offen stehen. »Was isst du sonst noch auf diese Art?«

»Das willst du nicht wissen.«

»Doch, will ich.« Sie bedenkt ihn mit einem verführerischen Lächeln.

Er quittiert es mit einem Bad-Boy-Blick von der Sorte, die Teenager dazu bringt, sich Poster zu kaufen.

Ich blicke zwischen den beiden hin und her und befürchte, gerade Zeugin einer beginnenden großen Liebe zu werden.

Plötzlich wird mir bewusst, dass ich auf keinen Fall von ihr hören will, wie er küsst. Ich will nicht ooh! und aah! machen und Freude heucheln müssen, nachdem das Unausweichliche eingetreten ist und sie miteinander geschlafen haben. Je länger die beiden einander anstarren, desto mehr kalter Schweiß sammelt sich auf meiner Haut. Bis es unerträglich wird. Das Schweigen. Die Aussicht, dass Pippa und dieser Typ in der schummrigen Ecke eines Nachtclubs in Barcelona zu einem langsamen Song der Arctic Monkeys herumknutschen, während ich ein sinnloses Gespräch mit einem seiner Kumpels führe.

Und was ist jetzt mit Der Mainstream ist nicht revolutionär?

Pippa öffnet den Mund, zweifelsohne um mit ihm zu flirten. Irgendetwas überkommt mich. Ich packe sie am Handgelenk und ziehe sie von ihm weg. Sie stolpert hinter mir her, versucht sich loszureißen, aber ich bin getrieben von Angst und will unbedingt hier weg.

»Hey, was soll das?«, fragt sie. »Wow, hat der Typ eine Ausstrahlung. Großer Schwanz, sag ich nur. Gehen wir zurück.«

»Nope.« Wir verlassen die klimatisierte Apotheke und treten auf die Allee hinaus. »Ich werde nicht zulassen, dass du scharf wirst und uns den ganzen Trip vermasselst, weil du deinen Zeitplan nach irgendeinem Kerl ausrichtest.«

Natürlich ist das nicht der Grund für unseren überstürzten Rückzug, aber ich habe mir diese Ausrede zurechtgelegt, und jetzt muss ich damit klarkommen.

»Oh mein Gott, du verrücktes Huhn, deshalb wolltest du weg?« Als wir die Straßenecke erreicht haben, bleibt Pippa stehen und reißt sich endgültig von mir los. »Du glaubst, ich hätte ihn angebaggert?«

Wir sind bereits ein gutes Stück von der Apotheke entfernt. Auch ich bleibe stehen und sehe zurück.

»Oder er dich, wie auch immer. Ist doch dasselbe.«

»Tja, dein Pech, Lawson. Als ich gesagt habe, dass der Typ süß ist, meinte ich doch: für dich. Er wirkt wie ein Spiegelbild deiner Seele, sowas habe ich noch nie gesehen. Ihr habt euch angegrinst wie zwei Idioten. Ich wollte dafür sorgen, dass ihr eure Handynummern austauscht. Schließlich kommt es nicht jeden Tag vor, dass meine beste Freundin Lebenszeichen von sich gibt.«

Jetzt bin ich es, der die Worte fehlen. »Darum hast du dich so benommen?«

Sie schlägt mir mit einer Einkaufstüte auf den Arm. »Ja, Dummchen.«

»Aber ihr habt euch richtig angestarrt.«

»Sein Blick sagte nur: Verpiss dich.« Pippa lacht. »Auch in der Hinsicht war er nicht gerade subtil.«

Am liebsten würde ich mich übergeben. Tatsächlich steigt auch etwas aus meinem Magen hoch. Nur ein bisschen. In den Mund. Genau jetzt. »Und warum hast du dich nicht verpisst?«

»Ich wollte sichergehen, dass er es nicht vermasselt.«

»Oh, Pippa.«

»Von wegen oh, Pippa. Lauf schnell zurück und gib ihm deine Nummer.«

»Einfach so?« Ich blinzele und stehe immer noch da wie angewurzelt.

Sie zuckt mit den Schultern. »Um es eindrucksvoller zu gestalten, kannst du ihm ja deine Titten zeigen.«

Wie ein Raubvogel stürze ich los. Ich rase in die Apotheke und sehe mich hektisch um. Wenn der Kippentyp fragt, was ich hier mache, behaupte ich einfach, ich hätte mein Portemonnaie verloren. Ich streife durch die Gänge. Überprüfe die Toiletten, sehe sogar beim Fotoautomaten nach. Der Typ ist nirgendwo zu sehen.

Panik steigt in mir auf. Was, wenn er schon weg ist? Er war doch nicht wirklich hier, um einen Konturenstift zu kaufen. Was, wenn ich ihn verpasst habe? Wenn das Ding gelaufen ist? Ich werde niemals herausfinden, wie er heißt. Oder wo er wohnt. Ob er auf Guns n’ Roses oder Nirvana steht (besser Guns n’ Roses, sonst müsste er mir einiges erklären).

»Er hinter Ihnen hergelaufen«, sagt der Apotheker hinter der Verkaufstheke mit starkem spanischem Akzent und schnalzt mit der Zunge.

Ich drehe mich zu ihm um. »Tatsächlich?«

»Ja, er war schnell.« Der Mann lächelt entschuldigend. »Aber Sie schneller.«

2. KAPITEL

In den nächsten anderthalb Wochen essen und trinken wir, besichtigen Kathedralen, Camp Nou und Bershka. Pippa flirtet in Clubs mit irgendwelchen Typen, und ich shoppe bis zum Umfallen. Der Kippentyp wird fast zu einem Mythos, sodass ich mich beinahe frage, ob er nicht nur in meinem Kopf existiert hat.

Vier Tage vor der geplanten Rückkehr in die Staaten ergattern wir einen günstigen Flug nach Gran Canaria. Im Flieger freundet sich Pippa mit einer Gruppe amerikanischer Mädchen an, weshalb wir am Abend vor dem Rückflug zu einer Beachparty gehen.

Der Mond ist groß und weiß. Wie ein Dauerlutscher hängt er über meinem Kopf. Der Sand, dunkel und kühl zwischen meinen Zehen, unterscheidet sich deutlich von den blonden Körnchen in San Francisco.

Ich sitze am Lagerfeuer, und aus den Lautsprechern dröhnt Popmusik. Ungefähr hundert Leute sind hier, alle in unterschiedlichen Stadien des Ausziehens, Trinkens und Tanzens befindlich.

Pippa hält sich irgendwo in der Menge auf. Vor zwanzig Minuten ist sie mit drei Mädchen aus Tallahassee zu einer Runde Flip Cups verschwunden.

Ich nehme einen Schluck aus meiner Bierflasche und denke an den Kippentyp. Genauer gesagt daran, wie brutal die Zufälle des Lebens sein können. Alles, was mich momentan von ihm trennt, ist sein Name. Ich wäre gern Gwyneth Paltrow in Sie liebt ihn – sie liebt ihn nicht. Ich will den Zug erwischen. Ich will eine Wiederholung. Um mich diesmal richtig zu entscheiden.

Neben mir bemerke ich einen Rucksack aus schwarzem Leinen. Ein Notizbuch schaut heraus. Es sieht verlassen aus, als wäre es einfach weggeworfen worden und nun auf der Suche nach einem neuen Besitzer. Es juckt mich in den Fingern, es anzufassen. Dieses Mädchen hat noch nie ein Buch gesehen, das es nicht lesen wollte, prahlt meine Mutter oft, und es stimmt.

Mir ist bewusst, dass es falsch ist, ohne Erlaubnis in dem Notizbuch zu lesen. Trotzdem kriecht die Versuchung wie Efeu an meinen Gliedmaßen empor.

Ich meine, das Ding liegt einfach hier rum, an einem Strand voller Menschen, und guckt aus dem Rucksack heraus. Wenn vertrauliches Zeug drinstünde, würde es der Besitzer doch mit sich herumtragen.

Ich beschließe, der Person zehn Minuten Zeit zu lassen, bevor ich es lese. Wenn sie nur zur Toilette gegangen ist, hat sie eine Chance, mich von der Lektüre abzuhalten. Wenn sie woanders hingegangen ist … Tja, dann ist es ihr wohl egal, ob jemand ihre Aufzeichnungen liest.

Zehn Minuten vergehen, dann fünfzehn. Ich greife nach dem Notizbuch und schlage es irgendwo auf. Mir rast das Herz in der Brust. Ich komme mir vor wie eine Diebin. Es scheint eine Art Tagebuch zu sein … oder ein Entwurf? Die Wörter gehen ineinander über, als wären sie in großer Eile geschrieben worden.

Es ist zwei Uhr morgens, und er wird springen, davon ist er überzeugt. Vielleicht ist Springen das Einzige, das ihm noch bleibt. Und ist es nicht erbärmlich, dass ein Teil von ihm nicht springen will, weil er sich vor der Reaktion seines Chefs fürchtet, wenn er morgen nicht zur Arbeit kommt?

Aber genau das ist das Problem. Der Grund, warum er überhaupt hier auf diesem Dach steht. Er hat dermaßen hart für seinen Lebensunterhalt gearbeitet, dass er vergessen hat zu leben. Und nun hat ihn dieses Klischee, das man auf billigen Tassen im Ein-Dollar-Store finden kann, an den Rand des Selbstmords getrieben.

Er hatte seine Chance, und er hat sie vermasselt.

Er hätte schneller hinter ihr herlaufen müssen.

Und als er sie fast erreicht hatte, hätte er sie am Kragen packen sollen, ohne sich darum zu kümmern, was das für einen Eindruck machen würde.

Er hätte ihr sagen sollen, dass sie perfekt war.

Aber das hat er nicht, und deshalb muss er jetzt springen.

Springen … oder etwas anderes tun. Etwas noch Gewagteres. Seine Sachen packen und nach New Orleans gehen. Um sie zu suchen.

Meine Augen brennen. Es scheint eine Kurzgeschichte zu sein. Oder der Anfang einer Novelle. Gierig nach mehr blättere ich weiter, aber es kommen nur noch leere Seiten.

Als eine Hand auf meiner Schulter landet, blicke ich erschrocken auf.

»Nicht lesen, Fräulein!«

Pippa ist ziemlich betrunken, sie schwankt. Erleichtert, dass es nicht der Besitzer des Notizbuches ist, lasse ich die Schultern sinken. Aber ich bin auch enttäuscht … aus demselben Grund.

»Na komm, trink endlich was. Leb ein bisschen.« Pippa wirft das Notizbuch in den Sand. Dann zieht sie mich hoch und strebt auf eine Gruppe von Leuten zu. Ein Ring aus tanzenden sonnengebräunten Körpern schließt sich um uns herum. Verlegen trete ich von einem Fuß auf den anderen, als wäre die Haut, in der ich stecke, zu eng für mich. Ich versuche zu erraten, wem das Buch gehört. Dem Mädchen mit den Dreadlocks? Dem Typen mit den Tattoos auf der Brust?

Ich entferne mich von Pippa. Sie tanzt mit ihren neuen Freunden und schreit ihnen die Texte sämtlicher Songs ins Gesicht.

Ich gehe zum Meer hinunter. Das Ufer ist der einzige Streifen Sand, der menschenleer ist. Ich bleibe stehen und sehe mir den berühmten Neptuno de Melenara genauer an. Es handelt sich um eine vier Meter hohe Skulptur von Neptun, die sich nicht allzu weit von der Küstenlinie entfernt aus den Wellen erhebt. Das Wasser ist metallisch blau, es glitzert im Licht der Sterne. Ich tauche einen Zeh hinein. Kalt ist es nicht. Ich könnte bis zu der Statue schwimmen. Ich bin eine gute Schwimmerin, denn mein Bruder und ich sind schon als Kinder gesurft. Renn (der Name bedeutet »Wiedergeborener« oder »kleiner Erfolgreicher«) hat damit sogar Karriere gemacht.

Eine leise Stimme in meinem Inneren sagt mir, dass ich eine Idiotin bin. Dass es ein Anfängerfehler ist, in ein unbekanntes Gewässer zu steigen, wenn es stockdunkel ist. Aber die Skulptur ist keine dreißig Meter weit weg, und hinter mir steigt eine verdammte Party. Die werde ich wohl kaum aus dem Blick verlieren.

Ich schlüpfe aus meinem Corsagenkleid und tappe ins Wasser. Mit kräftigen Zügen schwimme ich auf Neptun zu. Das Wasser ist kabbelig und kälter als erwartet. Ich muss gegen die Strömung ankämpfen, womit ich ebenfalls nicht gerechnet habe. Vom Strand aus sah die See ruhig aus. Jetzt spüre ich, dass sie mich mitzieht, egal, wie angestrengt ich versuche, geradeaus zu schwimmen. Ich hebe den Kopf, um zu sehen, wie weit es bis zu der Statue ist, und stelle fest, dass ich mich etwa fünf Meter seitlich von ihr befinde.

Gänsehaut überzieht meinen ganzen Körper. Ich stecke in Schwierigkeiten, und ich weiß es.

Ich vollführe eine Kehrtwende, will zurückschwimmen. Genau in diesem Augenblick schleudert mich eine riesige Welle gegen einen großen Felsen. Ich stoße mich mit den Füßen ab, dann krache ich erneut dagegen. Salzwasser dringt in meinen Mund, ich schlucke etwas davon. Angst verwandelt sich in Panik.

Nicht um dich schlagen. Lass dich mit der Strömung treiben, und überlege dann neu.

Ich weiß, dass ich mich genau so verhalten muss, denn ich habe es in den Sommerlagern gelernt. Aber jetzt, in der konkreten Situation, gerate ich in Panik. Ich rufe laut um Hilfe.

Und wenn ich ertrinke? Was ist, wenn ich sterbe? Wenn man meine Leiche niemals findet? Würde Pippa denken, dass es ihre Schuld ist? Würde ich auch ihr Leben ruinieren? Interessiert mich das überhaupt? Schließlich hat sie darauf bestanden, dass ich heute Abend mitkomme.

Mom. Mom. Mom.

Dad und Renn wären am Boden zerstört, aber Mom würde es nicht überleben.

Ich darf nicht sterben. Mit dieser Erkenntnis fange ich wieder an zu kämpfen, obwohl ich weiß, dass meine Chancen schlecht stehen.

Die Strömung ist stark. Dennoch mache ich weiter, versuche den Kopf über Wasser zu halten, um zu sehen, wo das Ufer ist. Erneut trifft eine Welle meinen Körper und trägt mich ein paar Meter weiter. Ich lasse mich treiben, recke den Hals und blinzele in die Dunkelheit um mich herum. Es dauert ein paar Sekunden, bis mir klar wird, dass die Welle mich näher zum Strand gebracht hat. Eine dünne goldene Kette von Lichtern funkelt mich an. Ein Gefühl der Erleichterung überkommt mich. Ich fange an zu schwimmen. Meine Muskeln brennen, ich zittere am ganzen Körper, aber das Adrenalin betäubt den Schmerz. Ich bin eine Meerjungfrau und fliehe vor Piraten, die mir den Hals durchschneiden wollen.

Je näher ich komme, desto mehr Hoffnung macht sich in mir breit. Plötzlich werde ich von oben gepackt und unter den Achseln hochgezogen. Ich bin schlaff und schwer, als zwei Arme mich hochheben und an eine warme, trockene Brust drücken.

»Hast du sie?«, fragt eine rauchige Stimme auf Spanisch.

»Ja.«

»Ist sie …?«

»Ich weiß es nicht.« Die andere Stimme klingt amerikanisch. »Hilf mir, sie zu dem Baum dort zu bringen, danach sehen wir weiter.«

Einen Augenblick später bin ich in eine warme Decke gehüllt. Ich bin zu erschöpft, um die Augen zu öffnen. Eine Taschenlampe leuchtet mir ins Gesicht.

Ich zucke zusammen. »Nein, bitte nicht.«

»Wie lange warst du im Wasser?«, fragt die spanische Stimme.

»Sieben oder acht Minuten«, krächze ich. Ich huste, meine Augen sind immer noch geschlossen. Erneut spüre ich, wie jemand die Arme um mich legt. Normalerweise würde ich vor so viel Nähe zu einem Fremden zurückschrecken, aber in diesem Moment fühlt es sich richtig an, dass diese Arme mich halten. Als wären sie genau der Ort, an dem ich sein soll.

»Hast du Wasser geschluckt?« Die spanische Stimme spricht mir direkt ins Gesicht. Sie riecht nach Kautabak und Bier und fühlt sich warm auf meiner Haut an.

»Nicht sehr viel.« Ich huste noch mehr.

»Bist du verletzt?«

»Nein, nicht verletzt. Nur … müde.«

»Mach die Augen auf, chavala.«

Flatternd öffnen sich meine Lider. Ein braungebrannter Mann mit einem weißen Bart wie aus Schafswolle und einer Taschenlampe in der Hand starrt mich an.

»Ich bin okay«, sage ich und fange an, Hände und Füße zu bewegen, drehe den Kopf von einer Seite zur anderen. Ich bin außer Atem und stehe unter Schock, aber es scheint alles zu funktionieren. Ich habe nur einen Riesenschreck bekommen.

»Äh … nein. Ich habe dich nicht gerettet.« Der Mann schüttelt den Kopf. »Das war er«, sagt er und zeigt mit einem schlammverschmierten Finger auf die menschliche Decke, die mich hält. Ich verdrehe den Hals, um die Person anzusehen, aber von der Bewegung wird mir schwindlig.

Allerdings nicht schwindlig genug, um den wichtigsten Teil zu verpassen.

Den Höhepunkt meiner Reise.

Die Person, die mich festhält, ist der Kippentyp.

Und er sieht nicht so aus, als wollte er mich loslassen.

Der Typ mit der Zigarette hat mich gerettet.

Er ist hier, auf Gran Canaria. Auf derselben Beachparty wie ich. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas passiert?

Ich kneife mir in den Unterarm für den Fall, dass ich halluziniere. Danach ist er immer noch da, und ich habe einen blauen Fleck. Er bemerkt es und unterdrückt ein Grinsen. Ich schüttele den Kopf. Vielleicht ist es ja eine Gehirnerschütterung. Aber er sieht sehr real aus, sehr lebendig, und er hüllt mich ein wie eine sehr warme Decke.

Einen Moment lang starren wir uns schweigend an. Es gibt keine Worte, um zu beschreiben, was hier gerade passiert. Es widerspricht jeder statistischen Wahrscheinlichkeit. So etwas passiert eigentlich nur im Film.

Instinktiv berühre ich seine Wange. Ein letzter Test, um sicherzugehen, dass er nicht nur eine Illusion ist. Seine Haut ist rau und heiß. Ich bin überrascht, dass ich nicht in Flammen aufgehe. Keine Ahnung, warum, aber ich fühle mich hundertmal lebendiger als noch vor einer Minute.

»Du?« Der Kippentyp nimmt meine Hand. Seine Stimme ist heiser. Klingt belegt. Er wusste es nicht. Bis sich unsere Blicke trafen, bis vor einer Sekunde, wusste er nicht, dass das Mädchen im Wasser ich war.

»Du«, wiederhole ich. »Wie heißt du?«

Die Spannung bringt mich beinahe um. Seit dem Moment, in dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind, rätsele ich, wie er wohl heißt.

»Joe.«

»Joe.« Probehalber spreche ich den Namen laut aus. Joe! Der gute alte Joe. Was für ein einfacher, anspruchsloser Name. Ich bin von seinen Eltern ein bisschen enttäuscht. Etwas Besseres ist ihnen nicht eingefallen? Wissen sie denn nicht, wie selten und besonders ihr Sohn ist?

»Danke, dass du mich gerettet hast, Joe.«

Der Spanier, den ich in den letzten Minuten völlig vergessen habe, verabschiedet sich von ihm. Er steht auf, geht auf die Promenade zu und verschwindet in der Menge. Plötzlich fällt mir wieder ein, dass wir Teil eines größeren Universums sind, und ich blicke mich um. Wir liegen irgendwo abseits unter einem Baum. Die Party ist immer noch in vollem Gange. Sie tanzen jetzt Limbo.

»Und wie heißt du?«, fragt er.

»Ever.« Ich nehme die Hand von seinem Gesicht, als mir klar wird, dass es nicht cool ist, Fremden ins Gesicht zu fassen. »Everlynne.«

»Danke, dass du mich gerettet hast, Everlynne.«

»Ich habe dich doch nicht gerettet«, entgegne ich.

»Noch nicht.« Sein träges Lächeln wirkt spöttisch, und ich ahne, dass ich in Schwierigkeiten bin. »Aber jetzt schuldest du mir etwas. Und ich treibe meine Schulden immer ein.«

»Ich freue mich, dass wir uns wiedersehen«, sage ich, ehe ich es vergesse. »Mich quält nämlich eine Frage, seit ich dich getroffen habe.«

Blinzelnd sieht er mich an und wartet, dass ich fortfahre. Ich hole tief Luft. »Guns n’ Roses oder Nirvana?«

Er wirft den Kopf zurück und lacht. »Was ist das denn für eine Frage?«

»Keine besonders schwierige, wenn du einen guten Geschmack hast«, versetze ich grinsend.

»Nirvana hatten Lithium und Smells Like Teen Spirit und sonst praktisch nichts. Guns n’ Roses sind eine lebende Legende.«

Verblüfft starre ich ihn an. Exakt so sehe ich es auch. Wie kann es sein, dass wir dasselbe denken?

»Und, wie war ich?« Joe wackelt mit den Augenbrauen.

»Beunruhigend gut«, gebe ich zu. »Wir werden bestimmt noch einiges finden, bei dem wir musikalisch nicht einer Meinung sind, aber bis jetzt liegen wir auf derselben Wellenlänge.«

Einen Moment lang herrscht Schweigen. Wir genießen es einfach, uns gegenseitig anzuschauen. Dicht aneinander gekuschelt atmen wir in demselben Rhythmus.

»Was hast du da draußen gemacht, Everlynne? Abgesehen vom Offensichtlichen, was mir beinahe eine Herzattacke verpasst hätte, obwohl ich erst neunzehn bin.« Sanft streicht Joe mir das nasse Haar aus dem Gesicht.

Er ist ein Jahr älter als ich. Mein Herz wirbelt wie eine Debütantin, die sich auf ihren ersten Ball vorbereitet. Es kümmert sich nicht darum, dass mein Körper gerade einen Adrenalinschub bekommt. Es ist glücklich, voller Hoffnung und dumm.

»Ich wollte mir die Statue von Nahem ansehen.« Dann fällt mir auf, dass etwas nicht stimmt, und füge hinzu: »Ich habe immer noch nur BH und Höschen an, oder?«

»Ja, und das Höschen ist durchsichtig«, bestätigt er und beißt sich auf die Lippe, um ein Lächeln zu unterdrücken.

Ich schließe die Augen und flüstere: »Als ich mir vorgestellt habe, nackt in deinen Armen zu liegen, sah es ein bisschen anders aus.«

Meine Ohren sind heiß. Ich habe keine Ahnung, warum ich auf einmal so ehrlich bin. Ich sage nie, was ich gerade denke, besonders nicht zu Fremden. Und ganz besonders nicht zu männlichen Fremden. Aber Joe kommt mir irgendwie vertraut vor.

»Du hast dir vorgestellt, nackt in meinen Armen zu liegen?« Fragend hebt er eine Augenbraue.

»Mhm, ein oder zwei Mal.«

»Und als wir uns das erste Mal begegnet sind, dachtest du, Abhauen wäre eine gute Methode, mir das klarzumachen?«

Der ärgerliche Unterton seiner Stimme entgeht mir nicht. Reste von etwas, das einmal Wut gewesen sein muss.

»Ich dachte, dass ihr euch gut versteht, Pippa und du. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, euch beiden beim … na ja, beim Flirten zuzusehen. Weil ich dich mochte. Und eigentlich mag ich nie jemanden. Ein paar Minuten später bin ich zurückgekommen, um nach dir zu suchen.«

Während wir dieses Gespräch führen, liege ich immer noch in seinen Armen, eingepackt in eine fusselige, orange-lila karierte Decke.

»Du hast gedacht, ich würde mich mit Mainstream gut verstehen?« Er klingt überrascht … und ein bisschen selbstgefällig.

»Äh … ja.«

»Darf ich fragen, ob du eifersüchtig warst?«

»Ich verweigere die Aussage.«

»Wir sind hier nicht vor Gericht«, erklärt er.

Ich zucke mit den Schultern. Ich will von ihm hören, dass er mich mag und nicht Pippa. »Ich habe dich übrigens auch gesucht«, sagt er stattdessen.

»Hat mir der Drogist erzählt.« Ich nicke.

»Und jetzt bist du hier.«

»Und jetzt bist du hier.« Ich setze mich auf und drehe mich zu ihm, damit ich ihn richtig anschauen kann. Mein Hintern landet auf etwas im Sand, und ich ziehe es unter mir hervor. Es ist der schwarze Rucksack aus grobem Leinen, der vorhin neben dem Feuer lag. Ich hebe ihn auf. Meine Finger zittern, und ich habe das Gefühl, keine Luft zu bekommen.

»Na klar.«

»Komische Reaktion auf einen Rucksack«, sagt er stirnrunzelnd. »Ein bisschen mehr Kontext, bitte.«

»Ich habe ein Stück von deiner Geschichte gelesen.« Ich gebe ihm den Rucksack und spüre, dass ich rot werde. »Tut mir leid, ich konnte nicht widerstehen. Sie war …«

»Schrecklich?«

»… anregend«, sage ich gleichzeitig, um meinen Satz zu beenden.

Er betrachtet mich argwöhnisch und trommelt mit schlanken Fingern auf seinem Knie herum.

»Sie muss noch etwas überarbeitet werden, aber ich glaube, das Gerüst steht. Darum bin ich eigentlich hier in Europa. Ich will einen Roman schreiben.«

»Kannst du in Amerika keinen Roman schreiben?« Die Frage klingt wie ein Vorwurf. Offenbar wird er noch eine Weile hierbleiben, während ich in weniger als vierundzwanzig Stunden zurückfliege. Vielen Dank auch, Schicksal.

»Eigentlich schon.« Er legt den Rucksack neben sich auf den Boden. »Aber ich musste einfach weg. Zu Hause war es in den letzten Jahrzehnten echt zu anstrengend.«

»Du bist erst neunzehn«, stelle ich fest.

»Gut gerechnet«, versetzt er mit einem Augenzwinkern. »Ich hatte einen ziemlich schlechten Start.«

Aha, so eine Familie also. Eine, die keine hübschen Weihnachtsbräuche kennt und nicht gemeinsam surfen geht. Wo Mom und Dad nicht aneinandergeschmiegt in der Küche miteinander tanzen. Eine andere Art Familie, als ich sie habe.

Ich reibe mir mit dem Daumen über das Kinn. »Definiere schlechter Start.«

»Später. Wenn wir mehr Zeit haben und uns die lustigen Gesprächsthemen ausgegangen sind. Lassen wir die Sorgen heute Abend lieber draußen vor der Tür.« Erneut streicht er mir eine nasse Strähne aus der Stirn, und es ist das Romantischste und Herzzerreißendste, was mir je passiert ist. Romantischer, als mit Sean zum Abschlussball und danach ins Ritz-Carlton zu gehen. Herzzerreißender als die Nacht, in der ich meine Unschuld verloren habe und gleichzeitig das letzte bisschen Interesse, das ich für Jungs noch aufbrachte.

»Okay?«, fragt er.

»Okay.«

»Bleib sitzen«, sagt er. »Ich gehe dein Kleid holen. Beige, richtig?«

Er steht auf und klopft sich den Sand von der Jeans. Ein paar Körner fliegen mir ins Auge, aber ich bin zu überwältigt, um mich daran zu stören. »Du hast mich bemerkt? Ich meine, vorhin?«

Er fährt sich mit einer Hand durchs Haar und lässt sein welterschütterndes Grinsen aufblitzen. »Ich wollte eigentlich zu dir kommen, als du am Feuer gesessen hast. Aber meine Freunde meinten, ich sollte mir die Mühe sparen, ich hätte mir nur eingebildet, dass du es bist. In den letzten Wochen habe ich mindestens ein Dutzend Mal geglaubt, ich hätte dich gesehen. Lebhafte Fantasie, weißt du.« Er tippt sich an den Kopf.

Genugtuung erfüllt mich. Mir ist es genauso ergangen. Ich bildete mir ein, ihn inmitten von Menschenmassen zu sehen.

»Dann hörte ich dich im Meer um Hilfe rufen, und von da an gab es keinen Zweifel mehr. Deine Stimme ist echt sexy. Du solltest Bücher vorlesen oder so. Bleib sitzen«, sagt er noch einmal, als er schließlich mein Kleid holen geht und mich mit all diesen Informationen zurücklässt. Und mit einem Herzen, das mir bis zum Hals schlägt.

Ich genieße das Kompliment und nutze die Zeit, in der ich allein bin, um mir mit den Fingern durch die zerzausten Haare zu fahren und mir die verlaufene Wimperntusche abzureiben. Wenn ich aussehe wie das Monster aus dem Moor, wird es schwierig werden, ihn zu verführen. Als Joe zurückkommt, hat er mein Kleid und meine Tasche in der Hand, in der ich Bargeld und Handy aufbewahre. Er legt beides neben seinem Rucksack ab.

»Danke«, sage ich.

»Geht es dir besser?« Er lässt sich neben mir nieder.

»Um Äonen besser«, sage ich und ziehe mich rasch an. Mein Körper ist blass und mager und überall dort, wo die Sonne hinkommt, mit Sommersprossen übersät.

»Gut. Ich habe Mainstream nämlich beim Feuer getroffen und ihr gesagt, dass du hier bei mir bist und dass es dir großartig geht.«

»Und was hat sie gesagt?«

»Dass ich auch großartig bin«, versetzt er trocken.

Ich muss lachen.

Danach bringen wir uns über die letzten zwei Wochen auf den neuesten Stand. Ich erzähle ihm von Barcelona. Er erzählt mir von Sevilla und Madrid. Er ist mit drei Freunden in Europa, und sie kommen alle vier aus Boston. Seine Kumpels werden Ende der Woche an ihre jeweiligen Colleges zurückkehren, aber Joe bleibt noch ein bisschen in Spanien und macht dann allein eine Rucksackreise durch Europa, in der Hoffnung, sein Buch zu beenden. »Rumänien, Polen, Ungarn, Italien und Frankreich.« Er zählt die Länder an den Fingern ab. »Ich habe alles ausgearbeitet, einschließlich der Jugendherbergen und Pensionen, in denen ich übernachten werde. Es sollte nicht länger als vier Monate dauern, das ganze Ding zu schreiben.«

Vier Monate? Er kann doch nicht vier Monate lang auf einem anderen Kontinent leben. Und auch nicht vier Monate lang so unglaublich attraktiv sein und trotzdem Single bleiben. Wie will er denn einfach weiterleben, als wäre das hier nie passiert?

Ich verdränge meine verrückten Gedanken und beschließe, uns nicht zum Thema zu machen. Trotz der herben Enttäuschung plätschert die Unterhaltung weiter vor sich hin. Ich erzähle ihm, wie ich in San Francisco aufgewachsen bin. Ich erzähle ihm von Renn, von seinen Erfolgen beim Surfen und von Moms Galerie im Castro-Viertel. Er erzählt mir, wie er aufgewachsen ist. Katholische Eltern, ein Bruder und ein Ozean an ungelösten Problemen.

Ich erzähle ihm von meiner Kunst.

Dies ist der Teil, bei dem ich damit rechne, dass er ausflippt. Schließlich lernt man nicht jeden Tag eine Achtzehnjährige kennen, deren Hobby es ist, Grabsteine zu entwerfen.

»Es ist weniger unheimlich, als es klingt«, erkläre ich und lecke mir über die Lippen, bereits im Verteidigungsmodus.

»Kein Problem, du entwirfst ja nur Grabsteine und bringst keine Babys um, um deinen Lebensunterhalt zu verdienen.« Seine Augen funkeln belustigt. »Aber ich bin mir sicher, dass eine Geschichte dahintersteckt.«

»Als ich ungefähr acht Jahre alt war, ist meine Cousine Shauna bei einem Bootsunfall gestorben. Sie war erst fünfzehn. Meine Mom wollte, dass ich mit zur Beerdigung ging, aber Dad war der Ansicht, ich sei zu jung. Es gab eine Menge Hin und Her zwischen den beiden. Am Schluss überließen sie die Entscheidung mir, und ich wollte mitgehen. Shauna und ich standen uns nahe. Es war das erste Mal, dass ich einen Friedhof besuchte. Ich erinnere mich, dass ich mich umsah und dachte: Diese Grabsteine sehen alle gleich aus. Wie ist das möglich? Wenn wir lebendig sind, unterscheiden wir uns alle sehr voneinander. Warum werden unsere Persönlichkeiten nach dem Tod auf diese Art ausgeschaltet?«

Ein paar Monate später kamen Mom und ich zurück, um frische Blumen auf das Grab zu stellen. Shauna hatte einen wunderschönen Grabstein. Er entsprach ihr so sehr, dass es mir den Atem raubte. Ihre Mom hatte sich für ein richtiges Kunstwerk entschieden. Ein Engel aus Granit, der ein Herz umarmte. Das brachte mich zum Nachdenken. Personalisierte Grabsteine sind eine großartige Methode, jemandem die letzte Ehre zu erweisen, weißt du? Wir leben in einer Welt, in der alles genau auf uns zugeschnitten ist: unsere Kleidung, unsere Matratzen, unsere Autos. Warum also nicht etwas Einzigartiges entwerfen? Etwas, das für die Person steht, die zur letzten Ruhe gebettet wurde?«

»Und was machst du mit deinen Entwürfen?« Joe zeigt keine Anzeichen von Bestürzung. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sein Gruselalarm kaputt ist. Aber wahrscheinlich ähneln wir uns auch in dieser Hinsicht.

»Meistens behalte ich sie. Man muss die Persönlichkeit der Leute berücksichtigen, für die man einen Grabstein macht, und der Gedanke an den Tod von Menschen, die man liebt, ist … na ja, hochgradig psychotisch, würde ich sage. Also entwerfe ich Grabmale für verstorbene Prominente und so. Ein paar Leute haben gerüchteweise gehört, was ich mache, und sich nach den Preisen erkundigt. Ich habe ihnen die Modelle geschenkt. Ich weiß nicht, ob es einen Markt für das gibt, was ich mache … Ich weiß nur, dass es sich richtig anfühlt.«

Joe zupft am Saum meines Kleides, nur der physischen Verbindung wegen. »Es gibt immer einen Markt für absolut fantastische Dinge.«

»Und wenn ich nicht absolut fantastisch bin?«

»Doch, das bist du«, sagt er, als wäre es so sicher wie das Amen in der Kirche. »Wenn du durchschnittlich wärst, würdest du mir nicht ständig durch den Kopf gehen.«

Ich denke an die Worte aus seinem Roman.

Er hätte schneller hinter ihr herlaufen müssen.

Er hätte ihr sagen sollen, dass sie perfekt war.

Der dumpfe Beat der Partymusik lässt die Erde unter uns erbeben. Unsere Körper scheinen auf einer Wellenlänge zu liegen, denn ich kann vorhersehen, wann er sich das nächste Mal bewegen wird. Ich spüre seine Atemzüge in meiner Lunge.

»Also.« Sein Knie berührt meines.

»Also.« Mein Ellbogen stößt an seinen.

»Hast du das Kondom benutzt?«, fragt er.

Ich vergrabe mein Gesicht in beiden Händen. Meine Haut brennt, so gedemütigt fühle ich mich. Ich schüttele den Kopf und blicke ihn durch meine Finger hindurch an.

Er versucht, mir in die Augen zu schauen, und legt den Kopf schief. »Heißt das nein?«

»Warum ist das wichtig?«

»Wissen ist Macht.«

»Es ist eine nutzlose Information.« Ich bin berauscht von dem Gedanken, dass es ihn interessiert, aber ich bin auch verlegen, weil ich Pippas Herausforderung nicht angenommen habe.

»Versuch nicht, meine Interessensgebiete zu beschränken, Fräulein. Dies ist eine Angelegenheit von höchstem Interesse, weißt du. Über dieses Thema werden Bücher geschrieben werden. Bücher, sage ich.« Er stößt die Faust in die Luft.

Darüber muss ich lachen. »Das ist nicht normal.«

»Was ist nicht normal?«

»Du. Ich.« Ich deute mit dem Finger auf uns beide. »Das hier.«

Wozu es nicht viel zu sagen gibt, sodass ich eine weitere Frage stelle, um das Schweigen zu beenden.

»Hast du Kondome benutzt, während du in Spanien warst?«

»Versprichst du mir, nicht enttäuscht zu sein?«, fragt er und seufzt. Ich nicke, empfinde aber bereits Ernüchterung. Es sollte sich nicht so anfühlen, als hätte er mich betrogen, aber so ist es nun mal.

»Nein«, sagt er. »Ich habe hier keine Kondome benutzt.«

Ich stöhne und boxe ihm gegen den Arm. »Warum hast du dann gesagt, dass ich nicht enttäuscht sein soll?«

»Weil ich wissen wollte, ob du eifersüchtig bist natürlich.«

Diesmal ist Leugnen zwecklos.

In der Ferne erklingen die ersten Akkorde von »Boys of Summer«. Die Coverversion von den Ataris, die mir am besten gefällt. Die Leute heben die Arme und singen mit. Die Morgendämmerung bricht herein, und die Wasserlinie schimmert goldrosafarben. Unsere Zeit ist fast vorbei.

»Wo waren wir gerade?«, frage ich.

»Spanien«, ruft mir Joe ins Gedächtnis. »Und beim Thema Kondome, um genau zu sein.«

»Es ist noch nicht zu spät, eins zu benutzen.« Ich lecke mir über die Lippen. »Ein Kondom, meine ich.«

»Mhm.« Er lehnt sich zurück und stützt sich auf die Unterarme. Er sieht ziemlich muskulös aus.

»Denkst du, was ich denke?«, frage ich und beiße mir auf die Unterlippe.

Sein Adamsapfel hüpft auf und nieder. »Ja. Und es gibt hier eine Menge Wasser, um das Kondom zu füllen.«

Bevor ich lachen kann, beugt er sich vor und küsst mich.

Anfangs ist es nur ein Kuss. Ein nachlässiger Austausch von Körperflüssigkeit zwischen zwei Teenagern voll ungezügelter Leidenschaft. Unsere Zungen begegnen sich und kreisen umeinander. Tanzen, reizen, testen. Er schmeckt nach Meeresgischt, Sommer und Zigaretten.

Dann schließt er die Hände um meinen Nacken, und der Kuss wird zum Krieg. Joe verschlingt meinen Mund. Es ist rau und wild, mit Zähnen und Stöhnen und Keuchen. Wie Efeu umschlingen wir einander. Ich berühre sein Haar, seine sehnigen Arme und die harte Fläche seiner Bauchmuskeln unter dem T-Shirt. Er legt mich unter der Palme auf den Sand, umfasst die Rückseite meiner Schenkel und drückt seine Erektion an meine Mitte. Ich spüre, wie er zuckt. Ich bin außer Atem, mein Herz rast, und jetzt verstehe ich es. Endlich. Ja, ich verstehe, ich verstehe es absolut. Warum man verrückt nach Jungs sein kann. Denn Joe ist ein Junge, und er macht mich verrückt.

Mein Rücken berührt den Sand und, oh süßes Vergessen, ich will ihn in mir haben. Ich will, dass er jeden Zentimeter von mir ausfüllt. Dass wir miteinander verschmelzen. So will ich berührt werden. Sean hat meine Brüste betatscht und gedrückt, als wollte er mich melken. Joe dagegen spielt über dem Stoff des BHs mit meiner Brustwarze, während er sich mit heißen Küssen einen Weg an meinem Hals hinunter bis zu meiner Brust bahnt. Er öffnet den BH. Nimmt eine Brustwarze in den Mund und streift sie verführerisch mit den Zähnen.

»Ever.«

Ich schlinge ihm die Beine um die Taille. Wir pressen uns aneinander, genießen die Reibung und das Gefühl, wie unsere Zähne über noch unbekannte Haut streifen. Unsere Düfte vermischen sich und erschaffen eine einzigartige, berauschende Kombination. Dann holt Joe ein Kondom aus seiner Brieftasche und hält es fragend zwischen uns.

»Fühl dich nicht unter Druck gesetzt.« Seine Stimme klingt rau und angespannt. »Wir können sofort aufhören, und ich würde diese Nacht trotzdem als der glücklichste Scheißkerl der Welt beenden.«

Ich weiß, dass er es ernst meint. Ich weiß, dass er nicht wütend sein wird, wenn ich beschließe, doch nicht zu wollen. Im Gegensatz zu Sean, der das Zimmer im Ritz-Carlton in der unausgesprochenen Erwartung gebucht hatte, Sex sei mit inbegriffen. Wahrscheinlich habe ich deshalb eine Woche später Schluss gemacht und es auf die große Entfernung zwischen uns geschoben.

»Ich bin mir sicher«, sage ich, reiße mit bebenden Händen das Päckchen auf und hoffe, dass ich das eigentliche Produkt nicht beschädige.

Ich greife zwischen uns und streife es ihm ungeschickt über. Er stützt sich über mir ab, wie Säulen ragen seine kräftigen Arme neben meinen Schultern auf. Fasziniert starren wir beide auf meine zitternden Finger. Ich brauche vier Versuche, und obwohl wir beide frustriert sind, gibt keiner einen Kommentar dazu ab.

»Ist es ganz abgerollt?«, frage ich.

»Fühlt sich gut an. Bist du so weit?« Er schaut mir in die Augen. Seine Augen, dunkelblau mit silbrig schimmernden Flecken darin, sind das Beste an ihm.

»Ja.« Ich zittere noch mehr. »Ich bin so weit.«

Er dringt in mich ein. Für einige Sekunden halten wir einander nur fest, schauen uns an. Ich glaube, wir sind beide überwältigt.

»Ist es immer so?«, flüstere ich.

Er weiß genau, was ich meine, denn er schüttelt den Kopf. »Nein, Ever. Es ist nie so. Das hier …« Er senkt den Kopf und gibt mir einen Kuss aufs Ohrläppchen. »Das hier ist der Himmel. Das hier ist es wert, dafür zu sterben.«

Unsere Körper setzen sich gleichzeitig in Bewegung. Wir bewegen uns beide zu demselben lautlosen Song. Bei mir prickelt es von Kopf bis Fuß, und Joes Körper ist mit Gänsehaut überzogen. Wir versinken ineinander, für einen Zeitraum, der sich wie eine Ewigkeit anfühlt. Ein Windstoß bläst mir die Haare ins Gesicht, und Joe pustet sie weg und küsst mich, küsst mich noch einmal und dann noch einmal.

»Ich glaube, ich komme«, sage ich. Es ist eine Premiere. Jedenfalls mit einem Typen. Aber die Reibung fühlt sich unglaublich gut an, und er trifft genau den richtigen Punkt in mir.

»Oh fuck, Gott sei Dank.« Er schmiegt den Kopf an meine Halsbeuge und erhöht das Tempo. »Ich auch.«

Wir sinken uns in dem Augenblick in die Arme, in dem die Sonne sich über die blaue Linie des Atlantiks erhebt. Alles ist pink, orange und sehr still.

Und dann wird uns bewusst, dass in der Ferne weder Musik noch Gesprächsfetzen zu hören sind.

Die Party ist vorbei.

Und meine Zeit mit Joe auch.

»Ein Sechzehn-Stunden-Flug?«, sagt Joe und knöpft seine Levi’s zu. »Das wird hart.«

Ich hasse es. Ich hasse diesen Small Talk. Es ist die erste Dosis Realität, die mir seit unserem Wiedersehen verabreicht wird. Einer Realität, die darin besteht, dass ich gerade Sex mit einem völlig Fremden hatte, der mich vor dem Ertrinken gerettet hat. Und wenn wir uns in fünf Minuten voneinander verabschieden, wird dieser Mensch für mich erneut ein Fremder sein.

»Kein Ding. Ich habe meinen E-Reader und In-Ear-Hörer dabei«, erwidere ich achselzuckend.

Eigentlich kommt jetzt der Teil, in dem ich vorschlagen sollte, dass wir E-Mail-Adressen, Telefonnummern oder Instagram-Daten austauschen sollten. Irgendetwas. Habe ich denn aus den letzten zwei Wochen nichts gelernt? Ich habe mich nach diesem Kerl gesehnt, als wäre er mein Zuhause, und jetzt lasse ich ihn einfach gehen?

Aber irgendetwas hemmt mich. Stolz? Angst? Eine Mischung aus beidem?

Ich ziehe mir das Kleid über die Hüften hinunter und fasse die obere Hälfte meiner Haare nachlässig zu einem Dutt zusammen.

»Wann geht euer Flug?« Joe schiebt die Füße in seine sandigen Chucks.

»Um vierzehn Uhr. Wir haben nur noch eine Stunde, wenn wir am Flughafen El Prat ankommen.«

»Das ist Zeit genug.« Er wirft sich den Rucksack über die Schulter.

»Ja, ich mache mir auch keine Sorgen«, sage ich und checke mein Handy wegen verpasster Anrufe. Natürlich, Pippa hat es elf Mal bei mir versucht.

Mom hat eine Nachricht geschickt.

Ich vermisse dich! Ich freue mich, dass du bald nach Hause kommst. Ich mache dir deinen Lieblingsauflauf. X

Ich blicke auf und lächle ihn müde an. Ein Teil von mir kann es kaum erwarten, endlich weg zu sein und ungestört weinen zu können, aber ein anderer Teil von mir will sich nicht vom Fleck rühren. Nie mehr.

»Also.« Ich winke ihm zu. »Es ist so weit.«



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