Becky und der geheimnisvolle Bonbonkocher - Anne Scheller - E-Book

Becky und der geheimnisvolle Bonbonkocher E-Book

Anne Scheller

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Beschreibung

Eine Mutprobe in einer verlassenen Fabrik führt die 12-jährige Becky unversehens in die verborgene Bonbonküche von Dr. Mellis. Der freundliche alte Herr erklärt sich bereit, sie in die Geheimnisse seiner Kunst einzuführen. Aber er warnt Becky auch: Zwischen süßen Düften und bunten Leckereien lauern die verbotenen Bonbons. Diese sind nicht nur für Becky und ihren Zwilling Lotta eine Gefahr. Bei all dem wird Becky das Gefühl nicht los, dass Dr. Mellis selbst ein finsteres Geheimnis hütet ...

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Seitenzahl: 206

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über die Autorin

Titel

Impressum

Betreten verboten

Bonbonkocher in vierter Generation

Kein Schatz, kein Geheimnis

Nicht mehr als eine Prise

Geheimniskrämerei

Geschmacksexplosion

Besondere Medizin

Ein Bonbon für Lotta

Silbergraue Wolken

Splitter und Scherben

Herzklopfen

Mister Dark

Zwillingsbonbons

Die Macht der Bonbons

Wunderbar wirksame Bonbons

Verzaubert

Schwestern für immer?

Die Jagd nach dem Verbotenen Bonbon

Allein in der alten Fabrik

Minus mal minus ergibt plus

Rastlos und mächtig

Ein Stein wird weich

Minus mal plus ergibt minus

Ich bin er, und er ist ich

Kleeblätter und Graue Wolken

Mister Darks Rache

Bonbonköchinnen in fünfter Generation

Beckys blitzschnelle Zitronendrops

Beckys Karamellen

Weitere Titel der Autorin

Fjelle & Emil – Monstermäßig beste Freunde

Waldo Wunders fantastischer Spielzeugladen

Über die Autorin

Anne Scheller wurde seit ihrer Geburt 1980 quer durch Niedersachsen, länger nach Bayern und immer wieder nach England verweht, bis sie schließlich in der Lüneburger Heide landete. Hier lebt sie mit Mann und zwei Söhnen zwischen Kiefern, Büchern und natürlich Süßigkeiten. Wenn sie gerade nicht nascht, schreibt sie Kinderbücher, Sach-, Rätsel- und Schulbücher.

Anne Scheller

Mit Illustrationen von Verena Körting

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Boje in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau

Umschlagmotiv: Verena Körting, Köln

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-0137-2

www.luebbe.de/boje

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Betreten verboten

»Bonb… fabr… Mel…«, las Becky auf dem uralten Blechschild. Es war wie die bröckelnde Backsteinmauer, vor der sie stand, fast vollständig von Efeu überwachsen. Dahinter ragten hohe Dächer in den Himmel. Sie waren alt und bemoost, und an manchen Stellen fehlten die Ziegel. Sonst sah man nichts von der alten Fabrik. Das Tor neben dem unleserlichen Schild rostete in den Angeln, gewährte aber trotzdem keinen Blick hindurch. Mitten darauf klebte ein auch schon nicht mehr ganz neuer neongelber Warnzettel:

Betreten verboten! Einsturzgefahr!

Becky seufzte. Und genau da sollte sie rein.

Ein großer Vogel mit schillernd schwarz-weißem Gefieder flatterte plötzlich auf die Mauer. Er trug ein glänzendes Papier im Schnabel, vielleicht von einem Kaugummi oder Schokoriegel. Aus tiefschwarzen Knopfaugen blickte er Becky durchdringend an. Dann breitete er die Flügel aus und schwebte in den Fabrikhof hinunter.

Wenn es für sie doch auch so einfach wäre, da hineinzukommen! Und vor allem so ungefährlich! Kurz hineinfliegen, sich einmal umschauen und dann wieder raus.

Aber Becky musste das Tor aufschieben und die alte Fabrik bis in den letzten Winkel erkunden, das hatte sie versprochen. Auf der anderen Straßenseite standen Jule, Melina, Bonnie und Sibel und warteten nur darauf, dass sie endlich im Hof verschwand.

Jule, Melina, Bonnie und Sibel waren die Wilden Fünf, die allerbesten Freundinnen von Beckys Schwester Lotta. Und Lotta hätte es geliebt, die alte Fabrik zu erkunden! Es war ja auch ihre Idee gewesen: Sie wollte dort die krasseste und mutigste Mutprobe von allen machen.

Doch seit heute Mittag lag Lotta krank im Bett. Da sie vor den Wilden Fünf keinen Rückzieher machen wollte, hatte sie Becky bekniet, an ihrer Stelle hinzugehen. Becky und Lotta waren Zwillinge und glichen sich wie ein Karamellbonbon dem anderen: lange braune Haare, blaue Augen, Sommersprossen.

»Die Wilden Fünf können uns doch gar nicht auseinanderhalten«, hatte Lotta gekrächzt. Ein Hustenanfall hatte sie unterbrochen. Becky hatte mit den Fingern Muster auf ihre Jeans gezeichnet und gehofft, dass ihr schnell eine gute Ausrede einfallen würde.

»Aber …«, hatte sie begonnen.

»Die Wilden Fünf merken nie, dass du das bist«, hatte Lotta gekeucht.

»Aber die alte Fabrik …«, hatte es Becky erneut versucht.

»… ist voll spannend! Ich würde da gerne hin.« Lotta hatte sich aufgerichtet und einen sehnsüchtigen Blick aus dem Fenster geworfen. Doch sie war kreidebleich geworden und hatte sich stöhnend zurück in die Kissen sinken lassen.

Das war Beckys Chance. »Du kannst doch nicht glauben, dass ich da reingehe, Lotta«, flehte sie. »Das ist lebensgefährlich! Steht sogar außen dran. Die Wilden Fünf müssen eben ein paar Tage warten.«

Aber irgendwie hatte Lotta Becky dann doch rumgekriegt. Vielleicht hatte es etwas damit zu tun, dass Lotta so furchtbar krank war. Oder damit, dass die beiden als Zwillinge genau spürten, was die andere bewegte, und Becky von Lottas sehnlichem Wunsch ein bisschen gerührt war. Oder damit, dass Lotta hoch und heilig versprochen hatte, Becky danach bis zu den nächsten Sommerferien in Ruhe zu lassen. Mindestens.

»Du darfst in deinem Zimmer Musik hören und Einhörner malen, so viel du willst«, hatte Lotta versprochen.

»Haha.« Für Einhörner interessierte Becky sich gar nicht, und das wusste Lotta. Aber sie malte und bastelte gern. Das war ihr tausendmal lieber als so ein Abenteuer, wie Lotta es sich vorstellte. Aber dann hatte sie überlegt: ein kurzer Ausflug in eine alte Fabrik im Austausch gegen ein Jahr Freiheit von Lottas verrückten Einfällen? Da konnte Becky eigentlich nur Ja sagen.

Becky legte eine Hand auf den rostigen Torgriff. Ein Blick über die Schulter verriet ihr, dass Jule, Melina, Bonnie und Sibel sie genau beobachteten. Bonnie hielt beide Daumen nach oben und grinste quer über ihr rundes, bebrilltes Gesicht. Sibel warf die langen dunklen Haare zurück und machte eine Handbewegung, als wollte sie Becky vorwärtsscheuchen. Melina lächelte ermutigend. Jule strich sich die braunen Locken hinter die Ohren, holte ihr Handy hervor und tippte auffordernd mit dem Zeigefinger darauf. Das hieß so viel wie: Die Stoppuhr läuft! Jule hatte nämlich darauf bestanden, dass Lotta (die ja eigentlich Becky war) mindestens eine Stunde in dem heruntergekommenen Gemäuer verbrachte.

Der Stadtbus Nummer 16, mit dem Becky und die Wilden Fünf vor einer halben Stunde hergefahren waren, rauschte erneut vorbei, und Beckys Haare wirbelten im Fahrtwind durcheinander. Der Fahrer blickte neugierig zu ihr hinüber. Becky erschrak. Würde sie Ärger bekommen, wenn sie erwischt wurde? Becky gab sich einen Ruck, öffnete das Tor und schlüpfte durch den Spalt.

Mit klopfendem Herzen drückte sie sich an das rostige Tor und sah sich um. Vor ihr lag ein unebener Hof, dessen Kopfsteinpflaster von den vielen Baumwurzeln ganz buckelig geworden war. Laub wehte umher. Dazwischen blitzte etwas. Becky dachte plötzlich an Geld und Edelsteine, aber es war nur ein silbriges Papier, wie sie es vorhin im Schnabel des Vogels gesehen hatte. »Das wär echt schön zum Basteln«, flüsterte sie.

Sie warf einen Blick auf die Uhr. Fünf Minuten waren schon vergangen, während sie darauf gewartet hatte, dass sich ihr wild pochendes Herz beruhigte. Am liebsten wäre sie hier stehen geblieben und hätte sich in einer Stunde wieder hinausgeschlichen! Doch die Wilden Fünf erwarteten einen genauen Bericht, was es alles zu sehen gab. Einfach etwas erfinden war auch keine Lösung, denn Jule, Bonnie, Melina und allen voran Sibel wollten nach der Mutprobe selbst das Gelände erkunden. Und dann würde jede Schwindelei sofort auffliegen.

Becky hatte keine Wahl. Zögernd tapste sie über den Hof auf das große Gebäude zu, eine lang gestreckte Halle mit Glasdach. An einer Seite grenzte sie an ein Backsteinhaus mit Erkern und Türmchen. Es hätte eine feine Villa sein können, wäre es nicht so verfallen gewesen, mit blinden Fenstern und einem löchrigen Dach.

Becky hoffte insgeheim, dass die Tür zur Halle verschlossen war, doch sie ließ sich öffnen. Vorsichtig trat Becky hindurch.

Die Fabrikhalle war leer, wenn man mal von Laub, Zweigen, Staub und Papierfetzen absah, die der Wind durch die zerbrochenen Fenster hineinwehte. Sonnenlicht fiel durch das Glasdach, gefiltert vom Schmutz der Jahrzehnte. Es roch nach Staub, Feuchtigkeit und uralter Luft. Eine tiefe Stille lag über dem Raum. Becky war auf einmal ganz feierlich zumute, als hätte sie eine Kirche betreten.

Sie schritt durch die Halle bis zu einer geschnitzten Holztür mit einem merkwürdigen, fast eiförmigen Griff. Becky drehte ihn und stand im nächsten Moment in einem dunklen Flur. An einer Seite führte eine ausgetretene Holztreppe nach oben, nur von einem schmalen Fenster im ersten Stock beleuchtet.

Auf der anderen Seite des Flurs gab es mehrere Türen. Becky öffnete die erstbeste und warf einen Blick durch den Spalt. Ein alter Schreibtisch, Aktenschränke und ein dreibeiniger Stuhl standen herum. Ein Bild war von der Wand gefallen, und der rundliche Mann darauf, mit Glatze und einer Art Kochtopf im Arm, sah sie von schräg unten an. Alles war von einer dicken Staubschicht bedeckt. Hinter einer weiteren Tür erspähte Becky einen großen ovalen Ess- oder Konferenztisch.

Becky verstand: Sie musste in der Villa mit den Türmchen sein, die sie von draußen gesehen hatte. Vielleicht waren hier früher die Büros gewesen oder sogar das Wohnhaus des Direktors.

Unentschlossen stand Becky am Fuß der Treppe. Konnte sie es wagen, ins obere Stockwerk zu gehen? Sie sah erneut auf die Uhr. Immer noch 40 Minuten, die sie irgendwie herumkriegen musste. Außerdem würde Lotta es ganz sicher auch tun. Also holte Becky tief Luft und erklomm die Stufen.

Je weiter sie nach oben kam, umso heller wurde es. Es wurde auch wärmer und roch nicht mehr so muffig. Eigentlich duftete es in diesem Haus sogar ganz angenehm! Becky schnupperte. Der Duft war süß und erinnerte an Himbeeren mit Schokolade und noch etwas, was sie gerade nicht erkennen konnte. Ihre Schritte wurden schneller. Sie erreichte den ersten Stock – und der Duft war verschwunden.

Verwirrt schüttelte Becky den Kopf. Hatte sie sich den Geruch nur eingebildet?

Auch von diesem Flur gingen viele Zimmer ab, und Becky betrat eins nach dem anderen. Ihr Herz klopfte wieder genauso stark wie zu Beginn der Mutprobe. Dauernd erwartete sie, den himmlischen Duft wieder zu riechen. Aber sie fand nichts außer Schmutz, Spinnweben und einer Wendeltreppe zu einem dunklen Dachboden, den Becky nur betreten würde, wenn ihr Leben davon abhinge.

Noch 33 Minuten. War der Duft doch von unten gekommen? Becky schlich die knarzenden Stufen hinab und sah sich um. Tatsächlich, im Schatten hinter der Treppe war noch eine Tür. Sie hatte den gleichen eiförmigen Knauf wie die gerade eben. Als Becky näher trat, nahm sie auch wieder den Duft wahr: Himbeeren, Schokolade und Lavendel, genau wie in Omas Garten.

Hinter der Tür fand Becky einen langen Korridor. Er war dunkel und kalt, aber das störte sie gar nicht mehr. Denn der Duft war noch stärker geworden. Sie erschnupperte Noten von Karamell und Pistazie. Da war auch etwas, das sie an den Geruch in ihrer Lieblingspizzeria erinnerte. Oder an ein Lagerfeuer im Herbst.

Der Korridor hatte nur eine Tür ganz am Ende. Als Becky davorstand, war der Duft so intensiv, dass sie keinerlei Angst mehr verspürte. Die alte Fabrik war nicht gefährlich, sie war himmlisch!

Becky öffnete die Tür und betrat eine andere Welt.

Bonbonkocher in vierter Generation

Es war, als wäre Becky eingeschlafen und im schönsten, buntesten und wohligsten Traum gelandet. Staunend sah sie sich um.

Vor den porzellanweiß gekachelten Wänden standen reihenweise auf Hochglanz polierte Kupferkessel. Dampf stieg auf, und Becky vernahm das leise Geräusch von trägem Brodeln und fröhlichem Blubbern. Langsam ging sie zwischen den Kesseln umher. Im ersten sah sie eine gelbe Masse. Ihre Oberfläche schimmerte wie Goldstaub, und über ihr lag ein wunderbarer Duft nach Honig, Zimt und etwas Herbem, das Becky sogleich in Festtagsstimmung versetzte. Sie atmete tief ein, dann erkannte sie es: Die Honigschimmermasse duftete wie der Weihnachtsbaum zu Hause nach Bienenwachskerzen und Fichtennadeln.

Der nächste Kessel enthielt eine dunklere Flüssigkeit, so blau wie das Meer. Der aufsteigende Duft war frisch und salzig wie die Luft am Strand, mit einem Hauch von Gras und einer Prise Lakritze.

Im dritten blubberte es rosa mit gelben Punkten, und der Geruch dieser Masse erinnerte Becky sofort an ihren Lieblingsbastelladen, an Luftballons, Wackelpudding und bunte Schokolinsen. Sie musste unwillkürlich lächeln.

Über einem vierten Kessel hing eine so dichte Dampfwolke, dass Becky die Oberfläche nicht sehen konnte. Vorsichtig steckte sie ihre Nase hinein. Sie erwartete, dass sich der Dampf heiß und feucht anfühlen würde, so ähnlich wie wenn Mama einen großen Topf Nudeln auf dem Herd köcheln ließ. Aber dieser Dampf war anders. Er war angenehm warm und streichelte ihre Wangen. Kaum hatte Becky ein wenig davon eingeatmet, hatte sie das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sie sah alle Farben des Regenbogens durcheinanderwirbeln und wie Seifenblasen zerplatzen. Es fühlte sich an, als wäre sie völlig schwerelos. Dazu duftete es nach allem, was sie jemals gerochen hatte, und nach nichts, was sie beschreiben konnte. Sie schwebte selig in dieser Mischung aus himmlischen Düften und Farben – schöner als ihre Perlen und Klebebänder. Und dabei fiel es ihr wieder ein: Sie war Becky, Rebecca Marta Steffens, 12 Jahre alt und Zwilling von Karlotta Barbara, leidenschaftliche Bastlerin und nicht besonders mutige Mutprobenteilnehmerin, und schnupperte in der alten Fabrik an Kupferkesseln voll duftender Gebräue. Mit aller Kraft zog sie den Kopf aus der Dampfwolke und stand plötzlich wieder aufrecht in dem porzellanweiß gekachelten Raum.

Becky schüttelte sich. Der letzte Kupferkessel hatte sie glücklich gemacht und einen leichten Schwindel hinterlassen. Sie trat zurück von den Töpfen und sah sich die verschnörkelten Holzregale an der Wand näher an. Im ersten standen bauchige Gläser mit Bonbons in allen Regenbogenfarben, einfarbige und bunte, kleine und große, mit Füllung und ohne, mit Buchstaben, Noten und sogar Tieren darin. Ein Glas enthielt rosa Bonbons mit gelben Punkten, und da begriff Becky auch, was in den Kesseln vor sich hin dampfte: süße, klebrige Bonbonmasse.

Becky betrachtete die Bonbongläser genauer. Es gab eins mit meeresblauen Bonbons in Muschelform, die zu dem zweiten Kessel passten. Ein anderes Glas enthielt unregelmäßig geformte honigfarbene Goldstücke, unzweifelhaft die fertigen Bonbons aus der Masse im ersten Kessel. Und die Bonbons im größten Glas in der Mitte, die aussahen wie kleine Regenbögen, waren bestimmt die feste Form der regenbogenbunten Masse, die Becky so schwindelig und glücklich gemacht hatte.

Schritt für Schritt bewegte Becky sich weiter durch den Raum. Sie ließ ihre Finger über glänzende Walzen mit Bonbonformen streichen und nahm bunte Tüten mit verzierten Etiketten in die Hand. Sie legte ein Gewicht auf eine alte Messingwaage und sah den Zeiger ausschlagen. Sie betrachtete Flaschen voll sprudelnder Bonbonbrause und strich mit der Hand über die kühle Oberfläche eines Arbeitstisches mit polierter Steinplatte.

Dann entdeckte sie das Bücherregal. Es stand in einer Ecke am Ende des Raumes und war vollgestopft mit zerfledderten Bänden, deren Titel in Gold eingeprägt waren. Becky zog ein Buch nach dem anderen heraus. Honigmund und Zuckerschnauze, Rezepte für Schleckermäuler oder Die Kunst des Süßen stand da. Der längste Titel prangte auf einem Buch, das so dick war wie Beckys Oberarm: Bonbon, très bon – Ein Handbuch für den arbeitsamen Bonbonkocher, sorgfältig ausgewählt, gekocht, geformt, geschleckt und niedergeschrieben von einer erfahrenen Hausfrau und Dame.

Becky musste kichern.

»Das könnte etwas für dich sein, wertes junges Fräulein«, sagte da eine Stimme.

Becky zuckte zusammen und ließ das Buch fallen. Eine kleine Staubwolke stieg von den weißen Kacheln auf. Rasch hob sie den Wälzer auf und schob ihn zurück ins Regal. Dann drehte sie sich langsam um.

Becky konnte nicht erkennen, woher die Stimme gekommen war. Alles, was sie sah, waren die Kupferkessel mit den träge darüber wabernden Dampf- und Duftwolken, die Bonbongläser und Arbeitsgeräte.

»Komm ruhig näher, du musst keine Angst haben«, sagte die Stimme nun. Becky hörte ein kräftiges Pusten. Der Nebel über dem Kessel mit der Regenbogenmasse lichtete sich, und sie sah einen alten Mann mit schneeweißem Kittel, schneeweißem Haar und einem ordentlich gestutzten Bart. Er hielt einen mannsgroßen Silberlöffel in beiden Händen und rührte damit in der Bonbonmasse.

»Ich bekomme nur äußerst selten Besuch«, sagte der alte Mann. »Was für eine Freude!«

Er lächelte, und die Runzeln und Falten in seinem Gesicht wurden dabei noch tiefer und zahlreicher, besonders um die Augen herum. Becky verlor einen Teil ihrer Scheu und trat näher.

»Hallo«, sagte sie. »Ich bin Becky.«

Der alte Mann neigte den Kopf. »Angenehm, Mellis«, sagte er. Er hatte eine richtige Märchenonkelstimme, tief und sanft. »Doktor Hans Mellis«, fuhr er fort. »Bonbonkocher in vierter Generation.«

Becky nickte. Mehr und mehr verstand sie diesen Ort, und gleichzeitig explodierten die Fragen in ihrem Kopf geradezu. Mitten in der alten Fabrik verbarg sich eine Bonbonküche, und der alte Dr. Mellis war der Bonbonkoch. Ob Lotta gewusst hatte, dass sie ihn hier finden würde? Sicher nicht, schließlich stand am Tor sehr deutlich: »Betreten verboten!« Alle in der Stadt hielten die Fabrik für verlassen. Aber was tat Dr. Mellis hier ganz allein?

Der Bonbonkocher rührte weiter in seiner regenbogenfarbenen Masse. Ab und zu sah er zu Becky hinüber und lächelte sie an. Sie überlegte, was sie sagen konnte.

»Das riecht aber gut«, war das Erste, was ihr einfiel.

Dr. Mellis nickte nur.

»Diese Bonbonsoße hier besonders«, sagte Becky mit einer Handbewegung zum Kessel. »Mir ist davon richtig schwindelig geworden. Was ist das?«

»Ah, gleich deine erste Frage ist die allerschwerste«, sagte Dr. Mellis. »Warum fragst du mich nicht, was ich hier tue? Oder was in den anderen Kesseln dampft?«

Becky stutzte. »Na gut«, sagte sie dann. »Was ist in den anderen Kesseln?«

Dr. Mellis legte den Löffel beiseite. »Folge mir, junge Dame«, sagte er und trat zum ersten Kessel mit der Honigschimmermasse. »Diese Sorte hier heißt Goldene Weihnachtsgefühle«, sagte er. »Es ist eine Komposition aus Fichtennadeln, Bienenhonig, Zimt und Weihnachtsstimmung. Schenkt Wärme selbst an den kältesten Tagen.«

Dr. Mellis ging weiter zu dem Kessel mit der rosa-gelb gepunkteten Zuckermasse. »Ki-ko-konfetti, eines meiner Lieblingsrezepte. Bunte Schokolinsen, Zuckerperlen, Erdbeeren mit Schlagsahne und ein Hauch Wackelpudding machen diese Bonbons zu wahren Stimmungswundern.«

Becky sah den Bonbonkocher staunend an. Sie konnte kaum glauben, was sie hier entdeckt hatte! »Und das?«, fragte sie und trat zu dem Kessel mit der blauen Flüssigkeit.

»Dabei handelt es sich um die Rohmasse für mein Meeresrauschen«, erklärte Dr. Mellis. »Hast du den Duft von Salz und Meerwasser wahrgenommen?«

Becky atmete noch einmal tief ein und aus, dann schloss sie die Augen, um die Düfte besser unterscheiden zu können. »Urlaub in Dänemark«, flüsterte sie, denn da war sie mit ihrer Familie in den letzten Sommerferien gewesen. »Salziges Wasser und salzige Luft. Feuchter Sand und Strandgras. Lakritzstreusel auf Softeis.«

»Ha!« Dr. Mellis lachte auf. Becky öffnete die Augen und sah, wie der alte Herr die Hände zusammenschlug. Hatte sie etwas sehr Dummes gesagt?

»’tschuldigung«, murmelte sie.

»Entschuldigung?«, gluckste Dr. Mellis. »Aber nein, meine Liebe. Du musst dich nicht entschuldigen. Du liegst genau richtig! Du hast die Duftnoten meiner Meeresrauschen-Bonbons bis auf die letzte Woge erkannt. Ganz hervorragend, ganz hervorragend …« Dr. Mellis’ Stimme wurde leiser, als ob er in Gedanken abschweifte.

Becky strich sich verlegen eine Strähne aus dem Gesicht. »Und dieser Kessel?«, fragte sie. »Was ist da drin?« Sie ging zu dem Kessel, in dem Dr. Mellis zuerst gerührt hatte, der mit der schwindelerregenden, kunterbunten Masse.

»Womit wir wieder bei deiner ersten und allerschwersten Frage wären«, sagte Dr. Mellis. »Dies ist die Rohmasse für meine Kunterbunten Regenbögen. Ihr Duft ist nicht zu beschreiben. Egal, wer daran riecht, alle sagen nur Wörter wie himmlisch, traumhaft oder zauberschön. Es ist mein Geheimrezept, das vielleicht wichtigste Bonbonrezept meines ganzen langen Lebens.«

Becky starrte auf die grün, blau, lila, rot und gelb wirbelnden Nebelschwaden über dem Kessel. Solange sie nicht zu nah heranging, hielt sich der Schwindel in Grenzen, doch schon der Anblick der Bonbonmasse raubte ihr den Atem.

»Darf ich probieren?«, fragte Becky. Sie streckte den Zeigefinger aus, um ihn in die Masse zu tunken.

»Halt!« Dr. Mellis fuhr herum und hielt Beckys Arm mit eisernem Griff fest. Im nächsten Moment ließ er sie los und lächelte ein liebes Opa-Lächeln. »Verzeih mir, wenn ich dich erschreckt haben sollte, liebe Becky. Aber die Bonbonmasse ist nicht nur kochend heiß, sie ist auch gefräßig und unersättlich. Sei stets auf der Hut! Sonst verschlingt sie dich mit Haut und Haar.«

Becky starrte den Bonbonkocher an. Das klang ja, als ob die Bonbonmasse lebendig wäre! Das war natürlich Quatsch, nur … Beim Malen und Basteln träumte Becky sich oft in eine ganz eigene Welt. Warum sollte es also keine lebendige Bonbonmasse geben? Ein winziger Teil von ihr konnte nicht anders, als Dr. Mellis zu glauben.

Kein Schatz, kein Geheimnis

»Eine Stunde, 11 Minuten und 26 Sekunden«, verkündete Jule, als Becky einige Zeit später durch das Fabriktor schlüpfte, über die Straße rannte und sich zu den Wilden Fünf auf die Bank an der Bushaltestelle fallen ließ.

Bonnie hielt Becky eine Hand entgegen, und es dauerte einen Moment, bis Becky begriff, dass sie einschlagen sollte. »Top gemacht, Lotta!«, lobte Bonnie.

Becky nickte nur.

»Wie war es?«, fragte Jule. »Gruselig? Schmutzig? Gefährlich?«

»Och, Lotta, jetzt sag schon!«, verlangte Sibel und beugte sich neugierig vor.

»Ähm …«, machte Becky. Sie sah keine der Wilden Fünf an, während sie verzweifelt nach einer halbwegs glaubwürdigen Antwort suchte. Von Dr. Mellis wollte sie auf keinen Fall etwas verraten, das war klar. Zuerst musste sie selbst besser verstehen, was genau sie da entdeckt hatte. Die Bonbonküche würde vorerst ihr Geheimnis bleiben.

Becky wollte am liebsten gar nichts von der alten Fabrik erzählen. Sie fürchtete, die Wilden Fünf würden sofort ahnen, was los war, wenn sie nur den Mund aufmachte und mit zitternder Stimme zu sprechen begann.

»Lotta?«, fragte nun Melina. Ihre Stimme war leise, und sie sah Becky besorgt an. »War es sehr schlimm? Hast du dich gefürchtet? Ist dir etwas passiert?«

Endlich riss Becky sich zusammen. »Nein, nein, alles in Ordnung«, sagte sie. »War eigentlich ziemlich langweilig da drinnen.«

Sie dachte an den ausgestorbenen Hof und die alte Fabrikhalle, an die Villa mit ihren hübschen, aber leeren Zimmern und die herrlichen Düfte … Halt, stopp!

»Also, es war echt okay«, sagte sie und bemühte sich, möglichst lässig zu klingen. »Ein Fabrikhof mit Kopfsteinpflaster und vertrockneten Blättern. Eine alte Halle, voller Staub und Schmutz. Alles völlig verlassen. Na ja, und die paar Lebensgefahren habe ich locker gemeistert.«

Melina riss die Augen auf, und Jule sagte: »Erzähl. Sofort.«

Becky ließ ihrer Fantasie freien Lauf. »Also, da war diese Halle mit dem Glasdach. Da ist eine Scheibe heruntergefallen und hätte mich fast erwischt!«

»Wow!«, entfuhr es Bonnie. »Und dann?«

»Dann bin ich in dieses andere Haus, wo ich fast auf einen rostigen Nagel getreten wäre. Und dann bin ich durch eine Tür …« Becky sah plötzlich wieder die Bonbonküche vor sich. Sie biss sich auf die Lippen.

»Ja?«, hakte Sibel nach. »Nun red schon weiter!«

»Dann wurde es richtig eklig«, spann Becky ihre Geschichte weiter. »Glaubt mir, ihr wollt das nicht so genau wissen. Ich sage nur: geplatzte Abwasserrohre. Braune Brühe überall. Versteht ihr?«

»Äääööörgghh!« Melina, Jule und Bonnie verzogen die Gesichter und würgten. Nur Sibel schien noch nicht zufrieden, aber Becky ließ sie nicht mehr zu Wort kommen.

»Echt, das war abartig! Und bestimmt auch voller Krankheitserreger. Seid froh, dass ihr da nicht reinmüsst! Guckt mal, da ist unser Bus. Kommt ihr?« Becky stand auf und zog Melina an der Hand zum Straßenrand. Der Stadtbus Linie 16 rauschte heran. Zischend öffneten sich die Türen, und Becky stieg mit Melina im Schlepptau ein. Bonnie, Sibel und Jule folgten ihr. Sibel runzelte die Stirn und tuschelte mit Bonnie, aber das war Becky egal. Hauptsache, sie lotste die Wilden Fünf von hier weg! Sie durften auf keinen Fall auf die Idee kommen, die Mutprobe nachzumachen – weder jetzt noch irgendwann anders.

Becky gelang es, die Wilden Fünf abzuschütteln, indem sie behauptete, noch Hausaufgaben machen zu müssen. Bonnie lachte zwar ungläubig und sagte: »Hausaufgaben sind dir doch sonst auch egal, Lotta. Komm lieber mit in unsere Basis!« Aber Jule fand Lottas neuen Arbeitseifer gut, und Becky konnte endlich gehen.

Zu Hause drehte Becky den Schlüssel extra leise in der Haustür. Sie wollte nichts weiter, als in ihr Zimmer schleichen, sich auf ihr Bett legen und ihre Ruhe haben. Vielleicht in einem Bastelbuch blättern. Und auf jeden Fall über Dr. Mellis und die alte Fabrik nachdenken, ganz für sich.

Doch leider war ihre Mutter im Wohnzimmer, das sich an den offenen Hausflur anschloss.

»Hey, Becky!« Ihre Mutter, Floriane Steffens, saß mit angezogenen Beinen auf dem Sofa, in eine riesige Strickjacke gewickelt wie in eine Decke. Sie trank einen Becher ihres Lieblingstees, braungrün und angeblich gesund, und hielt Becky die Arme entgegen. »Komm her, meine Süße. Alles okay?«

»Hallo, Mama.« Becky ließ sich drücken, machte sich aber schnell wieder los. Sie brauchte jetzt einfach Zeit, um ihre Gedanken zu ordnen! Also sagte sie: »Kann ich jetzt nach oben gehen, Mama? Ich muss noch Hausaufgaben machen.«

Klirrend stellte Beckys Mutter den Becher auf den Couchtisch. »Du warst spielen, ohne die Hausaufgaben erledigt zu haben? Ach, Becky, das finde ich aber nicht in Ordnung. Dann geh mal lieber schnell in dein Zimmer!«

»Ist ja gut, Mama.« Becky stand auf. »Aber sag mal, wie geht es eigentlich Lotta?«