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Das Jahr 2333: Die einzige Kolonie der Menschheit im fernen Archimedes System ist in Aufruhr. Der Kontakt zur Erde ist abgebrochen und seit Jahrzehnten erschüttern mysteriöse Entführungswellen die Gesellschaft. Als ein Wurmloch inmitten der Kolonie auftaucht, sieht sich die Unions Navy einer uralten Gefahr gegenüber. Während ein erbarmungsloser Krieg das gesamte System ins Chaos stürzt, wird Captain Jeremy Brandt mit der UNS Concordia durch das Wurmloch geschickt, um sich dem mysteriösen Feind zu stellen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Vorwort
Zeitlinie (kurz)
Prolog
1. Jeremy
2. Zwischenspiel
3. Pascal
4. Zwischenspiel
5. Jeremy
6. Zwischenspiel
7. Pascal
8. Zwischenspiel
9. Jeremy
10. Zwischenspiel
11. Pascal
12. Zwischenspiel
13. Jeremy
14. Jeremy
15. Zwischenspiel
16. Pascal
17. Zwischenspiel
18. Jeremy
19. Zwischenspiel
20. Pascal
21. Zwischenspiel
22. Jeremy
23. Zwischenspiel
24. Pascal
25. Zwischenspiel
26. Jeremy
27. Zwischenspiel
Nachwort
Zeitlinie (lang)
Glossar: Locusts
Glossar: Menschen
Personenregister
Lieber Leser,
mit dem vorliegenden Band »Der Hyperraum-Krieg« hältst du den ersten Teil einer Neuauflage meiner Erstlingsserie »Behemoth 2333« in der Hand, mit der ich meinen Durchbruch als Autor erleben durfte. Sie liegt mir bis heute am Herzen und auch wenn ich mich schriftstellerisch weiterentwickelt habe, halte ich die Geschichte von Jeremy und Pascal nach wie vor für eine meiner besten und bin sehr stolz auf sie. Ich denke, dass sie es verdient hat, mit neuen Covern ausgestattet und in vier längere statt acht kürzere Bücher zusammengefasst zu werden.
Ich wünsche dir viel Freude beim Lesen,
dein Joshua Tree
Carrascalinho, 12. September 2022
* * *
Am Ende dieses Buches befindet sich eine längere, detailliertere Zeitlinie – natürlich spoilerfrei -, die dir tiefere Einblicke in die Menschheit 2333 gibt. Des Weiteren findest du dort ein Glossar und ein Personenregister zum Nachschlagen.
»Okay Marly«, sagte Federigo gut gelaunt und gesellte sich zu seiner Kollegin vor die äußere Kompositwand der Station. »Dann wollen wir doch mal schauen, was wir heute an interessanten Daten erhalten.«
»Ich bin nicht auf DeGaulle geboren worden, nur um meinen wunderbaren Namen von einem Bismarcker wie dir verschandeln zu lassen«, schnaubte Dr. Marlène DeVries zur Antwort und warf ihm einen gespielt bösen Blick zu. »Außerdem versuchst du doch nur, das Ganze spannender zu machen, als es ist. Ich schätze, das ist auch der einzige Grund, weshalb du deinen Studenten mitgebracht hast?«
Sie machte mit ihrer zierlichen Hand eine vage Geste in Richtung des jungen Mannes, der auf einem der drei Sessel aus Nanoschaum hinter ihnen saß. Seinem leeren Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war er in den zentralen Quantencomputer der Station, den KI-Kern, eingeloggt.
»Ach, die armen Jungs kommen doch sonst nie aus der Uni heraus«, gab Federigo zurück und hob die Schultern. Mit einem kurzen Gedankenbefehl öffnete er eine Verbindung zu der Robotersonde, die gerade von ihrem dreimonatigen Flug durch die unteren Atmosphärenschichten des Gasriesen zurückkehrte. Als er keine Antwort erhielt, befahl er der nanonischen Kompositwand vor sich, transparent zu werden.
Aufgrund ihrer Nähe zu dem Planeten war die Helligkeit, die von dem jovianischen Riesen ausging, enorm und sein NeuroSmart, ein winziger Computer an seinem Hirnstamm, dämpfte automatisch die Reizübertragung seiner strapazierten Sehnerven. Was nach den angesprungenen Filtern blieb, war ein wunderschönes Gemälde aus atmosphärischen Superstürmen, die in Äquatornähe wüteten und die vorherrschenden Gelb- und Rottöne ständig ineinander verschoben.
»Es gibt schon schlimmere Arbeitsplätze als diesen hier«, stellte er zufrieden fest.
»Du meinst schlimmer als ein Jahr am Stück immer gleiche Messdaten zu empfangen?«, schnaubte Marlène und rieb sich mit einer Hand über die grauen Stoppeln ihres rasierten Kopfes. »Wir sind doch ohnehin bloß hier, um den Ort des ehemaligen Jupiter Tunnels nicht gänzlich der Human Corporation oder Schmugglern der Steineklopfer auf den Asteroiden zu überlassen.«
»Zeus II mag momentan noch nicht im Interesse der Union liegen«, stimmte Federigo ihr zu und sandte ihr über SenseNet die letzten Daten von der Zusammensetzung der Atmosphäre, die gerade von der Robotersonde in den KI-Kern der Station geladen wurden. »Aber wenn von Zeus I erst einmal sämtlicher Wasserstoff abgesaugt wurde, wird sich das schnell ändern und Zeus II plötzlich der interessanteste Punkt des Archimedes Systems sein.«
»Und das ist wann? In fünftausend Jahren?«
»Genießen wir einfach den Ausblick«, gab der Professor milde zurück, als er eine Warnmeldung vom KI-Kern erhielt, die als aufdringliches, rot blinkendes Dreieck in sein Sichtfeld projiziert wurde.
Mit hochgezogenen Brauen öffnete er die Meldung und eine wahre Flut von Diagrammen und Daten aus der oberen Sensorphalanx überflutete sein Sichtfeld.
»Seltsam«, sagte er leise und aktivierte sämtliche Analyseprogramme aus seinen Memoryzellen, um die Daten in ein verdauliches Maß umzuwandeln. Nach zwei Sekunden hatten sie ihre Arbeit getan und sein Mund wurde staubtrocken. Ungeduldig schob er den Datenwust beiseite und klinkte sich in die optischen Sensoren der Station ein, verschmolz mit den Teleskopen.
Über das lokale SenseNet spürte er die Präsenz von Marlène und Martin, die es ihm scheinbar ohne Zögern gleichgetan hatten.
Hastig zoomte er zu den etwa vierhunderttausend Kilometer entfernten Koordinaten der ehemaligen Subraumanomalie des Jupiter Tunnels heran. Was vor Jahrzehnten noch ein rätselhaftes Mikrowurmloch gewesen war, das sie mit dem heimischen SOL System verbunden hatte, war heute nur noch langweiliger Normalraum. Die vier halbverwaisten Forschungsstationen der Human Corporation hingen wie reglose Zeugen des Vergessens rings um die Koordinaten im Vakuum. Nicht mehr als Prestigeobjekte einer gierigen Megacorporation, die heute von Schmugglern, FMN-Sympathisanten und Systemfeinden kontrolliert wurden.
»Energiespitze bei Point Zero!«, dröhnte Marlène über das SenseNet.
Er vergrößerte erneut, bis seine sensorgestützten Augen direkt in einen grellen Photonensturm harter Strahlung blickten, der die ihn umgebenden Stationen der Human Corporation gefährlich rot aufglühen ließ. Nach dem Lichtblitz wurde der Normalraum zwischen ihnen gewaltsam aufgerissen und offenbarte seinen Sensoren einen flüchtigen Blick in die beunruhigende, schwarze Unendlichkeit des Weltraums. Das kugelförmige Gebilde aus vollkommener Schwärze schwoll rasend schnell an, wölbte sich wie ein Ballon kurz vorm Platzen und spuckte dann etwas aus, bevor es wieder in sich zusammenfiel.
»Bei Gott was ist das?«, raunte Martin heiser.
Federigo überflog hastig die Daten: Das Raumschiff, das durch den Ereignishorizont gesprungen war, hatte eine Länge von über zwei Kilometern und besaß an der breitesten Stelle einen Durchmesser von dreihundert Metern. Das war deutlich größer als ein Schlachtschiff der Unions Navy und damit gewaltiger als alles, was er jemals gesehen hatte.
»Marlène, was machst du aus den Daten der Passivsensorik?«, fragte er die Analystin mit sich überschlagender Stimme und wartete ungeduldig darauf, dass die optischen Sensoren wieder hochfuhren. Sie hatten nach dem initialen Lichtblitz des sich öffnenden Wurmloch Terminus abgeschaltet, um nicht in dem folgenden Orkan aus Gammastrahlung zu vergehen.
»Niederfrequente elektromagnetische Strahlung, kein Plasmaschweif, aber ich empfange eine SenseNet Übertragung«, antwortete die Wissenschaftlerin direkt in sein Bewusstsein.
»Über SenseNet?«, fragte er ungläubig. »Das ist doch vollkommen unmöglich!«
»Kein Zweifel!«, beharrte sie und ihre von Angst getragene Aufregung durchdrang das Netz der Station mit einer solchen Intensität, dass seine emotionalen Filterroutinen aktiv wurden. Schnell beruhigte er sich.
»In Ordnung. Kanal öffnen!«
Er hielt die Luft an, während er auf die Nachricht des fremden Schiffes wartete.
Ist das ein wirklicher Erstkontakt?, dachte er fieberhaft und fühlte sich wie in einem Traum. Solche Dinge passierten anderen, Männern und Frauen, die in die Geschichte eingingen. Ganz sicher aber passierten sie nicht ihm, Federigo Meyberg, der diesen unterdurchschnittlichen Arbeitsplatz seinen noch unterdurchschnittlicheren Forschungsergebnissen verdankte. Ein Wurmloch. Ein echtes Wurmloch!
Doch so lange er auch wartete, es geschah nichts. Keine Nachricht. Keine außerirdische Stimme aus dem Äther, die nach ihnen rief. Keine kryptischen, mathematischen Formeln, keine Lichtsignale. Einfach nichts.
Doch, da war etwas.
»Der KI-Kern wird angegriffen!«, schrie Marlène mit einem Mal.
»Was?«
»Bei dem Signal scheint es sich um eine Art Virus zu handeln, das die Firewalls des KI-Kerns angreift. So einen Code habe ich noch nie gesehen«, sagte sie atemlos.
Die optischen Sensoren waren wieder hochgefahren und Federigo zögerte keine Sekunde. Er klinkte sich erneut in die Teleskope ein und befahl ihnen, sich direkt auf das fremde Schiff auszurichten.
»Das ist kein Schiff!«, stammelte er kurze Zeit später fassungslos und leitete die Telemetriedaten an Marlène weiter.
Bei dem Eindringling handelte es sich um ein riesiges Lebewesen, dass sich am ehesten noch mit einem irdischen Wal vergleichen ließ, wie er ihn aus den SenseNet Dokumentationen über die Erde kannte: Eine massige, stromlinienförmige Kreatur, an deren Flanken kiemenartige Löcher klafften, durch die sie den Daten zufolge interstellaren Wasserstoff aus dem Vakuum saugte. Auf dem Rücken befanden sich hornartige Fortsätze, die sich von dem gedrungenen Kopf mit seinen unzähligen Augen und Tentakeln bis zum abgeflachten Ende entlangzogen. Eine glänzende Haut aus massivem braunen Polyp überzog das Wesen, das sich gemächlich aber zielstrebig auf sie zu bewegte.
»Ein verdammtes Weltraummonster?«, fluchte Marlène leise. »Das soll doch wohl ein Witz sein!«
»Das ist der Behemoth!«, sendete Martin hysterisch über das SenseNet.
»Behemoth?«, fragte Marlène irritiert. »Fang mir jetzt nicht mit irgendeinem Gefasel aus der Bibel an!«
»Das ist ein Monster aus dem Buch Hiob«, erklärte Federigo und umfasste instinktiv das Kruzifix, das er um seinen Hals trug. »Aber Behemoth ist in der Bibel ein Landlebewesen. Wenn überhaupt ist das hier ein Leviathan!«
»Können wir vielleicht mit der verfluchten Bibelstunde aufhören und uns darauf konzentrieren, was zur Hölle wir jetzt machen?«, drängte Marlène ungeduldig. »Was auch immer das für ein Ding ist, es hat beinahe die Firewalls des KI-Kerns überwunden.«
Nichts kann die Firewall eines Stufe vier KI-Kerns überwinden, dachte er, bevor er sich wieder den Daten der Sensorphalanx zuwandte. Die Forschungsstationen der Human Corporation, Bohr, Newton, Einstein und Clarke, hatten sich in dichte Trümmerwolken verwandelt. Die Explosion aus harter Strahlung und Hitze bei Öffnung des Wurmlochterminus hatte sie einfach zerrissen und mit ihnen die über zweihundert dort arbeitenden Wissenschaftler. Und Schmuggler.
Das Wesen beschleunigte mittlerweile mit 3g direkt auf sie zu und sog dabei jedes Wasserstoffmolekül innerhalb von fünf Astronomischen Einheiten in sich auf.
»Martin!«, blaffte er über SenseNet. »Speicher alle Daten, die wir bisher gesammelt haben und sende sie über die nächste Kommunikationsboje an das Unionsnetz!«
»Soll ich…«, setzte der Student nervös an, doch Federigo fuhr ihm ungehalten dazwischen: »Sofort, Mann!«
»Federigo!«, rief Marlène alarmiert.
»Was ist jetzt?«
»Öffnung eines Hyperraum Fensters zwei Klicks unterhalb unserer Längsachse!«
»Was?« Er öffnete die von ihr übersandten Daten und kniff irritiert die Augen zusammen. Durch den wirbelnden Sturm aus exotischer Strahlung inmitten des Hyperraumfensters schoss ein kleines Raumschiff der Elsass-Klasse auf sie zu und ging in einen Annäherungsvektor über.
»Laut Transpondercode ist das die UNS Dassault«, stellte Marlène fest. »Aber das ist nicht möglich! Raumschiffe können keine Hyperraum Fenster öffnen!«
»Genau so wenig wie es möglich ist, Wurmlöcher größer als einen Stecknadelkopf zu erschaffen?«, gab er lakonisch zurück. »Hier und heute ist scheinbar nichts unmöglich.«
Sein NeuroSmart wertete die vorliegenden Sensordaten über die angebliche UNS Dassault aus und sandte ihm eine Zusammenfassung in sein Blickfeld, die er hektisch überflog.
»Sieh dir den Energieausstoß an!«, rief er seiner Analystin zu. »Das Ding fliegt mit Antimaterie!«
»Jesus!«
»Selbst wenn es sich um Piraten oder FMN Aktivisten handelt«, sagte er eilig und übermittelte der UNS Dassault die exakten Anflugvektoren für die primäre Luftschleuse. »Beide Varianten sind mir lieber als dieses riesige Weltraummonster, das uns in weniger als vier Minuten erreichen wird!«
Marlène antwortete nicht.
»Marlène!«, schrie er und packte sie mit beiden Händen. »Zur Luftschleuse! Jetzt!«
Als erwache sie aus einem Traum, schüttelte die Wissenschaftlerin von DeGaulle ihren Kopf und nickte mit blassem Gesicht.
Als sie das gedrungene Analysezentrum durchquert hatten, zerrten sie den vom Schock erstarrten Martin aus seinem Sessel und liefen den engen Flur in Richtung Aufzug entlang.
»Die erste Firewall ist zusammengebrochen!«, rief Marlène atemlos. »Erste Systeme fallen aus.«
Gerade als sie die letzten Worte gesprochen hatte, ging ein Ruck durch die sie umgebenden Kompositwände und die ewige Rotation der zylindrischen Forschungsstation setzte aus.
Federigos Stiefel hoben augenblicklich vom Boden ab. Sein Magen begann zu rebellieren und drohte sich jeden Moment zu entleeren, während er hastig nach den Haltegriffen zu seiner Linken tastete.
Ich hasse Schwerelosigkeit, dachte er und sah runde Schweißtropfen von seiner Stirn davon schweben. Als er sich vergewissert hatte, dass auch Marlène und sein rot angelaufener Student etwas zum Festhalten gefunden hatten, stieß er sich in Richtung Aufzug ab.
Als sie die kleine Kabine der Magnetröhre erreichten, begann die rote Notfallbeleuchtung zu flackern und sie warfen sich gegenseitig alarmierte Blicke zu.
Eine Meldung seines NeuroSmart unterrichtete ihn davon, dass die UNS Dassault gerade angedockt hatte. Er befahl den Programmen, die noch vom KI-Kern kontrolliert wurden, dem Schiff volle Zugriffsrechte zu gewähren.
Glücklicherweise war die Steuerung des Magnetaufzuges noch nicht der feindlichen Cyberattacke zum Opfer gefallen und so befahl er dem System, sie zur Andockbucht zu bringen.
In den fünf Sekunden, die sie durch die Magnetröhre zum unteren Ende der Station davon schossen, wechselten sie kein Wort.
Dann öffnete sich die Tür und sie befanden sich in der Andockbucht. Dutzende Container mit dem Emblem der Union - gelbe Sterne auf blauem Grund - standen kreuz und quer im Raum verteilt - ideale Ankerpunkte, um an ihnen entlang durch die Schwerelosigkeit zu gleiten. Gerade als sie die rot-weiß lackierte innere Luftschleuse erreichten, glitt diese mit lautem Zischen zur Seite.
Vor ihnen stand ein Mann in schwarzem Anzug und blickte sie aus toten, chromfarbenen Augen an.
Ein Gearhead?, dachte Federigo erschrocken und wich instinktiv einen Schritt zurück.
»Guten Tag«, sagte der Fremde mit dem androgynen Gesicht, das so alters- und leblos wirkte wie seine Stimme.
»Wer auch immer Sie sind – es spielt keine Rolle. Sie müssen uns mitnehmen!«, drängte Federigo atemlos.
Statt zu antworten, blickte der Mann im Anzug sie einfach nur nacheinander an, als hätten sie alle Zeit der Welt.
»Hey!«, rief Federigo entrüstet, als sein NeuroSmart ihm einen Zusammenbruch seiner Firewalls meldete. Die bunten Diagramme und Listen am Rande seines Sichtfelds, die ihn immer begleiteten und über Luftzusammensetzung, Gravitationskräfte, Uhrzeit und Vitaldaten informierten, gerieten durcheinander. Zahlen verdrehten sich zu Buchstaben, wuselten in einem unsinnigen Salat aus Binärdaten hin und her und dann war alles fort. Sein NeuroSmart war offline.
»Was machen Sie denn da? Wir müssen hier weg verdammt nochmal, da ist ein riesiges DING dort draußen, das in…«, er wollte sich gerade die Zeit bis zur Ankunft des Wesens anzeigen lassen, doch ohne den nanonischen Prozessor in seinem Kopf, führte dieser Impuls zu nichts.
»Sorgen Sie sich nicht«, sagte der Mann im Anzug emotionslos und hob seinen linken Arm, durch den ein kurzer Ruck ging. Dann plötzlich verwandelten sich Hand und Unterarm in einen Thermalblaster und Federigo starrte direkt in das kalte Loch der Mündung.
Er hörte noch Marlène schreien, als eine Feuerblume vor seinem Gesicht aufblitzte. Das Leben von Professor Federigo Meyberg endete nach vierundachtzig Jahren, zwei Monaten und drei Tagen.
»Supervisor Charles Montgomery, Sprecher der Konservativen, hat soeben bestätigt, dass eine erneute Abstimmung über das Dekret zur Menschlichen Ermächtigung mit sieben zu fünf Stimmen abgelehnt wurde. Eine Sprecherin der Progressiven erklärte, die Eingrenzung von Robotik im Alltagsleben führe nicht, wie von Konservativen und Kirche versprochen, zu Eigenermächtigung, sondern zu drastischen Problemen in Forschung und gesellschaftlichem Fortschritt. Prälatin Emilia Hormund verwies auf die bes…«
SENSE ONE, PRIMETIME NEWS, LAURA DORGHINI
Jeremy Brandt beendete die Verbindung und das Bild der attraktivsten und gleichzeitig langweiligsten Nachrichtensprecherin des Systems verschwand aus seinem Geist. Als er langsam die Augen öffnete, sah er der Reihe nach seine vier Crewmitglieder an, die in ihren sternförmig angelegten Beschleunigungsliegen ruhten wie Patienten im Wachkoma. Wahrscheinlich lauschten sie noch immer Laura Dorghini und ihren immer gleichen Tagesmeldungen. Dafür, dass sie erst seit einer Woche eine Mannschaft waren, hatte er sie alle erstaunlich schnell einzuschätzen gelernt.
Zum einen war da sein Bordingenieur Walter, der direkt neben ihm lag: Sein Körper war kräftig und gedrungen, typisch für die hohe Schwerkraft auf Bismarck und sein Gesicht zu einem immerzu misanthropisch-zynischen Ausdruck verzogen. Er gehörte zweifellos zu den Konservativen. Bei seiner ständigen Schwarzmalerei ging es im Kern um Angst. Angst vor der Zukunft, Angst vor einer erneuten Entführungswelle, Angst vor einem Aufstand der KIs, Angst vor der FMN draußen im Morton Gürtel, Angst vor einer Machtübernahme durch die Human Corporation. Angst war das, was den Konservativen so viele Stimmen einbrachte und Walter war ihr archetypischer Wähler.
Agiou »WizKid« Prager, die brünette Datenanalystin mit den feinen Gesichtszügen, die eine Liege weiter lag, war so etwas wie sein absolutes Gegenstück. Als kurz nach ihrem Abflug von Gleesson 54 vor einer Woche durch eine Energiefluktation beinahe ihre Antimaterie Einschließungskammern den Geist aufgegeben hatten, war sie trotzdem noch optimistisch geblieben. Immerhin haben wir wertvolle Erfahrungen für den Ernstfall gesammelt, hatte sie gesagt und Walter mit ihrem unbeschwerten Lächeln fast zum Explodieren gebracht. Ohnehin war es Jeremy schleierhaft, weshalb Walter bei seinem Pessimismus ausgerechnet auf einem Schmugglerschiff angeheuert hatte, das Antimaterie transportierte. Nicht nur würde man sie bis zum Lebensende auf einen Gefängnisasteroiden verbannen, wenn sie entdeckt wurden – der Transport war aufgrund der Instabilität von Antideuterium auch noch potentieller Selbstmord. Für ihn selbst war die Sache ganz einfach: Hätte er nie damit angefangen, hätte er sich auch niemals ein so vortreffliches Schiff wie die Concordia leisten können.
Sein Blick wanderte weiter zu Simmons, seiner Stellvertreterin, und verweilte einen Moment auf ihrem weichen Gesicht. Alles an ihr schien geschmeidig und nachgiebig: ihre vollen, dunklen Lippen, die leicht fülligen Wangen mit der wunderschönen braunen Haut ihrer indischen Vorfahren und den großen schwarzen Augen. Sie war nicht nur schön, genau wie ihr makellos proportionierter Körper, den nur die exakten 1g von Trafalgar hervorbringen konnte. Nein, sie war auch von so klarem und gleichzeitig gutmütigem Verstand, dass er sich sofort in sie verguckt hatte – auch wenn er ihr das selbstverständlich niemals offenbaren würde.
Mit Mühe riss er seinen Blick los und betrachtete die Nanonikerin Felicity, die mit ihren fünfundsiebzig Jahren das älteste Crewmitglied war. Über sie hatte er während seiner kurzen Recherche auf Gleesson so gut wie gar nichts herausgefunden - außer, dass sie zu den radikal-progressiven Kräften der FMN gehörte und die Unions Navy hasste. Was auch immer sie für einen Groll hegen mochte, der über das normale Maß eines jeden FMN-Bürger hinaus ging - die Möglichkeit, die geächtetste Ware des Systems direkt unter Unionsaugen zu schmuggeln, schien sie wahrlich zu beflügeln.
Als sein Blick unwillkürlich wieder zu Simmons zurückwanderte, erschrak er, denn sie blickte ihm direkt in die Augen.
»Ich erreiche dich nicht über SenseNet«, sagte sie und runzelte die Stirn.
»Ich habe es für einen Moment ausgeschaltet.«
»Wieso?«
»Ich wollte…«, begann er und brummte dann missmutig. Ich wollte dich in Ruhe anschauen.
»Also, was ist los? Warum wolltest du mich erreichen? Bis zur nächsten Kurskorrektur dauert es doch noch mindestens eine Stunde«, fragte er ein wenig zu schnell.
»Gerade hat sich ein Hyperraum Fenster vor uns geöffnet!«
»Was?« Jeremy verlor keine Zeit und öffnete seinen NeuroSmart. Und tatsächlich: Rote Vektorlinien überlagerten sein Sichtfeld und zeigten ihm die Flugbahn eines kleinen Objektes an, das direkt auf sie zu hielt. Laut Transpondercode handelte es sich um eine Comm-Drohne der Unions Navy.
»Verdammte Kacke!«, fluchte er. Es war schon Ironie des Schicksals, dass er ein fünfzig Meter langes Raumschiff durchs Vakuum steuerte und ihm jetzt eine Mikrodrohne von gerade einmal zwanzig Zentimetern Durchmesser das Herz in die Hose rutschen ließ.
»Die verdammte Navy hat uns am Arsch!«, fluchte Walter über SenseNet. »Mit vierzig Kilo Antimaterie in der Transportbucht können wir uns auch gleich selbst in die Luft sprengen.«
»Vielleicht ist es auch nur ein dummer Zufall«, schlug WizKid vor und die Wolke aus wütenden Emotionen, die von Walters NeuroSmart ins SenseNet übertragen wurde, ließ Jeremys Filterroutinen anspringen.
»Vielleicht sollten wir uns erst einmal die Nachricht anhören? Immerhin haben sie uns keine Mark VI durch den Hyperraum geschickt, sondern eine Kommunikationsdrohne«, sendete Simmons ruhig und beherrscht.
Jeremy atmete tief durch und nickte, auch wenn niemand aus der Mannschaft es sehen konnte, da sie alle ins SenseNet versunken waren. Sein NeuroSmart reagierte mit Betablockern, die seine Arterien durchfluteten, als sein Puls immer schneller ging.
»In Ordnung«, stimmte er ihr schließlich zu. »Transponder Code senden. Sobald die Drohne sendet, will ich einen offenen Kanal und mit ihr sprechen.«
Die aktuellste Generation von Comm-Drohnen war eine erstaunliche Entwicklung, wenn man bedachte, dass sich die menschliche Gesellschaft im Archimedes System seit vielen Jahrzehnten in technologischer Stagnation befand. Mit Moratorien auf alles was auch nur ansatzweise gefährlich sein könnte, einer Eingrenzung der Robotik, damit den Menschen nicht langweilig wurde und einer konservativen Mehrheit im Parlament auf Europa, die von der populären Vereinten Kirche unterstützt wurde, ließ sich eben nicht viel Fortschritt machen.
Besonders dann nicht, wenn ewig gestrige, engstirnige Menschen wie meine Eltern diese Borniertheit auch noch im Sicherheitsrat stützen, dachte er bitter.
Doch die Comm-Drohnen stellten eine seltene Ausnahme dar. Es handelte sich um eine gewöhnliche Robotersonde, die klein genug war, um durch ein Hyperraum Fenster zu fliegen. In ihrem Prozessor befand sich eine KI, die von dem Übermittler der Nachricht Instruktionen zu seinem Standpunkt und wahrscheinlichen Reaktionen erhielt. Die KI war trotz ihrer Beschränkungen intelligent genug, um innerhalb gewisser Grenzen ein Gespräch mit dem Empfänger zu führen, das einer Unterhaltung mit dem Sender sehr nahe kam.
Ein rot blinkendes Icon in seinem Sichtfeld informierte ihn darüber, dass die Comm-Drohne sein Schiff gescannt und ihren gefälschten Transpondercode akzeptiert hatte. Ein weiteres Symbol drängte sich in die Mitte seiner Aufmerksamkeit. Eine Kommunikationsanfrage über Mikrowelle.
Er bestätigte und in seinem Geist öffnete sich ein schwarzer Raum mit zwei Stühlen und einem einfachen Aluminiumtisch, der sie trennte. Er setzte sich mit seiner gefälschten Persona auf einen der Stühle, als auf dem anderen eine hochgewachsene Frau in der blauen Offiziersuniform der Navy Platz nahm. Jeremy stockte der Atem. Kein Betablocker würde ihn jetzt noch beruhigen können.
»Ich bin Konteradmiral Theresa Brandt«, sagte die KI mit dem Abbild seiner streng dreinblickenden Mutter. »Identifizieren Sie sich.«
Jeremy schluckte und befahl seinem NeuroSmart, jegliche Gefühlsregungen aus seiner ebenfalls gefälschten Persona herauszufiltern.
»Ich bin, äh, Captain James Morrington vom Unionsfrachter Concordia, Identifikation Delta XV 733 auf dem Weg zur Forschungsstation Newton.«
Das künstliche Abbild seiner Mutter nickte und hob eine Hand, als er in seiner Nervosität weiterplappern wollte.
»Hiermit stelle ich Sie per Dekret zur Einberufung in Notsituationen nach Artikel Sechzig, Absatz Fünf des Gesetzes zur Regelung interplanetaren Schiffsverkehrs unter temporäres Navy Kommando.«
»Was? Das können Sie nicht«, begann er aufgebracht und seine Wut wuchs noch weiter, als er in das ihm nur allzu bekannte, hart bleibende Gesicht seiner Mutter blickte. Ob KI oder nicht, spielte für ihn in diesem Moment keine Rolle.
»Eine Weigerung ist nicht akzeptabel und wird von einem Militärgericht geahndet«, fuhr sie ihm dazwischen.
Erstaunlich, wie gut diese KI meine Mutter interpretiert hat, dachte er grimmig und ermahnte sich, nicht den Kopf zu verlieren.
»Was wollen Sie?«
»Wir haben vor siebenunddreißig Minuten den Kontakt zur Forschungsstation Saturas verloren. Außerdem konnten wir auf unseren Langstreckensensoren die Stationen der Human Corporation in der Nähe der ehemaligen Subraumanomalie nicht mehr ausfindig machen«, erklärte das emotionslose Computerabbild seiner Mutter.
»Wie kann das sein?«, fragte er und gestattete seiner Persona, eine Augenbraue zu heben. »Befinden sie sich noch im Schatten von Zeus II?«
»Nein«, antwortete die KI bestimmt. »Sie hätten vor sechzehn Minuten planmäßig wieder von unserer Sensorik erfasst werden müssen.«
Jeremys Gedanken überschlugen sich. Wie sollten vier Raumstationen einfach so verschwinden? Vielleicht hatte die Human Corporation sie dauerhaft in einen angepassten Orbit im Schatten des Gasriesen geparkt, um den neugierigen Blicken der Navy zu entgehen? Immerhin wurde auf ihnen geschmuggelt, was das Zeug hält und es war nur eine Frage der Zeit, bis es den Supervisoren reichte und sie die Geduld verloren.
»Was ist mit der Saturas?«, fragte er und versuchte gar nicht erst an die Implikationen zu denken, falls die vier Stationen und damit auch ihr Ziel, tatsächlich verschwunden sein sollten.
»Die Saturas befindet sich noch immer in einem stabilen Orbit um Zeus II, doch wir können über die Kommunikationsbojen keinen Kontakt über SenseNet herstellen«, erklärte die KI. Ihre Simulation eines Menschen war beinahe perfekt, würde sie nicht so reglos in diesem virtuellen Stuhl sitzen wie ein Stein. »Wir haben einige Ausfälle im Kommunikationsnetzwerk festgestellt, möglicherweise liegt es also bloß an einigen fehlerhaften Bojen. Da sie sich über eine Stunde näher an Saturas befinden, als das nächste Schiff, erhalten Sie hiermit den Befehl, sich der Einrichtung mit vollem Schub zu nähern und herauszufinden, was dort vor sich geht. Akzeptieren Sie den Befehl per KI-Kern Ihres Schiffes.«
»Habe ich eine Wahl?«
»Nein.«
»Zur Hölle«, flüsterte er und gab dem KI-Kern der Concordia die Erlaubnis, mit seiner Transponder ID die Anfrage der Comm-Drohne zu bestätigen.
»Die Unions Navy dankt Ihnen für Ihre Kooperation«, sagte das künstlich erschaffene Abbild seiner Mutter und löste sich dann zusammen mit der virtuellen Umgebung auf.
»Habt ihr alle mitgehört?«, fragte er in die Runde und brachte seine Beschleunigungsliege per NeuroSmart dazu, sich senkrecht aufzustellen. Seine Crew tat es ihm gleich. Er zog echte Gespräche den virtuellen Konferenzräumen vor, die von den meisten Mannschaften benutzt wurden, um so wenig Zeit wie möglich außerhalb des SenseNets verbringen zu müssen.
Der Reihe nach nickten erst Simmons, dann Walter, WizKid und Felicity.
»Ideen?«, fragte er und sah in seinem Sichtfelddisplay die Comm-Drohne durch ein winziges Hyperraum Fenster verschwinden.
»Na wir machen was sie sagen«, brummte Walter missmutig. »Sonst bomben sie unsere Ärsche bei nächster Gelegenheit aus dem All. Und was dann passiert, kann man sich ja vorstellen, wenn man an unsere Ladung denkt.«
»Ich meinte Ideen bezüglich der Mission«, sagte Jeremy geduldig. »Das klingt mir alles reichlich seltsam.«
»Vielleicht hat die Human Corporation die Stationen im Schatten von Zeus II geparkt, um neugierigen Blicken zu entgehen«, sprach Simmons seine eigenen Gedanken von zuvor aus.
»Mit welchem Zweck?«, fragte WizKid und schüttelte den Kopf, so gut es die nanonischen Membranen um ihre Stirn zuließen. »Das würde doch nur noch mehr Verdacht bei der Navy auslösen.«
»Sie hat recht«, stimmte Walter ihr mit seinem tiefen Bass zu. »Momentan toleriert die Navy die Aktivitäten dort, weil es im Prinzip bloß um ein paar abgezweigte Wasser- und Luftrationen für die Steinis im Morton Gürtel geht.«
Felicity grummelte etwas Unverständliches bei dieser Bezeichnung.
»Abgesehen davon«, fuhr der Bismarcker Ingenieur ungerührt fort, »wäre der Energieaufwand, den es bräuchte, um die Stationen dauerhaft in einem Orbit hinter Zeus II zu halten, doch ganz schön teuer und müsste erst einmal gerechtfertigt werden.«
»Zum Beispiel durch größere Ladungen Antimaterie«, schlug Felicity vor und ihre hohe Stimme sorgte für einen komischen Kontrast zu Walters Brummbass.
»Alles Schlüsse, die nicht nur wir in wenigen Augenblicken ziehen würden, sondern ganz sicher auch die Navy«, ging Jeremy dazwischen, da er die Vorliebe für Endlosdiskussionen der beiden nur allzu gut auf dem Schirm hatte. »Und das würde auch die Human Corporation einkalkulieren. Also muss es einen anderen Grund geben.«
»Vielleicht wurden sie zerstört.« Alle Augen richteten sich auf Felicity. »Was denn?«
Wäre sie nicht von nanonischen Andruckmembranen zur beinahe Bewegungslosigkeit verdammt, hätte sie bestimmt abwehrend ihre Hände gehoben. »Immerhin wissen wir seit Jahrzehnten von außerirdischen Entführungen im ganzen System, da ist der Schritt zur Zerstörung erster Unionseinrichtungen doch kein großer.«
»Jetzt geht das wieder los«, meckerte Walter düster und machte keinen Hehl aus dem Spott in seiner Stimme. Jeremy entging nicht, dass auch die anderen Crewmitglieder entnervt ihre Augen verdrehten.
»Was denn? Wir alle wissen doch was passiert ist!«, gab die Nanonikerin abwehrend zurück und funkelte den Bordingenieur wütend an.
»Natürlich. Die einen wissen, dass es sich um lächerliche Verschwörungstheorien und Zufälle handelt, die anderen bevorzugen das Hysteriegeschnatter der HPA.« Sein finsterer Blick in ihre Richtung machte deutlich, zu welcher Gruppe er sie zählte.
»Millionen Menschen verschwinden nicht einfach so, auch wenn ihr Fische von den Monden das nicht…«, setzte sie zu einer scharfen Erwiderung an, doch Jeremy ging erneut dazwischen: »Ruhe verdammt nochmal. Ihr könnt euch über eure politischen Überzeugungen streiten so viel ihr wollt, wenn wir das nächste Mal irgendwo andocken und weder einen Befehl der Navy, noch einen Container mit Antimaterie Pellets geladen haben.«
Es wurde still auf der schmucklosen Kommandobrücke tief im Herzen des langen Zylinders, den die Concordia darstellte.
»Wir haben ohnehin keine Wahl«, sagte er nun etwas ruhiger. »Wir nehmen Kurs auf die Saturas und finden heraus was dort los ist. Vielleicht erfahren wir dann auch mehr über das Schicksal der vier HC Stationen.«
»Das sollten wir auch besser«, gab Walter zu bedenken. »Denn wenn Newton wirklich verschwunden ist, dann haben wir eine ganz schöne Menge der geächtetsten Ware des Systems dabei, die plötzlich niemand mehr haben will.«
»Darüber können wir uns Gedanken machen, wenn es so weit ist«, schaltete sich Simmons in das Gespräch ein. Sein erster Offizier wirkte wie immer ruhig und gefasst.
»Also gut.« Jeremy klinkte sich per SenseNet in den KI-Kern des Schiffes ein und befahl ihm, einen direkten Kurs zur Saturas Station zu berechnen. »Was auch immer es ist - ich will, dass alle Waffensysteme einsatzbereit sind, sobald wir mit dem Abbremsen beginnen. Walter, du checkst noch einmal die Sicherheitsvorkehrungen für unsere Ladung. Simmons, du überwachst die Navigation des KI-Kerns. WizKid, ich will, dass du mir alle Daten über die Saturas, die vier HC Einrichtungen und den Jupiter Tunnel zusammenstellst, die du über unseren KI-Kern und die Kommunikationsbojen in Reichweite beziehen kannst.«
Nacheinander nickten sie und versenkten sich ins lokale SenseNet des Schiffes, während ihre Liegen wieder in eine Position horizontal zum Deck glitten.
Also gut, dann wollen wir mal Mutters Befehlen nachkommen, dachte er lakonisch und hätte beinahe aufgelacht, wenn er sich nicht so abgrundtief darüber ärgern würde. Hier saß er, auf der Brücke eines Schmugglerschiffes, das ihn ein halbes Vermögen gekostet hatte, nur um so weit wie möglich vom Einflussbereich seiner Eltern fortzukommen. So weit eben, wie es ein Sonnensystem voller Menschen, die keine Möglichkeit des interstellaren Reisens kannten, eben zuließ. Vielleicht hätte er sich für eines der geplanten Schläferprojekte der Progressiven eintragen sollen. Doch selbst wenn ihn das Losglück tatsächlich ereilt hätte, konnte er auf mehrere hundert Jahre Kälteschlaf gut verzichten.
Sein NeuroSmart informierte ihn darüber, dass der Kurs gesetzt und von seiner Analystin bestätigt worden war. Simmons gab dem KI-Kern der Concordia einen Befehl und der Beschleunigungsalarm begann mit lauten Sirenen in seinem Kopf zu dröhnen. KI-gesteuerte Pilotenprogramme übernahmen die Kontrolle über seinen Körper, als die vier Fusionsreaktoren im magnetisch abgeschirmten Herzen des Schiffes ihren Energieausstoß erhöhten und das Schiff mit 6g beschleunigten. Jeremy ächzte unter dem plötzlichen Druck, der ihn erbarmungslos in die Liege aus NanoSchaum presste. Nanonische Membranen in seinem Körper verstärkten Muskulatur und Schlagadern und weiteten seine Kapillare, damit sie unter den gewaltigen Beschleunigungskräften nicht einfach zerquetscht wurden, als die Concordia kontinuierlich bis auf 15g beschleunigte. Wie ein Geschoss rasten sie auf den vor ihnen immer größer werdenden, einsamen Gasriesen Zeus II zu.
Als die Beschleunigungsphase abgeschlossen war und die auf ihm lastenden g-Kräfte aufhörten, seufzte er erleichtert. Selbst mit seinem durch gezielte Nanonik für hohe Beschleunigungskräfte optimierten Körper, blieb dieser Teil der Raumfahrt immer unangenehm.
US Concordia, Im Anflug auf die Forschungsstation Saturas, im Orbit um Zeus II, Archimedes System, 21. November 2333, 02:45 Uhr.
»In Ordnung«, sagte Jeremy über SenseNet. »WizKid, was sagen die Sensoren?«
»Die Saturas ist noch 25 Klicks entfernt und antwortet nicht auf unsere Anfragen. Allerdings reagiert auch keine der Kommunikationsbojen in der Umgebung«, meldete sie und ihre Überraschung sickerte zu ihnen ins SenseNet durch. »Am Ort des ehemaligen Jupiter Tunnels registriere ich Rückstände exotischer Strahlung, ähnlich wie sie während des stabilen Mikrowurmloches ins SOL System gemessen wurde, nur deutlich höher. Keine Spur von den Stationen der Human Corporation.«
Jeremy wollte gerade neue Befehle erteilen, als WizKid ihm zuvorkam: »Moment mal, ich habe hier ein Trümmerfeld auf den Sensoren. Die Zusammensetzung aus Komposit und Beryllium lässt darauf schließen, dass es sich um Rückstände von Newton, Bohr, Einstein und Clarke handelt. Aber das bedeutet…«
»Dass sie zerstört wurden«, brachte Jeremy ihren Gedankengang zum Ende. »Gefechtsalarm. Plasmaschild hochfahren!«
Sein Neuro Display wechselte die Farben vom neutralen schwarz-weiß zum Rot des Gefechtsmodus, als die magnetisch aufgeladene Schiffshülle den Plasmaschweif, der Concordia wie einen Kokon über sich nach vorne zog. Nur wenige Sekunden später hatte sie das Trümmerfeld erreicht: Die winzigen Teile und Partikel der zerstörten Raumstationen schossen heran und verbrannten in der Hitze ihres Plasmaschildes, das so heiß brannte wie die Sonne.
»Keinen Moment zu früh«, keuchte Simmons über SenseNet und sprach damit genau das aus, was er selbst dachte.
»Das war…«, setzte er an, »knapper als mir lieb ist.«
»Tut mir leid, Captain«, sagte WizKid geknickt. »Die Sensoren haben die Kleinstteile erst im letzten Moment erkannt, weil sie von der exotischen Strahlung bei der Subraumanomalie überlastet waren.«
»Ist ja nichts passiert«, sagte er leichthin. Er hatte es sich nie zur Gewohnheit gemacht, sich wegen Dingen den Kopf zu zerbrechen, die er ohnehin nicht ändern konnte.
Die Vergangenheit gehört definitiv dazu, dachte er, schmerzlich darauf bedacht, nicht an seinen Abschied von Zuhause zu denken, der die Beziehung zu seinen Eltern für immer zerrüttet hatte. Manche Dinge wogen zu schwer, wenn sie erst einmal ausgesprochen waren.
»Gibt es noch etwas, auf das wir uns vorbereiten sollten?«, fragte er und ließ sich die optischen Daten der vorderen Sensorcluster in einen zentralen Bereich seines Sichtfeldes projizieren. Die Darstellung war natürlich nicht realistisch, sondern seinem menschlichen Erfassen angepasst. Die Trümmerwolke, die von ihrem Epizentrum in der Nähe des ehemaligen Jupiter Tunnels davonjagte, wurde als glitzernde Splitterwolke dargestellt, links davon befand sich die Saturas. Die Station war eine lange Röhre mit unzähligen Seitenarmen, an denen Sensorbündel, Wärmeleiter und allerlei Messinstrumente angebracht waren, die er nicht kannte.
Bei näherer Betrachtung fiel ihm auf, dass die Raumstation nicht rotierte.
»Das ist seltsam«, kommentierte er seine Beobachtung und sendete einen Vermerk an den Rest der Crew. »Die haben doch noch Saft da drüben, warum rotiert die Station nicht mehr?«
»Ihr Energieverbrauch konzentriert sich auf den KI-Kern und die Steuerungssysteme. Die SenseNet-Rezeptoren scheinen wie die meisten Systeme offline zu sein. Kein Wunder, dass sie uns nicht antworten«, stellte WizKid fest und sandte ihm die entsprechenden Daten.
»Immer noch kein Zeichen anderer Schiffe in der Nähe?«, fragte er sicherheitshalber, auch wenn er die Sensordaten bereits selbst im Blick hatte.
»Nein.«
»Also gut. Wir docken an und sprechen direkt mit der Besatzung. Falls es einen Unfall gab, retten wir sie und lesen ihren KI-Kern vor Ort manuell aus«, entschied er. »Walter, du gehst mit WizKid rein, ihr seid am besten dafür geeignet.«
Walter brummte missmutig ins SenseNet und gab seinen nanonischen Membranen den Befehl sich zurückzuziehen, bevor er sich genau wie WizKid von seiner Liege abstieß und in Richtung des Schotts davon schwebte.
Als sie gerade verschwunden waren, gingen die Alarmsirenen des Schiffes los, die sich ihm im SenseNet als blinkende Icons aufdrängten.
»Ereignishorizont!«, rief Simmons.
»Wo?« Jeremy hoffte inständig, dass es sich um eine weitere Comm-Drohne der Navy handelte, als er die Daten übermittelt bekam: Vierhundert Klicks entfernt öffneten sich drei Hyperraum Fenster, jedoch deutlich größer als die wenigen, die er in seiner Zeit als Pilot gesehen hatte. Öffnungen in den Hyperraum, die größer als etwa einen Meter waren, galten aufgrund des limitierten Energiepotenzials der Kernfusion nach aktuellem Stand als unmöglich. Einer der vielen Gründe, weshalb die Progressiven seit Jahrzehnten dafür kämpften, das Antimaterie-Moratorium wieder aufzuheben. Nachdem sich die Forschung an Wurmlöchern als Sackgasse herausgestellt hatte, war der Hyperraum ihre einzige Hoffnung, dieses immer enger gewordene System zu verlassen und wieder Kontakt zur Erde aufzunehmen.
Gerade als er noch darüber nachdachte, ob wohl irgendeine Fraktion so lange mit Antimaterie hantiert hatte, bis sie entsprechend große Hyperraum Fenster öffnen konnten, zerschlugen sich seine Überlegungen mit den aktuellsten Sensordaten: Drei tränenförmige Gebilde, die bis auf eine niederfrequente elektromagnetische Strahlung keinerlei Emissionen ausstießen, schossen aus den wabernden Hyperraumausgängen in den Normalraum.
»Was ist das?«, fragte er irritiert, auch wenn er sicher war, dass niemand aus seiner Crew ihm eine Antwort darauf geben konnte.
»Drei unidentifizierte Objekte. Keine Transpondercodes«, sagte Simmons und hielt kurz inne, während weitere Telemetriedaten über SenseNet eintrafen. »Dreiundsechzig Meter lang, zweiundzwanzig breit, acht Meter hoch. Hülle aus unbekanntem polypähnlichem Material, keine erkennbaren Antriebs- oder Waffensysteme.«
»Vielleicht hast du da deine Außerirdischen, an die du so fest glaubst«, hauchte Jeremy an Felicity gewandt und sandte Walter und WizKid den Befehl, wieder auf die Brücke zurückzukehren. Er würde sie nicht da raus schicken, solange er nicht wusste, womit sie es hier zu tun hatten.
Er vergewisserte sich, dass alle Waffensysteme online waren, und atmete tief durch, als er vom KI-Kern informiert wurde, dass die unbekannten Schiffe Kurs auf Saturas nahmen.
»Öffne einen Kanal zu den Dingern«, befahl er an Simmons gewandt.
»Welche Frequenz?«
»Alle Frequenzen!«
»In Ordnung. Du bist online.«
Jeremy räusperte sich unwillkürlich, auch wenn er genau wusste, dass die Übertragung lediglich seine Worte umwandeln würde. Im letzten Moment ermahnte er sich, trotz der Aufregung seine Maske zu wahren, immerhin würde die Unions Navy alle Daten irgendwann in die Hände bekommen.
»Hier spricht Captain James Morrington von dem Unions-Schiff Concordia, identifizieren Sie sich.«
Der KI-Kern übersetzte seine Worte beziehungsweise ihre Bedeutungen in mathematische Formeln, Radio- und Mikrowellen und gerichtete, niederfrequente Maser- und Laserimpulse.
»Keine Antwort, Captain«, sagte Simmons und runzelte die Stirn.
»Nochmal versuchen!«, befahl er und verfolgte die drei unidentifizierten roten Dreieckssymbole in seinem Sichtfeld, deren Vektorlinien noch immer direkt auf Saturas zuhielten und den Abstand kontinuierlich verkleinerten.
»Hier spricht Captain James Morrington von dem Unions-Schiff Concordia, sie befinden sich auf Abfangkurs einer zivilen Unionseinrichtung. Identifizieren Sie sich und ändern Sie ihren Kurs.«
Erneut keine Antwort. Die Sensoren erfassten lediglich einen leichten Strahlungsanstieg im Inneren der Schiffe.
»Captain«, unterbrach Simmons seine immer sorgenvolleren Gedanken, während er über die internen Kameras registrierte, dass Walter und WizKid gerade auf die Brücke zurückkehrten. »Ich registriere einen Energieanstieg im Inneren der unidentifizierten Objekte.«
»Ich will nicht pessimistisch klingen«, warf Felicity ein, »aber was, wenn das ihre Waffensysteme sind?«
Noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte, zeigten ihm die Sensordaten der Concordia grüne Blitze an den Rümpfen der drei fremden Schiffe aufflackern.
»Ich habe sechs kleinere Objekte auf dem Schirm, die mit 10g auf Saturas zubeschleunigen.«
»Verdammt!«, fluchte Jeremy und löste den Beschleunigungsalarm aus. Da sie sich keine zehn Klicks mehr von der Station entfernt befanden, würden die Trümmerteile sie in Stücke reißen, bevor sie erneut ihren Plasmaschild hochziehen konnten. »Walter, WizKid! Schafft eure Hintern wieder auf die Liegen, aber schnell!«
Eine Sekunde später krachten die kugelförmigen Objekte in die Oberfläche der Saturas und zerfetzten die spinnenartige Kompositkonstruktion. Myriaden scharfer Splitter durchfluteten den Raum und jagten erratisch in alle galaktischen Richtungen davon.
»Scheiße!«, fluchte Jeremy, als er die roten Punkte der Trümmer in seinen SenseNet Grafiken näher kommen sah. Der Beschleunigungsalarm dröhnte noch immer durchs Schiff, als er die Concordia mit 5g beschleunigte und brutal wendete.
Die drohende Wolke aus roten Punkten in seiner Grafik kam noch immer näher. Er erhöhte um weitere 5g und hörte Walter schmerzerfüllt aufschreien, dessen Arm noch aus seiner NanoSchaum Liege geragt hatte und mit einem ekelerregenden Geräusch unter den unbarmherzigen Kräften brach.
Tut mir leid, dachte Jeremy entschuldigend und spürte heißes Mitleid für seinen mürrischen Ingenieur in sich aufsteigen.