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Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Bei Kafka wird die Beschreibung zur Bedeutung. Blickt man hinter die detailreichen Bilder von der chinesischen Mauer und vom Kaiserreich, eröffnet sich noch eine andere, eine seelische Landschaft: Es geht um den Mangel an authentischer Sinnerfahrung und das existenzielle Bedürfnis nach Rechtfertigung, denn »kein Mensch kann ein ungerechtfertigtes Leben leben« (Franz Kafka).
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Franz Kafka
Beim Bau der chinesischen Mauer
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Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
Die chinesische Mauer ist an ihrer nördlichsten Stelle beendet worden. Von Südosten und Südwesten wurde der Bau herangeführt und hier vereinigt. Dieses System des Teilbaues wurde auch im Kleinen innerhalb der zwei großen Arbeitsheere, des Ost- und des Westheeres befolgt. Es geschah dies so, daß Gruppen von etwa zwanzig Arbeitern gebildet wurden, welche eine Teilmauer von etwa fünfhundert Metern Länge aufzuführen hatten, eine Nachbargruppe baute ihnen dann eine Mauer in gleicher Länge entgegen. Nachdem dann aber die Vereinigung vollzogen war, wurde nicht etwa der Bau am Ende dieser tausend Meter wieder fortgesetzt, vielmehr wurden die Arbeitergruppen wieder in ganz andere Gegenden zum Mauerbau verschickt. Natürlich entstanden auf diese Weise viele große Lücken, die erst nach und nach langsam ausgefüllt wurden, manche sogar erst nachdem der Mauerbau schon als vollendet verkündigt worden war. Ja es soll Lücken geben, die überhaupt nicht verbaut worden sind, nach manchen sind sie weit größer als die erbauten Teile, eine Behauptung allerdings, die möglicherweise nur zu den vielen Legenden gehört, die um den Bau entstanden sind und die für den einzelnen Menschen wenigstens mit eigenen Augen und eigenem Maßstab infolge der Ausdehnung des Baues unnachprüfbar sind. Nun würde man von vornherein glauben, es wäre in jedem Sinne vorteilhafter gewesen zusammenhängend zu bauen oder wenigstens zusammenhängend innerhalb der zwei Hauptteile. Die Mauer war doch, wie allgemein verbreitet wird und bekannt ist, zum Schutz gegen die Nordvölker gedacht. Wie kann aber eine Mauer schützen die nicht zusammenhängend ist. Ja eine solche Mauer kann nicht nur nicht schützen, der Bau selbst ist in fortwährender Gefahr. Diese in öder Gegend verlassen stehenden Mauerteile können ja immer wieder leicht von den Nomaden zerstört werden, zumal diese damals geängstigt durch den Mauerbau mit unbegreiflicher Schnelligkeit wie Heuschrecken ihre Wohnsitze wechselten und deshalb vielleicht einen bessern Überblick über die Baufortschritte hatten als selbst wir die Erbauer. Trotzdem konnte der Bau wohl nicht anders ausgeführt werden, als es geschehen ist. Um das zu verstehn, muß man folgendes bedenken: Die Mauer sollte ein Schutz für die Jahrhunderte werden, sorgfältigster Bau, Benützung der Bauweisheit aller bekannten Zeiten und Völker, dauerndes Gefühl der persönlichen Verantwortung der Bauenden waren deshalb unumgängliche Voraussetzungen für die Arbeit. Zu den niedern Arbeiten konnten also zwar unwissende Taglöhner aus dem Volke, Männer Frauen Kinder, wer sich für gutes Geld anbot verwendet werden, aber schon zur Leitung von vier Taglöhnern war ein verständiger im Baufach gebildeter Mann nötig, ein Mann der imstande war, bis in die Tiefe des Herzens mitzufühlen um was es hier gieng. Und je höher die Leitung desto größer die Anforderungen natürlich. Und solche Männer standen tatsächlich zur Verfügung, wenn auch nicht in jener Menge wie sie dieser Bau hätte verbrauchen können so doch in großer Zahl. Man war nicht leichtsinnig an das Werk herangegangen. Fünfzig Jahre vor Beginn des Baues hatte man im ganzen China, das ummauert werden sollte, die Baukunst, insbesondere das Mauerhandwerk zur wichtigsten Wissenschaft erklärt und alles andere nur anerkannt, soweit es damit in Beziehung stand. Ich erinnere mich noch sehr wohl wie wir als kleine Kinder, kaum unserer Beine sicher, im Gärtchen unseres Lehrers standen, aus Kieselsteinen eine Art Mauer bauen mußten, wie der Lehrer den Rock schürzte, gegen die Mauer rannte, natürlich alles zusammenwarf und uns wegen der Schwäche unseres Baues solche Vorwürfe machte, daß wir heulend uns nach allen Seiten zu unsern Eltern verliefen. Ein winziger Vorfall, aber bezeichnend für den Geist der Zeit. Ich hatte das Glück, daß als ich mit zwanzig Jahren die oberste Prüfung der untersten Schule abgelegt hatte der Bau der Mauer gerade begann. Ich sage Glück, denn viele, die früher die oberste Höhe der ihnen zugänglichen Ausbildung erreicht hatten, wußten jahrelang mit ihrem Wissen nichts anzufangen, trieben sich, im Kopf die großartigsten Baupläne, nutzlos herum und verlotterten in Mengen. Aber diejenigen, die endlich als Bauführer sei es auch untersten Ranges zum Baue kamen, waren dessen tatsächlich würdig, es waren Männer die viel über den Bau nachgedacht hatten und nicht aufhörten darüber nachzudenken, die sich mit dem ersten Stein, den sie in den Boden einsenken ließen, dem Bau gewissermaßen verwachsen fühlten. Solche Männer trieb aber natürlich, neben der Begierde gründlichste Arbeit zu leisten, auch die Ungeduld den Bau in seiner Vollkommenheit endlich erstehn zu sehn. Der Taglöhner kannte diese Ungeduld nicht, den treibt nur der Lohn, auch die oberen Führer, ja selbst die mittlern Führer sahen von dem vielseitigen Wachsen des Baues genug, um sich im Geiste dadurch kräftig zu halten, aber für die untern, geistig weit über ihrer äußerlich kleinen Aufgabe stehenden Männer mußte anders vorgesorgt werden. Man konnte sie nicht z.B. in einer unbewohnten Gebirgsgegend, hunderte Meilen von ihrer Heimat, monate- oder gar jahrelang Mauerstein an Mauerstein fügen lassen; die Hoffnungslosigkeit solcher fleißigen aber selbst in einem langen Menschenleben nicht zum Ziele führenden Arbeit hätte sie verzweifelt und vor allem wertloser für die Arbeit gemacht. Deshalb wählte man das System des Teilbaus, fünfhundert Meter Mauer konnten etwa in fünf Jahren fertiggestellt werden, dann waren zwar die Führer in der Regel zu Tode erschöpft, hatten alles Zutrauen zu sich, zum Bau, zur Welt verloren, wurden aber, während sie noch im Hochgefühl des Vereinigungsfestes der tausend Meter Mauer standen weit, weit verschickt, sahen auf der Reise hie und da fertige Mauerteile ragen, kamen an Quartieren höherer Führer vorüber, die sie mit Ehrenzeichen beschenkten, hörten den Jubel neuer Arbeitsheere, die aus der Tiefe der Länder herbeiströmten, sahen Wälder niederlegen, die zum Mauergerüst bestimmt waren, sahen Berge in Mauersteine zerhämmern, hörten auf den heiligen Stätten Gesänge der Frommen Vollendung des Baues erflehn, alles dieses besänftigte ihre Ungeduld, das ruhige Leben der Heimat in der sie einige Zeit verbrachten kräftigte sie, das Ansehen in dem alle Bauenden standen, die gläubige Demut, mit der ihre Berichte angehört wurden, das Vertrauen, das der einfache stille Bürger in die einstige Vollendung der Mauer setzte, alles dieses spannte die Saiten der Seele, wie ewig hoffende Kinder nahmen sie von der Heimat Abschied, die Lust wieder am Volkswerk zu arbeiten wurde unbezwinglich, sie reisten früher von zuhause fort als es nötig gewesen wäre, das halbe Dorf begleitete sie lange Strecken weit, auf allen Wegen Grüße, Wimpel und Fahnen, niemals hatten sie gesehn wie groß und reich und schön und liebenswert ihr Land war, jeder Landsmann war ein Bruder, für den man eine Schutzmauer baute und der mit allem was er hatte und war sein Leben lang dafür dankte, Einheit! Einheit! Brust an Brust, ein Reigen des Volkes, Blut, nicht mehr eingesperrt im kärglichen Kreislauf des Körpers, sondern süß rollend und doch wiederkehrend durch das unendliche China.
Dadurch also wird das System des Teilbaues verständlich, aber es hatte doch wohl noch andere Gründe. Es ist auch keine Sonderbarkeit, daß ich mich bei dieser Frage solange aufhalte, es ist eine Kernfrage des ganzen Mauerbaues, so unwesentlich sie zunächst scheint. Will ich den Gedankenkreis und die Erlebnisse jener Zeiten vermitteln und begreiflich machen, kann ich gerade dieser Frage nicht genug tief nachbohren.