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Anne Mey, 64 Jahre, 172 cm, nimmt Sie in ihren „Bekenntnissen“ mit auf ihre unerschrockene Reise durch die Dating-Welt. Ein Jahr lang hat sie die vielen munteren Begegnungen mit (männlichen) Menschen in ihrem Tagebuch notiert. Sie nimmt sich das Recht raus, als gestandene ältere Dame Liebe zu suchen, Sex zu haben, Männer zur Unterhaltung zu finden. Nichts von dem ist verboten. Also macht sie sich auf, das Leben noch einmal in vollen Zügen zu genießen. Die abenteuerlustige Seniorin, die auszog das Fürchten zu lernen - wie im Märchen der Gebrüder Grimm – hört den Lebensgeschichten ihrer Dating-Partner zu und beobachtet gleichzeitig ihre eigenen Wünsche und Ängste. Und sie analysiert die Funktionsweise der virtuellen Kontaktwelt. Sehr genau – und hilfreich – demaskiert sie Nachrichten von „Lovescammern“, lernt sie die Profile ihrer Männerkontakte richtig zu lesen. Es ist aber auch die mutige Erzählung über eine Dating-Sucht und das Ausschleichen aus dieser Droge. Versehen sind ihre Bekenntnisse mit kurzen Zitaten aus dem literarischen Liebeswerben und mit philosophischen Gedanken früherer Jahrhunderte - so wird jederzeit das Niveau gehalten. Ein äußerst unterhaltsames Buch für alle, die gedatet haben oder noch wollen, aber es bisher nicht wagten, weil sie dachten, sie seien zu „alt“, aber genauso für alle, die wissen, warum sie es nicht wollen.
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Seitenzahl: 225
Bekenntnisse einer Seniorin
Impressum
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN: 978-3-95894-276-9 (Print) // 978-3-95894-281-3 (E-Book)
© Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2024
Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.
Vorspiel
18. Juli
15. August
20. September
19. November
20. November
21. November
23. November
27. November
5. Dezember
6. Dezember
12. Dezember
19. Dezember
2. Januar
6. Januar
10. Januar
16. Januar
23. Januar
8. Februar
20. Februar
24. Februar
3. März
20. April
27. April
3. Mai
2. Juni
7. Juni
13. Juni
26. Juni
27. Juni
30. Juni
3. Juli
5. Juli
11. Juli
12. Juli
13. Juli
28. Oktober
Ausklang
Zu Pfingsten kommt der Heilige Geist über mich, und ich melde mich bei einer Partnerbörse an. Pandora ist gratis, gerade recht zum ersten Üben. Ich erfinde ein Pseudonym und suche ein geeignetes Foto von mir. Schließlich stehe ich im Netz, das Gesicht absichtlich so verschwommen, dass man selbst meine Brille nicht erkennt. Vom Alter schmuggele ich vier Jahre weg, statt 60 nur 56 Jahre. Ich bin zu alt, um nur zu spielen, zu jung, um ohne Wunsch zu sein (Johann Wolfgang Goethe).
Die beiden Pfingsttage verbringe ich, an den Computer geklebt, auf der Jagd bei Pandora. Ich switche durch Profile und Fotos von Berliner Männern zwischen 50 und 65 mit Hochschulabschluss. Ich schreibe Messages an diese Männer, erhalte Antwort oder auch nicht. Ein paar abweisende Reaktionen wegen meines verschwommenen, also unehrlichen Fotos. Im allgemeinen jedoch ist man höflich und versüßt die Absage („ich schreibe mir schon mit drei Frauen, eine vierte ist mir zuviel“) mit „viel Erfolg bei Pandora“. Plötzlich flattert der schöne Journalist in meine Letter-Box. Ich stehe vor dem Bildnis meines Traummannes. „Du ziehst es vor, so vermute ich“, schreibe ich am zweiten Tag eines knapp gehaltenen, aber regen Textaustausches, „erst ein Weilchen zu korrespondieren, bevor du dich triffst?“ Er antwortet: „Ich ziehe es in jedem Fall vor zu erfahren, wie mein Gegenüber denkt, welche Vorlieben, Neigungen es gibt, wie das Temperament ist, ob schüchtern oder neugierig, zurückhaltend, lustvoll, leidenschaftlich etc.“ Da ist er schlagartig tot für mich. Wie dumm kann einer sein! Durch Texte erfahren zu wollen, ob eine Frau lustvoll und leidenschaftlich ist! Dass er ein kalter Fisch sei, war schon mein erster Eindruck bei seinen kargen, fast unhöflichen Sätzen gewesen. Ach ja, das erste Gefühl trügt nie, ein Bild allerdings doch.
Ein täglicher Chat mit Pembroke entsteht, benannt nach einem englischen Renaissance-Dichter, das zieht mich an. Auf Pembrokes Nachrichten freue ich mich jeden Morgen. Ich weiß jetzt bereits sehr viel über ihn: Wo er überall gelebt hat, auf welche internationale Schule seine Kinder gehen, wo sie in den Sommerferien hinfahren. Dasselbe weiß er von mir. Am siebten Tag antwortet Pembroke nicht mehr. Das Lämpchen neben seinem Pseudonym bleibt dauernd auf rot, also auf abwesend gestellt. Was hat das zu bedeuten? Verreist oder die Traumfrau gefunden? Warum hat er mir das nicht geschrieben? Nie wieder höre ich etwas von Pembroke. Also lautet der Beschluss, dass der Mensch was lernen muss (Wilhelm Busch).
Mittlerweile liegt mein erstes Treffen hinter mir. Für diesen denkwürdigen Akt habe ich mir jemanden ausgesucht, der gewiss mein Herz nicht erwärmen würde: einen 73-Jährigen. Gefunden habe ich mein Übungsobjekt nicht über Pandora, sondern über Near-to-thanatos, eine Gratis-Partnerbörse für Menschen über 50. Ein längeres, sympathisches Telefonat geht dem Treffen voraus. Die ungeschriebene Regel lautet: Nie gibt die Frau ihre Festnetznummer, sondern nur die Handynummer. Die Simkarte kann man zur Not, falls man einen Stalker erwischt, in den Papierkorb werfen. Übrigens habe ich keinen einzigen Stalker getroffen. Liegt es an der Altersgruppe? Oder an der Natur des Netzes? Will die eine Frau nicht, dann switcht man halt zur nächsten. Ein Mann gestand mir, er habe hundert Namen in seiner Favoritinnen-Liste gespeichert. Die wollen alle abgearbeitet werden!
Mein Übungsobjekt hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit Louis de Funès, dem französischen Filmkomiker. Sogar die eine Augenbraue zieht er hoch wie der! Zweieinhalb Stunden sitzen wir im Café. Er erzählt von seinem Buchprojekt über die Gesetzmäßigkeit des Zufalls. Ach, du meine Güte! Wenn ich ein Brechmittel brauche, hole ich es lieber aus der Apotheke als aus der Buchhandlung (Marie von Ebner-Eschenbach). Dann berichtet er von seinen drei Ehen. Ich kann nur eine geschiedene Ehe vorweisen. Funès entrollt ein großes Panorama seines Lebens. Jeder Laienpsychologie kann heraushören, dass er ein Problem mit Sexualität hat. Die größte Liebe seines Lebens war eine platonische, bekennt er, der bekennende Katholik. Als wir aufbrechen wollen, zückt Funès ein hübsches und dick gefülltes Portemonnaie, um unser beider Cappucino zu zahlen. „Wie findest Du, wie das Portemonnaie aussieht?“, fragt er. „Jugendlich“, antworte ich. „Ach, das beruhigt mich, denn erst vor kurzem habe ich entdeckt, dass es ein Damenportemonnaie ist. Aber es ist so praktisch.“ Er öffnet es und zeigte mir die vielen Fächer. Da liegen, systematisch geordnet, ganz viele Scheine: die grünen Hunderter, die rosa Fünfziger. Warum schleppt dieser Mann so viel Geld mit sich herum, denke ich, das ist doch gefährlich. Als ich meinem jüngsten Sohn – er ist fünfzehn Jahre alt – die Geschichte mit dem Portemonnaie erzähle, sagt er: „Mama, bist du naiv. Hast du nicht gemerkt, dass er das extra gemacht hat, um dir zu zeigen, dass er Geld hat?“ Oh je, wie naiv ich bin, das wird bald eine heftige Affäre bei Pandora zeigen.
Denn plötzlich tritt Anderson Seal in mein Leben. „Hallo, mein Fräulein, ich Ihre Schönheit bewundert wirklich. Würden uns sehr freuen, mit Ihnen zu plaudern, mein lieber.“ Ich antworte auf Englisch. Er gibt mir sofort seine E-Mail-Adresse, damit ich ihm Bilder schicken kann: [email protected]. Hilfe, ein Militär! Ach warum nicht, denke ich, es macht mir so viel Spaß, auf Englisch zu schreiben. Fotos schicke ich nicht. Innerhalb der nächsten vier Stunden wechseln wir mehr als zwanzig Nachrichten. Ich erfahre, dass seine Frau eine Deutsche war und dass heute ihr Todestag ist. Ein Welle von Mitgefühl steigt in mir hoch, ich will ihn trösten und schreibe ihm das. Er ist zutiefst gerührt. An manchen Tagen könne er nicht schreiben, erklärt er irgendwann, er sei in einem Camp. Auf meine Frage, wo das Camp steht, antwortet er nicht. Am nächsten Tag ist sein Profil bei Pandora gelöscht. Ich bin enttäuscht und schreibe ihm an seine Mail-Adresse. Er habe sich gelöscht, antwortet mein Colonel, weil er mich gefunden habe. Ununterbrochen denke er an mich. Er sei in Afghanistan stationiert, schreibt er nun. Nur kurz bin ich entsetzt, dann kommt schon wieder mein Mitgefühl hoch. Er schickt mir Fotos im Mail-Anhang: ein sympathisch aussehender Mann im Tarnfleck, neben ihm der süße zehnjährige Sohn, von dem er mir schon erzählt hat.
Es kommen nun Mails mit Liebesschwüren:„I never felt love so pure“, „I stirr at your foto day and night“. Er verlasse bald das Militär und wolle nach Deutschland ziehen, schreibt er, sein Sohn brauche eine gebildete Mama wie mich. Ich rede ihm ins Gewissen, er kenne mich doch gar nicht. Vielleicht brauche er psychologische Hilfe wie manche Soldaten nach dem Einsatz in Afghanistan! Es folgt eine weitere Woche voller Liebesschwüre von ihm und freundlicher Beschwichtigungen von mir. Plötzlich schaltet sich mein Verstand wieder ein. Ich tippe „Colonel Anderson Seal“ bei Google ein. Ich lande auf einer Seite mit dem merkwürdigen Titel „Anti-scam-forum. Russian brides“. Da finde ich wortgleich den ersten Brief, den der Colonel in seinem krausen Deutsch mir geschickt hat, bei einer „Zaparella“, die sogleich misstrauisch wurde. Und das „Anti-scam-forum“ der russischen Bräute informiert: „Wir haben in der Zwischenzeit auch einen realen Namen zu diesem Gesicht: Jean Dupont, Geschäftsmann aus Toronto, Kanada.“ Nur mit Mühe verstehe ich: Das Forum schützt offenbar heiratswillige russische Bräute vor dem Typ Mann, den man früher Heiratsschwindler nannte. Ja, gerade diese Bräute sind darauf angewiesen, seriöse Männer zu treffen. „Scam“ definiert Wikipedia als „Vorschussbetrug mittels Massen-E-Mails“. Eine besondere Unterart des Scamming sei „Love Scam“, „eine Art Vorschussbetrug mittels einer fiktiven Liebesgeschichte. Die Betrüger suggerieren ihren Opfern, sie hätten sich verliebt. Etwas später bitten sie um Geld, z.B. für das Internetcafé, um den Kontakt aufrecht zu erhalten. Love-Scammer überhäufen ihre Opfer schon nach dem ersten Kontakt mit ellenlangen Briefen voller schwülstiger Liebesschwüre. Sie bezeichnen ihren neuen Partner dann bald als Ehemann oder Ehefrau und schmieden Heiratspläne, deswegen scheint die Bitte um ein Visum oder ein gemeinsames Konto gerechtfertigt. Die Polizei rät, bei Scamming „sofort jeden Kontakt abzubrechen und eine neue Mailadresse einzurichten. Denn die Täter schicken mit ihren Mails oft einen Computer-Virus mit. Dieser erlaubt Kontrolle über den Rechner ihrer Opfer.“
Panik befällt mich. Mein Konto wird ausgespäht! Zum Glück hatte ich die Fotos vom Colonel nicht auf meinen Computer heruntergeladen, weshalb ich mir keinen Virus eingefangen haben kann. Ich hatte eine extra Mailadresse nur für die Partnersuche eingerichtet, die ich sofort lösche. Wie fühlt man sich als Opfer eines Love-Scammers? Beschämt, missbraucht und unendlich dumm. Wonach soll man am Ende trachten? Die Welt zu erkennen und sie nicht zu verachten (Johann Wolfgang Goethe).
Ich kann sie gar nicht zählen, die Männer, die ich innerhalb von zehn Wochen getroffen habe. Doch, natürlich kann ich, es waren genau zehn, einer pro Woche. Nicht die mitgezählt, die ich schon nach einem Telefonat aussortiert habe. Weil die Stimme unsympathisch klang oder der Text es war. Wenn z.B. einer gleich darüber klagt, wie ungerecht er von seinem Chef behandelt wird. Für die schriftliche Absage nach den Treffen habe ich einen stereotypen Satz: „Ich kann mir uns als Paar nicht vorstellen“ und noch ein paar freundliche Worte. Der eine antwortet darauf verzweifelt mitten in der Nacht, dass er auch an der Beziehung arbeiten wolle. Das ist der mürrisch blickende, rheumakranke, früh verrentete Physiker, der nicht weiß, warum ihn vor kurzem die Frau verlassen hat. Beim ersten Date an einem lauen Sommerabend schenkt er mir so viel Wein ein, dass ich betrunken und sehr heiter werde. Rotwein ist für alte Knaben/ eine von den besten Gaben (Wilhelm Busch). Weil ich daher gar nicht mehr weiß, wie der Mann mir wirklich gefallen hat, treffe ich ihn ein zweites Mal. Oh Graus! Mit aller Macht muss ich meinen spontanen Fluchtimpuls unterdrücken. Gebeugte Silhouette, verbeulte Hosen und Jackett. Der Mann führt mich in ein Restaurant, danach in einen Park, um mir das Krankenhaus zu zeigen, in dem er vor kurzem wegen einer lebensgefährlichen Sache operiert worden war. Ja, was soll man dazu sagen? Und sein Auto! Man soll ja niemanden nach seinem Auto beurteilen. Aber bei diesem Mann kann ich den Messie deutlich an seinem alten VW-Bus erkennen. Jede Menge dreckige Putzlappen liegen herum, alte Plastikbecher, zerknautschte Pappkartons. Es fehlen nur die toten Fliegen in den Plastikbechern. Ich hatte mein schönstes Kleid für das zweite Date angezogen. Wie der Pfau auf dem Misthaufen fühle ich mich, als ich mich in den dreckigen VW-Bus hieve.
Und da ist noch Didi, der gut aussehende 70-jährige Flugzeugbauingenieur, der sich für 64 ausgegeben hat und der gleich aufspringt, als er mich sieht und ruft: „Ich muss dir gestehen, dass ich nicht 64, sondern 70 bin!“ Woraufhin ich sage: „Ich muss dir gestehen, dass ich nicht 56, sondern 60 bin.“ Didi ist lustig und unterhaltsam, aber schon ein wenig gaga. Wegen Didi hab ich mich fast mit einer Freundin entzweit, die auch bei Pandora unterwegs ist und Didi ebenfalls gedatet hat. Völlig begeistert ist sie von Witz und Wesen dieses Mannes. Aber irgendwie verläuft sich Didis Spur für uns beide im Nichts. Ach, ja, er hat weder bei mir noch meiner Freundin ein zweites Date vorgeschlagen. Aber telefoniert habe ich noch ein paar mal mit Didi, der zwischen seinen Häusern in Landau und Berlin hin- und herpendelt. Er erzählt mir, dass er über Pandora eine schwerkranke Frau kennengelernt hat, der er jeden Abend am Telefon Tiergeschichten vorliest. Wie rührend, aber ihn und mich bringt das auch nicht weiter.
Und da ist auch noch der exotisch wirkende Gentleman, mein zweites Date, vor dem ich richtig aufgeregt bin. Als Vorlieben sind in seinem Profil Titel von Filmen und Büchern angegeben, die ich alle auch mag. Nein, so viel Ähnlichkeit, das kann doch kein Zufall sein! Sein Foto zeigt einen interessant und sympathisch aussehenden Mann vor einem blühenden Blumenbeet. Wir verabreden uns in einem Café in meiner Nähe. Wir wohnen sogar nah beieinander! Am Telefon erzählt er, dass er in Uruguay geboren sei, von deutschen, jüdischen Eltern, die nach 1960 wieder nach Deutschland zurückkehrten. Ich sehe mich bereits am Arm dieses hageren, philosophisch anmutenden Gentleman nach Montevideo reisen. Als Beruf hat er allerdings Ingenieur angegeben. Erstaunlich, wieviele Ingenieure sich bei Pandora und Neartothan tummeln. Ob die besonders suchfreudig sind? Oder besonders technikaffin? Oder gibt es tatsächlich so viele? Jedenfalls bin ich vor dem Date mit José richtig high. Was ziehe ich an? Ich führe meinem fünfzehnjährigen Sohn mein glitzerndes Oberteil vor. „Overdressed“, sagt er und blickt kaum aus den Tiefen von Facebook empor. Trotzdem wähle ich noch eine nette Kette, ein paar glitzernde Ohrringe und hohe Schuhe. Ich fühle mich richtig schön, als ich kurz vor acht anmutig durch die sommerlichen Straßen schreite, dem Rendezvous entgegen. Anmut ist eine bewegliche Schönheit, eine Schönheit nämlich, die an ihrem Subjekt zufällig entstehen und ebenso aufhören kann (Friedrich Schiller).
Erste Enttäuschung: Das Draußen-Café ist oll, ein paar speckige Tische und wackelige Stühle, eine Strohmattenzaun drumherum. Ich bin vor José da. Ein Fehler, den man nie machen soll. Denn der Mann kann die Dame nicht in ganzer Gestalt wahrnehmen. Und sie kann weniger gut das etwaige Aufleuchten in seinen Augen erkennen. Hinter dem Strohmattenzaun hält schließlich ein Fahrrad. José, ein alt aussehender, nicht unsympathischer Mann, ist im Trainingsoutfit. Ach ja, er hatte gesagt, dass er vorher Volleyball spiele. Ich komme mir schon wieder vor wie der Pfau auf dem Misthaufen. Zweieinhalb Stunden haben wir uns unterhalten, das scheint meine Zeit zu sein. Ich frage ihn nach seinen Erfahrungen mit Neartothan. Ach, ehrlich gesagt, er gehe eigentlich nur noch zu einem Treffen, um festzustellen, dass er gar keine Beziehung mehr will. In unserem Alter noch diese Intimitäten? Ob ich mir vorstellen kann, fragt er unvermittelt und blickt mich an, mit ihm zusammen sich die Zähne zu putzen? Man kann ja auch getrennt ins Badezimmer gehen, antworte ich verlegen und erfasse nicht sofort das eigentliche Wesen dieser Frage. Beim Abschied begleite ich ihn zu seinem Fahrrad, und mit Entsetzen erblicke ich ein Liegerad. Jetzt wird José fast zutraulich: Ob man nicht mal ins Kino gehen soll? Na klar, antworte ich freundlich, wohl wissend, dass ich mich nie wieder mit dem Liegerad treffen werde.
Ja, es waren zehn angenehme Treffen, an sonnigen Nachmittagen oder lauen Sommerabenden im Café, immer waren es interessante Gespräche. Aber zehn Wochen nach Pfingsten habe ich mich bei Pandora gelöscht. Aus Enttäuschung? Nein, im Gegenteil: Ich bin fündig und glücklich mit Hugo geworden. Das Liegerad aus der Nachbarschaft kreuzt ab und an meinen Weg, aber es scheint mich nicht zu erkennen.
Nach fast vier Jahren hat Hugo plötzlich die Beziehung gekündigt. Er war chronisch überarbeitet und in einer depressiven Phase. Auch wenn unsere Beziehung etwas minimalistisch war – wir sahen uns ein- bis zweimal die Woche – war ich richtig doll in Hugo verliebt. Und er gab meinem Leben eine Struktur, die ich offenbar brauche. Seit ich siebzehn Jahre alt bin, habe ich immer in einer Beziehung gelebt. Die längste war meine Ehe, die immerhin fünfzehn Jahre hielt und aus der zwei wunderbare Kinder hervorgingen. Danach lebte ich ein Jahrzehnt in einer komplizierten Fernbeziehung. Es ist nicht so, dass ich sexsüchtig bin. Es ist etwas anderes, das wohl tief in die Kindheit reicht. Vielleicht der Wunsch nach Symbiose, den die Mutter nie befriedigt hat und der wie ein Phantom durch mein Gefühlsleben geistert. Wahrlich aus mir hätte vieles werden können in der Welt/ hätte tückisch nicht mein Schicksal/ sich mir in den Weg gestellt (Adalbert von Chamisso).
Schon vor zwei Jahren hatte Hugo, wieder in einer Depression, plötzlich Schluss gemacht, war dann aber nach wenigen Tagen zurück gerudert. Damals fiel ich in eine bodenlose Schlucht. Diesmal falle ich nicht ins Bodenlose, sondern lande auf einer Hängebrücke. So eine aus Seilen und Brettern gezimmerte löchrige Brücke, die leicht im Winde schwankt. Da liege ich nun und versuche mühsam, zu einem Ende der Brücke zu kriechen.
Unvermutet streckt sich mir eine hilfreiche Hand entgegen. Denn gleich nach dem Abschuss durch Hugo Anfang Juni hatte ich mich in die Partnersuch-Annoncen der Wochenzeitung Nordkurier gestürzt und auf eine Annonce geantwortet. Hatte dem Brief ein blaustichiges Foto beigelegt, das das Gesicht einer rätselhaften Unbekannten zeigt. Das Foto hatte vor ein paar Jahren ein über das Internet gefundene Verehrer gemacht, und ich fand es sehr sinnig, dass es nun dazu diente, neue Verehrer zu finden. Drei Tage nach Absenden meines Briefes klingelt mein Handy und zeigt eine unbekannte Nummer an. Eine sympathische, tiefe Männerstimme sagt atemlos und fast ohne Einleitung, er wolle mich unbedingt treffen. Er sei von meinem Brief – das Foto erwähnt er nicht – so begeistert, dass er sofort anrufen musste. Dieser Mann, 68 Jahre alt, ehemaliger Gymnasiallehrer aus Franken, erzählt mir, er habe hundertfünfzehn Zuschriften erhalten, aber meine sei die einzige gewesen, die bei ihm Klick gemacht habe, angeblich noch bevor er das Foto gesehen habe. Er habe nur gebetet, dass ich nicht adipös sei. Am nächsten Tag schickt er per Mail ein Foto von sich. Das Herz steht mir vor Schreck fast still. Ja, so stellt man sich einen Lehrer gern vor: strenges Profil, in ein Buch schauend. Meine Schwester in Westdeutschland – wie wir Westberliner früher sagten –, mit der ich fast täglich telefoniere, meint: „Aber die Ohren, glaube ich, sind hübsch.“ Die Nase sei markant, und meine gebildete Schwester weiß: „An der Nase eines Mannes erkennt man seinen Johannes.“
Der Franke und ich beginnen nun täglich abends zu telefonieren. Er wird zu meinem Strohhalm bzw. zu dieser Hand, die sich mir, dem auf der schwankenden Hängebrücke mühsam kriechenden Wesen, entgegenstreckt. Ich lüge, sage nicht, dass die Beziehung zu meinem Freund vor sechs Tagen zu Ende gegangen sei, sondern vor sechs Monaten. Er sagt, seine fünfjährige Beziehung zu einer Frau in Hannover sei vor zwei Jahren zu Ende gegangen. „Was mich an dir wundert“, meint meine Freundin Ida, „dass du immer glaubst, die anderen erzählen die Wahrheit, während du so munter drauflos lügst.“ Stimmt, ich erlaube mir viele Notlügen, traue dies aber meinen Mitmenschen, vor allem den Männern, nicht zu. Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist (Johann Wolfgang Goethe).
Der Schulmeister und ich erzählen uns das ganze Leben am Telefon. Wieviel Ehen, wieviel Kinder, wie die Jugend. Merkwürdig oft kommt das Thema Sex vor, nur in kleinen Sätzen, aber immerhin. Ja, Sex im Alter, das wolle man doch und wenn es nur kuscheln sei. Nicht dass ich denke, dass er ein Problem mit der Potenz habe, schiebt er sofort nach. Ich nicke freundlich in den Hörer. Ehrlich gesagt, interessiert mich das alles gar nicht, ich will nur endlich die schwankende Hängebrücke verlassen. Sogar über unser merkwürdigstes Sexerlebnis tauschen wir uns lachend am Telefon aus. Natürlich hat er wieder das Thema angeschnitten, aber ich habe es auch nicht abgebogen. Er werde nie vergessen, berichtet der 68-Jährige, wie er als junger Mann zum ersten Mal sich einer Frau gegenüber sah, die unten rasiert war. Das sei damals, also in den frühen siebziger Jahren ganz unüblich gewesen. Ich revanchiere mich mit einer lustigen Anekdote: Als junge Frau hatte ich auf einer griechischen Insel einen älteren Liebhaber. Beim Akt sei dem das Toupet hin und her geflattert.
Im Netz finde ich schließlich ein sympathisches Foto, das den Franken bei seiner Verabschiedung vom Schuldienst zeigt. Dieses Foto klicke ich nun täglich mehrfach an, um mich an diesen fremden Mann zu gewöhnen: Selbsthypnose. In früheren Jahrhunderten trug man das Bild des Geliebten in einem Medaillon um den Hals. Meine Freundin Ida, der ich das Foto zeige, findet den Mann nett und propper. „Er duscht bestimmt zweimal am Tag.“ Nach zehn Tagen Telefonieren und täglichen WhatsApp-Wechseln ist es soweit: Er will nach Berlin kommen, um mich zu treffen. Ich reserviere für ihn – auf seine Rechnung – zwei Nächte in der Pension bei mir um die Ecke. Egal, was wird, wenn er sich schon auf den weiten Weg in die Hauptstadt aufmacht, werde ich ihn zumindest mit zwei Tagen Tourismus beglücken.
Da stehe ich nun auf dem Bahnsteig am Hauptbahnhof und erwarte ihn. Ich weiß, dass er im letzten Wagen sitzt und erkenne ihn sofort, als er aus dem Zug klettert. Eisiger Schreck. „Alter Mann“, funkt mein Gehirn, „alter Mann“. Da kommt er auf mich zu getappt, einen Rollkoffer hinter sich her ziehend und bestimmt viel kleiner als die versprochenen 178 Zentimeter. Ich möchte fliehen. Aber er ist ein freundlicher Mensch, beruhige ich mich, das Gesicht sieht freundlich aus. Also begrüße ich ihn freundlich. Wir fahren in seine Pension, geben seinen Koffer ab und ziehen dann durch meinen Kiez zu dem Restaurant, das ich ausgesucht habe. Er hat ein fürchterliches Parfüm. Kein Rasierwasser, sondern ein Parfüm. Das war meine Hauptangst vor dem Treffen: dass sein Geruch mich abstoßen würde. Das Parfüm ist wahrscheinlich dazu da, den Altmännergeruch zu übertünchen. Es reitet mich der Teufel – wie meine Mutter gesagt hätte – und außerdem hatte ich nachts eine Beruhigungstablette genommen, die mich recht arschig macht, und ich sage unvermittelt: „Dein Parfüm ist schrecklich.“ Er grinst freundlich und kontert: „Was hättest du denn lieber? Schweiß und Leder?“ Die Antwort gefällt mir, und ich unterlasse es daher, mich über seinen kunstvollen Dreitagebart zu äußern, den er mir schon angekündigt hat. Als ob ich eine Küchenreibe küssen müsse!
Am Abend gehen wir ins Theater. Ich habe für das Stück von Sternheim „Die Hose“ Karten besorgt. Auf einmal befällt mich der Gedanke, ob es vielleicht etwas gewagt sei, beim ersten Date ein Theaterstück zu sehen, das immerhin auf die typische Bekleidung des männlichen Unterleibes anspielt. Ich finde das bürgerliche Lustspiel aus dem Jahre 1911 nett, aber etwas verstaubt, das Schulmeisterlein jedoch ist über die Maßen begeistert. Vielleicht hat er ja Angst gehabt, dass die Hose die Grenzen des Schicklichen übersteigt. Heilig ist die Unterhose, wenn sie sich in Sonn und Wind/ frei von ihrem Alltagslose auf ihres wahres Selbst besinnt (Christian Morgenstern).
Zwei Tage sind der Franke und ich als Berlin-Touristen unterwegs. Morgens gehe ich zum Frühstücken in seine Pension, und danach ziehen wir durch die Stadt. Der Gesprächsstoff geht uns nicht aus. Schließlich stehen wir wieder am Hauptbahnhof. Ich habe den Eindruck, dass er mich zum Abschied küssen will. Das kann ich im letzten Moment noch verhindern. Ein paar Stunden zuvor beim Mittagessen in einem lauschigen Restaurant hat er übrigens unvermutet ausgerufen: „Ja, ich will Sex mit dir!“ Was soll ich dazu sagen? Ich behelfe mich mit Schweigen.
Zehn Tage später gibt es den Gegenbesuch, ich fahre in ein Städtlein, dessen Name des Dichters Höflichkeit verschweigt (August Friedrich Langbein). Der Schulmeister hat gefragt, ob ich gleich bei ihm übernachten wolle oder ob er eine Pension buchen solle. Ich optiere für die Pension. Er ist verständnisvoll, bucht und zahlt. Ich zahle immerhin die teure Zugfahrt und später auch ein Abendessen. Er weiß um mein vergleichsweise schmales Budget. Am ersten Abend führt er mich in ein schönes Restaurant. Es ist ein sehr warmer Sommerabend, wir sitzen unter Bäumen neben einem fröhlich plätschernden Springbrunnen. Wieder reitet mich der Teufel, und ich kündige heiter an: „Heute Abend werde ich mich betrinken, und dann gehen wir ins Bett.“ Er schaut entgeistert.
Gesagt, getan. Ach, ich vergaß seine Wohnung zu schildern. Sie ist gepflegt, hat hübsche Möbel, aber scheußlich kitschige Bilder an den Wänden und überall Nippes verteilt. Nicht gerade die Porzellanschäferin, aber so ähnlich. Ich habe mittlerweile drei Gläser Wein getrunken und fühle mich meinem Schicksal gewachsen. Das Schulmeisterlein macht das Licht aus – warum eigentlich? – und wir fallen auf‘s Sofa. Was weiter erfolgte, brauchen wir nicht zu melden, weil es jeder, der an diese Stelle kommt, von selbst liest (Heinrich von Kleist).
Erwähnte ich schon, dass wir uns noch gar nicht geküsst hatten? Ich ahnte offenbar, was mich erwartet, nämlich eine Papageienzunge, ein gewaltiger, eingerollter Muskel, dem der Papagei seine Fähigkeit, Worte zu bilden, verdankt. Ich weiß ja, dass die Zunge auch der kräftigste Muskel beim Menschen ist, aber so genau wollte ich es gar nicht wissen. Und dagegen sein Johannes? Schwamm drüber.
Am Morgen danach betragen wir uns heiter, als ob nichts gewesen sei. Beim Frühstück habe ich eine kleine Blutdruckmalaise, mir ist schwindelig, weiß nicht, ob zu hoher oder zu niedriger Blutdruck. Der Schulmeister naht eilfertig mit einem Blutdruckmessgerät: zu niedriger Blutdruck. Ich verkrieche mich noch einmal ins Bett, aber allein. Bei den beiden nächsten Frühstücken gibt es dann ein Ritual: Bevor ich überhaupt meinen Kaffee trinken darf, wird mein Blutdruck gemessen. Ich fühle mich wie fünfzig Jahre verheiratet.
Zwei Tage lang lerne ich bei wunderschönem Sommerwetter die Highlights der Fränkischen Alb kennen. Das Fiasko der gemeinsame Nacht sprechen wir nicht an. Per WhatsApp lasse ich mich von Ida beraten, wie ich argumentieren müsse, damit ich die weiteren zwei Nächte in der Pension verbringen kann. Ich solle sagen, dass mir das alles zu rasch gegangen sei, rät sie. Weshalb ich nicht einfach abgereist sei, fragt eine andere Freundin erstaunt, der ich später die Geschichte erzähle. Ja, warum nicht? Ich hätte das irgendwie als zu dramatisch empfunden. Und außerdem hatte ich ein Ticket mit Zugbindung. Einen anderen Zug zu nehmen, wäre mich teuer gekommen. Ja, obwohl mit akademischen Weihen versehen, muss ich leider aufs Geld achten. Wer gar nichts hat, der ist gebildet (Theodor Fontane).
Das Schulmeisterlein und ich gehen die zwei gemeinsamen Tage zivilisiert miteinander um. Am letzten Abend sitzen wir wieder in einem lauschigen Restaurant unter Bäumen, im Garten eines ehemaligen Bauernhofes. Da fragt er plötzlich, grad nachdem wir fertig gegessen hatten, ob die Nacht ok gewesen sei. Ich nicke freundlich. „Also ich muss dir sagen“, fährt er fort, „dass ich am liebsten die Position habe, wenn die Frau auf mir liegt“. Ich lächle gefasst. Mangels Masse waren wir ja gar nicht so weit gediehen. Es kommt aber noch schlimmer. „Ich hatte solche Angst“, fügt er treuherzig hinzu, „dass du auf Analverkehr stehst.“ Der Ausgang der Begebenheit ist ganz unerträglich prosaisch (Ludwig Tieck).
Warum bin ich mit einem Mann ins Bett gegangen, von dem ich mich körperlich so gar nicht angezogen fühlte? Es ist wie eine Art Wunderglaube. Beim Durchbrechen der körperlichen Schallmauer tut sich eine Wunderkammer auf. Sicher hat dieser kindliche Glaube mit der Ehe meiner Eltern zu tun. Der Vater behandelte die Mutter respektlos bis verächtlich, aber unverdrossen proklamierte diese, er sei ihre große Liebe. Hinter der Schlafzimmertür, dachte ich als Kind, liegt das geheimnisvolle Land der wahren Liebe. Mein kühner Sprung über die Bettkante des Schulmeisters ist trotzdem ein Erfolg, denn schlagartig erlischt in mir das Bild von der schwankenden Hängebrücke. Ich habe wieder sicheren Boden erreicht.