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Stromern Sie im ersten Band von "Berlin abseits der Pfade" mit Mirko Moritz Kraetsch durch die Kieze innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings. Machen Sie Rast unter Bäumen und am Wasser. Entdecken Sie in Cafés und Restaurants die oft unterschätzte kulinarische Vielfalt der Stadt. Schlagen Sie sich in bemerkenswerten Kneipen und Bars die Nächte um die Ohren. Genießen Sie mit allen Sinnen. Und Vorsicht! Berlin macht süchtig, Sie könnten schon bald mehr davon wollen … Wie es die Spatzen so schön von den Dächern pfeifen: "Du bist verrückt, mein Kind, du musst nach Berlin, wo die Verrückten sind, ja da musst du hin!"
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Seitenzahl: 323
Mirko Moritz Kraetsch
Berlin abseits der Pfade
Band I
MIRKO MORITZ KRAETSCH
Eine etwas andere Reise durchdie Stadt an Spree und Landwehrkanal
Band I
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie – detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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1. Auflage 2015© 2015 by Braumüller GmbHServitengasse 5, A-1090 Wienwww.braumueller.at
Fotos: © Mirko Moritz KraetschCoverfoto: © Syphon86 | flickr.com (CC BY 2.0)Andere Bezugsquellen:Gemälde S. 6–7: Eduard Gaertner, Klosterstraße, Berlin (1830)Karten S. 30, 58, 90, 114, 128, 150, 170, 186, 206, 230, 254:wikicommons (oberer Ausschnitt + Übersichtskarte) | basierend auf: Cellar-Door85 (Robert Aehnelt) (CC BY-SA 2.5) sowieOpenStreetMap (Detailkarte) | (CC BY-SA 2.0)Lektorat: Merle Rüdisser
ISBN Printausgabe: 978-3-99100-151-5
ISBN E-Book: 978-3-99100-152-2
Berliner Phänomene
1. StreifzugArrest-Anstalt, Akazien und Abgeordnete
2. StreifzugBechstein, Brachen und Burger
3. StreifzugCastorf, Cölln und Carillon
4. StreifzugDrogenhandel, Denkmalschutz und Diskokugeln
5. StreifzugEinfuhrzölle, Einigungsversuche und Easyjetter
6. StreifzugFlächensanierung, Feuerwehr und Flokati
7. StreifzugGeneräle, Gasometer und Gesprächsbedarf
8. StreifzugHochzeitskleider, Hinterhof und Heimathafen
9. StreifzugIrritationen, Investoren und die Ideallinie
10. StreifzugKleingärtner, Kremser und ein Kandelaber
11. StreifzugLandhäuser, Leichen und ein Luxushotel
Berliner Adressen
Eduard Gaertner, der sich mit seinen Stadtansichten als Bildchronist Berlins verdient gemacht hat, malte 1830 diesen Blick von Norden in die Klosterstraße. Im Hintergrund die Parochialkirche.
„Berlin, dein Gesicht hat Sommersprossen …“, sang die unvergessene Hildegard Knef, wobei sie sich noch sehr dezent und poetisch ausdrückte. Nein, ihre Heimatstadt ist nie eine makellose Schönheit gewesen und wird es auch nie werden. Gerade dieses Unperfekte sorgt dafür, dass Berlin so faszinierend, aber auch ziemlich anstrengend ist. Diese Stadt macht es einem nicht immer leicht, sie zu lieben.
Wer allen Ernstes behauptet, Berlin zu kennen, tut dies vermutlich doch nicht so gut, denn Berlin zu kennen, geht gar nicht, worüber man sich aber erst klar wird, wenn man es näher kennenlernt … Viel zu chaotisch ist es hier immer zugegangen, viel zu bunt war die Schar der Zugewanderten in den letzten Jahrhunderten, viel zu brachial die historischen Brüche und Systemwechsel. Das kann man an allen Ecken und Enden spüren. Wer soll da den Überblick bewahren? Andererseits scheint jeder eine Vorstellung von Berlin zu haben, der Name ist mit Bildern und Assoziationen verbunden. Und alle möglichen Klischees feiern dabei fröhliche Urständ. Woran wir, die wir hier leben, nicht ganz unschuldig sind.
Ich werde mich in diesem Buch auf Streifzüge durch Berlin begeben, um zumindest Einblicke zu gewähren. Ob daraus ein Überblick wird, sei dahingestellt, vieles kann ich nur anreißen. Für weitergehende Studien verweise ich auf den bestens sortierten Spezialbereich Berlin-Studien der Zentral- und Landesbibliothek mit Sitz in Berlins einzigem erhaltenen Renaissance-Bau, dem Ribbeck-Haus in der Breiten Straße 35.
Bevor ich mich auf den Weg mache, erlaube ich mir ein paar allgemeine Ausführungen zu Berliner Persönlichkeiten, Ereignissen und Phänomenen.
Einheimische neigen wie hier in „Kreuzkölln“ zu klaren Ansagen, denen man aber oft einen gewissen Charme nicht absprechen kann.
Berlin liegt in einem Urstromtal zwischen den Höhenzügen Teltow und Barnim, die bis in die Innenstadt hineinreichen und dort Rollberge, Kreuzberg oder Prenzlauer Berg heißen. Die flachen Lagen zeichnen sich durch sandigen Untergrund und einen hohen Grundwasserspiegel aus, was Bauarbeiten kompliziert macht. Sehen kann man das im Stadtbild an den rosa, blau oder rostbraun gefärbten Rohrleitungen der Grundwasserhaltung, die in abenteuerlichen Windungen neben Straßen herlaufen oder diese überbrücken. Bei Bauarbeiten darf vor allem in der Innenstadt der Grundwasserspiegel in der Umgebung der Baustelle nicht abgesenkt werden, sonst säßen alle Bäume auf dem Trockenen, und davon gibt es in Berlin ja zum Glück so einige. Außerdem könnten alte Gebäude Schaden nehmen, deren Fundamente teils noch auf Holz im morastigen Untergrund ruhen. Das korrekte Prozedere sieht vor, dass die Baugrube nach allen Seiten abgedichtet und das von unten nachdrückende Grundwasser konstant abgepumpt wird, bis man beim Erdgeschoss angekommen ist.
Berlin war von Anfang an ein Doppelwesen. Neben einer Spreefurt unter der heutigen Mühlendammbrücke entstanden zwei Ansiedlungen: nordöstlich Berlin und südwestlich Cölln. Das Konglomerat dehnte sich bis ins 17. Jahrhundert nur geringfügig aus, obwohl es mit dem Schlossneubau ab 1448 zur Hauptresidenzstadt der Hohenzollern wurde. Nach dem Dreißigjährigen Krieg machte man sich an den Bau von Festungsanlagen. Deren Verlauf kann man bis heute auf dem Stadtplan erkennen, an Straßennamen wie Wallstraße und am Verlauf der Stadtbahntrasse, die 1882 auf dem längst zugeschütteten Festungsgraben in Betrieb ging; auch die U-Bahn-Linie 2 folgt zwischen Hausvogteiplatz und Märkischem Museum dem Grabenverlauf.
Direkt nach dem Dreißigjährigen Krieg ging es für das Kurfürstentum Brandenburg und seine Hauptstadt steil bergauf, Berlin begann über die Befestigungen hinauszuwachsen, sodass man bereits mit ihrem Abriss begann, als sie noch nicht einmal komplett fertiggestellt waren … Hauptexpansionsrichtung war Westen, wo sich anfangs Neuberliner ansiedelten, etwa aus Frankreich vertriebene Hugenotten, aus Böhmen vertriebene Protestanten, aus Wien vertriebene Juden. In Brandenburg war bereits 1539 unter Kurfürst Joachim II. Hector die Reformation eingeführt worden, und der seit 1640 regierende „Große Kurfürst“ Friedrich Wilhelm I. scherte sich wenig um religiöse Vorbehalte; er war Pragmatiker und sorgte mit Erfolg für die „Peuplierung“ seines darniederliegenden Staates.
Ab 1734 wurde um die größer gewordene Stadt eine neue Grenze gezogen, erst eine sogenannte Linie aus Palisaden, die später zu einer steinernen Akzisemauer mit achtzehn Toren zu Land und zweien zu Wasser (Oberbaum- und Unterbaumbrücke) ausgebaut wurde und vor allem der Einnahme von Zöllen und Steuern diente. Auch dies ist bis heute am Stadtplan abzulesen: Die Palisadenstraße in Friedrichshain und die Linienstraße in Mitte verweisen auf den alten Verlauf, die Straße außerhalb der Akzisemauer heißt heute Torstraße, und im Süden der Stadt wurde 1902 entlang der ehemaligen Stadtgrenze die erste Hochbahnstrecke der Berliner U-Bahn in Betrieb genommen, in deren Stationsnamen die Stadttore weiterleben. Sogar ein Stück Originalmauer gibt es noch, in der Hannoverschen Straße in Mitte; ein weiteres wurde anlässlich der 750-Jahr-Feier 1987 in der Stresemannstraße neu errichtet.
Das Ende der Akzisemauer um 1860 fiel zusammen mit mehreren Stadterweiterungen. Die Industrialisierung führte zu einer wahren Bevölkerungsexplosion, Arbeitssuchende aus allen Landesteilen strömten in die Fabriken, die überall in der Stadt und um sie herum entstanden. Mit den bis heute sichtbaren Spuren dieser Entwicklungsphase beschäftigt sich das Berliner Zentrum für Industriekultur (www.berlin-industriekultur.de), das Info-Materialien, aber auch ein unglaubliches Themenspektrum an geführten Touren anbietet.
Für die Neuberliner gab es allerdings keinen Wohnraum, eine planvolle Entwicklung war dringend geboten. König Friedrich Wilhelm IV., „der Architekt auf dem Thron“, sympathisierte beispielsweise mit Georges-Eugène Haussmanns Umgestaltung von Paris, wobei in seiner Residenzstadt weniger brachial zu Werke gegangen werden sollte. Ab 1858 befasste sich eine Kommission mit dem Ausbau von Straßen und Wohnvierteln, Eisenbahnen, einer Kanalisation und Versorgungsleitungen. Unter Federführung von James Hobrecht entstand mit Rücksichtnahme auf frühere Planungen, etwa von Schinkel oder Lenné, der Bebauungsplan der Umgebungen Berlins, der 1862 genehmigt wurde und bereits umliegende Gemeinden einschloss, zum Beispiel Charlottenburg, Wilmersdorf und Rixdorf. Es war der erste systematische Entwicklungsplan für den Großraum Berlin, der das Stadtbild bis heute nachhaltig prägt, vor allem durch den Verlauf und die Dimensionen von Straßen und Plätzen. Hobrecht gab die äußeren Begrenzungen für Grundstücke vor, regelte aber nicht die Art der Bebauung. Ihm schwebte vor, dass an den Blockrändern die guten, teuren Wohnlagen entstehen, während im Innern der Karrees Wohnungen für Arbeiter, aber auch Platz für Gewerbe und Industrie geschaffen werden. Dadurch sollte ein friedvolles Miteinander unterschiedlicher sozialer Schichten gewährleistet werden. Und diese „Berliner Mischung“ sollte für kurze Wege sorgen, die die Menschen zurücklegen mussten. Allerdings kam es meist anders: Berlins Baupolizeiordnung war sehr liberal und investorenfreundlich, wie man heute sagen würde. Festgelegt war lediglich eine maximale Traufhöhe von zweiundzwanzig Metern, und jeder Innenhof musste so dimensioniert sein, dass eine Feuerspritze problemlos wenden konnte. Durch die Ausreizung dieser Vorgaben entstand das „Steinerne Berlin“ (so der Titel eines Buches von Werner Hegemann, in dem er diese Entwicklungen scharf kritisiert) mit seinem Gürtel aus Mietskasernen, in deren Hinterhäusern teils katastrophale Lebensbedingungen herrschten. Es lässt sich aber nicht bestreiten, dass der Hobrecht-Plan auf Jahrzehnte hinaus für eine planvolle Entwicklung des gesamten Ballungsraums sorgte, und die zwischen 1873 und 1893 in Zusammenarbeit mit dem Arzt Rudolf Virchow entstandene Kanalisation mit ihren Radialsystemen hat Berlin zu einer der saubersten Städte der Welt gemacht.
Nun war Wachstum angesagt. Am 1. Oktober 1920 schluckte die Stadt dank des Groß-Berlin-Gesetzes über achtzig Städte, Landgemeinden und Gutsbezirke im Umland, zu den knapp zwei Millionen Berlinern kamen noch einmal so viele neue hinzu. Viele der alten Dorfkerne sind erhalten geblieben oder zumindest noch gut erkennbar, und auch die Mentalität der Einwohner ist in vielen Vierteln stark regional fokussiert.
Kaum am Stadtbild ablesen lässt sich das Wirken der Nazi-Diktatur (abgesehen natürlich von den durch sie verursachten Kriegszerstörungen). Zwar gab es unter Federführung von Albert Speer gigantomanische Planungen für den Umbau Berlins zur „Reichshauptstadt Germania“, doch wurde nur wenig davon umgesetzt, wie etwa die Ost-West-Achse, die sich über fünfundvierzig Kilometer quer durch die Stadt zieht, das frühere Reichsluftfahrtministerium an der Leipziger Straße (heute Finanzministerium) oder das fast komplett abgeräumte Alsenviertel neben dem Reichstagsgebäude, das erst in den 1990ern teilweise wieder bebaut wurde.
Häufiger stößt man auf Spuren der Teilung nach 1945, besonders natürlich Reste des von 1961 bis 1989 bestehenden Mauerstreifens. Allerdings sind diese Narben vor allem im innerstädtischen Bereich oft so gut kaschiert, dass es schwerfällt, sich vorzustellen, wie mitten durchs Stadtzentrum eine massiv gesicherte Staatsgrenze verlief. Die genaue Lage der Demarkationslinie kennzeichnet seit den 1990ern eine in den jeweiligen Bodenbelag eingelassene Doppelreihe aus Pflastersteinen. Dezente Sichtbarkeit, finde ich gut.
Nachdem Berlin 1942 mit knapp 4,5 Millionen Einwohnern den höchsten Stand in seiner Geschichte erreicht hatte, pendelte sich diese Zahl nach dem Zweiten Weltkrieg relativ stabil bei 3,3 Millionen ein (wobei zur Zeit der Teilung etwa ein Drittel in Ost- und zwei Drittel in Westberlin lebten). Seit den späten 1980ern liegt die Zahl bei 3,4 Millionen, Tendenz leicht steigend, und die Prognosen gehen von einem weiteren moderaten Zuwachs aus.
Überhaupt stehen momentan die Zeiger in vielen Bereichen auf Wachstum. Der Bauboom, der nach dem Mauerfall ausbrach, hält bis heute an. Berlin wurde zum „Spielplatz der Architekten“, denn in welcher Stadt bestand schon die Möglichkeit, weitläufige brachliegende zentrale Bereiche neu zu gestalten? Ich finde, dass die unglaublichen Chancen, hier Wegweisendes zu schaffen, nicht genutzt wurden, es gibt viel zu viel Einerlei, Mittelmaß, Langeweile, ja regelrecht abstoßende Investorenarchitektur zuhauf, und das an den prominentesten Stellen. Im Verhältnis dazu hat Berlin erschütternd wenige herausstechende, weil gelungene Projekte zu bieten.
Bei der Orientierung hilft der Blick auf das Verkehrsnetz. Das heutige System aus Ring- und Radialstraßen geht auf den Hobrecht-Plan zurück, dazu kommen Stadtautobahnen und der Autobahnring außerhalb der Stadtgrenzen. Genauso markant ist der Verlauf der Eisenbahnlinien, vor allem der 1882 eröffneten Stadtbahntrasse und des sie seit 1936 am Bahnhof Friedrichstraße kreuzenden Nord-Süd-S-Bahn-Tunnels, ergänzt von der bereits in den 1870ern eröffneten Strecke der Ringbahn.
In diesem ersten Band von Berlin abseits der Pfade erkunde ich Viertel, die innerhalb dieses S-Bahn-Rings liegen. Zwischen innerhalb und außerhalb des Rings zu unterscheiden, ist ein in Berlin sehr gängiges Kriterium in diversen Bereichen. Dass der Ring Zentrum und Vorstadt trennt, ist allerdings faktisch nicht korrekt, die Ringbahn führt im Norden sehr nah am Berliner Stadtkern vorbei. Trotzdem ist das Kriterium etwa in der Immobilienbranche relevant, und auch im Nahverkehr spielt der Ring eine Rolle: Innerhalb liegt die Tarifzone A, außerhalb die Tarifzone B. Zudem dürfen seit 2010 nur Kraftfahrzeuge in den Innenbereich fahren, die die strengsten Abgas-Grenzwerte einhalten und mit der grünen Feinstaubplakette gekennzeichnet sind. An vielen Stellen ist der Charakter der Viertel zu beiden Seiten des Rings sehr unterschiedlich, etwa in Neukölln, Friedrichshain oder Moabit, mancherorts wird das Trennende der Bahnlinie kaum wahrgenommen, zum Beispiel im Wedding.
Berlin entwickelte sich wie viele andere Städte vor allem entlang der Bahnstrecken, seit hier 1838 mit der Inbetriebnahme des Potsdamer Bahnhofs das Eisenbahnzeitalter begann. Bis 1846 kamen vier weitere Bahnlinien dazu (Anhaltische, Stettiner, Schlesische, Hamburger Bahn), in einer zweiten Welle bis 1875 noch einmal vier (Görlitzer, Ost-, Lehrter, Dresdener Bahn). Die Strecken endeten jeweils in Kopfbahnhöfen, die um das dicht bebaute Stadtgebiet herum angeordnet waren, wie man das aus anderen europäischen Großstädten wie Paris, Budapest oder Moskau kennt. Wer in Berlin umsteigen musste, war gezwungen, den Bahnhof zu wechseln. Für den Güterverkehr, aber auch für Truppentransporte stellte das ein enormes Hindernis dar, daher plante man eine Verbindungsbahn. Gelder dafür standen nach dem gewonnenen Krieg gegen Österreich 1866 zur Verfügung, 1877 war die weit außerhalb der Stadtgrenzen gelegene Strecke samt Anschlussgleisen zu den jeweiligen Fernbahntrassen fertig. Aufgrund ihres charakteristischen Umrisses hat sich unter Bescheidwissern dafür der Begriff „Hundekopf“ eingebürgert. (Ich würde sagen: Labrador.) Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich das S-Bahn-Netz in Ost und West unterschiedlich, da sämtliche Bahnstrecken Westberlins durch die Deutsche Reichsbahn der DDR betrieben wurden, was zum Boykott dieses Verkehrsmittels im Westteil und letztlich zu Streckenstilllegungen führte. Der seit dem Mauerbau 1961 an zwei Stellen unterbrochene Ring wurde anfangs getrennt bedient, doch der Reichsbahnerstreik 1980 führte zur Einstellung des Betriebs auf dem westlichen und südlichen Teil, der erst 1993 wieder aufgenommen wurde. Seit Juni 2002 wird der Ring wieder komplett in Endlosschleife befahren, eine Umkreisung dauert dabei eine Stunde. – Das Center For Metropolitan Studies der Technischen Universität Berlin betreibt übrigens ein Ringbahn-Projekt (www.ringbahn.com), das viele Anregungen für Entdeckungstouren bietet.
Am Deutschen Technikmuseum kreuzen sich Verkehrswege auf sechs Ebenen: Flugzeug, Hochbahn, (frühere) Eisenbahn, Straßenverkehr, Schifffahrt und (unterirdische) S-Bahn.
In diesem Zusammenhang soll noch ein Gesellschaftsspiel erwähnt werden: Beim Ringbahnsaufen gibt es variierende Spielregeln, aber es beginnt immer damit, dass sich eine fröhliche Runde bevorzugt gegen Abend an einem beliebigen Ringbahnhof trifft. Im Gepäck ein gültiges Ticket ab Tageskarte aufwärts, Geld und ein Würfel; Taschen sollte man nicht mitnehmen, die Gefahr, dass unterwegs etwas liegenbleibt oder sonstwie abhandenkommt, wird im Verlauf des Spiels immer größer. Die gewürfelte Augenzahl gibt die Anzahl der zurückzulegenden Stationen vor, die Richtung wird vom Zug bestimmt, der als Nächstes einfährt. Am Ziel angekommen, konsumiert man im ersten Etablissement, das sich bietet, ein Herrengedeck, also ein Bier und einen Schnaps, traditionell in Form von Molle und Korn. Wurde eine gerade Zahl gewürfelt, macht man sich innerhalb des Rings auf die Suche, bei einer ungeraden Zahl außerhalb, oder genau andersrum. Das Wichtigste ist, dass man unbedingt das allererste Lokal aufsucht, was dazu führt, dass man mit Orten und Protagonisten der Berliner Freizeitkultur in Kontakt kommt, die einem vermutlich bisher verborgen geblieben sind. Allerdings gibt es auch Problemstationen, das Westkreuz etwa: Dieser stark frequentierte Umsteigebahnhof hat nur einen Ausgang, der direkt zu einem riesigen Autobahnknoten und zum dahinterliegenden Messegelände führt, daneben gibt es Gleisanlagen und Kleingärten satt. Das erste Lokal ist hier das heiß diskutierte und auf BVG-Bussen in Form von Reklame überall im Stadtbild präsente Großbordell Artemis. Soll man wirklich achtzig Euro Eintritt investieren, nur um die Spielregeln nicht zu brechen? Beim Ringbahnsaufen ist also Kreativität gefragt, die sich bei steigendem Alkoholpegel eh von selbst einstellt. Berlin wäre allerdings nicht Berlin, wenn dieses Spielchen nicht auch bis zum Exzess getrieben worden wäre, als sich beispielsweise an die hundert Personen per Internet verabredeten und volltrunken einen S-Bahn-Zug am Weiterfahren hinderten, sodass die Polizei mit einer Hundertschaft anrücken musste, um den Bahnsteig zu räumen …
Kurz und gut: Der Weg ist manchmal das Ziel, und in diesem Sinne finde ich, dass eine Fahrt mit der S-Bahn über den Ring, aber auch auf der Stadtbahntrasse eine Sehenswürdigkeit ist, was ebenso für andere Bus- und Bahnlinien gilt. Die Straßenbahn heißt in Berlin übrigens „Straßenbahn“, da lasse man sich nichts einreden, weder von Zugewanderten aus dem süddeutschen Raum noch von internationalisierungsbegeisterten Branding-Experten der Verkehrsbetriebe, die das Logo der Straßenbahn als rotes Quadrat mit dem eingeschriebenen Wort „Tram“ gestaltet haben; für mehr ist definitiv kein Platz.
Sich per pedes durch die Stadt zu bewegen, ist die direkteste Art und Weise, mit der Stadt in Kontakt zu kommen. Die Berliner Theoretiker des Flanierens sind der 1892 im damals noch selbstständigen Charlottenburg geborene Walter Benjamin und vor allem sein Kollege Franz Hessel, dessen Standardwerk Spazieren in Berlin (auch unter dem Titel Ein Flaneur in Berlin bekannt) 1929 erschien. Sich anhand dieses Werks durch die Stadt zu bewegen, ist schon die höhere Schule, etwa wie eine Erkundung Berlins anhand eines hundert Jahre alten Stadtführers.
In diesem Zusammenhang sei die verwirrende Hausnummernsortierung erwähnt: In Preußen galt das Hufeisensystem, bei dem die Nummerierung auf der rechten Seite bei 1 beginnt und bis zum Ende der rechten Straßenseite weiterläuft, von wo aus es auf der linken Seite in Gegenrichtung weitergeht. (Gegenüber der Ackerstraße 1 befindet sich beispielsweise Nummer 174.) Um es nicht zu einfach zu machen, wird seit Januar 1929 für neue Straßen nur noch das System der wechselseitigen Nummerierung angewandt, eine Straßenseite hat also gerade, die andere ungerade Hausnummern. Die Suche nach einer bestimmten Adresse kann so zu einem zeitraubenden Abenteuer werden.
Da Berlin so weitläufig und wenig kompakt ist und zwischen interessanten Punkten große Entfernungen liegen können, wird das reine Flanieren ziemlich bald ziemlich anstrengend. Eine Kombination mit dem Fahrrad ist durchaus sinnvoll, und Berlin ist definitiv eine Radfahrstadt, es ist überwiegend flach, die seltenen Steigungen sind moderat. Die Verkehrswege sind jedoch nicht ganz ohne: Zwar gibt es eine umfangreiche Infrastruktur, doch wird aktuell der teils unerfreuliche Zustand von Radwegen oder das Fehlen von Radspuren kritisiert. Perspektivisch soll der Radverkehr auf die Straßen verlagert werden, die meist rot gefärbten Radstreifen auf Fußwegen, die man als Passant tunlichst meiden sollte, um Leib und Leben zu schonen, sollen verschwinden. Was die Verantwortlichen jedoch keineswegs daran hindert, dieses Vorhaben auf gerade neu gebauten Straßen zu konterkarieren, etwa wenn der Radweg vor dem Hauptbahnhof mitten durch die Bushaltestelle verläuft … Überhaupt ist man zurzeit mit vielen Zwischenstufen konfrontiert, die ein gutes Reaktionsvermögen im Sattel voraussetzen. Dazu kommt, dass Radspuren gern als Halte- oder gar Parkplätze genutzt werden, was im Prinzip nicht sanktioniert wird und damit für die Fahrer von PKW und Lieferwagen in Ordnung geht.
Die Statistik ist nicht gerade ermutigend: 2014 stieg die Zahl der Unfälle mit Fahrradbeteiligung um 10 % auf 7699, wobei in fast 1600 Fällen ein „Fehlverhalten beim Abbiegen“ seitens PKW oder LKW vorlag, Stichwort toter Winkel. Es gab 639 Schwerverletzte und zwölf Todesopfer. In knapp der Hälfte aller Unfälle hatten die Radler zumindest eine Mitschuld; das wahrlich nicht selten zu beobachtende rücksichtslose Verhalten einiger Pedalritter ist Gegenstand häufiger Kritik. Da kann es schon mal laut zugehen, wenn ein prototypischer Radfahrer und ein prototypischer Taxifahrer temperamentvoll aneinandergeraten … Trotz aller Widrigkeiten bin ich ein Verfechter des Radfahrens. Vor allem muss man Präsenz zeigen, finde ich. Im schlimmsten Fall also grellfarbige Kleidung überstreifen und immer darauf achten, dass man zur Kenntnis genommen wird. Je mehr Fahrräder unterwegs sind, desto mehr werden sie für andere Verkehrsteilnehmer zur Normalität.
Meine Streifzüge sind übrigens multimodal zu verstehen. Der Grundgedanke ist der Spaziergang, doch würde das bei den meisten Touren schnell in einen Gewaltmarsch ausarten. (Ich habe es im Rahmen meiner Recherchen am eigenen Leib erfahren!) Die Touren lassen sich beliebig segmentieren, und fast alle berühren mehrere Knotenpunkte des öffentlichen Nahverkehrs, mit dem man auch Zwischenstrecken absolvieren kann.
In Sachen Autofahren dürfte Berlin eine der entspanntesten Großstädte sein. Das haben wir nicht zuletzt auch James Hobrecht zu verdanken, dessen Planungen für seine Zeit vollkommen überdimensioniert waren. Allerdings finde ich, dass man in Berlin dank des dichten Netzes von Bahn- und Buslinien gar kein Auto benötigt. Problematisch ist vor allem das Parken, die Parkplatzsuche kann zu einem zeitraubenden Abenteuer ausarten und die Gebühren sind beachtlich.
Der Blick von oben zeigt die Berliner Dimensionen am besten – hier die Aussicht vom Rathausturm Neukölln gen Norden, vom Roten Rathaus bis zur Emmaus-Kirche am Lausitzer Platz.
Etwas anders liegt die Sache, wenn man in seiner Mobilität eingeschränkt ist. Die entsprechende Infrastruktur ist zwar recht gut ausgebaut und wird auch kontinuierlich erweitert, doch barrierefrei ist die Stadt noch lange nicht. Diesem Thema widmet sich Raúl Aguayo-Krauthausen, der aufgrund seiner Glasknochenkrankheit im Rollstuhl sitzt, mit dem er einem in Berlin immer mal wieder durchs Bild fährt. Der eloquente, medial sehr begabte und präsente „Berliner. Autor. Aktivist.“ (wie er es auf seiner Homepage ausdrückt) setzt sich für eine natürliche Teilhabe von Menschen mit jeglicher Art von Behinderung ein, was eigentlich selbstverständlich sein müsste. Mit Humor und Selbstironie hat er schon viele Menschen für dieses Thema sensibilisiert, im besten Falle sogar aktiviert. Er ist Mitbegründer des Vereins Sozialhelden (www.sozialhelden.de) mit dem schönen Motto „Einfach mal machen!“. Eines der vielen Projekte ist wheelmap.org, „die Online-Karte zum Suchen, Finden und Markieren rollstuhlgerechter Orte“. Hut ab vor so viel beeindruckendem Engagement!
Abseits der Pfade bewege ich mich vor allem, um zu genießen. Dazu gehört auch das riesige, im Prinzip nicht zu überblickende kulturelle Angebot der Stadt. Mit den klassischen Hausnummern will ich mich nicht beschäftigen, sondern ich versuche, bei meinen Streifzügen Orte zu finden, die mehr Aufmerksamkeit verdienen, seien es architektonische oder landschaftliche Gemmen, Museen oder Ausstellungen, Kinos oder Theater.
Zu letzterer Kategorie gehören im weitesten Sinne auch die Lesebühnen, eine in Berlin weit verbreitete und auf hohem Niveau gepflegte Art der performativen Lektüre, die hier um 1990 entstand und zur Jahrtausendwende einen regelrechten Boom erlebte. Obwohl das Ganze natürlich an den Ort der Vorstellung gebunden ist, wurden zahlreiche Mitwirkende überregional bekannt, wie Wladimir Kaminer, Kirsten Fuchs oder Horst Evers. Mittlerweile gibt es in der Stadt eine Vielzahl regelmäßiger, weniger regelmäßiger und unregelmäßiger Lesebühnen. Besonders herausheben möchte ich dabei Tiere streicheln Menschen mit Sven van Thom und Gotti (Termine unter www.tierestreichelnmenschen.de). Und dann gibt es noch das Kantinenlesen, ein Gipfeltreffen der Lesebühnen jeden Samstag ab 20 Uhr in der Alten Kantine der Kulturbrauerei (Eingang Knaackstraße 97). Auf der entsprechenden Homepage www.kantinenlesen.de findet sich zudem ein Übersichtsprogramm aller dort beteiligten Einzel-Lesebühnen.
Der nicht ganz unpassende Aufblas-Marx neben der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz gehört zu einem Straßenfest der Linken, deren Parteizentrale im benachbarten Karl-Liebknecht-Haus residiert.
Als Einstieg in das kulturelle Angebot der Stadt sind die zwei Stadtmagazine zitty (www.zitty.de) und tip (www.tip-berlin.de) sehr nützlich, die seit den 1970ern die Berliner Presselandschaft bereichern. Seit 2014 gehören beide zum selben Verlag, aber die Redaktionen arbeiten nach wie vor unabhängig. Sehr nützlich sind ihre saisonalen Sonderhefte und Beilagen zu Gastronomie und Freizeitgestaltung.
Um zu verstehen, wie Berlin tickt, und um sich zu informieren, empfehle ich auch die regionalen Fernsehnachrichten, die Abendschau vom RBB, die den Spagat zwischen piefiger Provinzialität und Weltgeschehen immer wieder bravourös meistert. Die Sendungen sind im Internet (www.rbb-online.de/abendschau) sieben Tage abrufbar und eignen sich bestens, um sich ein Bild zu machen, was in der Stadt gerade die wichtigen Themen sind.
Die ist sprichwörtlich und kann durchaus irritieren. Markant ist einerseits die knappe und zielorientierte Kommunikation mit Unbekannten. (Prototypisches Gespräch am Kiosk: „Hm?“ – „’m Bier.“ – „Hm. Eens fuffzich.“) Andererseits kann sie unglaublich wortgewaltig und inhaltlich sehr blumig sein, wenn bei eben erworbenem Bierchen im Freundeskreis die neuesten Schwänke erzählt werden … Der Berliner Dialekt ist dank der Schmelztiegel-Funktion der Stadt seit jeher ein Konglomerat unterschiedlichster regionaler Einflüsse gewesen, der sprachwissenschaftlich korrekt als Metrolekt bezeichnet werden muss. Und er ist ständig im Wandel. „Kiezdeutsch“ wird der Einfluss speziell des Türkischen auf die deutsche Umgangssprache besonders von Jugendlichen mit entsprechenden Wurzeln genannt, ähnliche Phänomene sind auch für das Arabische oder Russische zu beobachten, wobei sie durchaus auf das Umfeld abfärben und keineswegs nur von Menschen mit Migrationshintergrund verwendet werden. Doch sind sowohl das klassische, aus Funk und Fernsehen bekannte Berlinern als auch das Kiezdeutsch auf bestimmte soziale Milieus begrenzt, im Allgemeinen wird Hochdeutsch mit diversen regionalen Färbungen gesprochen.
Nicht Schnauze, sondern Schnute: Die letzte Stadtbärin aus dem Köllnischen Park im August 2015.
Entscheidend ist bei der Berliner Schnauze das Wie. Die erwähnte Orientierung auf das Wesentliche wird nicht selten als schroff und unfreundlich empfunden, ist aber meist nicht so gemeint. Es fehlt nur das schmückende Beiwerk, das Affektierte und Aufgebauschte, das süddeutschen und österreichischen Mundarten nachgesagt wird. Man kann schnell und unkompliziert auch quer über soziale und ethnische Grenzen hinweg mit Menschen ins Gespräch kommen und dadurch seinen Horizont zumindest ein bisschen erweitern. Mir selbst liegt dieses gewisse Understatement, es ist eine gute Voraussetzung dafür, dass ich mich in Berlin wohlfühle.
Bei diesen Worten rümpfen sicher viele erst mal die Nase. Die klassische Berliner Küche mit den Schwerpunkten Kartoffeln, Kohl und Schweinefleisch liegt sicher nicht im Zeitgeist. Dass zu dieser Küche auch großartige Gemüseeintöpfe oder der feine Havelzander gehören, ist weniger bekannt. Vor allem aber wurden hier immer schon Einflüsse aus aller Welt aufgenommen und weiterentwickelt. Heute gibt es in Berlin in gastronomischer Hinsicht fast nichts, was es nicht gibt, vom isländischen Pop-up-Restaurant über vietnamesisches Street Food und Südtiroler Schmankerln bis hin zum schwer angesagten Clean Food, nicht zu vergessen die allgegenwärtigen Burger jeglicher Couleur.
An dieser Stelle seien mir ein paar allgemeine Anmerkungen zur Berliner Gastroszene gestattet: Fehlende Schließzeiten sind durchaus üblich, sie verweisen darauf, dass es in Berlin keine amtliche Sperrstunde gibt, dass also jeder so lange bewirten kann, wie er eben kann oder will. Genauso großzügig wird das Personalthema angegangen. Außer in ausgesprochenen (höherpreisigen) Restaurants ist es üblich, ungelernte Servicekräfte zu beschäftigen; eine klassische Erwerbstätigkeit für Studierende ist Kellnern. Das führt einerseits zu einer locker-flockigen Atmosphäre, allgemeines Duzen ist üblich, andererseits braucht man viel Geduld, wenn es eben mal länger dauert und dann doch das falsche Getränk kommt. („Ausgebildet an der Waldorfschule für Gastronomie“, hat ein Freund das mal genannt.) Falls man zahlen will, sollte man das langfristig planen, denn kurioserweise ist just in diesem Moment oft weit und breit kein Personal in Sicht. Apropos: Man darf sich auf keinen Fall darauf verlassen, mit Karte zahlen zu können. Und last but not least: Einige Lokale, aber auch Lesebühnen und weitere Einrichtungen haben saisonale Pausen, sprich Sommerferien und/oder Winterurlaub. Es empfiehlt sich in dieser schnelllebigen Stadt also auf jeden Fall, die im Buch gemachten Angaben kurzfristig zu überprüfen. Denn wenn dann jemand vor verschlossener Tür steht, bin ich natürlich schuld, und das will ich nicht auf mich nehmen …
Entspannt geht’s heute zu im einstigen Grenzstreifen am Flutgraben: Der Freischwimmer in Kreuzberg (links) und der Club der Visionäre in Treptow (rechts).
Bevor die Reise losgeht, möchte ich gern noch Rahel Varnhagen van Ense, Berliner Schriftstellerin und Salonnière von Anfang des 19. Jahrhunderts, zu Wort kommen lassen: „Die Berliner leben aber frisch drauflos: Und das ist der Gewinn, also haben sie Recht.“
A Geschichtspark Zellengefängnis
B Kulturfabrik Lehrter Straße
C Poststadion
D Fritz-Schloß-Park
E Kriminalgericht + JVA
F „Notfriedhof“
G Johanniskirche
H Geburtshaus von Kurt Tucholsky
I Stephanplatz
J Putlitzbrücke
K Moabiter Stadtgarten
L Unionpark
M Arminius-Markthalle
N Dominikanerkloster
O Thusnelda-Allee
P Essener Park im früheren Borsig-Areal
Q Mahnmal Levetzowstraße
R ehemalige Meierei Bolle
S „Güterschuppen Spreebord“
T Zollpackhof + „Tiergartendschungel“
U Charité-Museum
V Mori-Ōgai-Gedenkstätte
W Mauer-Mahnmal im Bundestag
X Schadow-Haus
1 Hauptbahnhof
2 S- und U-Bahnhof Westhafen
3 U-Bahnhof Birkenstraße
4 U-Bahnhof Turmstraße
5 S-Bahnhof Bellevue
Irgendwo muss ich mit den Berliner Streifzügen beginnen, warum also nicht am Hauptbahnhof. Für viele ist das zudem der erste Ort, an dem sie mit der Stadt in Berührung kommen. Abseits der Pfade liegt der Bahnhof ebenfalls; das behaupteten zumindest kritische Stimmen bei seiner vier Jahre verspäteten Inbetriebnahme am 26. Mai 2006. Übrigens wurde auch schon der an selber Stelle befindliche Vorgängerbau, der Lehrter Bahnhof, bei seiner Eröffnung 1871 trotz des prächtigen Empfangsgebäudes mit Hohn und Spott bedacht: „So weit das Auge reicht, nirgends ein Gebäude, dessen Insassen diese Haltestelle benutzen könnten!“ Dies war eine Anspielung auf das nahegelegene, etwa zwanzig Jahre zuvor fertiggestellte Preußische Mustergefängnis Moabit. Andere bewohnte Gebäude gab es in der näheren Umgebung keine, woran sich bis heute nicht allzu viel geändert hat. Allerdings hat Berlin mit dem Umfeld große Pläne und die Gegend wandelt sich massiv. So sind auf der Südseite des ursprünglich freistehenden und dadurch wuchtig wirkenden Bahnhofs drei Hotels entstanden, die den Bau jetzt zum Teil verdecken, weitere ebenso uninspiriert wirkende Bürogebäude runden das Bild ab. In nördlicher Richtung entsteht mit der Europacity ein ganzes neues Stadtviertel.
Die anfangs spärliche Anbindung durch öffentliche Verkehrsmittel hat sich im Lauf der letzten zehn Jahre verbessert, neben der in Ost-West-Richtung verkehrenden S-Bahn und mehreren Buslinien gibt es inzwischen Straßenbahnanschluss Richtung Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Die dazugehörige Haltestelle mit ihrem Dach aus Betonflügeln hat gleich Eingang ins Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler gefunden: Das 2015 fertiggestellte, über eine Million Euro teure Bauwerk muss erst einmal saniert werden, zudem fehlen die Rolltreppen ins Tiefgeschoss, einen Aufzug zu bauen ist sogar komplett unmöglich, der müsste nämlich schräg verlaufen.
Unter der Erde wird an einer S-Bahn-Strecke in Nord-Süd-Richtung gebaut, und schon seit August 2009 in Betrieb ist die vielbelächelte U-Bahn-Linie U55, ein Rumpfstück der im Bau befindlichen Verlängerung der U5 vom Alexanderplatz zum Hauptbahnhof. Außer für Menschen, die nicht gut zu Fuß sind, hat diese Linie keinen praktischen Nutzen, denn ehe man tief in den Keller hinabsteigt (der Tunnel muss schließlich unter der Spree durch) und zehn Minuten auf den Zug wartet, ist man längst an den beiden Stationen Bundestag und Brandenburger Tor vorbei Unter den Linden gelandet und hat dabei auch noch eine Menge Sehenswürdigkeiten zu Gesicht bekommen. Aber 2020 oder 2021 oder 2022 soll der Lückenschluss zum Alex fünfzehn oder sechzehn oder siebzehn Jahre nach Baubeginn hergestellt sein. – Nachdem 2002 die Arbeiten vor allem aus finanziellen Gründen gestoppt wurden, hätte der Bund 170 Millionen Euro an Fördermitteln von Berlin zurückfordern können, die an einen Betrieb der Strecke gebunden waren. Deshalb wurde 2003 beschlossen, diese Teilstrecke zu vollenden und den Verkehr aufzunehmen.
Die nordöstliche Terrasse des Bahnhofs ziert das monströse Rolling Horse, eine Skulptur von Jürgen Goertz. Sie ähnelt übrigens seinem Werk S-Printing Horse, das in Heidelberg nahe einem Gebäude der Heidelberger Druckmaschinen AG steht, deren Vorstandsvorsitzender einst der spätere Bahnchef Hartmut Mehdornwar. Diese sicher zufällige Verkettung von Umständen sorgte für entsprechend bissige Reaktionen … Von hier aus bietet sich ein Rundblick über das Entwicklungsgebiet Europacity hinweg nach Norden, wo die Gleise der unterirdischen Nord-Süd-Strecken auf die Ringbahn einschwenken. Ganz rechts liegt der Humboldthafen, an dessen Stelle bis 1848 der Hohe Weinberg aufragte, auf dem tatsächlich Wein angebaut wurde. Vor allem aber war die seit dem 17. Jahrhundert dort betriebene Gastwirtschaft ein beliebtes Ausflugsziel vor den Toren der Stadt. Am Fuße des Weinbergs gab es ein weiteres Lokal, den Sandkrug, an den bis heute die Sandkrugbrücke erinnert, wo sich bis 1990 der Grenzübergang Invalidenstraße befand. Links davon steht der einzige noch erhaltene Fernbahnhof aus dem 19. Jahrhundert, der Hamburger Bahnhof mit seinen beiden Türmen (heute Museum für Gegenwart), und daneben das ehemalige Verwaltungsgebäude der Hamburger Bahn, in dem seit 1968 das Sozialgericht sitzt. Hier wurden seit Inkrafttreten des Konvoluts Sozialgesetzbuch Zweites Buch (besser bekannt als Hartz IV) über 200 000 Klagen gegen Entscheidungen der Jobcenter eingereicht. Aktuell erreicht die Behörde eine Klagewelle, durch die Asylsuchende Leistungen vom Staat einfordern, die ihnen gesetzlich zustehen, wie etwa eine Unterkunft.
Den Geschichtspark Ehemaliges Zellengefängnis Moabit betrete ich durch eine Art Schleuse am Haupteingang in der Invalidenstraße und lande in einer von hohen Mauern umgebenen Oase inmitten des Straßen- und Bahnverkehrs. Rechte Romantik kommt nicht auf, wenn man an die Geschichte dieses Ortes denkt: In den 1840ern wurde der Bau nach einer Gefängnisreform unter König Friedrich Wilhelm IV. als Anlage mit fünf Flügeln errichtet, die um einen zentralen Wachturm herum angeordnet waren. Es gab nur Einzelzellen, alle Gefangenen wurden in strikter Isolation gehalten, was damals ein relatives Novum war, daher die Bezeichnung Mustergefängnis. Ab 1940 wurde die Einrichtung von der Wehrmacht, nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 auch von der Gestapo genutzt, um Beteiligte und Sympathisanten unter verschärften Haftbedingungen zu internieren. Ab Oktober 1945 diente das durch Bomben und Plünderungen in Mitleidenschaft gezogene Gebäude den Alliierten als Haftanstalt, hier befand sich auch die einzige Hinrichtungsstelle in den Westsektoren. Ende der 1950er wurde der Bau abgerissen, nur die Wohnhäuser der Vollzugsbeamten und die Umfassungsmauer blieben erhalten, zudem ein Teil des Anstaltsfriedhofs. Im Herbst 2006 wurde der Park eröffnet, der durch Integration der bestehenden Baureste und dezente Installationen sowie Tafeln mit Erläuterungen zum Nachdenken anregt, aber auch zum Verweilen einlädt; geöffnet ist er täglich ab 9 Uhr.
Auch im Spreebogenpark südlich des Hauptbahnhofs (im Bild rechts hinten) lässt sich ein gewisser Wille zur Gestaltung erkennen. Als Unterstand bei Regen ist diese Installation allerdings nicht geeignet.
Durch den Ausgang im Nordwesten gelange ich in den Kiez entlang der Lehrter Straße, der seit dem 19. Jahrhundert von der Eisenbahn (Lehrter Güterbahnhof), vom Militär (Exerzierplatz, Offizierswohnhäuser und Kasernen) und von Gefängnissen geprägt wurde. Zu Zeiten der Teilung Berlins war das hier äußerste Stadtrandlage, jenseits des ehemaligen Güterbahnhofgeländes, wo die Europacity entsteht, lagen schon die Grenzbefestigungen. Der für Berlin so typische Kiezcharakter, der Gemeinschaftsgedanke lebt beispielsweise in der seit 1991 existierenden Kulturfabrik Lehrter Straße 35 in einem ursprünglich für die Firma Wertheim errichteten Fabrik- und Lagerhaus. Neben einem Café gibt es das Kino Filmrauschpalast und das Fabriktheater, das Slaughterhouse ist ein kreativer Ort für laute Musik und die Hauswerkstatt 35 Services bietet ihre Dienste im Kiez zu günstigen Preisen an. Bleibt nur zu hoffen, dass sich diese Strukturen angesichts des sich rasant entwickelnden und verdichtenden Umfelds halten können.
In der Lehrter Straße 60/61, der ehemaligen Arrest-Anstalt der Berliner Garnison, befindet sich eine Zweigstelle der Justizvollzugsanstalt Plötzensee, die bis Anfang der 1980er-Jahre als Frauengefängnis genutzt wurde. Hier gelang der RAF-Terroristin Inge Viett 1973 und 1976 gleich zwei Mal die Flucht.
Rechts von dem Komplex reihen sich in geschwungener Linie ebenerdige Gebäude und ein Zaun aneinander; an den Kassenhäuschen erkennt man noch gut den Zugang zum Poststadion. Linkerhand erreicht man in einem Bogen das Gebäude der Haupttribüne mit seiner vor wenigen Jahren sanierten Fassade aus den späten 1920ern. Auf diesem Rasen wurde Fußballgeschichte geschrieben: Hier fanden mehrfach die Endspiele um die deutsche Meisterschaft statt, und bei den Olympischen Spielen 1936 wurden hier die Vorrundenspiele ausgetragen. So konnten am 7. August 1936 55 000 Zuschauer inklusive der versammelten Staatsführung zusehen, wie der Gastgeber gegen Norwegen verlor und ausschied … Ab 1936 war das neue Olympiastadion die wichtigste Berliner Sportstätte, das Poststadion war seitdem nur noch von regionaler Bedeutung und verfiel allmählich. Heute ist es zusammen mit Fußball- und Tennisplätzen, einer Mehrzweck-, einer Kletterund einer Schwimmhalle, einer Rollschuhbahn sowie einer Minigolfanlage und einer Laufstrecke als SportPark Poststadion ein Freizeitangebot für die umliegenden Wohngebiete.
Am Ende der Tribüne führt ein schmaler Weg schräg rechts bergan, vorbei an den Außenanlagen des 2014 eröffneten Wellnesstempels Va Bali auf dem Gelände des früheren Freibads, das nach seiner Schließung wegen Baufälligkeit von 2006 bis 2011 als cooler urbaner Campingplatz namens Tentstation genutzt wurde. Der angrenzende Fritz-Schloß-Park, benannt nach dem ersten Nachkriegsbürgermeister des früheren Stadtbezirks Tiergarten, liegt auf einem alten Exerzierplatz, der nach 1945 als Trümmerhalde genutzt wurde. Das Areal bietet auf kleinem Raum überraschend abwechslungsreiche Landschaften mit Anhöhen und Ausblicken, mit Rodelbahn und kleinen Sportgeräten am Wegesrand. Hier trifft man überwiegend Leute aus dem Kiez, mit denen man leicht ins Gespräch kommt, bevorzugt über die nicht wegzudenkenden vierbeinigen Begleiter.
Den Beginn der Turmstraße am Westrand des Parks markiert der gewaltige Komplex des Kriminalgerichts Moabit von 1906 mit seiner über zweihundert Meter langen neobarocken Fassade. Südlich davon liegt eine der berühmtesten Haftanstalten Deutschlands, deren ältester Bauteil von 1881 sternförmig angeordnete Zellentrakte hat wie einst das Mustergefängnis. Berühmte Insassen waren der Kommunist Karl Liebknecht, der Kommunarde Fritz Teufel, der RAF-Mitbegründer und spätere Rechtsextremist Horst Mahler, der ehemalige Staatsratsvorsitzende Erich Honecker sowie der Liedermacher Kurt Demmler, der 2009 erhängt in seiner Zelle aufgefunden wurde. Den besten Blick auf den Bau hat man von der gegenüberliegenden Straßenseite, wo man gleich noch ins Sortiment der Dorotheenstädtischen Buchhandlung (Turmstraße 5) eintauchen kann: ein überraschend großer, bestens sortierter Laden, der sich besonders auf Regionalia spezialisiert hat. Extra-Sympathiepunkt: Durch ein Schild an der Eingangstür deutlich erkennbar unterstützt der Inhaber das Aktionsbündnis #NoBaergida, das sich jeden Montag 18.30 Uhr am Hauptbahnhof versammelt, um den „Bärgida“-Aufmärschen mit ihren dumpfen Parolen Kontra zu bieten.
In der Wilsnacker Straße am Westende des Gerichtskomplexes befindet sich der Zugang zu einem Notfriedhof, auf dem im April und Mai 1945 etwa dreihundert Menschen ihre letzte Ruhe fanden, die in der Umgebung ums Leben gekommen waren. Unter ihnen war auch Albrecht Haushofer aus dem Umkreis der Verschwörer vom 20. Juli 1944, einer von sechzehn Häftlingen des Zellengefängnisses Lehrter Straße, die nur wenige Tage vor der Ankunft der Roten Armee aus dem Gebäude gebracht und von SS-Leuten erschossen wurden. Haushofers Bruder fand ihn und entdeckte in der Manteltasche des Toten achtzig Gedichte aus seiner Haftzeit, die als Moabiter Sonette veröffentlicht wurden; Zitate daraus finden sich übrigens im Geschichtspark.
Das Areal gehörte ursprünglich zur Johanniskirche, deren malerische Anlage ich von der Straße Alt-Moabit aus erreiche. Eingeweiht wurde sie 1835 als eine der vier sogenannten Vorstadtkirchen nach Entwürfen von Karl Friedrich Schinkel. (Die drei anderen sind die Elisabethkirche an der Invalidenstraße, die Alte Nazarethkirche am Leopoldplatz und die Paulskirche am Luisenbad.) Der Schinkel-Schüler Friedrich August Stüler ergänzte die Anlage durch Bauten wie den Campanile und den Arkadengang, wodurch das Ganze sehr südländisch wirkt.
Links neben der Kirche befindet sich in der Sommerzeit der Eingang zur Berliner Freiheit, einem Biergarten, der schon im angrenzenden Kleinen Tiergarten liegt. 2015 herrschten in dessen östlichem Abschnitt rege Bauaktivitäten. Dass dafür der eine oder andere Baum weichen muss, gehört zu den Kollateralschäden. So etwas geschieht aber nicht unbemerkt, sondern wird traditionell von Bürgerinitiativen kritisch begleitet und bei Bedarf mit Protest quittiert. Wie auch hier: Die Bürgerinitiative Kleiner Tiergarten/Ottopark hat sich auf ihrer Homepage einen allzeit gültigen Satz als Motto gewählt: „Besuchen Sie den Kleinen Tiergarten, solange er noch so schön grün ist!“
Das aktuelle Modell aus der Reihe „Zeitgemäße Stadtmöblierung“: Sitzkiesel im Kleinen Tiergarten.
Das im 17. Jahrhundert am Spandauer Heerweg angelegte Gelände wurde für Gärten, Baumschulen und Maulbeerplantagen genutzt, 1718 wurden hier unter König Friedrich I. Hugenotten angesiedelt, die eine Seidenraupenzucht betreiben sollten, leider ohne Erfolg. Dafür blieb der Gegend der wohl von den französischen Neubürgern geprägte biblische Name. Nach Fertigstellung der Johanniskirche sollte das Areal zu einer Parkanlage nach Entwürfen von Peter Joseph Lenné umgestaltet werden, der bereits im Großen Tiergarten am anderen Ufer der Spree tätig war, doch erst nach der Eingemeindung von Moabit zu Berlin 1861 wurde unter Gartendirektor Gustav Meyer in den 1870ern eine Neugestaltung in Angriff genommen.