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In den sogenannten 'Goldenen Zwanzigern' ist die kriminelle Szene in Berlin kaum noch zu überschauen. Die Ringvereine bestimmen das Geschehen, und einer der Größten ist da Bruno Kinsky, smart, gutaussehend und immer zur Stelle, wenn es um große Geschäfte geht. Dabei hat er ein Händchen für große Shows, betreibt ein beliebtes Varieté und angesagte Szenelokale. ´Sein bester Freund ist Ernst Gennat, Chef der Berliner Kriminalpolizei, dem er so manchen Tipp gibt. Und als Vorsitzender eines Ringvereins arbeitet er hervorragend mit allen anderen Kiezgrößen zusammen, besonders mit Muskel-Adolf, der unbestrittenen Nummer 1 der Berliner Unterwelt. Hier erzählt er selbst seine Erlebnisse in der aufstrebenden Großstadt Berlin...
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Seitenzahl: 398
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Thomas Ostwald
Berlin: Die Goldenen Zwanziger
Sammelband 1
Kriminalpolizeirat Ernst Gennat und Bruno Kinsky
vor dem Lokal Sing-Sing, Berlin, Chausseestraße 11
Thomas Ostwald
Berlin: Die Goldenen Zwanziger
Sammelband enthält die Einzelbände
Tödlicher Streit um Morgana
Tödliche Falle für den Verräter
Tödliche Varieté-Revue
Kriminalromane aus dem Berlin der
Weimarer Republik
Edition Corsar D. u. Th. Ostwald
Braunschweig
Impressum
Texte: © 2024 Copyright by Thomas Ostwald
Umschlag:© 2024 Copyright by Thomas Ostwald
Verantwortlich
für den Inhalt:Thomas Ostwald
Am Uhlenbusch 17
38108 Braunschweig
www.tatort-braunschweig.de
Tödlicher Streit um Morgana
1.
Als ich die Augen aufschlug, wusste ich sofort, dass etwas nicht stimmte.
Starke Kopfschmerzen hatten mich aus wirren Albträumen gerissen, und ich erkannte im fahlen Morgenlicht eine fremde Umgebung.
Ich drehte mich auf die Seite, weil selbst das schwache Licht in meinen überreizten Augen brannte, und stieß gegen einen Körper.
‚Du hast sie tatsächlich abgeschleppt!‘, war mein nächster Gedanke. ‚Aber ist das wirklich Morgana, die schöne Sängerin aus dem Kakadu?‘
Vorsichtig hob ich den Kopf, um sie besser zu betrachten – und sank mit einem Stöhnen zurück auf das zerdrückte Kopfkissen. Der Anblick war wirklich kaum zu ertragen. Die blonde Frau, die neben mir im Bett lag, hatte ein deformiertes Gesicht. Eine großkalibrige Kugel hatte ihr buchstäblich eine Hälfte weggerissen, und das dunkle, getrocknete Blut bedeckte die große Wunde, hatte ihre Haare auf der einen Seite verfärbt und sich auf dem Bettbezug ausgebreitet.
Der nackte Arm, den ich berührte, war kalt und steif.
Ich lag mit einer Toten im Bett!
Mit einem Satz war ich auf den Beinen, musste mich aber sofort abstützen, weil ein erneuter Schmerz durch meinen Kopf raste. Dann zwang ich mich, ruhig durchzuatmen. Endlich fasste ich einen klaren Gedanken. Das war nicht die berühmt-berüchtigte Sängerin, die in Berlin mit ihren Eskapaden sogar Anita Berger übertraf. Aber sie sah ihr sehr ähnlich.
Das zur Hälfte zerstörte Gesicht wirkte eigenartig auf mich. Es war seltsam wächsern, die Haut ohne jede Schminke, nur die Lippen von tiefem Dunkelrot. Makaber im Kontrast zu dem Blut und der fürchterlichen, entstellenden Wunde.
Als ich mich zwang, sie noch einmal zu berühren, war jeder Zweifel verschwunden.
Ich versuchte, das intakte Augenlid hochzuziehen, was nicht möglich war. Man hatte mich hereingelegt. Die Frau sah zwar Morgana unglaublich ähnlich, aber sie war bereits tot, als man mich neben sie legte. Mindestens seit ein paar Stunden, wie die Totenstarre bewies. Wie das geschehen war, konnte ich mir im Moment nicht so recht vorstellen, aber das spielte jetzt auch keine Rolle.
Vor mir lagen Jacke und Hose auf dem Fußboden. Rasch fuhr ich in die Hosenbeine und suchte nach meinem Hemd, als es plötzlich kräftig an die Tür klopfte.
Ich erstarrte in der Bewegung, wurde dann aber umso schneller, als eine laute Männerstimme rief: „Sofort aufmachen, Polizei!“
Das Jackett in der Hand lief ich um das Bett und zuckte zusammen, als ich meinen Revolver neben der Toten entdeckte. Aber jetzt wurde heftig mit Fäusten gegen die Tür geschlagen, und ich hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Das Jackett übergeworfen, den Revolver in die Tasche gesteckt, öffnete ich die Balkontüre und trat hinaus. Ein Blick nach unten und ein zweiter zum Nachbarbalkon zeigten mir die Fluchtmöglichkeiten auf. Hier konnte ich nur nach unten zum Balkon im ersten Stock. Noch zögerte ich, halbnackt und barfuß über das Balkongitter zu turnen, aber die Geräusche von splitterndem Holz hinter mir beschleunigten meine Flucht. Ich hielt mich an den Eisenstäben fest und tastete mit den Füßen nach einem Halt, erreichte das Balkongitter unter mir, hielt mich nur noch mit einer Hand am oberen fest und riskierte schließlich den Sprung. Es ging einigermaßen gut, wenn auch der Aufprall unangenehm war. Ein Blick in das Hotelzimmer genügte. Es war zum Glück nicht belegt, und ich stieß mit dem Griff meines Revolvers die Glasscheibe ein, griff hindurch, entriegelte die Balkontür und probierte gleich darauf die Zimmertür. Erleichtert stieß ich die Luft aus, als ich auf den Flur trat. Wäre sie verschlossen gewesen, hätte mich vermutlich das Aufbrechen meinen Verfolgern verraten. So aber war ich gleich darauf an der Treppe, eilte hinunter und mied dabei die untere Etage. Eine Steintreppe führte weiter in den Keller, und gleich darauf stand ich an einer Tür zum Hof, deren Schlüssel steckte.
Mit einem Schwall kühler Luft wurde ich im Freien begrüßt und musste einen Moment wieder abwarten, bis meine heftig aufflammenden Kopfschmerzen etwas nachließen.
Ein Blick in beide Richtungen der kleinen Nebenstraße genügte. Hier war kein Mensch zu sehen, und ich eilte hinüber zu meinem Automobil, stieg ein, drehte den Anlasser und fuhr davon, als gerade die ersten Verfolger aus der Hoteltür auf die Straße traten. Mein Innenspiegel zeigte mir deutlich drei Männer in Straßenanzügen. Ob das wirklich Polizisten waren, konnte ich natürlich nicht sagen. Aber es hätten ebenso gut auch Männer von Muskel-Adolf sein können, dem ich wohl mit Morgana am vergangenen Abend auf die Füße getreten hatte. Nach Hause wollte ich in keinem Fall, denn dort würde man mich mit Sicherheit zuerst vermuten. Also blieb mir neben dem Vereinsheim Apachenblut nur noch der Männer-Gesangsverein Norden 1891 übrig. Ich lenkte meine Mercedes-Limousine schon in Richtung Schlesischer Bahnhof, parkte aber in einer kleinen Nebenstraße und lief das letzte Stück zu Fuß. Man weiß ja nie, und nachher kam durch einen dummen Zufall jemand darauf, dass ich sicher in der Nähe meines Fahrzeugs aufzufinden sei. Und mein braver 8/38 war durchaus in Berlin bekannt.
Im Norden gab es, ähnlich wie auch in den anderen Vereinsheimen, eine Duschgelegenheit. Schließlich waren es ja alles Sport- und Geselligkeitsvereine, in denen sich sammelte, was nach der Entlassung aus dem Gefängnis oder Zuchthaus einen Neuanfang plante. In einem eigenen Spind hatte ich zudem immer saubere Sachen, und als ich durch den Hintereingang eintrat, rief ich laut: „Jemand zuhause? Ich bin’s, Bruno!“ - Keine Antwort.
Dabei war ich mir sicher, dass zumindest unser Hausmeister Alfred anwesend sein musste. Auf dem Flur zu den Duschen und den Spinden brannte eine einsame Glühbirne, die mit ihrer Fassung von der Decke herunterhing. Vor längerer Zeit hatte jemand die Glaskugel im Übermut zerstört, als er sich mit einem Freund ein paar Gegenstände an den Kopf warf. Ich konnte nicht verstehen, dass Alfred so nachlässig war, dass noch immer keine neue Abdeckung montiert wurde. Ein kurzes Anklopfen, dann ein Blick in Alfreds Zimmer, und es war klar, dass er bereits früh auf den Beinen sein musste.
Sein Bettenlager war zerwühlt, es roch in dem kleinen Raum unangenehm nach Schweiß und Urin. Rasch zog ich die Tür wieder zu, ging in den Duschraum und nahm aus dem Regal ein halbwegs frisch wirkendes Handtuch. Dann genoss ich den heißen, scharfen Strahl auf meinem Körper, der meine Lebensgeister anregte und meine Gedanken kreisen ließ.
‚Ich soll also diese Schönheit aus Muskel-Adolfs Schuppen tatsächlich abgeschleppt haben und mit ihr in eine Absteige gegangen sein. Danach Filmriss. Wieso hat mich der Knall der Waffe nicht aus dem Alkoholdunst gerissen? Nein, Irrtum ausgeschlossen. Die Schönheit war schon tot, als man mich dazu legte. Dafür sprach schon die absolute Leichenstarre, als ich versuchte, ein Augenlid aufzuziehen.‘
Ich kam zu keinem besseren Ergebnis, drehte schließlich das Wasser ab, trocknete mich und nahm aus meinem Spind frische Sachen. Dabei verzichtete ich auch nicht auf einen eleganten Binder, prüfte schließlich mein Aussehen im vom Wasserdunst beschlagenen Spiegel und war zufrieden.
Vielleicht hatte Alfred schon einen Kaffee aufgebrüht. Aber ich suchte vergeblich nach ihm und konnte auch keinen Geruch von frischem Kaffee ausmachen. Mein Weg führte mich schließlich in den ersten Stock, wo ich über ein eigenes Büro verfügte.
Schon beim Niederdrücken der Türklinke hatte ich ein seltsames Gefühl.
Irgendetwas stimmte hier nicht, und als ich eintrat, wurde mir auch klar, was ich bemerkt hatte. Der Geruch einer Zigarre lag in der Luft, und der Mann, der einen kurzen Stummel gerade in einem Aschenbecher ausdrückte, saß hinter meinem Schreibtisch in dem bequemen Stuhl.
„Hallo Bruno!“, lächelte er mich mit boshafter Miene an und lehnte sich zurück.
„Damit hast du wohl nicht gerechnet, was? Aber als ich deinen schicken Mercedes davonrollen sah, habe ich eins und eins zusammengezählt und – da bin ich!“
„Kommissar Wenzel!“, stöhnte ich nur und ärgerte mich zugleich, weil ich so vertrauensselig hier hereinspaziert war. „Sie haben also meinen Wagen bewundert und nahmen an, dass ich auf dem Weg in mein Büro war? Haben Sie frische Schrippen mitgebracht, dann mache ich uns einen Kaffee!“
Damit wollte ich mich umdrehen und das Büro verlassen, aber Wenzel hatte auch hier bereits vorgesorgt. Aus dem Nebenraum traten zwei uniformierte Polizisten ein und stellten sich mit finsterem Gesichtsausdruck hinter mich. Ohne ihre Uniformen hätte ich sie durchaus für Leibwächter eines Ringverein-Vorsitzenden halten können. Die geöffnete Tür zum Nebenraum zeigte mir die ausgestreckte, reglose Gestalt unseres Pförtners Alfred. Unter ihm hatte sich ein großer, dunkler Fleck auf dem Holzfußboden ausgebreitet.
„Das Frühstück entfällt heute, Bruno. Wir machen dafür eine kleine Spazierfahrt!“
„Nicht Ihr Ernst, Herr Kommissar!“, erwiderte ich verärgert. „Was gibt es so Wichtiges, das wir nicht hier gleich klären können? Und vor allen Dingen – was haben Sie mit Alfred gemacht?“
„Alfred? Wer soll das sein?“
„Der tote Pförtner, der nebenan liegt, wo diese beiden Schläger gerade noch lauerten.“
Der Kommissar lachte auf eine unangenehme Weise.
„Na, du bist gut, Bruno! Der Kerl lag dort bereits und war mausetot, als wir hier eintrafen! Aber um den Mann geht es gar nicht, er kommt höchstens noch auf dein Konto mit dazu. Es geht um die tote Morgana, wie sie sich nannte – oder meinetwegen auch um Fräulein Elisabeth Roth, Nachtclubsängerin und Edelhure! Schon vergessen, mit wem du die Nacht verbracht hast?“
Ich straffte meine Schultern, zupfte die Manschetten zurecht und antwortete in ruhigem Tonfall: „Also, Herr Kommissar, weder damit noch mit dem Tod von Alfred habe ich etwas zu tun. Im Übrigen möchte ich Sie bitten, mich nicht so vertraulich anzusprechen. Ich bin nicht Ihr alter Saufkumpan und möchte von Ihnen nur mit Herr Kinsky angesprochen werden.“
„Pass mal auf, du kleines, mieses Arschloch!“, fuhr Wenzel auf und streckte mir drohend den Zeigefinger der rechten Hand entgegen. „Ich habe dich längst durchschaut, mit mir machst du diese Spielchen nicht! Du bist wegen Mordes an dieser singenden Nutte festgenommen. Und sicher auch verantwortlich für den Toten im Nebenzimmer. Abführen, Leute!“
Seine Stimme wurde immer lauter und mit Bedauern bemerkte ich den Spuckeregen, der auf meine schön polierte Eichen-Schreibtischplatte tropfte.
„Mein Revolver befindet sich im Halfter unter der linken Achsel!“, sagte ich freundlich zu dem links stehenden Schutzmann. Hastig griff der zu und hatte die Waffe herausgezogen, als sein Kollege noch an seiner Pistolentasche fingerte.
„Passt doch auf, der Kerl ist unter Mordverdacht! Der zögert bestimmt nicht, zu schießen, während ihr noch mit dem Lederfutteral kämpft!“, bemerkte Wenzel trocken. „Und natürlich Handschellen, wenn Ihr meinem Rat folgen wollt!“
Gleich darauf wurden mir die Arme nach hinten gebogen, kaltes Metall schloss sich darum, und einer der Beamten stieß mich freundlich an, damit ich zur Tür ging.
„Das ist ein Fehler, Kommissar Wenzel!“, sagte ich. „Wenn Sie sich auf mich konzentrieren, hat der wahre Mörder schon gewonnen und Zeit genug, sein Alibi abzusichern!“
„Diesmal nutzen dir deine Tricks nichts, Bruno!“, erwiderte der Kommissar und grinste mich auf geradezu unverschämte Art an. „Wir haben Zeugen, die dich mit der Hure abschwirren sahen. Und ich habe selbst dein Auto erkannt, als du vor uns getürmt bist. Keine Sorge, aus der Geschichte kommst du nicht wieder heraus, Bruno Kinsky!“
„Lächerlich! Man hat mich hereingelegt, das ist doch wohl sonnenklar! Woher wussten Sie überhaupt von dem Mord in der Absteige?“, erwiderte ich, während mich die beiden Uniformierten dazu drängten, weiterzugehen.
„Dienstgeheimnis!“, erwiderte Wenzel und grinste weiter.
„Na, dann bin ich ja beruhigt, Herr Kommissar. Ich hatte schon befürchtet, dass Sie einem anonymen Anruf nachgegangen wären.“
Ein rascher Blick zum Kommissar bestätigte mir diese Vermutung.
Aber er hatte sein Gesicht sofort wieder unter Kontrolle und vermied nun während der gesamten Fahrt bis zur Diercksenstraße, wo mein Freund Ernst Gennat residierte, ein weiteres Gespräch mit mir.
Meine Kopfschmerzen meldeten sich erneut auf unangenehme Weise. Das war aber auch kein Wunder, denn Wenzel hatte ein geradezu widerlich riechendes Parfum verwendet. Ich erinnerte mich nicht, wo ich diesen Geruch schon einmal in der Nase hatte, aber es war in keinem Fall eine angenehme Begegnung. Kurz vor dem Erreichen unseres Zieles fiel es mir dann wieder ein. Es roch in der Herrentoilette vom Nachtklub Allotria genauso.
Kein gutes Zeichen für Wenzel. Wer dort verkehrte, hatte ein Problem. Jedenfalls wollte er gewiss beim Verlassen des Etablissements nicht erkannt werden.
Ich stieg aus dem Polizeiauto und wurde gleich von einem Schutzmann am Unterarm gepackt und auf die Tür zugeschoben. Nun, das machte mir keine wirklichen Sorgen. Ernst Gennat, der Kriminalpolizeirat, hatte mit ungewöhnlichen Methoden die Berliner Polizei modernisiert und in der letzten Zeit beachtliche Erfolge erzielt. Nicht zuletzt auch durch unsere persönliche Freundschaft.
Aus diesem Grund sah ich nun dem folgenden Gespräch mit großer Gelassenheit entgegen. Ich wusste, was ich von Wenzel zu halten hatte, während er mich als einen der typischen Berliner Ganoven einstufte, der in einem der neuen Ringvereine seine Bandenmitglieder anwarb. Das war sein Fehler, dazu kam eine geradezu krankhafte Eitelkeit.
Adolf Friedrich Wenzel würde auf seiner Karriereleiter nie weiterkommen. Deshalb suchte er verzweifelt nach einer Möglichkeit, sich vor seinem Vorgesetzten zu profilieren. Bislang hatte er jedoch eher das Gegenteil erreicht.
2.
Das Gesicht, das Wenzel zog, als ihm der Kriminalpolizeirat nach kurzem Gespräch mitteilte, dass er gehen könne, war einfach unbeschreiblich köstlich. Zuerst warf er einen verwunderten Blick auf das runde, geradezu gemütlich wirkende Gesicht seines oberen Vorgesetzten. Dann taxierte er mich rasch, und da ich mich ernst und nachdenklich gab, zuckte der Kommissar die Schultern, schob seinen Stuhl laut scharrend zurück und nickte den beiden Uniformierten zu, die uns bis in das Allerheiligste in der Diercksenstraße begleitet hatten.
„Wenzel!“, schnaubte der Kriminaloberrat, als sich die Tür hinter den drei Beamten geschlossen hatte. Als nächstes erteilte er telefonisch seine Anweisungen, und ich wusste, dass jetzt das Mordauto zum Einsatz kam, ein von Mercedes-Benz umgebautes Fahrzeug, in dem sich neben einer Kamera ein kleines Büro und ein Labor befanden. Die Spurensicherung profitierte von dieser Anschaffung erheblich, und die umgebaute Benz-Limousine 16/50 PS erhielt ständig neueste Dinge, die schon die Arbeit vor Ort ungeheuer erleichterte. Außerdem wurde auf der Beifahrerseite eine Verstärkung für den Kriminaloberrat angebracht, denn sein Gewicht von mehr als einhundert Kilo machte das erforderlich.
Ernst Gennat tat auch alles, um seinen Körperumfang zu erhalten. Jetzt griff er in seine Schreibtischschublade, nahm eine Alumi-niumbox heraus, schob sie zu mir herüber und bemerkte: „Bedien‘ dich Bruno, die besten Hackepeter-Schrippen Berlins! Kaffee steht dort drüben, kannst mir gleich nachschenken!“
Ich erhob mich lächelnd und folgte seinem Wunsch.
Die Handschellen hatte man mir schon beim Eintreten abnehmen müssen, und ich wusste, dass es beim Vollen Ernst, wie man Gennat überall nannte, um diese Zeit mit Sicherheit etwas zu essen geben würde. Und ich ließ mich nicht lange bitten, biss herzhaft in das Brötchen, während Gennat eine zweite Box hervorholte und in ein Käsebrötchen biss.
„Du willst mir sicher deine Variante erzählen!“, bemerkte er schließlich mit vollem Mund, griff zur Kaffeetasse und spülte den Bissen herunter. Dann faltete er seine Hände und legte sie behaglich auf seinen wohlgerundeten Bauch, lehnte sich in seinem Sessel zurück und wartete, was ich zu erzählen hatte. Das war nicht sonderlich viel, denn ich erinnerte mich jetzt lediglich an den Umstand, dass ich mit Alfons Zwillinger, dem Chef des Ringvereins Alle Neune in verschiedenen Lokalen war, bevor wir schließlich im Kakadu landeten, der berühmten Nachtbar Ecke Kurfürstendamm und Joachimsthaler. Hier trafen sich alle, die als Prominente galten, und natürlich Berlins Halb- und Unterwelt. Ich hatte schon vor Jahren Trude Hesterberg hier bei ihren Auftritten erlebt, später dann Anita Berger, die aber inzwischen Hausverbot hatte. Niemand störte sich wirklich an Bergers Nackttänzen. Aber als sie, vollgepumpt mit Kokain, nackt von der Bühne fiel und einem bekannten Politiker, der ihr auf die Beine helfen wollte, den Anzug vollkotzte, war es vorbei. Georg Tichauer, der Inhaber, erteilte ihr lebenslanges Hausverbot.
Je mehr ich Ernst erzählte, desto mehr Details fielen mir wieder ein. Zwillinger und ich wollten die Neueröffnung feiern, denn der Kakadu war gerade erst wieder einmal umgebaut, erweitert und noch eleganter geworden als in den Jahren zuvor. Hier trat nun die Burlesk-Tänzerin Elisabeth Roth auf, die sich Morgana nannte. Wenn man den Gerüchten glauben sollte, war sie noch besser im Bett als die Berger. Aber anders als die oft Todesgöttin genannte mochte sie nur Männer. Jedenfalls, wenn man den Gerüchten glaubte.
Ich hatte an diesem Abend mit ihr gesprochen, kein Zweifel.
Und sie hatte mir eines ihrer Lieder gewidmet.
„Lucky Lindy“ sang sie, einen absoluten Schlager, der aus Amerika zu uns gekommen war und an den Atlantik-Flug von Charles Lindbergh erinnerte, nach dem ersten Lied für den tollkühnen Flieger ‚Lindbergh – the Eagle of the USA‘. Eigentlich von einer Männerstimme gesungen – der Amerikaner Vernon Dalhart war der Interpret – hatte Morgana die rauchige Stimme wie die Dietrich und traf den Ton hervorragend. Dass sie schließlich den Refrain ‚Lucky Lindy‘ in ‚Lucky Bruno‘ änderte, schmeichelte mir sehr. Wir tranken nach ihrem Auftritt gemeinsam in ihrer Garderobe ein Glas Champagner.
Und damit endete meine Erinnerung an den Abend.
Ernst Gennat schüttelte den Kopf.
„Du wirst auch nicht schlau, Bruno. Sollten wir uns nicht schon über eine so lange Zeit kennen und ich deine Dienste überaus schätzen, wäre ich überzeugt, einem Dummkopf gegenüber zu sitzen.“
Ich schluckte, antwortete aber nicht.
Der Kriminaloberrat schnaubte kräftig durch die Nase, dann griff er zu einer bunt bemalten Dose auf seinem gewaltigen Schreibtisch. Gleich darauf schob er sich ein dickes rotes Himbeerbonbon in den Mund, was ich mit Erstaunen beob-achtete. Gennat schien meine Gegenwart völlig vergessen zu haben, denn er bot mir nichts aus der Dose an, starrte in eine Zimmerecke und schien zu überlegen.
Als dann plötzlich seine fleischige Hand auf die Tischplatte knallte, zuckte ich zusammen.
„Also Bruno, ich nehme an, dass ich dir nicht sagen muss, was als nächstes erforderlich ist. Inzwischen werde ich mich um die Tote kümmern, die angeblich das Fräulein Roth sein soll. Und natürlich auch um den toten Pförtner, der vermutlich ein bedauerliches Opfer wurde, als man in dein Vereinsheim wollte. Ich hoffe nur, dass nicht Wenzel da eine Dummheit gemacht hat!“
„Klar, Ernst, ich suche Alfons Leib auf und dann Tichauer. Sobald ich etwas in Erfahrung gebracht habe, melde ich mich bei dir.“
Damit stand ich auf und wollte zur Tür, als Gennat brummte:
„Hast du Krieg mit Muskel-Adolf?“
Verwundert drehte ich mich um.
„Wie kommst du denn da drauf?“
Ernst Gennat grinste. „Man erzählt doch, dass diese Roth oder meinetwegen Morgana seine Verlobte sei. Da wirst du dich wohl in die Nesseln gesetzt haben!“
Jetzt musste ich lachen.
„Aber Ernst! Ein Champagnergläschen in Ehren kann niemand verwehren!“
Damit war ich draußen und nahm mir vor dem Polizeigebäude eine Taxe, um zu meinem Auto zu gelangen.
So ganz Unrecht mochte Gennat mit seiner Vermutung nicht haben.
Aber diese Nummer mit einer Toten im Hotelzimmer passte nicht zu ihm. Ich ahnte, dass es nicht einfach sein würde, Licht in diese Sache zu bringen.
3.
Als ich an der Wohnungstür von Alfons Schillinger klingelte, öffnete sich fast gleichzeitig eine seitliche Tür, die zu einer anderen Wohnung führte. Aber der Mann, der heraustrat und mir seinen großkalibrigen, amerikanischen Colt vor die Nase hielt, ließ keinen Zweifel an der Tatsache, dass er zu Schillinger gehörte.
Ich hob die Hände, der Leibwächter griff in mein Schulterhalfter und nahm mir den Revolver ab, den ich natürlich von Ernst Gennat zurückerhalten hatte.
„Enno, mach mal halblang!“, knurrte ich böse, als der Bursche mir seinen Revolver in die Hüfte bohrte. „Du weißt genau, wer ich bin!“
„Genau deshalb rate ich dir, keine Sperenzchen zu machen, Bruno! Mein Zeigefinger ist heute genauso nervös wie mein Boss!“
Verwundert betrat ich den dunklen Flur, der durch eine Milchglasscheibe nur spärlich Tageslicht erhielt. Ich wusste, wo Alfons Zwillinger seine Besucher empfing, und steuerte direkt auf die Tür zu.
Enno, sein Leibwächter, war dicht hinter mir, als ich die Tür ohne weiteres aufstieß und gleich darauf in einem Salon stand, der mich immer an eines der großen Berliner Bordelle erinnerte. Alles war hier Samt und Seide, dunkelrote, schwere Vorhänge an den Fenstern, weiche, dicke Teppiche, die den Trittschall dämmten. Goldene Kronleuchter von den hohen, stuckverzierten Decken mit nur wenigen Glühbirnen, dann die Sofagarnitur und die schweren Sessel, alle in Farben gehalten, die mich schwermütig gemacht hätten, müsste ich hier jeden Tag sitzen. „Du hast vielleicht Nerven, Bruno!“, empfing mich Alfons, der in einen orientalischen Morgenmantel gekleidet auf dem Sofa saß und eine dunkelhaarige Schönheit auf dem Schoß hielt.
„Freut mich, dich zu sehen, Alfons. Du hast offensichtlich gestern Nacht keinen Champagner getrunken!“, erwiderte ich und ließ mich gegenüber von dem Paar in einen Sessel fallen. „Lass uns mal kurz allein, Süße!“
Die Frau, deren Gesicht bereits deutlich verlebte Züge aufwies, sah Alfons verwundert an, und als der sagte: „Du hast ihn gehört!“, erhob sie sich und ging mit schwankenden Schritten durch eine andere Tür in den Nebenraum. Dabei kam sie dicht an mir vorüber und warf mir einen Blick zu, der mich beeindrucken sollte. Ich lächelte nur freundlich.
„Champagner? Du weißt doch genau, dass ich dieses Rülpswasser nicht vertrage, Bruno!“
„Ich seit letzter Nacht auch nicht, Alfons. Mit wem bin ich losgezogen?“
Zwillinger verzog sein glattrasiertes Gesicht zu einem spöttischen Grinsen.
„Soll das heißen, du kannst dich an die heißeste Nacht deines Lebens nicht erinnern, Bruno?“, erkundigte er sich mit beißendem Tonfall.
„Genau das, Alfons. Wie kommst du überhaupt darauf, dass ich die heißeste Nacht meines Lebens erlebt habe?“
Alfons erhob sich, ging zu einem Barfach am der Wand und entnahm ihm eine Flasche und zwei Gläser. Zwei Finger breit goss er die grüne Flüssigkeit ein, kehrte zum Sofa zurück und stellte eines der mit Absinth gefüllten Gläser vor mir ab.
„Hast du etwa nicht?“, erwiderte Alfons noch immer grinsend.
„Leider nicht.“
Wir hoben die Gläser und tranken uns zu.
Der Absinth war von ausgezeichneter Qualität und nicht vergleichbar mit dem Zeug, das in zahlreichen Berliner Kneipen ausgeschenkt wurde. Wer da nicht einen Blick auf die Flasche verlangte, riskierte, blind zu werden.
Wir tranken beide unverdünnt, und ich muss sagen, dass ich die Mischung aus Wermut und Kräutern durchaus mochte.
„Beziehe ich direkt aus der Schweiz, aus dem Tal, in dem das Zeug erfunden wurde. Val de Travers, wenn das dir etwas sagt.“
„Tut es durchaus. Sagt dir der Name Elisabeth Roth etwas?“ - Alfons stellte das geleerte Glas hart auf dem Tisch ab.
„Was soll diese Frage? Bin ich blöd oder kenne ich die Morgana mindestens ebenso lange wie du?“
Ich musste lächeln, denn diese Empörung war nicht gespielt. So gut kannte ich Alfons Zwillinger bereits. Er hatte Morgana einst Muskel-Adolf vorgestellt und ärgerte sich später darüber, dass Adolf Leib schon nach knapp zwei Wochen behauptete, dass sie seine Verlobte sei.
„Versteh‘ mich bitte nicht falsch, Alfons. Aber die Frau, mit der ich gestern den Kakadu verlassen habe, war nicht Morgana.“
Ich leerte ebenfalls mein Glas und kostete den Absinthgeschmack im Mund noch etwas aus, indem ich nur langsam schluckte.
„Du faselst Stuss, Bruno. Wenn ich nicht Morgana kenne, dann ist es niemand. Du bist aus ihrer Garderobe gekommen, Arm in Arm mit ihr, und ihr habt noch einen Schluck gemeinsam an der Bar genommen.“ - „Ach ja? Und weiter?“, erkundigte ich mich interessiert, denn an dieses Detail konnte ich mich nicht erinnern. - „Wenn ich es doch sage, Bruno!“
„Jetzt mal genau und Butter bei die Fische, Alfons. Erinnere dich bitte genau, was dann passierte. Sind wir gemeinsam auf die Straße gegangen?“
„Nein. Morgana wollte sich noch einmal die Nase pudern, wie die Mädchen immer sagen, wenn sie pinkeln gehen. Und du bist raus, um eine Taxe zu bestellen.“
„Aha, und weiter?“
„Weiter? Wieso weiter? Ich habe euch beide danach nicht mehr gesehen, das kannst du mir glauben!“
„Moment – du hast nicht gesehen, dass Morgana von den Toiletten zurückkam, das Lokal verließ und in die Taxe stieg?“
„Willst du mich irre machen? Ich hatte schließlich anderes zu tun, als für Morgana den Anstands-Wauwau zu geben.“ - „Danke, Alfons, das hilft mir weiter!“, sagte ich und erhob mich. „Und sag bitte dem einfältigen Enno, dass er einen Freund des Hauses nicht wie einen Fremden behandeln soll!“
Alfons grinste schief und hob die Hand, um seinem Leibwächter, der an der Tür stand und sich keine Bewegung von mir entgehen ließ, ein Zeichen zu geben.
Wenig später war ich wieder unterwegs.
Diesmal war der Kakadu mein Ziel.
4.
Nervös fuhr sich Georg Tichauer mit der Zunge über die Oberlippe.
„Aber… aber, Herr Kinsky, ich verstehe gar nicht… Sie sind doch in Begleitung mit dem Fräulein aus dem Lokal gegangen?“
Ich hatte eine von seinen Zigarren aus dem Behälter genommen, die Spitze abgekniffen und nun qualmte ich dicke Wolken im Büro des Barbesitzers. Warum war der Mann so nervös? Er hatte doch eigentlich nichts mit der Sache zu tun – oder doch? Jedenfalls hatte er spontan auf meine Frage, mit wem ich den Kakadu verlassen hatte, erstaunt gesagt, dass es doch die bekannte Sängerin aus seinem Betrieb gewesen sei.
Als ich den Kopf schüttelte und ihn mit meiner nächsten Frage in Bedrängnis brachte, stieg seine Nervosität sichtlich an.
„Noch einmal, Herr Tichauer. Bevor Sie antworten, überlegen Sie gut. Wo waren Sie genau, als ich die Bar verließ?“ Mein Blick bohrte sich förmlich in seine Augen, und nun brach dem Mann der Schweiß aus. Wieder fuhr seine Zunge über die Oberlippe, während ein Schweißtropfen von der Stirn auf seine Hand fiel, die er gleich darauf verwundert anstarrte.
„Also, ich war…“, begann Tichauer mit heiserer Stimme, hielt inne, um sich kräftig zu räuspern und schien zu überlegen. Dann, erleichtert, sprach er hastig weiter. „Wie immer an den Abenden sitze ich in meinem gläsernen Büro in der Nähe der Bar. Von hier aus kann ich den ganzen Betrieb übersehen und weiß daher auch, wer den Kakadu betritt.“
Weitere Schweißtropfen folgten dem ersten, liefen an seiner Nase herunter und wurden mit einer ärgerlichen Handbewegung fortgewischt. Es war, als hätte Georg Tichauer seine Fassung wiedergewonnen. Jedenfalls wich er meinem Blick nicht mehr aus, als ich mich leicht vorbeugte und eine dicke Qualmwolke in seine Richtung ausstieß.
„Ihren Glaskäfig kenne ich ja nun genau. Aber von dort aus können Sie ja nicht den ganzen großen Bau nach dem letzten Umbau überblicken. Zum Beispiel können Sie von dort aus nicht sehen, wenn jemand aus einer der Knutschecken kommt und zu den Toiletten geht.“
„Das muss ich ja auch gar nicht!“, erwiderte der Barbesitzer leicht gereizt.
„Gut, lassen Sie uns doch einmal zu Ihrem Aquarium gehen!“, sagte ich gleichgültig. Man hatte schnell diese Bezeichnung bei den Stammgästen aufgenommen, als man den auffälligen Glaskasten, der zugleich auch als sicheres Kassendepot galt, nach dem Umbau erblickte. Ich achtete nicht auf Tichauer, als ich zur Tür ging. Ich war mir sicher, dass er sofort folgen würde, um etwaige Irrtümer meinerseits gleich aus dem Weg zu räumen. Es war unverkennbar, dass er ein schlechtes Gewissen hatte. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich schwören können, dass Tichauer mehr wusste, als er mir erzählte.
Wir betraten den riesigen Saal, der jetzt mehrere ehemalige Geschäftsräume miteinander verband. Die Bar wurde als längste Bar Berlins gerühmt, Überall waren Dekorationsstücke aus der Südsee aufgehängt oder standen an den Wänden, dazu gab es schwere, dicke Teppiche, plüschige, bequeme Sofas und Sessel, die Fenster waren mit dunklen Vorhängen verdeckt.
In der Mitte des Raumes gab es einen weiteren, großen Glasbau, in dem künstliche oder sogar ausgestopfte Kakadus auf Palmen hockten. Obwohl erst in einer Stunde geöffnet wurde, brannten Feuer in mehreren offenen Kaminen, und die ersten Prostituierten saßen auf den Barhockern und unterhielten sich. Immer wieder lachte eine von ihnen schrill auf, als wir zum Aquarium gingen.
„He, Bruno, so früh schon wieder nüchtern?“, rief mir eine der Huren zu, und ich winkte fröhlich hinüber.
„Du solltest mich einmal betrunken sehen!“, gab ich zur Antwort und erntete gackerndes Gelächter von drei Frauen. Sie sahen aus wie die amerikanischen Flapper, hatten alle kurze Haare, den spöttisch so genannten Bubikopf, tranken schon jetzt Weinbrand und Absinth und rauchten dazu.
„Also, wie ich schon feststellte. Von hier aus nur eingeschränkte Sicht auf die Liebesecken. Sucht jemand von hier aus die Toilettenräume auf, können Sie ihn dabei nicht sehen. Abgesehen von dem bunten Treiben, das ja nun jeden Abend im Kakadu besteht.“
Tichauer reckte vergeblich den Kopf.
Tatsächlich konnte er nur die ersten drei von den sogenannten Logen sehen, in die sich gern die Paare zurückzogen, um ungeniert hinter den Vorhängen das zu treiben, was ihnen gerade in den Sinn kam.
„Und neben den Toiletten gibt es bekanntlich einen Ausgang auf den Hof. An den Mülltonnen vorbei erreicht man anschließend die Augsburger Straße. Wollen Sie behaupten, Sie hätten mich in Begleitung von Morgana aus dem Eingang gehen sehen?“
Der Barbesitzer kratzte sich mit einer verlegenen Geste am Hinterkopf. Dann schien er einen Einfall zu haben, denn plötzlich rief er mit geradezu übertriebener Fröhlichkeit aus: „Jetzt weiß ich es wieder, Herr Kinsky! Dort drüben am vorletzten Tisch saß Martin Nagel mit einigen Herren zusammen. Der hat auf alle Fälle bemerken müssen, dass Morgana kurz vor ihrem Aufbruch noch einmal die Toilettenräume aufsuchte! Er verehrt sie ebenfalls und hat schon eine wunderbare Kritik ihrer letzten Bühnenshow geschrieben! Im Berliner Herold war er voll des Lobes!“
„Martin Nagel? Und wo finde ich den um diese Uhrzeit?“
„Entweder in der Redaktion vom Herold oder daheim, warten Sie, Herr Kinsky, ich habe seine Visitenkarte im Aquarium liegen. Für alle meine prominenten Gäste habe ich da eine Mappe angelegt – Moment, bin gleich zurück!“
Während ich die kichernde Frauengruppe an der Bar musterte, kehrte er schon freudestrahlend zurück. „Hier, ich wusste, dass ich die Karte hatte. Brunsbütteler Damm 32 in Spandau!“
Stolz präsentierte er mir die auf feinem Büttenpapier gedruckte Visitenkarte, die ich wortlos einsteckte. Das war ein Fall für Hans-Dietrich Kronenbauer, den ehemaligen Polizisten. Er betrieb ein schäbiges Büro in einem noch schäbigeren Hinterhofgebäude und nannte sich großspurig Privatdetektiv. Aber eines musste man ihm lassen: Neben seiner Vorliebe für Koks ermittelte er leidenschaftlich gern Personen und deren Umfeld. Ich war mir sicher, dass er mit diesem Martin Nagel gut umgehen würde, um mehr über ihn und dessen Leidenschaft für Morgana zu erfahren.
„Gut, und sollte Ihnen vielleicht noch etwas einfallen, was selbst für Ihren Betrieb gestern ungewöhnlich war, lassen Sie es mich wissen, Tichauer. Sie wissen, wo Sie mich erreichen können“, sagte ich zu dem Barbesitzer. Damit wollte ich mich abwenden, aber schüchtern erkundigte er sich: „Wenn ich Sie daheim nicht erreiche, darf ich dann im Ambassadeur nachfragen?“
„Und im Barberina Hardenbergstraße natürlich. Ich komme aber in jedem Falle spätestens morgen Abend wieder zu Ihnen.“
„Oh!“, antwortete Tichauer überrascht, beeilte sich aber mit einer tiefen Verbeugung. Ich musste mich rasch abwenden, damit er mein Grinsen nicht bemerkte. Ich stieg in meine Mercedes-Limousine, die ich direkt vor dem Kakadu abgestellt hatte und wollte starten, als sich ein kalter Gegenstand in meinen Nacken presste und eine verstellte Stimme befahl:
„Mach jetzt keinen Unsinn, Bruno. Wir fahren ein wenig ins Grüne hinaus. Irgendwelche Zicken von dir und ich drücke ab. Macht mir nichts aus, dich umzulegen, bevor wir uns in aller Ruhe unterhalten konnten.“
„Ist der Wagen hinter uns deiner? Dann musst du doch deine Stimme nicht verstellen, Adolf. Ich denke, wir kennen uns lang genug, um auf solche Spielchen zu verzichten, oder? Was willst du also von mir?“
„Morgana!“, lautete die knappe Antwort. Erleichtert stellte ich fest, dass der unangenehme Druck in meinem Nacken verschwand. Aber selbst, wenn ich mit meiner Vermutung richtig lag, war ich damit noch nicht aus dem Schneider. Muskel-Adolf ließ seine Muskeln nicht umsonst spielen. Wenn es um seine sogenannte Verlobte ging, konnte ich noch einiges an Ärger erwarten. - „Hör mir zu, Adolf. Ich bin gestern nicht mit Morgana aus dem Kakadu gegangen. Am frühen Morgen erwachte ich neben einer Toten in einer Absteige, und noch bevor ich mich richtig anziehen konnte, war die Polente vor der Tür und ich musste türmen!“
„Du erzählst einen Scheiß!“, schnaubte der Mann auf dem Rücksitz, und ich spürte wieder den kalten Pistolenlauf im Nacken.
„Nein, das ist die Wahrheit, Adolf. Jemand hat mich hereingelegt, und ich hatte angenommen, dass du davon wusstest. Jedenfalls ist die Tote nicht Morgana. So, wie es aussieht, hat man mir etwas in meinen Champagner getan, und als ich umkippte, wurde ich über den Hintereingang in meinen Wagen gebracht und mit dem zu der miesen Absteige, in der ich am nächsten Morgen mit Brummschädel erwachte.“ - „Ich glaube dir kein Wort, Bruno!“, schnaubte der Mann auf der Rückbank. „Fahr los, wir unterhalten uns später weiter.“ Mir blieb also für den Moment nichts anderes übrig.
Ein Griff zu meiner Waffe wäre Adolf nicht verborgen geblieben. Und ich traute ihm durchaus zu, dass er mich kaltblütig im Auto erschoss. Also startete ich den Motor und lenkte auf den Kurfürstendamm zu.
„Nächste rechts!“, kommandierte Adolf, und ich gehorchte. „Dann in Richtung Trakehner Allee, wirste ja wohl kennen, wa?“
Schweigend lenkte ich den Mercedes durch die dämmrige Stadt und wartete auf neue Anweisungen. Doch zu meiner Überraschung ging es nicht aus der Stadt heraus, sondern ich musste schließlich rechts ranfahren und aussteigen. Die Gegend war mir nicht sonderlich vertraut, aber ich konnte eine Friedhofsmauer vor mir erkennen und wusste, dass es dahinter auch einen See gab. Den Sausuhlensee. Ich musste grinsen, trotz der Situation, in der ich mich befand.
Muskel-Adolf hatte einen besonderen Humor.
Wenn er mich hier auf dem Friedhof umlegte, konnte er mich bequem in dem See verschwinden lassen. Ich hatte allerdings keine Ahnung, ob er dafür tief genug war. Immerhin hatte die ganze Anlage vor wenigen Jahren der Charlottenburger Gartendirektor Erwin Barth angelegt – daran erinnerte ich mich, weil ich einen aufschlussreichen Zeitungsartikel gelesen hatte. Mich interessierte damals allerdings weniger der Friedhof als vielmehr das hier befindliche Villenviertel.
Da gab es einige sehr schöne und lohnende Objekte.
Inzwischen waren gut vier oder fünf Jahre vergangen, und Villeneinbrüche kamen für mich nicht mehr in Frage. Schließlich hat man auch in unseren Kreisen einen Ruf zu pflegen.
Aber jetzt ging Adolf mit mir direkt über die Straße zu einer der Villen.
Ich hatte die ganze Zeit die Limousine beobachtet, die uns folgte. Jetzt stiegen zwei Burschen aus, die ich trotz der inzwischen herein-gebrochenen Dunkelheit erkannte. Hans und Franz, die siamesischen Zwillinge genannt, waren die Leibwächter von Muskel-Adolf. Sie folgten uns dicht auf den Hacken, und während der eine von ihnen aufschloss, hielt der andere einen Revolver auf mich gerichtet. Das wäre eigentlich für mich Anlass genug, mir Sorgen zu machen. Aber wenn man mich hätte ermorden wollen, wäre das wohl nicht in einer Villa geschehen, wenn man den Friedhof dafür vor der Haustüre hatte.
5.
Ich bewunderte das große Wohnzimmer, in das man mich geführt hatte.
Hans und Franz, die Zwillinge, standen links und rechts neben meinem Sessel und achteten mit Argusaugen auf jede meiner Bewegungen. Meine Waffe lag auf dem niedrigen Couchtisch, aber damit auch weit von mir entfernt. Ohne zu fragen, hatte uns beiden Adolf eine Flasche Schultheiß-Bier hingestellt und nahm bereits einen langen Zug aus seiner Flasche, während ich mich unauffällig umsah und nach einer geeigneten Fluchtmöglichkeit suchte. Doch auch hier gab es bodenlange Vorhänge, die mögliche Fenster verbargen und zudem waren die beiden Leibwächter mit ihren Waffen in den Händen so aufmerksam, dass ihnen auch nicht der geringste Fluchtansatz entgangen wäre.
Aber vorerst hieß es, abwarten.
„Du müsstest eigentlich am besten wissen, dass ich nicht in Begleitung von Morgana den Kakadu verlassen habe, Adolf!“, brach ich endlich das Schweigen, in dem nur das Gluckern seiner Bierflasche zu hören war.
„Blödsinn, und das weißt du. Den ganzen Abend bist du um meine Braut herumscharwenzelt. Mann, glaubst du, ich bin blind? Du warst scharf auf sie, und als du plötzlich verschwunden warst, habe ich natürlich nach euch gesucht. Nicht sofort natürlich, ich weiß ja, was sich gehört. Aber als weder du noch Morgana wieder auftauchten, war mir klar, dass ihr das Weite gesucht habt. Du musst es gar nicht erst leugnen, aber man hat deinen Wagen in der Brodenbacher gesehen, in Weißensee. Leugnest du?“
Ich zuckte die Schultern.
„Warum sollte ich? Ich weiß, dass dort mein Mercedes stand. Aber ich habe ihn dort nicht hingefahren. Dazu war ich in der Nacht nicht mehr in der Lage. Und wenn du die Information hast, wo mein Auto stand, wirst du auch wissen, dass mich die Polizei im Hotel Diana gesucht hat. Ich weiß nicht, wer sie auf meine Spur brachte, aber Kommissar Wenzel war hinter mir her. Leider bin ich ihm dann doch noch ins Netz gegangen.“
„Und läufst schon wieder frei herum. Wie ich hörte, gab es eine Tote im Hotel. Mehr konnte ich beim besten Willen nicht erfahren. Ich hoffe aber für dich, dass es nicht Morgana ist, die dort gefunden wurde!“ - „Ist sie nicht, das steht für mich fest, Adolf.“
Muskel-Adolf stieß einen Laut aus, der wohl seine Erleichterung zeigte. Jedenfalls war er wohl erst jetzt davon überzeugt, dass es sich tatsächlich nicht um die Sängerin bei der Toten handelte.
„Also – weshalb nun dieses ganze Theater? Wie bist du aus dem Kakadu in diese miese Absteige in Weißensee gekommen, und vor allen Dingen – wo ist meine Verlobte jetzt?“
Interessante Frage. Ich hatte keine Ahnung und wollte etwas Zeit gewinnen, indem ich den Bügelverschluss meiner Bierflasche öffnete und ebenfalls nun einen großen Schluck nahm. Das Bier war angenehm kühl und tat meiner etwas trockenen Kehle gut.
Adolf wurde ungeduldig.
„Nun, was ist? Rede endlich, oder soll ich die Zwillinge mit dir eine halbe Stunde allein lassen?“
Auch wenn mir bei dem Gedanken durchaus nicht wohl war, lächelte ich verbindlich.
„Adolf, jetzt mal in Ruhe. Bislang sind wir doch immer prächtig ausgekommen. Dein Laden Immertreu hat sein Revier, mein Norden kommt dir nicht ins Gehege.“
Ich erkannte, dass Muskel-Adolf mir aufmerksam zuhörte. Wir waren natürlich in Groß-Berlin irgendwo Konkurrenten. Doch die Ring-Vereine hatten sich spezialisiert und die lohnenswerten Reviere sowie die Geschäftsbereiche aufgeteilt. Rasch fuhr ich fort: „Ich werde durch irgendein Zeug in meinem Champagner außer Gefecht gesetzt. Jemand macht sich die Mühe, mich in mein Auto zu bringen und nach Weißensee zu karren. Dort liegt eine Tote in einem Bett, nur noch mit einem halben Gesicht. Den Rest des Kopfes hat ihr eine Revolverkugel weggerissen, die auf ein amerikanisches Kaliber deutet. Mein alter Armeerevolver war es jedenfalls nicht.“
Adolf Leib warf einen verächtlichen Blick auf den Revolver.
„Du hast nur dieses uralte Modell? Mann, damit hat ja schon Buffalo Bill die Indianer erschossen!“, sagte er dann und grinste.
„Mir genügt er vollkommen. Leichter Rechtsdrall, aber ich habe ihn seit dem Großen Krieg und bin damit vertraut.“ Nach diesen Informationen herrschte Schweigen, und ich wollte schon gerade fragen, ob es das war, als Adolf erneut begann.
„Wie weit traust du Alfons Zwillinger, mit dem du ja öfter unterwegs bist?“
Die Frage überraschte mich, denn ich hielt den Mann für integer.
„Ich vertraue ihm, Adolf. So wie dir und den anderen Jungs. Er hat nie versucht, in meine Geschäfte zu pfuschen.“
Adolf Leib schwieg und musterte mich dabei ununterbrochen.
„Dann sollten wir ihm mal gemeinsam einen Besuch abstatten. Ich habe da so eine Idee, zu der er mal seine Meinung sagen soll.“
Muskel-Adolf erhob sich.
„Eine Idee? Und wir beide wollen ihn jetzt aufsuchen?“, erkundigte ich mich ungläubig.
„Wir vier!“, nickte Leib. „Nimm deinen Revolver wieder an dich. Wir werden sehen, wer am Ende die Wahrheit gesagt hat. Denke aber immer daran, dass dich Hans und Franz im Auge behalten. Machst du Zicken, bist du fällig.“
„Keine Sorge, Adolf. Lass uns also kegeln gehen.“
Das war natürlich ein Scherz. In Zwillingers Vereinslokal gab es durchaus eine Kegelbahn. Aber keines seiner Bandenmitglieder traf sich dort zum Kegeln.
6.
„Das ist nicht euer Ernst!“, begrüßte uns Alfons Zwillinger.
Sein Türsteher hatte über einen zweiten Mann den Chef verständigen lassen. Wenn gleich zwei Vorstände der befreundeten Ringvereine vor der Tür standen, dann war etwas im Busch. Vor allem, wenn sie unangemeldet erschienen.
Dementsprechend fiel die Begrüßung durch Zwillinger aus. Dicke Stirnfalten und geballte Fäuste sprachen deutlich für seine Stimmung.
„Kommen wir ungelegen?“, wollte ich wissen und drängte mich an Alfons vorbei.
„He, mal langsam, ja? Wir haben heute kein Treffen vereinbart, und ihr kommt hier reingerauscht, als hätten wir eine Feier angekündigt!“
„Und? Hast du nicht? He, Keeper – Showtime! Für alle ein Bier auf Kosten des Hauses!“, rief Muskel-Adolf, kaum dass er den Raum betreten hatte. Hier schoben sich zahlreiche Paare zu den Klängen einer Kapelle und bei Dämmerlicht über den blanken Holzfußboden. Auf mich wirkte das eher wie ein Begattungstanz oder die Fruchtbarkeitsriten der Südsee. Aber das hätte ja bekanntlich besser in den Kakadu gepasst als in diesen Kegelschuppen.
„Bist du übergeschnappt?“, schrie Alfons, aber weiter kam er nicht.
Muskel-Adolf hatte sein Hemd mit einer Hand an der Brust gepackt, riss ihn kräftig zu sich heran und schleuderte ihn im nächsten Augenblick von sich, so dass er hart gegen die Wand taumelte.
„Nur zum Aufwärmen gedacht, Alfons!“, bemerkte Adolf, als er ihn erneut zu sich heranzog und ihm einen Leberhaken verpasste. Der Mann knickte zusammen, und Adolf riss ihn am Hemdkragen wieder hoch. In diesem Augenblick kam ein breitschultriger Bursche hinter dem Tresen hervor und lief auf uns zu. Ich sah, was er in der Hand hielt, zog meinen alten, aber durchaus brauchbaren Revolver aus dem Halfter und spannte den Hahn. Mit ausgestrecktem Arm hielt ich ihn dem Leibwächter entgegen. „Lass es sein, Freundchen. Deinem Chef passiert nichts, wir wollen ihn nur ein wenig aufmuntern. Den Totschläger auf der flachen Hand halten und herüberreichen. Rasch, wir haben wenig Zeit. Wenn du nicht spurst, schieß ich dir in die Kniescheibe, verstanden?“
Der Mann hatte ein kantiges Gesicht und sah wirklich so aus, als wolle er sich im nächsten Augenblick auf uns stürzen. Aber das war nur ein Augenblick, dann reichte er mir den Totschläger auf der flachen Hand. Als ich ihn nahm und einsteckte, drehte er sich wortlos um und ging langsam zum Tresen zurück. Inzwischen war es still geworden in dem Saal. Die Kapelle hatte aufgehört zu spielen, und gut einhundert Augenpaare waren auf uns gerichtet. Aber niemand bewegte sich von seinem Platz.
„Hör mir gut zu, Arschloch!“, raunte Muskel-Adolf dem jetzt nach Luft schnappenden Zwillinger ins Ohr. „Wir wollen wissen, was da im Kakadu abgelaufen ist. Und versuche nicht, zu bluffen. Du bist mit Bruno dort gewesen und hast so getan, als wäret ihr die besten Freunde.“
„Das sind wir aber auch!“, keuchte Alfons, und Adolf stupste ihn nur leicht mit der Faust an den Oberarm. „Hör auf damit!“, stieß Alfons aus, obwohl das kein Schlag, sondern nur ein kleiner, aufmunternder Stupser war.
„Dann erzähle jetzt, wer ihm das Zeug in den Champagner gekippt hat!“
„Weiß ich nicht! Wirklich nicht! Als Bruno mit der Morgana in der Garderobe verschwand, folgte ihnen gleich ein Kellner mit einem Eiskübel und einer geöffneten Flasche. Das habe ich gesehen, mehr weiß ich nicht!“
„So, und mit wem habe ich das Haus verlassen?“, erkundigte ich mich.
„Na – mit Morgana, mit wem denn sonst? Du warst aber schon ganz schön angeschlagen, Bruno, und die scharfe Braut hakte dich unter, als ihr nach hinten gegangen seid!“, erzählte jetzt Alfons mit stockender Stimme. - „So, interessant. Und du hast nicht zufällig gesehen, wer die Flasche geöffnet hat und dabei vielleicht etwas hineingeworfen hat?“
„Ich schwöre dir, Bruno – nein, habe ich nicht. Allerdings…“
„Allerdings was? Komm, rede, oder ich werde auch sauer!“, erwiderte ich und zog ein wütendes Gesicht, als wollte ich gleich Muskel-Adolf noch bei seinem Tun unterstützen.
„Allerdings saß direkt neben dem Kellner, der den Eiskübel befüllte, Neunfinger.“
„Neunfinger? Den habe ich den ganzen Abend nicht gesehen!“, antwortete ich verblüfft.
„Er kam auch ziemlich spät, steuerte gleich den Barhocker an und unterhielt sich dann mit seinen beiden Nachbarn. Zwei ganz üble Burschen, kann ich dir sagen!“
„Üble Burschen? Na, Alfons, wenn du das sagst, trifft es wohl zu. Sieh mal einer an, mein alter Freund Neunfinger. Ich wusste überhaupt nicht, dass er wieder draußen ist! Hast du ihn schon mal vorher gesehen?“
„Nein. Wie ich hörte, war er wohl erst am Vortag aus dem Knast entlassen worden!“
Jetzt wurde mir einiges klar, denn ich hatte dafür gesorgt, dass Neunfinger hinter schwedische Gardinen kam. Ich konnte den Kerl nicht leiden, denn er hatte sich mehrfach damit hervorgetan, seine Mädchen zu verprügeln. Außerdem waren da noch ein paar andere Dinge geschehen, für die man ihn verantwortlich machte – allerdings, ohne ihm etwas nachweisen zu können. Für mich war es klar. Neunfinger steckte dick im Handel mit Kokain, denn die Prostituierten in seinem Bezirk genügten ihm nicht mehr. Und auch auf diesem Gebiet ging er buchstäblich über Leichen.
Schön, dann hatte dieser Besuch bei unserem Kegelfreund doch etwas Gutes gehabt.
„Na, dann danken wir auch schön für das Gespräch und nüscht für Ungut!“, sagte ich laut und nickte Muskel-Adolf zu. „Lass ihn ruhig, Adolf. Alfons ist doch ein guter Freund, sonst hätte er uns nichts von Neunfinger erzählt. Ich denke, wir haben heute noch einiges zu erledigen. Also, Alfons – nochmals, nüscht für Ungut, war nicht persönlich gemeint. Gelegentlich bist du bei mir im Norden 1891 herzlich auf ein Bier eingeladen. Oder jedes andere Getränk, das du bevorzugst. Mach es gut, alter Junge!“
Ich tätschelte ihm den Kopf, und Muskel-Adolf gab ihm mit einem breiten Lächeln einen Klapps in den Nacken. Dann waren wir draußen und liefen zum Auto hinüber, denn uns beiden war es klar, dass Alfons diese Schmach nicht ohne weiteres schlucken würde.
Als die Limousine startete, kamen sie tatsächlich aus der Seitengasse gelaufen.
Jeder hatte einen Knüppel in der Hand, aber zum Glück keine Schusswaffe.
Ich trat das Gaspedal bis auf den Boden durch, der Mercedes fuhr mit durchdrehenden, quietschenden Reifen los und schleuderte leicht hin und her, als ich den heranstürmenden Kerlen auswich, die uns ans Leder wollten. Nun – man sollte seine Jungs besser im Griff haben.
Die Kegelfreunde waren in diesem Moment etwas zu langsam.
Das hatte sich für uns ausgezahlt.
7.
Zu meinem Glück hatte Muskel-Adolf wieder Vertrauen zu mir gefasst und schien mir auch die Geschichte mit der Toten im Hotel Diana abgenommen zu haben. Wir wollten getrennt weitermachen. Adolf holte sich seine Zwillinge, um intensiv nach Morgana zu forschen. Ein kurzes Telefongespräch mit dem Schnüffler Kronenbauer genügte, um ihn auf den Pressefritzen Nagel anzusetzen. Ich hatte außerdem meine beiden zuverlässigsten Männer in Erich Fischbach und Karl-Heinz Lieberknecht, die ich jetzt aus dem Norden abholte. Karl-Heinz hatte seit langer Zeit den Spitznamen Pistolen-Kalle, denn er handhabte seine italienische Beretta 418 schnell und effizient wie kein anderer. Und Erich war auch in einigen Waffentechniken geradezu ein Meister. Am liebsten allerdings benutzte er ein doppelseitig geschliffenes Messer, das über eine Feder verfügte. Auf Knopfdruck sprang die Klinge aus dem Griff und wurde in Erichs Hand zu einer gefährlichen Waffe. Auch er besaß eine Beretta.
Auf die beiden konnte ich mich jederzeit felsenfest verlassen. Wir drei hatten zusammen im Schützengraben vor Verdun gelegen. Das schweißte uns zusammen und gemeinsam gingen wir durch dick und dünn. Beide waren auch in Bezug auf Neunfinger im Bilde, und als ich zurück zum Hotel Diana fuhr, informierte ich die beiden über die letzten Ereignisse.
„Neunfinger also. Meinst du, er weiß über deine Rolle bei seiner Verhaftung Bescheid?“, erkundigte sich Erich.
„Durchaus möglich, wenn er nämlich Katja dazu gebracht hat, auszupacken. Will mir gar nicht vorstellen, was… ich Idiot!“
Der Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, ließ mich derart stark bremsen, dass Erich und Karl-Heinz Mühe hatten, auf ihren Sitzen zu bleiben.
„Was ist los, Bruno?“, knurrte Karl-Heinz nur und starrte durch das Seitenfenster.
„Die brünette Katja – ihr erinnert euch an sie? Sie hat damals die Falle für Neunfinger gestellt, und Gannats Leute konnten ihn zumindest für die Geschichte fassen und wegsperren.“
„Ja und? Was hat das jetzt mit dir und der Absteige zu tun, zu der wir unterwegs sind?“