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"Berlin in zwei Sätzen: ›I see you‹ – ›Wir euch ooch.‹" Annett Gröschner ist eine Spaziergängerin im Sinne Theodor Fontanes – wandern muss nicht heißen, zu Fuß zu gehen. Es kann auch eine Straßenbahn sein, das Fahrrad, Schwimmen, eine Reise im Kopf oder Wochen im Archiv. Aber immer kreist alles um Berlin, ihre Wahlheimat, ob sie nun über die Gingkobäume in der Humboldt-Universität, die Villa eines Kapitäns in der Fasanenstraße, Kleingärten, Friedhöfe, verlassene Industriegebiete, das Stadion an der Alten Försterei oder die Regionalexpresslinie 4 schreibt. Wenn sie die Palimpseste der Volksbühne entschlüsselt, mit Frau Globisch fliegt, Annemirl Bauer beim Madonnenmalen zuschaut und Gitti Eicke betrauert, einem Gasableser lauscht, eine syrisch-kurdische Dichterin bei ihrer Ankunft in der Stadt begleitet und Paradigmenwechsel bedauert. Elf Jahre nach "Parzelle Paradies" sind die Geschichten, ist die Geschichte weitergegangen, und Annett Gröschner hat Grund zum Zweifel. Der Verlust ihrer Wohnung durch Eigenbedarfskündigung hat sie in eine Krise gestürzt und zugleich ihren Blick geschärft. Wie kann es gelingen, Berlin als eine Arche zu erhalten, in der alle Platz haben, egal, woher sie kommen?
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Seitenzahl: 458
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Annett Gröschner, 1964 in Magdeburg geboren, lebt seit 1983 in Berlin. Nach dem Studium der Germanistik in Ostberlin und Paris arbeitete sie vier Jahre für das Prenzlauer Berg Museum, seit 1997 ist sie freie Schriftstellerin, Journalistin und Dozentin. Sie war an verschiedenen Ausstellungs- und Buch- und Theaterprojekten beteiligt, unter anderem ist sie Mitbegründerin und Teil des Redakteurinnenkollektivs 10 nach 8 auf ZEIT ONLINE. Sie wurde mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet, zuletzt mit dem Kunstpreis Berlin 2017. Bei Edition Nautilus erschienen Ein Koffer aus Eselshaut (2004, mit Peter Jung) und Parzelle Paradies. Berliner Geschichten (2008).
Annett Gröschner
Palimpsesteund Geschichten
Edition Nautilus GmbH
Schützenstraße 49 a
D-22761 Hamburg
www.edition-nautilus.de
Alle Rechte vorbehalten
© Edition Nautilus GmbH 2019
Originalveröffentlichung
Erstausgabe März 2020
Umschlaggestaltung:
Maja Bechert, Hamburg
www.majabechert.de
© Porträt der Autorin:
Henning Schossig
ePub ISBN 978-3-96054-223-0
Internationale Küche – Vorwort
Palimpseste
Vom Überschriebenwerden
Ein Sumpf zieht an der Endmoräne hin
Überschriebene (Frauen-)Geschichte
Von den Ginkgobäumen lernen
Frauentag
NACHTRAG 2 // HINZEUNDKUNZE – neue Epoche. Für Volker Braun
Der Zugverkehr ist unregelmäßig. Auf Berliner Zeitreise mit Robert Paris
Nach Westen im Traum (1)
Blitzlichter 0:00 Uhr – 4:35 Uhr
Stadt als Arche – Stadt als Beute
Ene mene muh – Wie man seine Wohnung verliert
LaGeSo
Altlasten im Ziegelgold
»Don’t look back in Nadryw.« Meine Jahre am Rosa-Luxemburg-Platz
Die Stadt als Arche
Damaskuserlebnis. Geruch, Geschichte und Vortäuschung
Nach Westen im Traum (2)
Blitzlichter 7:13 – 12:07 Uhr
Raus hier
Von Fernreisenden und Nahverkehrspendelnden – Unterwegs im RE 1
Die Frauen von Wiepersdorf. Eine Reise in den Niederen Fläming
Fontane kam nicht bis Rathenow (und in Jüterbog war er auch nicht). Mit der Regionalexpresslinie 4 durch Brandenburg
Hier fliegt nur Ihr Geld weg
Nach Westen im Traum (3)
Blitzlichter 12:34 Uhr – 14:39
Nebelkrähen der Geschichte
Der Himmel über Ostberlin
Das Gefühl haben, alles sei möglich – Die Demonstration am 4. November 1989
Berlin, Grenzübergang Oberbaumbrücke, 10.11.1989, 18.07 Uhr // Engel der Geschichte III
Talkin’ ’bout a revolution – wieder und wieder und wieder
Nach Westen im Traum (4)
Blitzlichter 15:02 Uhr – 18:00 Uhr
Von Menschen und Leuten
Ein Eigensinniger ohne Pose – Fritz Mierau
Ein Leben in Taschenkalendern – Gitti Eickes Beerdigung
Kalte Steine – Der Maler Konrad Knebel
Die Stadt wie ein Rasenstück ausstechen und ummodeln – Ina Weber
Der Neigentrinker
Die Schlosser von Sektor 3
»In der Kaufhalle jibt’s keene Badehosen.« Thomas Heises Wozu über diese Leute einen Film? (1980)
Helga Paris – Ramona
Die Madonna vom Prenzlauer Berg. Die Malerin Annemirl Bauer
Mit Nadel und Faden am Bühnenrand. Bei den Ankleiderinnen des Deutschen Theaters
In Schubladen – Laudatio auf She She Pop
Nach Westen im Traum (5)
Blitzlichter 18:59 Uhr – 22:10 Uhr
Ortslagen
Abends riecht es nach Hasch und Fleisch. Die Führungsstelle im Schlesischen Busch
Gesänge für den Fußballgott
Westberlin – ein Unendlicher Spaß
Latte Macke – OLs Mütter vom Kollwitzplatz
Vom Erlös aus Herzweiche und Waffen. Die Bauakte des Grundstücks Fasanenstraße 23
Blöde Nebelkrähe
Kraut und Unkraut. Kleingärten in Ostberlin
Totenstadt Berlin
Die Giftschränke unseres Wissens
Nach Westen im Traum (6)
Blitzlichter 22:11 Uhr – 23:59 Uhr
Anhang
Quellen
Bildnachweise
Berlin in zwei Sätzen:
»I see you.« – »Wir euch ooch.«
Kleingärten und Kneipen. Das waren jahrzehntelang Attribute von Berlin – und nicht nur des proletarischen. Halt! Fußball habe ich vergessen. Kicken. Die drei K ließen sich gut miteinander verbinden. (Kirche war eher zu vernachlässigen.) Besuche in der Stammkneipe gab es das ganze Jahr, wenn nicht der Kleingarten zu weit weg war. Dann wurde im Sommer die Vereinsgaststätte zum Trinkort, denn Berlinerinnen und Berliner, egal ob Ost oder West, pflegten von Mai bis September das Leben im Grünen und machten nur zum Postholen einen Abstecher in die Wohnung. Fußballsaison war auch eher nicht im Sommer. Vor und nach dem Fußball ging es also in die Kneipe oder man ließ das Stadion weg und hörte sich den Spielverlauf im Radio an, später hatte fast jede Kneipe einen Fernseher.
Die Berliner Bürgerstuben sind eine Instanz und eine Metapher. Als Instanz ist es eine der letzten Eckkneipen in Prenzlauer Berg, an einem Standort in der Stargarder Straße, der seit dem Bau des Hauses vor ca. 120 Jahren im Berliner Adressbuch immer als Gaststätte aufgeführt wird, auch wenn die Namen und Bezeichnungen wechselten. Im Branchenbuch von Berlin, Hauptstadt der DDR, ist unter dem Stichwort Gaststätten ein Name unter der Adresse Stargarder / Ecke Lychener aufgeführt, allerdings der des Wirts. Niemand, den oder die ich fragte, erinnerte sich an den Namen der Kneipe zu DDR-Zeiten. (Aber so viele sind auch nicht mehr da oder sie gingen in andere Stampen.) Ich weiß nur noch, dass ich dort 1984 mit einer Freundin rausflog, weil wir zur Zeit des Mittagstischs rauchten, was streng verboten war. Die Tresenkraft der heutigen Bürgerstuben erinnert sich, dass es eine Handwerkerkneipe mit Mittagstisch und Alkohol war. Sie machte schon früh am Abend zu. Es gibt auch noch andere Kneipen, die in der durchgentrifizierten Gegend gegen alle Annahmen überlebt haben, Willy Bresch zum Beispiel, Höhers Gaststuben, die Bornholmer Hütte oder der Schusterjunge. Aber kein Name erzählt soviel über Berlin als civitas, als Ort der Stadtbürger✶innen, wie die Berliner Bürgerstuben. Nach meinem Rausschmiss 1984 war ich lange nicht an diesem Ort, ich bevorzugte die Untergrundkneipen und -cafés. Maximal Fengler oder Hackepeter, wenn alles andere zu hatte. Meine erste richtige Stammkneipe wurde der 1994 eröffnete, hundert Meter von den Berliner Bürgerstuben entfernte Torpedokäfer, benannt nach dem Ursprungstitel der Memoiren des anarchistischen Dichters Franz Jung, der immer wieder in meinen Texten eine Rolle spielt und einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Autor der Edition Nautilus ist, die sein Gesamtwerk editiert. Den Torpedokäfer gibt es schon lange nicht mehr, er schloss im August 2006 nach mehr als zwölf aufregenden Jahren, sein Nachfolger Beakers machte letztes Jahr zu, jetzt ist dort ein Restaurant mit Anspruch. Die Berliner Bürgerstuben gibt es nach wie vor. Mitsamt ihrer deftigen Küche.
Stube ist ja so ein altes Wort, reimt sich auf Bube, beide kaum noch verwendet. Früher hieß es in den Arbeitervierteln: »wohnt Stube und Küche«, und damit waren ganze Familien gemeint, die, um bürgerlicher zu erscheinen, die gute Stube schonten und in der Küche lebten, der Vater ging zum Beinevertreten in die Kneipe, nach und nach auch immer mehr Frauen. Die Geschichte der Kneipen ist gründlich überschrieben worden. Die drei K sind inzwischen keine unangefochtenen Freizeitvergnügungen mehr. »Die Leute saufen ja nicht mehr«, sagte vor wenigen Jahren Bert Papenfuß und gab kurz darauf seine Kneipe Rumbalotte auf. Den Berliner Bürgerstuben wünsche ich ein längeres Leben. Um den Ort an sich geht es in diesem Buch nur am Rande, was schon am Sternchen zwischen Bürger und Stuben ersichtlich ist.
Als ich vor drei Semestern mit Studierenden des Weiterbildungsstudienganges Kulturjournalismus an der Universität der Künste und der Journalistin Christina Tilmann ein Magazin über Ostberlin aus studentischer Sicht für eine Ausstellung im Stadtmuseum machte, schlugen die Studierenden vor, ein Sternchen zwischen Ost und Berlin zu setzen. Das Magazin hieß also OST✶BERLIN. Zum einen wollten sie damit sagen, dass der alte Streit zwischen Ost und West, ob es nun Ostberlin oder Ost-Berlin heißt,1 überholt ist, und zum anderen fanden sie, dass es in Berlin immer noch jede Menge Ungesagtes gibt. Wir nannten das Sternchen nach Alexander Kluge »Eine Lücke, die der Teufel lässt«. So ähnlich ist es auch mit dem Titel dieses Buches. Zwischen Bürgern und Stuben ist eine Lücke, die kann gefüllt werden mit vielem, mit Gender und Diversity, Flüssen oder Brücken, unsichtbaren Grenzen. Es zeigt auch – es geht hier nicht um eine Kneipe, sondern um die vielen Stadtbürger✶innen, die in Berlin wohnen, seine Geschichte mitschreiben und mittlerweile von überallher kommen, nicht nur, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, aus Schlesien oder der Alt- oder Neumark, oder nach dem Zweiten Weltkrieg aus Karl-Marx-Stadt, Hannover, Hanoi, Nordrhein-Westfalen, Istanbul, Schwaben oder Magdeburg. Die gesehen und nicht nur mitgemeint sein wollen. Die nicht wieder wegwollen, auch wenn sie einen unsicheren Aufenthaltsstatus haben. Die keine No-go-Areas in der Stadt dulden und die alle möglichen Gerichte der internationalen und manchmal auch der deutschen Küche mögen. Es geht um Urberliner✶innen aller Geschlechter und Hautfarben, um Neuberliner✶innen, die Currywurst nur vegan mögen, was inzwischen ein Klischee ist, oder die auch die deftige Berliner Küche lieben. Buletten zum Beispiel. Kein deutsches, aber ein Berliner Wort.
Für die Berliner Bürger✶stuben nehme ich eine Methode wieder auf, die ich schon in meinem ersten Sammelband mit verstreuten Berliner Geschichten angewandt habe. 1998 veröffentlichte ich »ausgewählte Essays, Fließ- und Endnotentexte 1989 bis 98«2 mit dem etwas kryptischen und schwer im Kopf zu behaltenden Haupttitel ÿbottaprag. heute. geschenke. schupo. schimpfen. hetze. sprüche. demonstrativ. sex. DDRbürg. gthierkatt, der entstand, als der Verleger des Kontext-Verlages versuchte, eine mit dem PC geschriebene Worddatei auf dem Mac zu lesen. Besonders mochte ich ÿbottaprag und gthierkatt. Wenn ich den Band heute nach zwanzig Jahren anschaue, sehe ich, dass sich an meinen Themen nicht viel geändert hat: Berliner Geschichte, vor allem die Teilung, Berlinerinnen, Universität und Bibliotheken, der Prenzlauer Berg und andere Berliner Stadtteile, das brandenburgische Umland, öffentliche Verkehrsmittel und Stadtfotografie. Nur dem Fußball hatte ich damals gleich ein eigenes Buch3 gewidmet. Noch einmal zehn Jahre später habe ich die für mich noch gültigen Berliner Texte von 1999 bis 2008 zum Band Parzelle Paradies. Berliner Geschichten4 zusammengefasst, der dann schon bei der Edition Nautilus erschien.
In Berliner Bürger✶stuben nehme ich das Verfahren der Fußnoten aus dem ersten Band wieder auf, auch weil die Stadt sich rasend schnell verändert, wächst und rauer wird. Vieles wird überschrieben, vor allem historische Spuren. Deshalb gibt es neben den Geschichten diesmal auch Palimpseste.
Berlin ist ein Palimpsest. Schon das Wort ist verheißungsvoll. Palimpsest klingt wie eine Schwester von Oxymoron, Metapher oder Tautologie, gehört aber nicht zur Familie der Stilfiguren. Ein Palimpsest war ursprünglich eine Manuskriptseite oder Schriftrolle aus Papyrus, die immer wieder abgeschabt oder -gewaschen wurde, um neu beschrieben werden zu können. Bei diesem Vorgang bleiben Spuren des entfernten Textes unter dem neuen sichtbar. Sie können als Subtext gelesen, missverstanden oder als uninteressant ausgeblendet werden.
Auch eine Stadt lebt von der immerwährenden Überschreibung. Orte verschwinden, werden umdefiniert oder überformt. Aber immer bleibt etwas übrig, oft rätselhaft wie die fünfte oder sechste, nur kryptisch überlieferte Schicht auf dem Papyrus. Die Pflanzen und Insekten wissen noch, wo die Moore und die Sandlinsen sind in den Untergründen Berlins, auch wenn an der Oberfläche nagelneue Häuser aus Beton und Glas stehen und die darin residierenden Stadtbürger✶innen von der glazialen Serie nichts wissen wollen. Manchmal tritt auch einfach nur eine Fontane’sche Figur aus ihrem Roman und treibt ihr Unwesen, Frau Jenny Treibel auf dem Friedrichswerder5 zum Beispiel, eine Wiedergängerin mit Apfelsinen im Haar.
Berlin wurde im 20. Jahrhundert durch Krieg und Teilung teilweise ausradiert und dann wieder neu auf den alten Grundrissen gezeichnet, nur etwas luftiger, die Rasterung blieb in groben Zügen die gleiche. An Stellen, wo Privateigentum abgeschafft oder aufgekauft war, änderte sich auch die. Trotz der Radierungen lässt sich Berlin auf den Stadtplänen aller Epochen am Verlauf seiner Flüsse entschlüsseln.
Den Platz vor der Volksbühne erkennt man seit 1907 am Dreieck, das er bildet, ob nun als Babelsberger Platz, Bülowplatz, Horst-Wessel-Platz, Liebknechtplatz oder Rosa-Luxemburg-Platz.
Die unter der Gegenwartsebene liegenden Schichten dieser Gegend sind unterschiedlich deutlich zu sehen, einige leicht lesbar, andere für Unkundige kaum zu verstehen, weitere getilgt, aber im Namen noch sichtbar. Scheunenviertel zum Beispiel. Die Scheunen verschwanden für den Bau der Volksbühne, die die Gegend auch befrieden sollte. Gentrifizierung6 heißt das heute, wo sich solche Überschreibungen auf faszinierende Weise im Netz nachvollziehen lassen. Auf der Basis georeferenzierter historischer Karten haben enthusiastische Kartograf✶innen die Seite HistoMapBerlin gebaut, die eine grundstücksgenaue Recherche der Vergangenheit zwischen 1910 und 2013 ermöglicht. Die Seite sieht aus wie in den neunziger Jahren, als der Drang nach Information dem Willen zur Ästhetik noch nicht unterlegen war. Layer um Layer lässt sich auf den heutigen Stadtplan legen wie die Schichten eines Palimpsests, nur dass jede einzelne gut sichtbar ist. Das Scheunenviertel 1910, 1935, 1946, 1949, 1956, 1963, 1970, 1982, 1988, 2013. Abriss, Neubau, Zerstörung, Enttrümmerung, Entkernung, Lückenschluss sind zu sehen. Aber kein Landkartenpalimpsest erzählt, dass jeder der Bäume in der östlich der Volksbühne eingezeichneten Grünanlage für einen getöteten SA-Mann gepflanzt wurde, 1933, nachdem die Nazis das Karl-Liebknecht-Haus gestürmt hatten, um die Geschichte des Hauses und der Gegend zu überschreiben, bis kein Stein mehr auf dem anderen und nur noch die Volksbühne wie ein beschädigter Panzerkreuzer inmitten von Trümmerhaufen stand. Um das erzählen zu können, muss man das Archiv bemühen. Man kann aber auch einen Spaziergang mit Alfred Döblin durch das Scheunenviertel imaginieren. Juden, die kein eigenes Haus besaßen, hatten im 18. Jahrhundert dort per Königserlass Quartier nehmen müssen, hundert Jahre später kamen die ostjüdischen Einwander✶innen, die vor Pogromen geflohen waren, in Münz-, Dragoner-, Grenadier- oder Hirtenstraße unter. Das Viertel war bald so dicht besiedelt, dass es in den Wohnungen nur Platz zum Schlafen in Schichten gab und die Bettwanzen die einzigen Haustiere waren, denen es gutging. Dort aß Franz Biberkopf im Souterrain der Grenadierstraße Grüne Heringe. Oder waren es die Dragonerstraße, 1. Stock und Buletten? Nach Razzien gegen illegal Zugewanderte und einem Pogrom 1923 interessierte sein Schöpfer, Alfred Döblin, sich für das Scheunenviertel als einem anderen Ort jüdischer Herkunft. Er wollte ihn verstehen, weil er ihm fremd und vertraut zugleich war. Er recherchierte, wie auch Joseph Roth in der Zeit, über Flüchtlingsbüros und Volksheime, über Pinten und Bordelle. Seine Recherchen verarbeitete er in Kolumnen und später in seinem Roman Berlin Alexanderplatz. Ich beobachte Alfred Döblin, wie er in die Volksbühne geht, um Theaterkritiken zu schreiben oder um mit Erwin Piscator über sein Theaterstück zu sprechen, das Die Ehe heißt und dessen Inszenierung krachend durchfällt. Es geht um Wohnungsspekulation, die ein Ehepaar und andere zugrunde richtet. Sehr aktuell. Vielleicht sollte man prüfen, ob es wirklich so schlecht ist, wie die damaligen Rezensionen behaupten, oder ob es für die Bühne mit Gegenwart überschreibbar ist. Der Platz vor der Volksbühne war Anfang der dreißiger Jahre nicht nur ein Ort der offenen politischen Auseinandersetzungen, hier ging es auch um Deutungshoheit über die Kunst, ein von Erfolg gekrönter Versuch der konservativen und nationalsozialistischen Kreise, Künstler✶innen in unfruchtbare Auseinandersetzungen zu verwickeln und ihnen damit Zeit und Kraft für ihre Werke zu stehlen, ein probates Mittel der Rechten auch in der Gegenwart.7 Der überraschend erdrutschartige Sieg der NSDAP bei den Reichstagswahlen 1930 führte zu Verschärfungen in der Kulturpolitik. Im Dezember 1930 wurde der Film Im Westen nichts Neues nach öffentlichen, von Nazis angeführten Massenkrawallen, unter anderem vor dem Kino Babylon, nachträglich verboten. Wenige Tage nach Im Westen nichts Neues wurde auch die weitere Aufführung von Döblins Stück Die Ehe untersagt, obwohl das Theater im Gegensatz zum Film nicht der Zensurbehörde unterstellt war. Die Künstler✶innen und Intellektuellen waren so eingeschüchtert, dass Selbstzensur reichte, sie mundtot zu machen. Wenig später wurden sie verdrängt, vertrieben, ermordet. Ein Name wie Alfred Döblin war für lange Jahre kein Begriff mehr. Franz Biberkopf geisterte nur noch als Berliner Unikum durch die Köpfe.
Führt die Tatsache, dass es hier nicht mehr nach Krieg riecht und die Einschüsse in den Fassaden durch Wärmedämmplatten überdeckt sind, dazu, den Krieg nicht mehr zu fürchten, obwohl der, frei nach Rio Reiser, nur schläft und nicht tot ist?
Dass am 1. September 2019 kurz hinter der Stadtgrenze bei den Brandenburger Landtagswahlen eine Partei 23,5 % der Stimmen bekommt, die das Wort Volk ähnlich definiert, wie es die Nationalsozialisten getan haben, scheint diese Annahme zu bestätigen. Wie macht man intelligentes Theater gegen dieses Vergessen?
Und was macht es eigentlich mit dem Theater, dass die Bewohner✶innen der angrenzenden Straßen in der Zeit seiner Existenz dreimal fast in Gänze ausgetauscht wurden? Ein Viertel, das erst Synonym war für Einwanderung aus Osteuropa, Armut und armutsbedingte Kriminalität, dann für die Leere der Innenstadt, nach 1990 für die Hausbesetzer✶innenszene aus ganz Europa und nun in der Gegenwart für die Betongold-Klasse, die für eine 69 Quadratmeter große Wohnung mal eben 309 000 Euro auf den Tisch legt. Ein Schnäppchen. Eine Neubauwohnung kostet fast das Doppelte. Und das alles in denselben Häusern, in denen vor hundert Jahren Armut und Bettwanzen hausten. Für ihre Modernisierung wurden sie entkernt, ähnlich einer Zelle, die ausgekratzt wird, um sie mit anderen Informationen zu bestücken. Aber gelingt das wirklich oder bleibt das Palimpsestieren der Stadt trotz aller Finessen des digitalen Zeitalters eine unvollkommene Technik, die Vergangenheit durchlässt? Lässt sich nicht längst nachweisen – mit den Mitteln der Psychogeografie zum Beispiel –, dass zu Eigentumswohnungen umgebaute Gefängnisse den neuen Bewohner✶innen Alpträume bescheren, die nicht von der Kreditbelastung herrühren? Und treibt die Geschichte des jüdischen Ghettos den Preis der Wohnungen des Scheunenviertels in die Höhe?
Die Gegend wird nun von Leuten repräsentiert, deren Held✶innenstücke sich vom bürgerlichen Trauerspiel des 19. Jahrhunderts oder wahlweise der Boulevardkomödie des frühen 20. Jahrhunderts nur mäßig unterscheiden. Ist das Theater für sie da? Oder liegt einer Volks-Bühne Medea am Grund des Sees bei Strausberg nicht näher als Nora oder Lulu? Oder wie wäre es mit einem Stück über Dima und Widad,8 die aus den tausendfach überschriebenen Städten Damaskus und Aleppo kommen und denen das Alter Berlins nur ein müdes Lächeln abzuringen vermag? Sie sehen eine andere Welt, wenn sie über das Pflaster des Scheunenviertels gehen, das zu teuer ist, als dass sie dort leben könnten. Die Orte der Geflüchteten liegen in Berlin heute ganz woanders.
Weiter im Text. Weiter mit den Palimpsesten. Kaum an der Oberfläche geschabt, sprudelt Geschichte hervor. Sie riecht nicht gut. So wie die Spree zu den Hochzeiten der Schwerindustrie in Berlin. Oder wie ein Sumpf. Aus dem kann sich allerdings immerhin noch Torf bilden. Oder, wenn man in Jahrmillionen rechnet, Braunkohle. Marzahn heißt Sumpf auf polabisch, der slawischen Sprache, die mal an der Wuhle gesprochen wurde. Um den gleichnamigen Stadtbezirk, heute Stadtteil, ging es kürzlich am Rosa-Luxemburg-Platz. Im Kino Babylon lief in der von dem Filmkritiker Knut Elstermann verantworteten Reihe »Berlin – Hauptstadt der DDR« Die Architekten9. Es geht um eine Gruppe jüngerer Architekt✶innen, die in Marzahn ein soziokulturelles Zentrum errichten soll und an den verkrusteten Verhältnissen, unüberwindbaren Hindernissen und ihrem eigenen Opportunismus scheitert. Aus vielen Häusern eine Stadt zu machen ist der Wunsch, aber die Illusion wird demontiert. »Keine Staatsgelder für Architekteneitelkeiten vergeuden«, ist die Devise der alten Männer, für die 40-Jährige unerfahrene Träumer sind und Frauen aufgrund ihrer körperlichen Konstitution keine Architektinnen sein können. Einer der letzten DEFA-Filme, der allerdings in den Wendewirren unterging, für mich aber einer der wichtigsten Berlin-Filme ist, der über die Zeit, in der er entstand, hinausreicht. Vor allem, wenn man sieht, mit welchen ästhetischen Kompromissen aufgrund von Renditeprämissen heute neue Häuser in der Stadt errichtet werden. Und ein Abgesang auf die späte DDR, die die selbstzerstörerische Gabe hatte, jedes Talent zusammenzufalten oder zurechtzustutzen, bis es so klein war wie sie. Marzahn ist in diesem Jahr 40 geworden. Es gehört wie Reinickendorf oder Kreuzberg zum Babylon Berlin, auch wenn es für Mitte-Bürger✶innen das Andere ist, das Abgespaltene, das, wohin abgeschoben zu werden sie große Angst haben, weil sie vielleicht bald oder eines Tages nicht mehr mithalten können auf dem Laufband und weggedrängt werden an die Ränder, an denen sie Menschen in kunstseidenen Jogginganzügen vermuten, die schon morgens Bier trinken und ihre Kinder zu Nazis erziehen. Aus eigener Anschauung kann das Bild nicht kommen, obwohl es ein Leichtes wäre, es zu überprüfen. Man muss nur am Rosa-Luxemburg-Platz in die M8 steigen und ist in 35 Minuten in Alt-Marzahn, einem Angerdorf, umgeben von Hochhäusern. Die Welt in der Bahn ist auf vielfältige Weise diverser als die in Prenzlauer Berg oder in der Rosa-Luxemburg-Straße. Andererseits frage ich mich beim Aufschreiben, wieviele Marzahner✶innen den umgekehrten Weg kommen, um Vorstellungen an der Volksbühne beizuwohnen. Gibt es Statistiken darüber, wo die Zuschauer✶innen, die um mich herum sitzen, wohnen, was sie täglich umgibt, wie ihre Wirklichkeit aussieht? Man könnte sie, wie es die Einkaufsketten manchmal tun, beim Kartenabreißen nach der Postleitzahl fragen, und wir könnten Wetten darüber abschließen, welche Postleitzahl am häufigsten im Zuschauerraum vertreten ist.
Denkmal für die Erbauer Marzahns.
Vor Jahren, 2001, war die Volksbühne mit der »Rollenden Road Schau«10 in Marzahn. Auf Tour in theaterfernen Gegenden. Manche benutzten auch das Wort theaterresistente Gebiete. (Marzahn hat inzwischen ein Theater, Tschechow heißt es.) Zur Marzahner Show kamen damals nur wenige, vor allem, weil die Organisator✶innen versäumt hatten, vorher zu recherchieren, dass an dem Platz gerade niemand wohnte, weil die Wohnhäuser renoviert wurden. Als die Balkonbrüstungen weg waren, sah man, dass jede Balkonwand in einer anderen Farbe gestrichen oder mit Holz verblendet war. So wurde die Sehnsucht nach Individualität auf kleinstem Raum befriedigt. Ich schrieb damals über meinen Streifzug durch Marzahn anlässlich der Rollenden Road Schau: »Die zwei überlebensgroßen Bauarbeiter in Bronze sehen mittlerweile wie zwei arbeitslose Trinker aus. Sie stehen vor dem Haupteingang des traurigsten Kaufhauses von Berlin, voller Ladenhüter, so als wolle man immer noch Centrum-Warenhaus in einer Mangelgesellschaft spielen, es gibt eine Post, bei deren Bau ein Architektenkollektiv seine Träume von der Postmoderne nur halbherzig durchsetzen konnte, und jede Menge leerer Läden.«11
Kurt Naumann war der ideale Hauptdarsteller für Die Architekten. Sein Daniel Brenner, ein in die Jahre gekommener, aber immer noch als Nachwuchs geltender Architekt, ist ein Träumer, und doch ist die Vergeblichkeit allen Bemühens ihm schon in die Augenpartie geschrieben. »Du wirst dich zu Tode trinken«, sagt seine Kollegin. Sein Kollektiv zerfällt, die Frau geht mit der gemeinsamen Tochter in den Westen, weil sie in Marzahn in der Poliklinik zu verblöden glaubt und abends keine Kraft mehr hat, ins Theater oder Kino zu gehen.
Am Ende des Films sitzt Daniel in der Baugrube neben der Rednertribüne, trinkend. Es ist dunkel und kalt, und er ist ganz allein. Kurt Naumann hat danach in der Volksbühne gespielt, mal als Gast, mal als Ensemblemitglied, ehe es still um ihn wurde. Im Februar 2018 ist er gestorben, ohne dass die Öffentlichkeit es mitbekam. Die Nachrufe kamen Monate später.
Das Marzahner Zentrum wurde unter Mühen gebaut und ist inzwischen wieder abgerissen, weil es den Bedingungen des real existierenden Spätkapitalismus nicht mehr entsprach. An seiner Stelle steht jetzt das Einkaufscenter East Gate, in dem sich die Jugend langweilt und jede Filiale an ihrem Platz ist, wie in allen Einkaufszentren dieser Art.
Die Bauarbeiter aus Bronze sind weitergewandert. Sie stehen jetzt mitten auf der Marzahner Promenade und haben sich erholt. Ein wenig verlottert noch, aber aufrecht. Katja Oskamp hat sich mit ihnen angefreundet.
Katja Oskamp war mal Theaterdramaturgin, dann Schriftstellerin. Als die Honorare spärlicher wurden, schulte sie zur Fußpflegerin um und arbeitet zwei Tage die Woche in der Marzahner Promenade. Sie hat den Fußpflegestuhl zu einem Thron gemacht, auf dem Marzahner✶innen sitzen und ihre Geschichte erzählen, manche performen sie auch. Katja Oskamp hat sie aufgeschrieben. Das Buch heißt Marzahn, mon amour12. Es sind Geschichten zum Lachen und zum Weinen, von ehemaligen Maurern, Fleischern, Krankenschwestern, Elektronikfacharbeiterinnen, Rinderzüchterinnen, Tankwartinnen und einem ExFunktionär. Katja Oskamp hat die Gabe, ihre Theatererfahrungen mit den Alltagsgeschichten zu Literatur zu verbinden. Über Herrn Huth zum Beispiel, den Demenzkranken, der nicht mehr weiß, wie spät es ist, und ob er beim Friseur oder bei der Fußpflege ist.
»Die Armbanduhr von Herrn Huth steht immer auf halb eins. Einmal klopfte er auf dem Uhrglas herum, als könne er die Zeiger zur Bewegung animieren, schüttelte das Handgelenk, hielt die Uhr ans nahezu taube Ohr. Zuckte mit den Schultern. ›Nüscht zu machen‹, sagte er, und ich dachte an Warten auf Godot, das Theaterstück von Samuel Beckett, und wie Estragon seinen Schuh ausschüttelt und Wladimir seinen Hut ausklopft. Manchmal, erzählt Frau Huth, hat Herr Huth einen hellen Moment. Nachts. Dann kann er nicht schlafen, liegt wach neben seiner Frau und fragt, was sie denn noch mit ihm wolle, er könne ihr ja nichts mehr bieten. In solchen Nächten weint Herr Huth und ich verstehe: Die hellen Momente sind die schlimmsten. (…) In dem Stück von Samuel Beckett warten die beiden Landstreicher Wladimir und Estragon auf Godot. Aber Godot kommt nicht. Seit Warten auf Godot 1953 in Paris uraufgeführt wurde, zerbrechen sich Schauspieler, Regisseure, Dramaturgen, Theaterwissenschaftler und Philosophen den Kopf darüber, wer Godot sein könnte. Ich glaube nicht, dass Herr Huth das Theaterstück kennt. Aber vielleicht ahnt er, wer Godot ist.« Als Die Architekten gedreht wurde, war Warten auf Godot auch in Ostberlin in aller Munde. Den meisten künstlerischen Werken13 sieht man die Kämpfe nicht mehr an, die um sie geführt wurden. Als wir nach Katjas Feierabend vom Fußpflegesalon durch die Marzahner Promenade schlendern, machen wir Halt bei den Bauarbeitern und Katja erzählt, dass die Plastik von zwei Bildhauern gemacht wurde, deren Witwen einander nicht grün sind. Im Internet lese ich, dass schon die Bildhauer nicht miteinander konnten, denn der eine war dem anderen vor die Nase gesetzt worden, damit er nicht über die Stränge schlug und es ein »würdiges Denkmal zu Ehren des Wohnungsbauprogramms für die Arbeiterklasse« wurde. So ganz hat das nicht geklappt, dafür wird den beiden Kerlen gerne von Passantinnen an die Hintern gefasst. Wir beschließen den Abend in der Biertulpe (O-Ton Kombinatsdirektor im Film: »Bierstube mit Imbissangebot«) im Erdgeschoss eines Hochhauses, mit taffer Wirtin, altberliner, sprich harter, aber herzlicher Kellnerin, gesitteten Trinkern und drei Marzahner Bieren zum Preis von einem in Mitte.
Mit der M6 geht’s ins Zentrum zurück.
Auch die Geschichte der Volksbühne ist eine der Überschreibungen. Manche Epochen wurden ziemlich gründlich getilgt, andere leuchten kompakt aus der Geschichte: Da flattert der Gründungsmythos von den Arbeitergroschen, die das Haus finanzierten, wie eine Fahne auf dem Dach, da dreht sich die Piscator-Bühne bis zur Schwindeligkeit, spektakelt sich Benno Besson durch alle Etagen, krakeelt Schlingensief in der Kantine. Fast vergessen in der Öffentlichkeit ist die Volksbühne vor Castorf.
Von 1978 bis 1990 war Fritz Rödel Intendant, er wurde abgelöst von einem Trio aus zwei Frauen und einem Mann, Marion van de Kamp, Winfried Wagner und Annegret Hahn, die danach eine Spielzeit Intendantin war. Hej, es gab hier mal Frauen in der Intendanz! Aber wie – nach wie vor – so oft bei solchen Posten: interim. Und es gab einen anderen Moment der Frauen, mehr eine Fußnote in den Annalen des Hauses, der verdient hätte, gleichberechtigt neben anderen Daten zu stehen. Nicht nur bei der großen Demonstration am 4. November 1989 waren Vertreter✶innen der Volksbühne unter den Organisator✶innen, sondern das Theater machte, auch dank der Volksbühnenschauspielerin Walfriede Schmitt, die Bühne frei für eines der größten Frauentreffen der Geschichte Berlins.
Am 3. Dezember 1989 trafen sich tausend Frauen in der Volksbühne, um einen Unabhängigen Frauenverband zu gründen.
Das Ereignis wurde, wie vieles in dieser Zeit, leider kaum dokumentiert, es gibt das Manifest, das verlesen wurde, und ein paar Fotos, mehr nicht. Eines zeigt ein Transparent an der Fassade: »WER SICH NICHT WEHRT, KOMMT AN DEN HERD. Frauentreff 3.12.89, 10-14 Uhr.« Ich hatte vergessen, dass es am Vormittag war. In meinem Notizbuch des Jahres 1989 habe ich noch die etwas kryptische Tagesordnung gefunden, die das Vorbereitungskomitee ein paar Tage vorher in der Kantine der Volksbühne beschlossen hatte, für mehr als ein paar Stichpunkte hatte ich keine Zeit, als eine der frischgebackenen alleinerziehenden Revolutionärinnen, die von ihrer Frauengruppe zum Vorbereitungstreffen geschickt worden war:
»1. Kulturteil
2. Gründungsaufruf
3. Entstehungsgeschichte
4. Merkel
Diskussion.«
Dass es überhaupt zu diesem Ereignis kam, war einem Treffen von im Laufe des Herbstes neu gegründeten Frauengruppen – nicht alle verstanden sich als Feministinnen – und Einzelfrauen in der Gethsemanekirche zu verdanken, die die Gründung eines unabhängigen Frauenverbandes initiierten, um dem immer stärker werdenden Wiedervereinigungsdusel etwas entgegenzusetzen. In der Kirche bleiben wollten sie nicht. Es sollte ein säkularer Ort sein. Und was war da besser als ein Theater? Ich erinnere mich, dass wir ein wenig Bedenken hatten, ob der große Saal nicht zu groß für uns sein würde. Er war es nicht, im Gegenteil, selbst auf der Bühne drängten sich die Frauen. Woher sie alle kamen, blieb unklar, es war keine Zeit für Statistik. Nicht alle kamen aus Berlin, die meisten waren jung und besorgt, wie es weitergehen sollte nach der Maueröffnung. Sie fürchteten eine weitere Verschlechterung der sozialen Lage und eine erneute Ausgrenzung von Frauen bei wichtigen politischen und ökonomischen Entscheidungen. Deshalb ging es um die Schaffung einer Interessenvertretung, eines Dachverbands für Vereine und Individuen.
Der Vormittag des 3. Dezember 1989 wurde politische Versammlung und rauschendes Fest zugleich. Happening und Arbeit. Günstig war, dass die Kulturwissenschaftlerin Ina Merkel ein mehrseitiges, eng beschriebenes, fix und fertig geschriebenes Pamphlet mitbrachte, das den Titel trug: »Ohne Frauen ist kein Staat zu machen. Einige Frauen-Fragen an ein alternatives Gesellschaftskonzept oder Manifest für eine autonome Frauenbewegung.«14
Sie hatte sich schon länger und außerhalb des Curriculums der Universität mit Frauenfragen beschäftigt. Der Vormittag war auch eine Abrechnung mit einem von den DDR-Verhältnissen zugerichteten Frauenbild und eine selbstkritische Analyse, dass Frauen oft zu zögerlich, zurückhaltend, klein, ja feige agierten. Walfriede Schmitt kam in einem Kostüm, das man heute genderfluide nennen würde, halb Mann halb Frau, halb Hexe halb Dandy, auf eine Bühne, die voller Wäsche hing. Sie verlas das Manifest, aneinander geklebt zu einer meterlangen Papierbahn. Sätze wie: »Wir wollen nicht länger die bescheidenen und arbeitsamen, unterbezahlten und für dumm verkauften Helferinnen und Mitarbeiterinnen sein, denen man jährlich zum 8. März ein mageres Dankeschön sagt. Wir plädieren für eine gerechte Verteilung der Arbeit und der Leistungen. (…) Quotierung für Frauen in Hochleistungsbereichen, in Leitungen und bei attraktiven Stellungen. Quotierung aber auch für Männer, um ihnen den Zugang zu den über ein erträgliches Maß feminisierten Berufsgruppen in der Volksbildung, in den Dienstleistungen und im Gesundheitswesen zu erleichtern.« Später war unter uns oft die Rede davon, wie es gewesen wäre, wenn nicht Angela15, sondern Ina Merkel unsere Frauenministerin geworden wäre. Dazu hätte das Wahlergebnis am 18. März 1990 aber anders aussehen müssen.
Ich habe viel vergessen von dem Tag und ärgere mich, dass ich nicht mehr notiert oder mitgeschnitten habe. Barbara Holland-Cunz schrieb in ihrem Rückblick über die ostdeutsche Frauenbewegung, dass das Treffen in der Volksbühne in seiner Bedeutung dem Tomatenwurf des Aktionsrats zur Befreiung der Frauen auf die SDS-Spitze 1968 im Westen vergleichbar sei, als »Gründungsakt der ostdeutschen Frauenbewegung« und Kristallisationspunkt ostdeutscher, später bundespolitischer Frauenpolitik.
Bei aller Euphorie des solidarischen Zusammenseins verfestigten sich zur selben Zeit draußen die dunklen Seiten des Umbruchs: Im selben Monat, als die Ostberliner Feministinnen in der Volksbühne der Forderung Nachdruck verliehen, »dass in unserem Land niemand wegen seiner Herkunft, seiner Nationalität, wegen seiner Behinderung oder einfach seiner Andersartigkeit ausgegrenzt wird«, schrieb die schwarze feministische Aktivistin Audre Lorde ein Gedicht, übersetzt Ost Berlin im Dezember 1989, in dem es heißt: »It feels dangerous now / to be Black in Berlin. Already my blood shrieks through the East Berlin streets / misplaced hatred vocalnic tallies rung upon cement.«16 Ein Vorgriff auf die #baseballschlägerjahre.
Der Unabhängige Frauenverband (UFV) zog am 3. Dezember 1989 mit Triumph aus der Volksbühne aus und ein paar Tage später in das Haus der Demokratie ein. Vorher erstritt er sich aber noch einen Platz am Zentralen Runden Tisch, zum Unmut der von der Kirche gesandten Moderatoren, die meinten, dann könne ja jeder Karnickelzüchterverein kommen und mitmachen wollen. Die Delegierten argumentierten, unterstützt von anderen Bürgerrechtler✶innen, wie im Ina Merkelschen Manifest festgehalten: »Wir müssen darauf bestehen, dass Frauenfragen keine gesellschaftlichen Randprobleme sind, sondern existenzielle Grundfragen.«
Der UFV hat – wie der Runde Tisch – in kurzer Zeit viel erreicht, ist aber letztendlich an der Geschwindigkeit der Veränderungen gescheitert. Und auch an sich selbst, weil die Bewegung zunehmend von Frauen bestimmt wurde, die sich mit Parteistrukturen auskannten, zum Unmut der autonomen Frauen. Am Ende war es so, wie Ina Merkel es in ihrem Manifest prophezeit hatte: »Wiedervereinigung hieße in der Frauenfrage drei Schritte zurück – es hieße überspitzt gesagt: Frauen zurück an den Herd. Es hieße: wieder kämpfen um das Recht auf Arbeit, kämpfen um einen Platz im Kindergarten, um die Schulspeisung. Es hieße, vieles mühsam Errungene aufzugeben, statt es auf eine neue qualitative Stufe zu heben.« Ina Merkel nahm vorweg, was in den Monaten und Jahren danach die Frauenbewegung umtrieb: die Verteidigung des Rechts auf Abtreibung, auf Arbeit, faire Bezahlung, Kinderbetreuung, körperliche Unversehrtheit usw. usf.
Das Manifest von Ina Merkel geriet in Vergessenheit. Über die angesprochenen Probleme schien die Zeit hinweggegangen. Doch in Wirklichkeit hat die Gesellschaftsordnung, die 1990 als Sieger der Auseinandersetzung hervorging, keines davon zur Zufriedenheit der Betroffenen gelöst. Im Gegenteil. Heute ist ein Großteil der Sätze dieses Manifests wieder genauso aktuell wie vor 30 Jahren, auch wenn die Formulierungen manchmal unmodern wirken. Nichts hat sich erledigt. Die darin angesprochenen ökologischen Fragen beispielsweise könnten auf jeder Fridays-for-Future-Demo, jedem Klimastreiktag vorgelesen werden: »Die Folgen fortgesetzter Zerstörung der Umwelt sind heute schon spürbar.« Unsere Kinder werden »die wirklichen Opfer dieser verfehlten Entwicklung sein. Ihnen werden die Altlasten versäumten Umweltschutzes, ausgepowerter Natur und jahrzehntelanger Misswirtschaft aufgebürdet. Wenn es so wie bisher weitergeht, werden sie bald nicht mehr wissen, was ein Schmetterling ist. (…) Setzen wir auf Stadt- und Verkehrsentwicklung statt auf die Erweiterung des Individualverkehrs, auf gemeinnützige Infrastrukturen, auf praktikable Dienstleistungen, auf Öffentlichkeit und Kommunikation anstelle des weiteren Rückzugs in die Privatsphäre.«
Die feministischen Forderungen sind, unter anderen Prämissen und neu formuliert, von der nächsten Generation aufgenommen worden, jener, deren noch winzige Vertreter✶innen vor dreißig Jahren im Roten Salon von Männern betreut wurden, während ihre Mütter die Welt zu verändern suchten. Getreu einem späteren Motto der Volksbühne: Scheitern als Chance17.
Liebe Absolventinnen und Absolventen, liebe Gäste,
Absolventenreden zu halten, heißt, denjenigen, die da ein Blatt Papier in die Hand bekommen, das sie von nun an zu diesem oder jenem befähigt, etwas mitzugeben auf den Weg. Am besten, Ihnen etwas hinter die Ohren zu schreiben, was Sie nicht so schnell vergessen werden, oder, weniger martialisch, eine Erkenntnis zu vermitteln. Ich bin eingeladen, hier als Schriftstellerin zu Ihnen zu reden, nicht als Diplom-Germanistin, als die ich hier rausgegangen bin, nicht als Dozentin, die ich immer wieder auch hier bin.18
Ich werde mich also treiben lassen, assoziativ sein, versuchen, Sie mitzunehmen in mein Erinnerungs-, Denk- und Schreibgebäude, das Sie sich wie einen Schwitters’schen Merzbau vorstellen sollten. Keine rechten Winkel und ziemlich verkramt. Ich könnte Ihnen an den beiden Humboldts, diesen Türstehern vor dem Eingang des Hauptgebäudes Unter den Linden, die im Winter in den kleinen Holzhäusern verschwinden, erklären, wie verschieden die Wege sind, die gehen kann, wer die gleichen Ausgangsbedingungen hatte. Der eine bleibt zu Hause und schaut nach innen, der andere geht in die Welt, um sie zu vermessen. Und am Ende steht man in Stein gehauen oder aufs T-Shirt gedruckt.
Als ich überlegte, was ich Ihnen zum Abschied sagen könnte, was uns überhaupt verbindet außer diesem seltsamen Wort Alumni, als die Sie sich, wenn Sie hier heute rausgehen, bezeichnen dürfen (es klingt wie Aluminium), fiel mir der Ginkgobaum ein, der auf dem zur Dorotheenstraße führenden Innenhof dieser Universität steht. Wir alle sind daran vorbeigegangen, wenn wir den Weg zwischen der Straße Unter den Linden und dem Seminargebäude am Hegelplatz abkürzen wollten, wenn wir Vorlesungen in einem der Hörsäle des Hauptgebäudes hatten oder in die Mensa gingen. Der Ginkgo ist ein lebendes Fossil. Der einzige lebende Vertreter der Ordnung Ginkgoales, einer ansonsten ausgestorbenen Gruppe von Samenpflanzen. Auch soll die als Entenfußbaum bezeichnete, 250 Millionen Jahre existierende Baumart die Eiszeit überstanden haben. Das klingt erstmal gut für eine ehrwürdige, aber nur dreihundert Jahre alte Alma Mater. Im 18. Jahrhundert wurden die ersten Exemplare des Ginkgo von Seefahrern aus Japan nach Europa gebracht. Der Baum auf dem Innenhof soll 1846 angepflanzt worden sein. Zehn Jahre, nachdem Marx hier studiert und ein Jahr, nachdem er jene 11. Feuerbachthese geschrieben hatte, die heute noch im Marmortreppenhaus des Hauptgebäudes zu sehen ist: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretirt, es kömmt drauf an, sie zu verändern.«
Es gibt noch einen zweiten Ginkgobaum, einen männlichen, im linken Winkel des Ehrenhofes des Hauptgebäudes Unter den Linden, den man kaum sieht, weil er aus dem bevorzugten Blickwinkel, aus dem die Uni gerne fotografiert wird, fast gänzlich von einer roten Rosskastanie verdeckt wird. Es ist nicht ganz sicher, ob er nicht von einem der beiden Humboldts gepflanzt wurde. Ich werde mich auf den weiblichen Ginkgo beschränken, der inzwischen schon größer ist als das Hauptgebäude, Stammumfang 2,55 m.
Die Zahl derer, die an dem Ginkgobaum im Innenhof entlanggegangen sind, die meisten wohl, ohne auf ihn zu achten, ist groß. Unter ihnen Gelehrte, Dichter und Wissenschaftler, die noch heute durch unser Bildungssystem geistern. Irgendwann war die erste Frau dabei, die nicht Reinigungskraft war, sondern hier studieren durfte. Das war eine Errungenschaft, an die wir uns kaum noch erinnern, weil in der Philosophischen Fakultät II, die heute diese Feier veranstaltet, so nehme ich zumindest aus Erfahrung an, mehr Frauen eingeschrieben sind als Männer. Bei den Professorinnen sieht das immer noch anders aus.19
Der Ginkgo hat die 1848er Revolution, die Gründerzeit, den Ersten Weltkrieg und den Nationalsozialismus überstanden, die Abspaltung der Freien Universität und die Teilung der Stadt mitgemacht. Er hat vom 24. November 1943 bis zum 19. Juli 1944 mehrere Bombenangriffe erlebt, aber der Westflügel, an dessen Fassaden sich der Ginkgo fast schmiegt, wurde nur leicht beschädigt. Ein Wunder allerdings war, dass die Bäume nach dem Krieg nicht in Nacht- und Nebelaktionen gefällt und wegen der Brennstoffknappheit verfeuert, sondern wie die Brechtsche Pappel vom Karlsplatz verschont wurden. Wir können nur hoffen, dass die gegenwärtigen Bauarbeiten am Westflügel dem Baum nichts anhaben können. Und kein Sturm oder Gewitter ihn beschädigt oder entwurzelt, wie die zweite Rosskastanie auf dem Ehrenhof in der letzten Woche.
1999, da waren Sie (wenn Sie nicht eine oder einer jener fast ausgestorbenen Langzeitstudierenden sind, die oder der jetzt beschlossen hat, nach 26 Semestern Diplom oder Magister noch schnell abzuschließen, ehe es zu spät ist) noch gar nicht hier, gab es eine Meldung in der Berliner Zeitung, dass dem weiblichen Ginkgobaum im Ehrenhof Zweige eines männlichen Baumes aufgepfropft wurden. Die männlichen Zweige waren ein Gastgeschenk aus Tokio. Nur wenn die weiblichen und männlichen Zweige zusammenwachsen, kann sich der Baum fortpflanzen. Ich weiß nicht, ob das Experiment geglückt ist, ob die Früchte, die auf dem Boden unter dem Baum liegen, Zeichen für eine Fortpflanzungsfähigkeit sind.
Was mich interessiert hat am Ginkgo, war immer seine Unentschiedenheit. Nicht Nadel nicht Laub, aber im Winter kahl wie eine Lärche. Nicht Nadel, nicht Laub und zwischen allen Stühlen sitzen, das war und ist mir vertraut und somit auch sympathisch.
Als ich am 1. September 1983 hier Studentin wurde, schrieb ich in mein Tagebuch: »Studienanfang. Ich hatte damit gerechnet, gleich wieder nach Hause geschickt zu werden. Aber nichts.« Einen Tag zuvor war ich zum Verhör in das Polizeipräsidium Keibelstraße einbestellt worden, ein berüchtigter Ort, labyrinthisch und dunkel. Ich dachte nicht, dort so schnell wieder herauszukommen. Eine Freundin war im Kofferraum eines Autos in den Westen abgehauen und man verdächtigte mich, etwas mit ihrem Verschwinden zu tun zu haben. Das wäre ein ausreichender Grund gewesen, vom Studium ausgeschlossen zu werden. Mir passierte nichts. Es war ein Willkürstaat, das musste ich erst begreifen, für dasselbe kamen die einen ins Gefängnis, die anderen wurden in Ruhe gelassen. Die interessante Erkenntnis war, dass in Ruhe gelassen worden zu sein, mich nicht glücklicher gemacht hat, sondern nur unsicherer. Und die Unsicherheit setzte sich in den Träumen fest. Ich weiß nicht, wie es Ihnen ging, aber ich habe schreckliche Träume gehabt in der Zeit, als ich studierte. Träume, von der Staatssicherheit verhaftet zu werden, Träume von Wasserfolter und Stecknadeln im Hals, Träume, mit einem Kassenzettel des Intershops in den Westen zu gelangen und nicht wieder zurück zu dürfen, Träume, mit dem Flugzeug in den Westen fliegen zu wollen, aber über dem Prenzlauer Berg abzustürzen. (Ein Traum, der, im Grunde genommen, wahr geworden ist. Denn der Westen kam in den Prenzlauer Berg, ich musste mich gar nicht bewegen, ich konnte gleich sitzenbleiben auf dem Berg.)20 Als ich 2011 von der Performancegruppe She She Pop eingeladen wurde, mit den Frauen zusammen unsere Genese als Frau und die Unterschiede der Ost-West-Sozialisation auf die Bühne zu bringen,21 habe ich zum ersten Mal meine Tagebücher gelesen, die ich geschrieben habe, als ich an der Uni studierte. Auf der einen Seite des Notizbuches notierte ich meine Tageserlebnisse, auf der Rückseite meine Träume. Die Tagesnotizen sind nicht von Belang, weil selbstzensiert. Die Träume aber verraten, was wirklich in mir vorging. Ein Traum, der es bis auf die Bühne schaffte, ist der vom 12. Juli 1985: »Die Universität hatte beschlossen, um die Studenten in Schach zu halten, einmal im Jahr eine Studentin oder einen Studenten aufzuhängen. Das Opfer sollte ausgelost werden. Wir standen alle vor dem Losbehälter. Jeder durfte einmal ziehen. Viele hatten sich für den Anlass schön gemacht, besonders Kirsten Kaiser. Auf sie fiel das Los. Ich sehe noch ihr Gesicht, wie sie das Los herauszog, aufrollte und plötzlich alles an ihr erstarrte. Sie musste auf eine Bühne und stand dort fassungslos.
Ich dachte, sie müsste doch schreien, heulen, bitten, dass das alles nicht wahr sei. Aber sie stand nur da und gab dem Henker das Los, blinzelte nervös mit den Augen, wie sie es immer im Seminar getan hatte, und ließ sich den Strick umhängen. Die Menge schrie und grölte.«
Ich erinnere mich nicht, dass es mir schlechtging an der Uni. Ich lebte halt nur zwei Leben. Nachts in der Prenzlauer-Berg-Szene und tagsüber im Seminar. Nachts in den Alpträumen und tags in der Uni. Ich habe nie wieder so viel Ruhe gehabt wie in den Stunden, die ich in der Bibliothek der Sektion Germanistik verbrachte, jenseits aller Hektik. Alles fiel ab, wenn man zwischen den uralten Büchern saß, ein geballtes und oft für den Alltag unnützes Wissen, das aber nicht schwermütig machte, höchstens melancholisch. Viele Jahre habe ich von dort auf die Ruine am anderen Ufer des Kupfergrabens geschaut.22 Auch das hat mit dem Ginkgo zu tun. Nicht Nadel, nicht Laub, den Widerspruch zeigen, ihn aushalten.
Ich habe am 13. Juni 1989 dieses Papier bekommen, das sich damals noch Diplom nannte. Es gab keine Feier, aber es kann sein, dass ich einfach nicht dabei war, weil ich wegen Krankheit und Schwangerschaft ein halbes Jahr später fertig wurde. Es war nur wenige Wochen nachdem Gleichaltrige, Studierende wie ich, den Platz des Himmlischen Friedens besetzten und für Freiheit und Demokratie demonstriert hatten. Unvergesslich jener 4. Juni 1989, als die Proteste blutig niedergeschlagen wurden. Als das Mitglied des Politbüros, Egon Krenz, die chinesischen Genossen für ihre Entschiedenheit lobte, die Ordnung wiederhergestellt zu haben, fürchtete nicht nur ich, dass auch in der DDR die Armee gegen Protestierende vorgehen könnte. In meinem Kopf blieb das Bild des jungen Mannes, der sich fünf Panzern in den Weg stellt.
Von den Studierenden dieser Universität ist 1989 nur wenig Wille zur Veränderung ausgegangen.
Wenn ich rekapituliere, was aus uns geworden ist, die wir damals, 1989, unser Diplom ablegten, dann ist ganz deutlich, dass fast niemand eine Karriere an der Uni machte, auch wenn es, als wir studierten, bei einigen ganz sicher danach aussah. Wenn ich mich umsehe unter denen, die ich nicht aus den Augen verloren habe, dann sehe ich da zwei Verleger, eine Gleichstellungsbeauftragte, eine Lyrikerin, die von Literaturwerkstätten lebt, den Leiter zweier renommierter Archive, eine Fernsehansagerin, eine, die die Wetter- und Verkehrsmeldungen in einem Jugendsender spricht, mehrere freie Journalistinnen. Einer ist in Amerika verschollen. Eine, wenn auch nicht aus meiner Seminargruppe, mit ausreichend Machtbewusstsein und -willen hat es gar, kurzzeitig, zur Führerin einer Partei gebracht.
Ich hatte Lehrerinnen und Lehrer, von denen heute, wenn ich es recht überblicke, nur noch zwei da sind. Vor zehn Jahren waren es allerdings nicht viel mehr.23 Die Professoren, die in den neunziger Jahren gekommen waren, und ich sage das durchaus mit Absicht ohne die weibliche Bezeichnung, hatten ihre Assistenten alle mitgebracht, auch die Männer. Wenn ich am Ginkgo vorbeigehe, sehe ich aber schon die Zusammenhänge zu dem, was vorher hier war. Dass man am Pförtnerhäuschen den Studentenausweis vorzeigen musste, der aber kein Passbild hatte und auch nie wirklich kontrolliert wurde. Man konnte alle möglichen Fremden hier einschmuggeln, allein, es gab wenige Fremde, die Lust auf ein Abenteuer hatten. Als ich an der Humboldt-Uni studierte, gingen wir an dem weiblichen Ginkgobaum im Innenhof vorbei, um in den im Keller gelegenen Studentenclub zu kommen, der tagsüber eine Cafeteria war. Wir gingen dort hin, wenn wir wenig Zeit hatten und es nicht bis ins Espresso Unter den Linden schafften, wo die Weltverbesserer philosophierten, die da wahrscheinlich heute noch sitzen würden, wenn das Lindencorso samt Espresso nicht abgerissen und durch einen Volkswagenshowroom ersetzt worden wäre.
Die Cafeteria hat es in meinen Roman Walpurgistag24 geschafft. Sie ist in dem Kapitel, in dem aus dem Leben einer Kaffeemaschine erzählt wird, die für einige Zeit dem Akkordschlachter im VEB Zentralvieh- und Schlachthof Uwe Peschel gehört und mit deren Kaffee er die Philosophiestudentin Viola Karstädt ködert, die aber immer nicht weiß, worüber sie sich nach dem Sex mit Uwe unterhalten soll, über Heidegger und Hannah Arendt sicherlich nicht. »Zwei Semester später lernt Viola Karstädt einen Philosophiestudenten aus dem Studienjahr unter ihr kennen. Das erste Treffen findet in der Cafeteria des Hauptgebäudes der Humboldt-Universität statt, wo der Kaffee nur vierzig Pfennig kostet und aus einer Kaffeebrühmaschine Typ KBM gereicht wird, aber im Gegensatz zu Peschels Kaffee nach Abwaschwasser schmeckt. Obwohl Viola der Genauigkeit halber sagen muss, und darauf hat sie ihr neuer Freund hingewiesen, dass das mit dem nach Abwaschwasser Schmecken empirisch nicht abgesichert ist. Denn sie hat auf Nachfrage zugegeben, noch nie Abwaschwasser getrunken zu haben.«
Auch Viola Karstädt ging also an dem weiblichen Ginkgobaum vorbei, ohne dass er Eingang gefunden hat in meinen Text. Ein Gedicht, das ich gleich zu Beginn meines Studiums schrieb und das »Ginkgo neben der Uni« hieß, brachte es nicht zur nötigen Reife. Ich habe bis auf eine Erzählung von Erich Köhler aus dem Jahr 1981, in der ein alter Mann ein Ginkgoblatt von besagtem Baum im Innenhof raubt, sich in den Mund steckt und mit Hilfe desselben ein junges Mädchen kennenlernt, die ein Kind von ihm bekommt, eine ziemliche Männerphantasie, wenn Sie mich fragen, keine weitere Erzählung und kein Gedicht über diesen Baum gefunden.
Für den Beruf, den ich heute angebe, wenn ich gefragt werde, war der Abschluss zumindest äußerlich nicht von Belang. Da das Schriftstellerinnendasein aber großen finanziellen Schwankungen unterworfen ist, zumindest in meinem Falle, war ich in den letzten 23 Jahren seit meinem Abschluss immer wieder angehalten, andere Tätigkeiten auszuüben, eine von ihnen war die der Dozentin. Der Abstand zwischen mir und meinen Studentinnen und Studenten wurde mit den Jahren immer größer, aber diese Erkenntnis, dass wir verschiedenen Generationen angehören, kam schleichend, vielleicht kam sie mit der Einführung des Bachelorsystems, das mich zur Lehrerin machte, die plötzlich zensieren musste, wo sie vorher analysierte oder Empfehlungen gab. Was ich, die ich hier in einem völlig verschulten System gefangen war, nach Jahren der Freiheit als sehr einschränkend empfinde.
Ich lebe seit 1991, als ich diese Uni nach einem angefangenen, aber nicht mehr weiterfinanzierten Forschungsstudium verließ, mit dem alltäglichen Wissen, dass es irgendwelche Sicherheiten nicht gibt. Das wissen auch Sie, auch wenn Sie halb so alt sind wie ich. Als ich hier anfing am 1. September 1983, als ich das erste Mal am Ginkgobaum vorbeiging, hatte jeder Absolvent, jede Absolventin nach dem Studium Anspruch auf eine feste und bezahlte Stelle in seinem oder ihrem Beruf, allerdings mussten wir unterschreiben, dahin zu gehen, wo der Staat uns brauchte. Das wollten viele von uns nicht und suchten nach Auswegen, dem zu entgehen. Als ich mein Studium beendete, war ich die erste, für die es keine Stelle gab. Ich habe das als Chance genommen. Die Bildung hatte ich bekommen, jetzt konnte ich frei über mein Leben entscheiden. Ich habe die Zeit nach dem 7. Oktober 1989 als beglückend empfunden, auch wenn andere Zwänge kamen und andere Unsicherheiten. Heute halte ich eine Absolventenrede, morgen kann es sein, dass ich im Jobcenter sitze und Hartz IV beantragen muss.
Ich muss mir immer ins Gedächtnis rufen, wie ich war, als ich an die Uni kam, wenn Studierende meiner Seminare Uwe Johnson nicht kennen, nicht Sylvia Plath, Ingeborg Bachmann oder Inge Müller. Max Frisch, ja, Homo Faber. Aber was wusste ich schon, als ich hierherkam, was weiß ich heute alles nicht. »Schlaft nur, schlaft, ihr habt ja Schiller und Goethe«, war der Titel eines 1983 bekannten, aber heute leider vergessenen Gemäldes von Rolf Kuhrt, das auf der IX. Kunstausstellung in Dresden hing und eine Gruppe von Menschen im Wasser zeigt. »Schlaft nur, schlaft, ihr habt ja Google und Facebook«, könnte man den Titel heute abwandeln, das Wasser ist längst weitergestiegen. Und zu dem »ihr« habe auch ich immer gehört.
Manchmal frage ich mich, was aus uns geworden wäre, wenn alles so weitergegangen wäre, damals. Als ich mit dem Studium anfing, hätte ich niemals geglaubt, dass kurz nach dem Ende meines Studiums so etwas wie die Staatssicherheit, die Mauer und schließlich auch die DDR nicht mehr existieren würde. Was kommt nach Jetzt?
Inzwischen wissen wir nicht mehr, mit welcher Währung wir morgen bezahlen werden. Uns fehlt die Phantasie, uns vorzustellen, wie es sein wird, wenn wir alt sein und kein Einkommen haben werden, weil die Renteneinzahlungen und Ersparnisse von Banken und Versicherungen verzockt sind. Wo werden wir wohnen, wo gehen wir hin? Das betrifft Sie und mich, Sie wohl noch etwas länger als mich. Das Stück Papier, das Sie heute hier mitnehmen, befähigt Sie nicht, ein Auto zu reparieren, das in der Wüste stehengeblieben ist. Aber es befähigt Sie vielleicht, in anderen Sprachen zu kommunizieren, was in schwierigen Situationen von Vorteil sein wird.
Der Ginkgo kann Ihnen da aber nicht helfen. Lange hieß es, Extrakte von Ginkgo erweiterten die Gefäße und würden die Gedächtnisleistungen verbessern, den Verlust von Nervenzellen verhindern und zur Stärkung der Konzentration und Merkfähigkeit im Alter führen. Eine umfassende Studie hat aber ergeben, dass sich der bei vielen Menschen einsetzende geistige Verfall im Alter durch Ginkgopräparate nicht aufhalten lässt.
Die Frage ist nicht die nach dem Prädikat, mit dem man ein Bildungsinstitut verlässt, hat der Schriftsteller David Foster Wallace in seiner Rede vor Absolventen des Kenyan College 2005 gesagt, drei Jahre, bevor er sich das Leben nahm. »Die Wahrheit im Vollsinn des Wortes dreht sich (…) um den wahren Wert wahrer Bildung, die nichts mit Noten oder Abschlüssen, dafür aber alles mit schlichter Offenheit zu tun hat – Offenheit für das Wahre und Wesentliche.«25 Ich finde, die große Kunst ist, in dieser differenzierten, inzwischen sowohl realen als auch virtuellen Welt das Wahre und Wesentliche als das zu erkennen. Und ich hoffe, dass diese Universität Ihnen das Werkzeug dazu mitgegeben hat.
Wahrscheinlich wissen die meisten von Ihnen noch nicht, womit Sie in zehn Jahren Ihren Lebensunterhalt verdienen, wo und unter welchen finanziellen Bedingungen Ihre Kinder aufwachsen werden, so Sie welche haben werden. Ich kann Ihnen nur sagen, verlieren Sie nicht den Mut, bleiben Sie offen, machen Sie Ihr Ding, auch wenn Sie aus den unterschiedlichsten Gründen in Zwänge geraten werden, von denen Sie sich heute noch keine Vorstellung machen. Vielleicht wird es ja in 23 Jahren gar keine Universitäten im heutigen Sinne mehr geben, sondern aus Mangel an öffentlichen Geldern nur noch Fernuniversitäten, in die man sich von zu Hause aus einschreibt und dort vor dem Rechner sitzen bleibt. Man wird sich über die sozialen Netzwerke in seine Kommilitonen verlieben müssen, weil man sie nie zu Gesicht bekommt. Vielleicht werden Sie, wenn Sie einst Dozenten oder Professorinnen sind, Ihre Studierenden gar nicht mehr von Angesicht zu Angesicht kennenlernen. Sie werden sich nicht mehr auf der Straße grüßen, nicht vielleicht noch Jahre später einen Kaffee mit ihnen trinken. Auf den Evaluierungsbögen werden die gleichen anonymen Sätze stehen, aber Sie werden gar nicht mehr nach einem Gesicht suchen, das Sätze wie: »Der Dozent ist nicht motiviert genug« geschrieben hat. Sie werden keine Bibliotheken mehr haben, die Ihre Wohnungen füllen, sondern alles auf Festplatten speichern und dauernd auf der Hut sein müssen, dass nicht alles im Daten-Nirvana verschwindet. Es wird Technologien geben, von denen wir heute noch nichts wissen. Im Radio kamen heute allein fünf Meldungen, die unser Leben beeinflussen, Meldungen, dass Physiker im CERN vielleicht das Gottesteilchen entdeckt haben, das Acta-Abkommen über das europäische Urheberrecht abgelehnt wurde, der Verfassungsschutz inkompetent ist (was wir schon vorher geahnt haben), eine Geiselnahme bei einer Zwangsräumung Tote gefordert hat, Europas Topkonzerne an Bedeutung verlieren. Alles das kann Veränderungen für unser Leben bedeuten oder Beispiel dafür sein, dass es härter werden wird für Leute wie Sie und mich. Aber das soll uns natürlich nicht entmutigen. Sie werden Ihr dialektisches Verhältnis zu jedem Problem entwickeln und ihm mit Pragmatismus und einer großen Flasche Wasser beikommen. By the way, das mit dem vielen Wassertrinken in den Seminaren habe ich wirklich nicht verstanden. Und Sie wahrscheinlich nicht, dass es bei uns Seminare gab, in denen man rauchen durfte (in meinem Fall aber nur im Seminar Literatur der BRD).
Auf den Naturschutzseiten der Homepage der Stadt Berlin heißt es, dass Ginkgos für die Stadt eine besondere Bedeutung haben, da sie extrem stadtklima- und hitzeverträglich sind und keine Krankheiten kennen. Es könnte also sein, dass der Ginkgo noch da ist, wenn die Eichen, Kastanien und Kiefern dem Klimawandel zum Opfer gefallen sind.
Nehmen Sie sich ein Blatt mit von einem der Ginkgobäume, wenn Sie gehen. Es liegen immer welche auf dem Weg. Vielleicht wird es in dreißig Jahren aus einem Ihrer Kalender oder Notizbücher fallen, in das Sie durch Zufall hineinsehen werden. Vorausgesetzt, Sie tippen das alles nicht schon in ein Smartphone. Dann sollten Sie aber wenigstens ein Foto machen.
Ich wünsche Ihnen alles Gute auf allen Ihren Wegen.
Der 8. März 2019 ist in Berlin erstmalig gesetzlicher Feiertag. Zwischen Parlamentsbeschluss und Umsetzung lagen nur sechs Wochen. Ein unglaubliches Tempo in einer Stadt, wo der Säugling schon zahnt, ehe die Geburtsurkunde ausgestellt ist und vom neuen Flughafengebäude die Buchstaben des Namensgebers schon wieder abgefallen sind, noch ehe der BER26 eingeweiht ist.
Dass es ausgerechnet der Frauentag ist, kam selbst für organisierte Feminist✶innen überraschend, es ist quasi ein Geschenk, das auf keinem Wunschzettel stand. Der 8. März war ein Kompromiss der im Abgeordnetenhaus regierenden Parteien SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Es gab andere Vorschläge für einen Feiertag, den Berlin nötig hatte, gab es doch hier bisher nur 9 freie Tage im Jahr. Zum Vergleich: Bayern hat 13 Feiertage. Es hätte auch der 18. März, der 8. Mai oder der 9. November werden können, aber keiner der Tage bekam eine Mehrheit. Nun also der Frauentag. Die Berliner✶innen sind nicht allein, in 26 Ländern, darunter Georgien, Angola, Nordkorea, die Ukraine und Kuba, ist der 1911 auf Initiative der Frauenrechtlerin und späteren Kommunistin Clara Zetkin eingeführte »Tag der Vereinten Nationen für die Rechte der Frau und den Weltfrieden« ein arbeitsfreier Tag. Kaum fiel das Wort Frauentag, schon gab es Leute, die Angst hatten, mit Piccolo und Peitschen bewaffnete Frauenhorden auf Bierbikes27