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Tommy Durrer

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Beschreibung

Hans war immer einer, der nach Glück und Erfolg strebte und definitiv keiner, der erst nach Bronze kommt. Bis es dann doch anders kommt und seine Ehe scheitert. Für Hans bricht die Welt zusammen, wie einige Tage später Teile der Notre Dame in Paris. Beim einen war es zu viel Feuer, beim anderen zu wenig. Der Sinn des Lebens verliert auf einen Schlag an Sinn und Hans macht sich in den Bergen auf die Suche nach Antworten. Bei einer mehrtägigen Wanderung findet er unverhofft ein geheimnisvolles Tal mit Menschen, die ihm Augen und Herz öffnen. Und so nimmt das Leben von Hans eine unerwartete Wendung. Es sollte nicht die letzte sein. Eine Geschichte so ehrlich, schmerzhaft, heiter und abenteuerlich wie das Leben.

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Für alle, die nasse Socken doof finden, die Natur mit Respekt behandeln und akzeptieren, dass auch sie nicht perfekt sind. Und besonders für J & L. Träumt gross und lasst euch von niemandem sagen, dass etwas nicht möglich ist. Niemals!

«Erfolg liegt nicht darin, niemals zu fallen, sondern jedes Mal wieder aufzustehen, wenn man gescheitert ist.»

Inhaltsverzeichnis

Das Streben nach Sinnhaftigkeit und Glück

Geformt und geprägt von der Vergangenheit

Wenn der Berg ruft und Antworten verspricht

Abgestürzt im vermeintlichen Nirgendwo

Wie ein Fisch im wohlbehüteten Aquarium

Wenn das Herz den Verstand hinter sich lässt

Bis die Zeit wahrhaftig gekommen scheint

Nichts als die Quintessenz des Lebens

Eine Art Anhang und abschliessende Worte

Das Streben nach Sinnhaftigkeit und Glück

Hans. Nicht gerade ein spezieller Name in unseren Breitengraden. Obwohl, zu ‘unseren’ Breitengraden gehören unter anderem ja auch Länder wie Ungarn, Moldawien, Kasachstan, China oder die Mongolei. Und dort wäre ein Hans zumindest namenstechnisch definitiv ein Exot. Aber zurück zur Schweiz, wo Hans generationenübergreifend wahrhaftig kein besonderer Name ist. Im Gegenteil, fast schon gewöhnlich. Nicht weniger als 57’863 Einträge davon findet man beispielsweise im Schweizer Telefonbuch. Doch die Stunden sind gezählt. Denn zum einen ist ein solches Register heutzutage eher etwas für hoffnungslose Romantiker oder radikale Mobilfunkgegner. Und zum anderen schafft es der Name Hans bei frischgebackenen Eltern längst nicht mehr ganz oben auf die Liste. Im Jahr 2021 kamen in der Schweiz bei insgesamt 45’928 neugeborenen Knaben gerade mal vier ‘Hänschen klein’ zur Welt. Gleichbedeutend mit dem vernichtenden 1'524. Rang in der jeweils mit Spannung erwarteten Rangliste der beliebtesten Vornamen. Noah, Liam und Matteo – das sind heutzutage die Sieger. Aber trotz allem war Hans aus dieser Geschichte definitiv keiner, der erst nach Bronze kommt. Im Gegenteil. Auch unser Hans war ein Gewinner-Typ. Der Name ist halt Programm. Denn der Hans kann’s. Aber dafür musste er schon auch etwas tun.

Hans war einer, der stets nach Glück und Erfolg strebte. Und dies im Grossen und Ganzen auch sehr erfolgreich tat. Nicht so wie sein Namensvetter aus der Geschichte der Gebrüder Grimm: Ihr Hans im vermeintlichen Glück, der sich zwar mit harter Arbeit einen kopfgrossen Klumpen Gold verdiente (was, wenn man dabei von 15 Kilogramm ausgeht, heutzutage einem Gegenwert von rund 800'000 Franken entspräche), am Ende aber doch mit leeren Händen dastand. Dumm gelaufen. Denn er tauschte das – aus seiner Sicht zu schwere und völlig unpraktische – Gold zuerst gegen ein praktischeres Pferd, dann das Pferd gegen eine Kuh, die Kuh gegen ein Schwein und das Schwein gegen eine Gans. Und diese wiederum gab er später für zwei Steine her, welche letztlich wegen der ihm fremden Schwerkraft auch noch in einen Brunnen fielen, als er daraus trinken wollte. Dies als Auffrischung für alle die, welche die Geschichte bei einer Strassenumfrage zwar mit ‘Klar, kenne ich’ betiteln, bei der Frage nach der Handlung aber dann doch arg ins Stocken geraten würden und somit als Telefonjoker wohl eher nicht mehr infrage kämen. Doch was will uns diese oft zitierte Geschichte überhaupt lehren? Vielleicht, dass dieser Hans trotz des scheinbar unglücklichen Verlaufs doch nicht unglücklich war. Und zwar, weil er eben stets nur das begehrte, was er tatsächlich bekommen konnte und was ihm direkten Nutzen versprach.

Das eigene Streben nach Glück und Erfolg ist theoretisch gesehen reine Interpretationssache. Kinder grossziehen, sagen die einen. Die Welt ein Stückchen besser machen oder sich selbst finden, denken andere. Und für eine weitere Gruppe ist klar: Die Liebe ist es und die Liebe zu den Mitmenschen. Alles sehr individuell also. ‘Unser’ Hans wurde ebenfalls von solch persönlichen Zielen angetrieben. Für ihn stand fest, dass ein Mensch glücklich ist, wenn er es im Beruf zu etwas bringt und Kinder in die Welt setzt. Idealerweise zwei oder drei davon. Ein Job also, der die harte und verantwortungsvolle Arbeit jeden Monat möglichst mit einem fünfstelligen Betrag auf dem Lohnkonto entschädigt und eine Familie versorgt. Beides hatte Hans. Einen spannenden Job und eine eigene kleine Familie. Den Sinn des Lebens scheinbar mit knapp 40 Jahren bereits erfolgreich gefunden und umgesetzt. Doch so einfach und gradlinig sollte das Leben von Hans ab hier nicht mehr verlaufen.

Zwar hatte er mit Anna eine grossartige Frau an seiner Seite. Aufgestellt, unternehmungslustig und warmherzig, um hier drei positive Charaktereigenschaften besonders zu erwähnen. Zudem eine, mit der er durch dünn und etwas dicker ging. Zwei Mal sogar. Hans der Familienvater. Er hätte eigentlich nicht glücklicher sein können. Denn auch karrieremässig ging es nur in eine Richtung. Was Hans erreichen wollte, schaffte er auch. Die diversen Aus- und Weiterbildungen untermauerten in seinen Bewerbungen für den angestrebten Job jeweils nicht nur die notwendigen Fähigkeiten, sondern unterstrichen auch den dazugehörigen Biss und Willen. Zudem fiel es ihm leicht, sich mündlich vorteilhaft zu verkaufen und seine Argumente und Positionen gewinnbringend einzubringen. Wortgewandt, schlagfertig und trotzdem stets freundlich, emphatisch und durchaus charmant.

Auch privat war Hans einer, der sich stets neue Ziele setzte. Nicht zu verbissen, aber trotzdem immer fordernd. Wenn Hans etwas schaffen wollte, dann tat er dies mit Leidenschaft und dem notwendigen Durchhaltevermögen. Dabei war es meist die Natur, die ihn inspirierte. Sie war es, die ihm jeweils wieder eine Menge der verbrauchten Energie zurückgab, wenn er beispielsweise allein in den Wäldern oder Bergen unterwegs war. Die Strapazen und offenen Blasen an den Fersen waren längst verdrängt und vergessen, wenn er etwa am Abend nach der erfolgreichen Besteigung eines Viertausenders mit einem kühlen Bier in der Hand vor der Berghütte sass und mit der gewohnt inneren Ruhe den Sonnenuntergang genoss. Schon bald waren jedoch das nächste Abenteuer und die nächste Herausforderung gesucht und gefunden. Ganz nach dem Motto: ‘Wenn möglich immer vorwärts. Immer vorwärts.’

Diese innere Ruhelosigkeit, dieser Drang nach Freiheit, die er oft nur im Alleinsein in der Natur fand, war aber auch immer schon eine Schwäche gewesen. Hans hatte geglaubt, die Ehe und vor allem die Kinder würden ihn sesshafter machen. Doch auch jetzt gefiel er sich als eine Art Tänzer, der leichtfüssig zwischen Familie, Arbeit und Freundschaften hin und her streifte, manchmal verweilte, aber insgeheim doch nie ganz zu halten war. Wie sein Sternzeichen – ein Fisch im Wasser. Oder was in gängigen Fachbüchern darüber geschrieben wird: «Der Fisch ist unter anderem äusserst feinfühlig, stets hilfsbereit und handelt oft selbstlos. Für Familie und Freunde würde er alles tun. Doch so hingabefähig sie auch sein können, Fische wissen oftmals nicht, was sie vom Leben möchten. Gehemmt durch innere Ängste sind sie deshalb auch lange auf der Suche nach ihrem persönlichen Sinn für das Leben.»

Passt wie die ominöse Faust aufs Auge oder die unsägliche Blechlawine zu Ostern vor das nördliche Gotthardportal. Doch zu diesem Zeitpunkt war Hans noch nicht vertraut mit den spirituellen Interpretationen seines Sternzeichens und Charakters. Wieso auch? Er war fest davon überzeugt, den Sinn des Lebens ja bereits gefunden zu haben. Etwas leichtgläubig, wie eben auch alle Autofahrerinnen und Autofahrer, die über Ostern ‘einfach schnell’ ins Tessin wollen. Und sowieso: Gemäss Studien liess sich ein Zusammenhang zwischen dem Sternzeichen und den Charaktereigenschaften eines Menschen wissenschaftlich bisher noch nicht belegen. Gut, es gibt auch sogenannte Studien, die Raucherinnen und Rauchern ein genauso sorgenfreies und gesundes Leben voraussagen wie allen anderen.

Sorgenfrei lief es im Leben von Hans jedoch bald nicht mehr weiter. Obwohl er mit der Jugendsünde Rauchen längst aufgehört hatte und auch sonst einen gesunden Lebensstil pflegte. Das scheinbare Glück bremste Hans je länger je mehr aus. Im Beruf fehlten ihm die Perspektiven und auch privat veränderte er sich. Die gewohnte Lebensfreude wich schrittweise einer inneren Leere. Anfänglich wollte und konnte er sich das jedoch nicht eingestehen. Seiner Ansicht nach alles nur eine temporäre Schwächephase, die bald schon wieder vorbei sein würde. Doch das war sie eben nicht. Sie hielt an und wurde gar noch schlimmer. Wie ein anderer Namensvetter aus einem bekannten Volkslied zog sich Hans immer mehr zurück:

«Dr Hans im Schnäggäloch, hed alles was är will.

Und was är hed, das will är nid.

Und was är will, das hed är nid.

Dr Hans im Schnäggäloch, hed alles was är will.»

Doch was wollte Hans wirklich? Bestimmt kein Maoam! Aber was sonst? Er, der wirklich viel wusste, wusste es nicht. Hans konnte diese scheinbar simple Frage nicht beantworten. Und das machte ihn innerlich nicht nur noch leerer, sondern auch wütend. Wütend auf sich selbst. Wie unverschämt er doch war. Er hatte einen grossartigen Job, eine attraktive und liebenswürdige Frau sowie zwei wundervolle Kinder. Was denn noch? Einen beruflichen Neustart? Nein, das konnte er als pflichtbewusster Vater und Haupternährer nicht riskieren. Und sowieso, was sollte er schon anderes machen? Vor allem erfolgreich machen können. Nein, also keine Veränderung im Beruf. Aber auch die Wohnung hatten Hans und seine Familie erst kürzlich gewechselt. Somit kam auch dieses Thema als potenzielle Radikal-Lösung nicht infrage.

Ebenso wenig wie eine neue Frisur. Denn bei diesem Thema war Hans ausnahmsweise sehr eitel, hatte ihm doch eine sogenannte ‘Dame des Fachs’ in der Jugend seine Frisur einmal ziemlich verpfuscht. Ohne Brille war er ihr hilflos ausgeliefert gewesen, und als er sein Spiegelbild dann endlich wieder scharf sehen konnte, war es zu spät und die längeren Haare am Boden statt auf dem Kopf. Gefühlte fünf Wochen ging er trotz sommerlicher Temperaturen nur noch mit einer Wollmütze aus dem Haus. Ein prägendes Ereignis. Doch inzwischen war er darüber hinweg. Hans hatte den Coiffeur seines Vertrauens und die passende Frisur für seine Kopfform gefunden. Auch dieses Thema kam in Sachen ‘Reset’ deshalb nicht in die engere Auswahl. Da blieb also scheinbar nur noch eine Affäre, wenn man den vielgehörten Ratschlägen für eine wohltuende Veränderung Glauben schenken wollte.

Zugegeben, bei nichts anderem schienen die Gedanken anfänglich verlockender. Aber sie waren auch schnell wieder verflogen. Hans war zwar ein Lebemann, aber stets treu. Und daran würde sich bestimmt auch nichts ändern. Doch er musste sich länger je mehr eingestehen, dass er in seiner Frau nicht mehr dasselbe sah wie noch vor Jahren. Als Familien-Manager funktionierten sie zwar bestens. Doch leider nicht mehr als Paar. Und je mehr er sich zurückzog, desto mehr schwappte dieses Gefühl auch auf Anna über. Die negative Spirale hatte angefangen, sich zu drehen. Und sie wurde schneller und schneller. So schnell, dass sie sich dann auch nicht mehr stoppen liess.

Manchmal ist es halt im Leben wie mit einem Navigationssystem nach dem falschen Abbiegen auf einer längeren Autofahrt – bei Hans und Anna musste die Route neu berechnet werden. Sie waren nicht nur zu schnell gefahren und somit auch an den etlichen Warnschildern vorbei, nein, sie hatten sich zudem hoffnungslos verfahren und es trotz zahlreicher Gegenmassnahmen nicht geschafft, die Reise gemeinsam weiterzuführen, ohne dass diese früher oder später in einem Unglück enden würde. So offensichtlich es auch war, dieses Eingeständnis brauchte seine Zeit. Doch letztlich mussten sie sich gegenseitig zu- und eingestehen, dass ein gemeinsames glückliches Leben nicht mehr möglich war, ohne dass sich jemand dafür wider Willen dauerhaft verbiegen und anpassen müsste. Ein Dilemma!

Eine Trennung, – auch wenn sie sehr schmerzhaft sein würde, – schien tatsächlich die einzige Lösung zu sein. Auch wenn Teile der Gesellschaft diesen Schritt nicht verstehen konnten. Doch die Meinung aller Besserwisser war ihnen wie immer egal. Es war ihr Leben. Und so würde Hans in einem nächsten Schritt ausziehen und sich eine neue Bleibe suchen. Klingt hart, ist aber auch logisch. Und so wurde dieser Entscheid bald schon in die Tat umgesetzt. Doch als dieser Tag kam, brach für Hans die Welt zusammen, wie einige Tage später Teile der Notre Dame in Paris. Beim einen war es zu viel Feuer, beim anderen inzwischen eben leider zu wenig. Obwohl es schon länger feststand, für Hans fühlte es sich in diesem Moment an, wie wenn sein Sinn des Lebens auf einen Schlag an Sinn verlor. Und bestimmt nicht wegen der alten Kirche in Paris.

Geformt und geprägt von der Vergangenheit

So sehr ihn die Trennung von seiner Familie auch schmerzte, Hans haderte nicht. Auch jetzt nicht. Trauern ja, aber nicht mitleidig jammern und im Elend des Moments verharren. Aufstehen, Dreck abwischen und handeln! Hans schaute wann immer möglich vorwärts, dachte wann immer möglich positiv und pragmatisch. Denn: Die Vergangenheit ist ganz simpel betrachtet die Menge aller zeitlich zurückliegenden Ereignisse. Es ist die Zeit, die früher war. Sie ist also bereits vorbei. Ändern konnte auch einer wie Hans das Vergangene nicht. Aber die Zukunft hatte er nach wie vor in den eigenen Händen. Und doch, die Vergangenheit war nicht umsonst. Denn sie hatte ihm zu dem geformt, zu dem er war. Doch wer war unser Hans eigentlich?

Hans kam anfangs der 1980er-Jahre als jüngster von zwei Kindern im beschaulichen Hinterwalden zur Welt. Seine Familie hatte alles, was es zum Leben brauchte. Aber auch nicht viel mehr. Die gelegentlichen Ferien verbrachte man stets im Inland. Berge statt Sandstrand. Ferienwohnung statt Luxushotel. Wandern statt Planschen. All das störte Hans jedoch nie. Im Gegenteil. Er liebte die Natur schon als Kind. Der Wald und die Berge hatten es ihm dabei besonders angetan. Dort tauchte er jeweils in eine mystische und majestätische Welt ein, die ihm viel Spannenderes gab als heisser Sand unter den Füssen oder Salzwasser im Mund.

Wenn man wie Hans in Hinterwalden aufwächst, ist man eigentlich aus Prinzip schon ein ‘Kind der Berge’. Aber nicht alle können gleichermassen damit umgehen. Viel Natur, viel Freiheit, aber auch viel Nichts. Wenn man als Kontrast etwas Aussergewöhnliches erleben will, muss man schon ein paar Kilometer zurücklegen und ausserhalb danach suchen. Ein einziges Hochhaus gibt es in Hinterwalden und auch nur eine einzige Verkehrsampel. Und für viele Aussenstehende hat der Grossverteiler im übersichtlichen Hauptort auch einen orangefarbigen Grossbuchstaben zu wenig an der Fassade. Ansichtssache. In Hinterwalden kennt jede jeden und jeder jede. Das muss aber nichts heissen, denn für viele dort ist Schweigen tatsächlich noch genauso wertvoll wie Gold. Manche nennen es wahrhaftig vornehme Verschwiegenheit. Andere umschreiben es mit den Adjektiven verschlossen, stur und rückwärtsgewandt. Man sagt, die Hinterwaldner gelten grundsätzlich als eher ruhige, besonnene und geduldige Menschen. Viele von ihnen sind auch äusserst sesshaft und bleiben für immer dort. Eingeschlossen in den Tälern, abgeschirmt vom Rest der Welt.

Hans wusste, was er an dieser scheinbar heilen Heimat hatte. Und doch verspürte er schon früh einen gewissen Drang auszubrechen aus dieser Idylle. Rockstar oder Hai-Forscher wollte er später mal werden. Nicht etwa Landwirt oder Zimmermann wie andere aus seiner Klasse. Schnell kannte er gefühlt rund die Hälfte der 500 verschiedenen Hai Arten. Er war fasziniert von diesen Tieren. Und ebenso von der restlichen Unterwasserwelt jenseits der schillernden Oberfläche der Ozeane. Ihn packte die Tiefsee, die weiter hinab geht als die höchsten Berge hinauf. Während Licht, Luft, Wärme und Bewegung unsere Welt an Land prägen, ist der grösste Teil der Meere dunkel, kalt und sauerstoffarm. Fische verharren dort nahezu reglos. Faszinierend und unheimlich zugleich, besonders für ein Kind wie Hans. Hätte er aber damals schon gewusst, dass er bereits beim geringsten Wellengang hoffnungslos seekrank wird, hätte er sich all diese Bücher und Dokumentarfilme eigentlich sparen können. Aber wie sollte er auch. Das Meer sah er zum ersten Mal mit 16 Jahren. Und da sah er die Welt bereits wieder mit anderen Augen. Aber eben auch nicht mit denen eines Rockstars, um hiermit auch diesen Traum zu Grabe zu tragen.

Die Schulzeit war für Hans nie eine Qual gewesen. Er war ein guter Schüler und grundsätzlich sehr wissbegierig. Nur mit Abstraktem hatte er so seine Mühe. Chemie beispielsweise war für ihn nie greifbar und deshalb uninteressant. Er wusste zwar, dass es hier unter anderem um sogenannte Atome ging. Diese kleinen Teilchen also, aus denen wir und auch alles um uns herum aufgebaut sind. Allerdings kann man Atome mit dem blossen Auge und auch mit den besten Mikroskopen eben nicht wirklich sehen, weil sie so furchtbar klein sind. Auch wenn man zehn Millionen Atome nebeneinander aufreihen würde, wären sie nur etwa einen verdammten Millimeter breit. Eindeutig zu abstrakt für Hans. Viel lieber hatte er Konkretes, beispielsweise Sprachen. Die eigene, aber auch die fremden. Mit denen konnte man nämlich tatsächlich etwas anfangen. Miteinander kommunizieren oder eigene Gedanken und Ideen für die Ewigkeit festhalten. In Tagebüchern, an Toilettentüren oder wo auch immer. Dank fremden Sprachen erhielt man zudem Zugang zu den Menschen und der Welt weit ausserhalb von Hinterwalden. Nebst den Sprachen interessierte sich Hans auch für Geografie und Geschichte. National, aber auch international.

Bevor Hans jedoch diese fremde Welt auf eigene Faust erkunden konnte, absolvierte er sicherheitshalber noch eine solide Berufslehre im Büro. Nicht gerade so spannend wie Hai-Forscher oder Rockstar. Er entschied sich – der Durchlässigkeit in der Schweiz sei gedankt – trotzdem für diesen Einstieg in die Arbeitswelt, obwohl ihn die meisten seiner Lehrer lieber im Gymnasium gesehen hätten. Für seine Eltern war das nicht so entscheidend, sie wollten bloss das Beste für ihren Thronfolger an zweiter Stelle und standen stets hinter ihm. So liessen sie ihm die Wahl und das schätzte er. Auch sein älterer Bruder, mit dem Hans eine sehr harmonische Kindheit verbrachte, konnte ohne elterlichen Druck entscheiden, schlug einen akademischen Weg ein, wurde letztlich Physiker und wird wohl noch in diesem Beruf pensioniert. So geradlinig verlief es bei Hans nicht. Denn nach der ersten Lehre folgte sogleich eine zweite. Nun aber eine mit mehr Abwechslung und Kreativität. Zwar auch ein Bürogummi, aber an der Schnittstelle zu Marketing und Informatik. Zudem absolvierte er lehrbegleitend die Berufsmaturität.

Weil es damals aber keine entsprechende Schule in der Nähe von Hinterwalden gab, zog er für diese drei Jahre in eine rund 150 Kilometer entfernte Stadt am Tor zur französischen Schweiz. Hans genoss die Zeit in der Fremde und schloss alles Schulische mühelos und erfolgreich ab. Nicht so einfach war für Hans in diesen Teenager-Jahren jedoch das Thema Liebe. Er war zwar beim weiblichen Geschlecht immer schon beliebt gewesen. Doch die, die er begehrte, wollten ihn nicht und umgekehrt. Dumm gelaufen oder Schicksal. Egal wie man es sah, für Hans war schon früh klar, es muss schon mehr passen als nur das Äusserliche. Die erste grosse Liebe fand Hans letztlich dort, wo er und allen anderen wohl am wenigsten damit gerechnet hätten, nämlich weit weg von zu Hause.