Betty Paoli — Dichterin und Journalistin - Karin S. Wozonig - E-Book

Betty Paoli — Dichterin und Journalistin E-Book

Karin S. Wozonig

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Beschreibung

Mit sechzehn Jahren war sie zum Broterwerb als Gouvernante gezwungen, mit fünfundzwanzig ein Superstar der deutschsprachigen Lyrik-Szene, nach 1848 die erste Journalistin Österreichs. Betty Paoli war in turbulente Liebesbeziehungen verwickelt und skandalumwittert, befreundet mit revolutionären Dichtern, mit Franz Grillparzer, Adalbert Stifter und Marie von Ebner-Eschenbach. Sie war Gast in hochadeligen Häusern, Übersetzerin für das Burgtheater und bis ins hohe Alter in den Wiener Salons wegen ihres scharfen Verstands und trockenen Humors von den einen gefürchtet, von den anderen bewundert. Karin S. Wozonig begegnet der Mythenbildung um Paolis Leben mit völlig neuen Fundstücken und Erkenntnissen und würdigt Paolis Bedeutung als Dichterin, Kritikerin und Pionierin der Publizistik.

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Seitenzahl: 890

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Karin S. Wozonig · Betty Paoli

Rezensiert von ao. Univ.Prof. i. R. Dr. Franz M. Eybl und doc. et doc. Mgr. Iveta Zlá, Ph.D.

Dieses Buch wird mit Fördermitteln für die institutionelle Forschung der Philosophischen Fakultät der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität in Ústí nad Labem für das Jahr 2024 unterstützt.

Der Verlag dankt für die Unterstützung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.com

© 2024 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das

der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Grafische Gestaltung, Satz : Kevin Mitrega, Schriftloesung

Lektorat : Jessica Beer

Gesamtherstellung : Finidr, Tschechische Republik

ISBN ePub :

978-3-7017-4731-3

ISBN Printausgabe :

978-3-7017-3624-9

Inhalt

Vorspann

1 1814–1839 Die ersten fünfundzwanzig Jahre

Kindheit und Jugend

Literarische Anfänge

Abschied von Ungarn

Alfred. Novelle

An die Männer der Zeit …

… und an die Frauen

Baden, Kremenez, Szaflary

Allein

Betty Paoli macht sich einen Namen

Clary

Literatur und Liebe

Größter Schmerz

Elegante Welt

2 1840–1847 Die Lyrikerin etabliert sich

Ruhm

Vertonungen

Reaktionen und Rezensionen

Die jungen Böhmen

Lorm

Ideenschmuggel mit George Sand

Byron, Faust, Venedig

Wertheimer

Existenzfragen

Nach dem Gewitter 1843

Die Fürstin und ihr Sohn

Auf der Hochseeinsel

Passangelegenheiten

Romancero

In den Süden

Achtung, Satire!

Was sagt Stifter dazu?

3 1848–1855 Revolutionen, Reisen, Ressentiments

Wien–Leipzig–Zerbst …

Jubel und Unruhe in Wien

Leipzig – alle weg

Ruhe und Reaktion in Zerbst

Auf Jobsuche: Teplitz, Dahlen, Berlin

Neue Kreise

Neue Gedichte und neue Auflage

Klatsch und Tratsch mit Amely Bölte

Seeleneinsamkeit

Handwerksbursche und ABC-Schütze

Rachel und Heine

Konservative Kritik

Kunstschätze

Revanche mit Puschkin

Wieder im Süden

Im Salon mit Grillparzer

Waschlappen

Theatermann

4 1856–1869 Familie und Feuilleton

Das Haus Fleischl

Ida Fleischl

Carl Fleischl

Ernst von Fleischl-Marxow und seine Brüder

Die Tiere

Literatur und Netzwerke

Lyrisches und Episches für die Gabillons

Noch ein Theatermann

Übersetzungen für das Burgtheater

Zu Besuch bei …

Auf dem satirischen Parnass

Meinungsbildung

Sittengeschichten

Frauenfrage? Mädchenbildung!

Julie Rettich

Krieg und Frieden

Kunstgeschichte

5 1870–1884 Altes und Neues

Wieder auf Reisen

Das alte Dresden

Das neue Italien

Gedichte und Geschichten

Neueste Gedichte

Ein neues Theater

1873. Zu viel! zu viel!

Die Dioskuren

Huldigungen und Abschiede

Kunst und Leben: Friedrich Pecht

Poesie und Tendenz

Die Lage der Schriftsteller

Droste-Hülshoff, die edelste Dichternatur

Marie von Ebner-Eschenbach

Von Grillparzer bis Saar

C. F. Meyer

Altern mit George Sand

6 1885–1894 Feiern und Ende

Lesen und schreiben bis zum Schluss

Angeblich 70. Geburtstag (1885)

Gelehrte

Tarock mit Ebner-Eschenbach

Die Wandlungen der Frauenfrage

Ein letztes Mal Droste-Hülshoff

Krankheit

Tod und Nachhall

Baden bei Wien 1894

Nachruf von Marie von Ebner-Eschenbach

Ferdinand von Saar: Requiem

Zwei Burgtheaterstars bei einer Gedenkfeier

Zum Schluss

Abstract

Literaturverzeichnis

Personenregister

Bildnachweis

Zeittafel

Betty Paoli, um 1850, Carl Rahl

»Was ich bedurfte, mußt’ ich selbst erringen.«

Betty Paoli

Vorspann

Pythia und Schwarzseherin auf dem Olymp

Im Jahr 1865 besucht Baronin Marie von Ebner-Eschenbach eine Soirée der Tänzerin Fanny Elßler. Unter den Gästen ist Betty Paoli, fünfzig Jahre alt, prominent als Rezensentin und Feuilletonistin, geschätzt als Übersetzerin französischer Salonstücke für das Burgtheater und die berühmteste Lyrikerin Österreichs. Ebner-Eschenbach, später bekannt als Meistererzählerin mit scharfem Blick für die menschliche Natur, hält nach ihrer Begegnung im Tagebuch fest: »Eine Minerva, eine Olympierin. Imposant gescheit und hinreißend wenn sie sich herablässt liebenswürdig zu sein.«1 Sollte Paoli unter den olympischen Göttern einen Vertrauten gehabt haben, dann war das Apollo. Zu seinem breiten Portfolio gehören unter anderem die Dichtkunst und die Weissagung. Er verlieh auch Kassandra die Seherinnengabe. Das war Teil eines misslungenen Verführungsversuchs des Gottes. Der Zurückgewiesene bestimmte, dass niemand mehr Kassandras Prophezeiungen über verlorene Kriege, Gattenmord etc. Glauben schenken sollte.

Von der Poesie, die ihre Vertreter aus der Menge hervorhebt, und von der Schwarzmalerei, umgeformt zum kulturpessimistischen Essay in der großbürgerlichen Presse, handelt Betty Paolis Leben. Da es im sogenannten langen 19. Jahrhundert in der Habsburgermonarchie gelebt wurde, erzählt es auch von Revolution und Emanzipation, von Salon und Fortschritt, von der Entwicklung der Massenmedien und von der Moderne; und davon, wie es passieren konnte, dass eine der Hauptakteurinnen der österreichischen Literatur, Kunst und Kultur fast vollständig vergessen wurde.

Eine Dichterinnenbiographie als Zeitbild

Der Wiener Literaturhistoriker Robert Franz Arnold schreibt in seiner Rezension eines postum erschienenen Gedichtbandes:

Eine Würdigung der Paoli, deren Leben mit einem halben Jahrhundert Wiener Literatur, von Feuchtersleben bis zu Frau v. Ebner herab, verknüpft war, ist hier nicht am Orte; für ihren Biographen oder besser ihre Biographin, werden die schier unzähligen Beziehungen eines sonst schlichten und entbehrungsreichen Lebens zu Größen der Kunst, Literatur und Wissenschaft besonders verlockende Darstellungsobjekte sein.2

Dieser Literaturhistoriker hat recht: Es gibt kaum eine bedeutende Persönlichkeit des literarischen, künstlerischen und intellektuellen Lebens in Österreich im 19. Jahrhundert, mit der Paolis Name nicht auf die eine oder andere Weise verbunden ist. Und doch ist Paoli heute fast vergessen. Sogar in Friedrich Sengles dreibändigem Standardwerk aus den 1970er Jahren Biedermeierzeit3 wird lediglich der Ausspruch Grillparzers, Paoli sei der größte Lyriker der Zeit, kolportiert, sie ansonsten aber kaum erwähnt – diese Lücke war es auch, die meine Neugier geweckt hat. Und wirklich: Die Kenntnis des Lebens dieser talentierten, gebildeten Frau und starken Persönlichkeit gewährt einen tiefen Einblick in die Kultur- und Literaturgeschichte Österreichs. Wer sich für das Jahrhundert interessiert, in dem die Weichen für die Herausbildung eines bürgerlichen, liberalen und demokratischen Gesellschaftsverständnisses gestellt wurden, das im Guten wie im Schlechten bis heute weiterwirkt, wird durch Paoli, durch ihre Literatur und ihre hellsichtigen Feuilletons Neues in neuen Zusammenhängen erfahren.

Ohne Paolis Werk sind weder die österreichische Lyrik des 19. Jahrhunderts noch die Besonderheiten des österreichischen Realismus in ihrem ganzen Umfang zu verstehen. Sie hat andere Autoren und Autorinnen beeinflusst, unterstützt, beraten und kritisiert. Im kleinen (feministischen) Rahmen wurden Paolis Feuilletons zur sogenannten Frauenfrage vor einiger Zeit wiederentdeckt, sie wird gelegentlich auch als erste bezahlte Journalistin Österreichs gewürdigt.4 Dass ihre Lyrik von der Forschung wenig beachtet wurde, liegt einerseits an dem Etikett ›Biedermeier‹ und andererseits daran, dass ihre formale Perfektion darüber hinwegtäuscht, wie weit diese Gedichte vom poetischen Mainstream der Zeit entfernt sind. Die Quellen zu Paolis Leben und zu ihrem Werk sind umfangreich, aber verstreut und verschüttet. In dieser Biographie werden die Informationen zum Leben der Dichterin, aber auch ihre Texte erstmals chronologisch erfasst und in den Kontext ihrer Zeit gestellt – von der ersten Novelle aus dem Jahr 1832 bis zur letzten Kritik von 1894.5

Die meisten ungedruckten Briefe, Dokumente und Gedichtmanuskripte Paolis befinden sich in der Wienbibliothek im Rathaus. Die ›Sammlung Paoli‹ enthält Material aus der Zeit von 1844 bis 1908, insgesamt 889 Inventarnummern, teilkatalogisiert und vorgeordnet. Einiges findet sich in der Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek und verstreut in deutschen und tschechischen Archiven. Gedruckt liegen unter anderem Briefe an Friedrich Schwarzenberg6 und an die Vormärzautoren Moritz Hartmann, Alfred Meißner und Hieronymus Lorm7 vor. Auch so manche Memoiren und Tagebücher von Zeitgenossen sind in Bezug auf Paolis Leben aufschlussreich. Auf dieser Basis erzählt die vorliegende Biographie eine der möglichen Geschichten, die über diese illustre Persönlichkeit geschrieben werden können.

Wie erzählen?

Das gelebte Leben ist die Basis, auf der die Lebenserzählung aufbaut, eine Biographie ist aber immer auch eine Neukonstruktion aus der Perspektive einer in ihre Zeit eingebetteten Biographin.8 Die Biographie einer Autorin wie Betty Paoli ist darüber hinaus eine Besonderheit, denn Paoli hat nicht nur ihr eigenes Leben innerhalb der von der Gesellschaft gewährten Freiheiten gestaltet und dabei Zeugnisse hinterlassen, die der Forschung zur Verfügung stehen. Sondern sie hat, wie viele andere auch, ihr Leben durch ihr Werk literarisch vermittelt. Und in einer langen und komplexen Reihe von Wechselwirkungen prägte wiederum ihr Schreiben ihr Leben.

In diesem Buch wird nicht nur die Person Betty Paoli dargestellt, es werden auch ihre intellektuellen und poetischen Leistungen sowie ihre Selbstkonstruktion gewürdigt. Um Paoli die Beachtung zu verschaffen, die sie verdient, muss ihr Leben in Erinnerung gebracht werden. Seine Poetik, das Abspulen des Lebensfadens bestimmt die Form. Und damit möchte ich zur Entdeckung des Lebens und Schreibens dieser Autorin einladen.

Anmerkungen

  1 Marie von Ebner-Eschenbach : Tagebücher I. 1862–1869. Kritisch hg. und kommentiert v. Karl Konrad Polheim unter Mitwirkung von Rainer Baasner. Tübingen : Niemeyer 1989, S. 68. (7. Dezember 1865)

  2 R[obert] F[ranz] Arnold : Betty Paoli Gedichte. Auswahl und Nachlaß [Rezension]. In : Euphorion 3 (1896), S. 556.

  3 Friedrich Sengle : Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. 3 Bde., Stuttgart : Metzler 1971–80.

  4 Vgl. Betty Paoli : »Was hat der Geist denn wohl gemein mit dem Geschlecht?« Hg. v. Eva Geber. Wien : Mandelbaum 2001; vgl. Peter Payer : Am Anfang war Betty Paoli. In : DiePresse. Spectrum, 25. Mai 2018, S. I–II.

  5 Dass man in Erwägung ziehen kann, die in ephemeren Quellen verstreuten Texte in größtmöglicher Vollständigkeit zu präsentieren, liegt an Digitalisierungsprojekten wie ANNO – AustriaN Newspapers Online der Österreichischen Nationalbibliothek und digiPress – Das Zeitungsportal der Bayerischen Staatsbibliothek. Absolute Sicherheit über den Bestand der Primärliteratur ist aber nur sehr schwer zu erreichen. Ich halte es für nicht ausgeschlossen, dass es Texte von Paoli gibt, die mir entgangen sind.

  6 Betty Paoli : Gesammelte Aufsätze. Hg. v. Helene Bettelheim-Gabillon. Wien: Schriften des Literarischen Vereins 1908, S. V–CXI.

  7 Otto Wittner (Hg.) : Briefe aus dem Vormärz. Eine Sammlung aus dem Nachlaß Moritz Hartmanns. Prag : Calve 1911. [in der Folge zitiert Wittner (Hg.)]

  8 Zu Theorie und geglückter Praxis vgl. Daniela Strigl : Prolegomena zu einer neuen Biographie Marie von Ebner-Eschenbachs und »Berühmt sein ist nichts.« Marie von Ebner-Eschenbach. Eine Biographie. Habilitationsschrift Wien, 2017.

11814–1839 Die ersten fünfundzwanzig Jahre

Kindheit und Jugend

Betty Paoli wurde als Barbara Anna Glück am 30. Dezember 1814 in Wien im Haus Nummer 362 Innere Stadt geboren, im ›Färbergäßl‹, das an der Grenze der ehemaligen Judenstadt lag. Das Haus gehörte Barbaras Großmutter1, im ersten Stock befand sich die Weinhandlung von Franz Carl Dawit und gleich nebenan der ›Sabelkeller‹, ein traditionsreiches Weinlokal tief unter der Erde.2 Getauft wurde das Kind wenige Tage nach seiner Geburt in der nahegelegenen Kirche ›Zu den neun Chören der Engel‹ (Kirche Am Hof), der zweite Taufname ist der Tradition entsprechend der Name der Taufpatin, Anna Dawit, der Frau des Weinhändlers.3

Über Barbaras Eltern wissen wir wenig. Ihre Mutter hieß Theresia oder Therese Grünnagel, wurde 1776 in Wien geboren und heiratete am 5. Mai 1814 in Brünn, Mähren, den Feld-Oberarzt des Feldspitals Nr. 23, Anton Glück4, der 1777 in Ofen in Ungarn geboren wurde und in Erlangen Heilkunde studierte. Gut möglich, dass er mit jenem Anton Glick identisch ist, der im Jahr 1803 einer der Unterärzte des Infanterieregiments Nr. 37 in Großwardein, Ungarn, war.5 Der Name Glück oder auch Glick ist allerdings nicht ungewöhnlich und vor allem in der Variante Glückl oder Glickl ein häufiger jüdischer Name. Das ist einer der Gründe, warum Betty Glück/Paoli später gelegentlich als jüdische Schriftstellerin gelten wird. Anton Glück starb im Jahr 1822 an Tuberkulose.6 Über ihn lässt sich mit einiger Bestimmtheit sagen, dass er nicht Bettys leiblicher Vater war. Ihre Zeitgenossen hielten sie für die uneheliche Tochter eines ungarischen Adeligen, wobei Fürst Nikolaus II. Esterházy de Galantha ein möglicher Kandidat für die Vaterschaft ist. Bettys Mutter war in zweiter Ehe mit Sigismund Groschan, einem Kanzleibediensteten in der k. k. Cameral-Hauptbuchhaltung, verheiratet und starb 1834 im Alter von 58 Jahren an der Schwindsucht.7

»Die tatsächlichen Angaben über die Verhältnisse und Geschehnisse bis zur Lebensmitte der Dichterin leiten fast alle auf eine Quelle, auf den bekannten Schriftsteller Leopold Kompert, zurück und begnügen sich mit andeutenden Umrissen«, schreibt Friedrich Beck 1906 in einer biographischen Skizze.8 Kompert, seinerzeit populär als Verfasser von ›Ghetto-Geschichten‹, hatte für das literarische Taschenbuch Gedenke mein! des Verlags Pfautsch & Voß eine Kurzbiographie Paolis verfasst.9 Dies sind die spärlichen biographischen Informationen, die Kompert über Kindheit und Jugend der Dichterin liefert:

Ihr Vater, seines Berufes Arzt, starb frühzeitig, seine Gattin mit dem kaum erwachsenen Kinde einer gesichert scheinenden Zukunft überlassend; denn die Mutter unserer Dichterin besaß ein eigenes, bedeutendes Vermögen. So gestalteten sich ihre Kindertage zu recht freundlichen und heiteren, und nichts ließ ahnen, daß in diese anscheinend gesicherten Verhältnisse das Mißgeschick einschneiden könne. Betty Paoli hatte ihr fünfzehntes Jahr erreicht, als der Bankerott des Kaufmannes, dem die Mutter ihr Vermögen anvertraut hatte, die bisherige Behäbigkeit plötzlich unterbrach, und das junge Mädchen sich in die Nothwendigkeit versetzt sah, für sich und die Mutter Sorge zu tragen. Von diesem Augenblicke an entwickelte sich in der Mutter eine eigenthümliche, fast krankhafte Rastlosigkeit, ein beständiges Wandern von einem Aufenthaltsort zum anderen […].10

Was für die Leser nicht erkennbar ist: Diese biographische Skizze entstand im Auftrag und nach Angaben von Paoli. Im Juli 1856 weilte sie zur Kur in Franzensbad, von dort schreibt sie an Kompert: »Herr Pfautsch will mein Portrait in dem Taschenbuch ›Gedenke mein‹ erscheinen lassen und besagtem Conterfei auch meine Biographie beigeben. Gegen eine solche habe ich mich nun entschieden erklärt.«11 Und Paoli begründet ihre Abneigung gegen das Ansinnen des Verlegers:

Bin ich einmal todt und es will sich Jemand die Mühe nehmen, meine Biographie zu schreiben, so kann ich es, leider! nicht hindern, aber so lange ich noch auf Erden wandle, fühle ich nicht den mindesten Beruf, vor dem Publikum eine Art Generalbeichte abzulegen. Biographien noch lebender Personen müssen entweder lügen- oder lückenhaft sein; wenn dieß nicht, sind sie noch Schlimmeres: eine Entweihung, die man seinem eigensten Wesen zufügt, um die Neugier und Klatschsucht der plumpen Masse zu befriedigen.12

Paoli ringt sich dennoch dazu durch, »einige biographische Notizen« zu liefern, und ergänzt:

Diesen flüchtigen Umrissen meines äußeren Lebens wäre es aber passend, ein Bild meines geistigen Seins beizufügen […]. Mein guter, treuer Freund! Sie erzeigen mir einen großen Liebesdienst und ersparen mir wahrscheinlich bedeutende Unannehmlichkeiten, wenn Sie die Arbeit, um die es sich hier handelt, übernehmen.13

Kompert nimmt den Auftrag an, schreibt eine Kurzbiographie mit besonderer Würdigung des lyrischen Werks und schickt seinen Text vorab an Paoli. Diese lobt, dass der Aufsatz »in dem Geist und der Weise geschrieben ist, wie ich es wünschte: mit vorherrschender Bezugnahme auf meine literarische Wirksamkeit und möglichster Beseitigung äußerer Verhältnisse, die das Publikum nicht im Geringsten angehen.«14 Einfach macht es die Dichterin ihrer Biographin also nicht.

Zwei Menschen konnten aus langjährigem persönlichem Umgang und mündlichen Berichten schöpfen, wenn sie über »äußere Verhältnisse, die das Publikum nicht im Geringsten angehen«, schrieben: Marie von Ebner-Eschenbach und Paolis Wahltochter, die Zeichnerin und Schriftstellerin Helene Bettelheim-Gabillon. Aber auch diese beiden sparten Details über Herkunft und Jugend Paolis aus. Bei Helene Bettelheim-Gabillon geht die Diskretion so weit, dass sie aus Briefen für den Abdruck ganze Passagen streicht, ohne es zu kennzeichnen, und die Anrede vom intimen »Du« auf das distanziertere »Sie« ändert.

Schon die Zeitgenossen stellten fest, dass Paoli Selbsterlebtes in ihren Gedichten verarbeitete. Die biographische Legende wurde bei ihr von Anfang an mitgelesen. Und die Dichterin kannte die Wechselwirkung genau, die zwischen dem literarischen Werk und dem Bild der Dichterin entsteht.

Betty Paoli, Taschenbuch »Gedenke mein!«, Jahrgang 1857

In Paolis Dichtung steckt immer auch ihre bewusste Selbstkonstruktion, ein angedeuteter Erfahrungs- und Erlebnishintergrund, der Raum für Spekulationen und Anlass für Gerüchte bot, gerade auch, weil die gesicherten biographischen Informationen spärlich waren.

So wissen wir zum Beispiel, dass Betty Glück als Kind eine gute Ausbildung genoss, allerdings wissen wir nicht, bei wem und wo. Marie von Ebner-Eschenbach schreibt in ihrem Nachruf: »Ihre Mutter hatte den Wunsch, aber nicht die Fähigkeit, ihr eine gute Erziehung zu geben, und vertraute das hochbegabte Kind der Familie des ausgezeichneten Grammatikers Schmidt, durch den der Grund zu ihren reichen Sprachkenntnissen gelegt wurde.«15 Wer dieser Grammatiker Schmidt war und wo er gelebt hat, das erwähnt Ebner-Eschenbach nicht. Auch Bettelheim-Gabillon deutet nur an, dass sich Paolis Gedicht Rückblick auf diese Zeit beziehen könnte. Sie zitiert zwei Strophen daraus:

Das Dampfroß hat mich hergetragen

In raschem Fluge nach der Stadt,

Die seit der Jugend fernen Tagen

Mein irrer Fuß nicht mehr betrat.[…]

Mein Haus hier! keine frohen Stunden

Verlebt’ ich unter seinem Dach.

Doch, ob auch äußerlich gebunden,

Frei war der Geist, der in mir sprach!16

Das zitierte Gedicht entstand im September 1862 und da irrte Paoli tatsächlich herum, allerdings in einem für sie üblichen Maß, denn sie verbrachte die Sommer- und Herbstmonate immer fern von Wien.17 Ihre Reiseziele waren dabei über Jahre hinweg die gleichen. Sie besuchte zum Beispiel Fürstin Caroline Bretzenheim in Saros-Patak (Sárospatak, Ungarn); sie reiste nach Dahlen in Sachsen zu ihrer ehemaligen Arbeitgeberin Frau von Sahr; dazwischen besuchte sie in München Paul Heyse (›Dichterfürst‹ und späterer Literaturnobelpreisträger) und in Dresden Otto Ludwig (er prägte den Begriff ›poetischer Realismus‹). Auch Iduna Laube, intellektuelle Salondame in Leipzig, wollte besucht werden, und weil Laube die Fixpunkte in Paolis Reiseprogramm kannte, schlug sie vor: »Also von Mitte Juli bis in den September stellte sich ein Zeitraum von 8 Wochen heraus, wo sich Ihr Besuch herrlich einschieben würde, auch träte ich damit den Rechten der Sahr auf den Vorsommer u. denen der Bretzenheim auf den Herbst nicht zu nahe«.18 Anlass für einen Rückblick boten die regelmäßigen Besuche auf dem Gut der Malerin Baronin Wilhelmina (Mina) von Stein, denn das lag bei Wieliczka in der Nähe von Krakau, Galizien (Polen), und damit befand sich Paoli an jenem Ort, an dem sie als junge Frau Begegnungen mit der Literatur gehabt hatte, die ihren weiteren Lebensweg bestimmen sollten. In welchem Land Paoli aber ihre Jugend verbrachte, lässt sich tatsächlich aus einem Gedicht rekonstruieren, genauer gesagt aus ihrem ersten. Es trägt den Titel Abschiedswort an Ungarn.

Anmerkungen

  1 Theresia Grünnagel, k. k. Hofsekretärswitwe. Nach ihrem Tod ging das Haus an ihren Schwiegersohn über. Vgl. Verzeichniß aller in der k. k. Haupt- und Residenzstadt Wien und sämmtlichen Vorstädten inner den Linien befindlichen numerirten Häuser und Plätze, Namen der Eigenthümer, Hausschilder, Straßen und Gassen, umgearbeitet von Alois Edlen v. Fraißl. Wien : Carl Gerold’sche Buchhandlung 1812, Neuaufl. 1816. Theresia Grünnagel starb im Jänner 1815 mit 66 Jahren in diesem Haus. Vgl. Pfarre St. Michael, Am Hof, Sterbebuch 1796–1819 (digital).

  2 Vgl. Handlungs-Gremien und Fabriken Adressen Buch der Haupt- und Residenzstadt Wien; dann mehrerer Provincialstädte für das Jahr 1816, verf. und hg. v. Anton Redl. Wien : Eigenverlag 1816. 1945 wurde das Haus bei einem Luftangriff zerstört, an seiner Stelle steht heute ein Neubau aus dem Jahr 1956, Hausnummer 8. Vgl. Wien Geschichte Wiki.

  3 Vgl. Pfarre St. Michael, Am Hof, Taufbuch 1806–1822 (digital).

  4 Vgl. Pfarre St. Michael, Am Hof, Trauungsbuch 1801–1824 (digital).

  5 Vgl. Verzeichnis Saemmtlicher bey der K. K. Armèe angestellten Feldärzte. Wien : Gedruckt mit Joh. Carl Schuender’schen Schriften 1803, S. 28.

  6 Vgl. Pfarre St. Michael, Am Hof, Sterbebuch 1819–1835 (digital); vgl. [Notiz]. In : Wiener Zeitung, 19. März 1822, S. 4.

  7 Vgl. Auszug aus den Totenbüchern der Pfarre Szaflary in Galizien, Sandecer Kreis, (heute Woiwodschaft Kleinpolen) in lateinischer Sprache, ausgestellt am 7. Juni 1835. Wienbibliothek, Handschriftensammlung, [in der Folge zitiert WB, Hss.] HIN 106377.

  8 Vgl. Friedrich Beck : Betty Paoli. In : Österreichische Rundschau 9 (1906), S. 260–272, hier S. 260.

  9 Vgl. Leopold Kompert : Betty Paoli. In : Gedenke mein! 1857, S. IX–XVIII.

 10 Kompert, Betty Paoli, S. XII.

 11 Stefan Hock (Hg.) : Briefe Betty Paolis an Leopold Kompert. In : Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 18 (1908), S. 177–209, hier S. 201.

 12 Hock (Hg.), Briefe Betty Paolis an Leopold Kompert, S. 201.

 13 Hock (Hg.), Briefe Betty Paolis an Leopold Kompert, S. 201.

 14 Hock (Hg.), Briefe Betty Paolis an Leopold Kompert, S. 205. [Herv. i. O.]

 15 Marie von Ebner-Eschenbach : Betty Paoli. In : Betty Paoli : Gedichte. Auswahl und Nachlaß. Stuttgart : Cotta 1895, S. IX–XXI, S. IX. (Erstdruck : Neue Freie Presse, 22. Juli 1894, S. 1–4.)

 16 Zitiert in : Helene Bettelheim-Gabillon : Zur Charakteristik Betty Paolis. Nach alten und neuen Quellen. In : Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft X (1900), S. 191–250, hier S. 197. (Strophen 1 und 5 des 21-strophigen Gedichts.)

 17 Vgl. Manuskript, datiert 21. September 1862. WB, Hss., IN 237089; Druckfassung in Betty Paoli : Neueste Gedichte. Wien : Gerold 1870, S. 35–39 [AW S. 116–119].

 18 Brief Iduna Laubes an Betty Paoli, 28. April 1869. WB, Hss., IN 49051. Zitiert in : Alexia Kathmann : Frauenrechtlerin & Salondame. Die Briefe von Iduna Laube (1808– 1879) an Betty Paoli als Verhandlungen von Subjektivität und Gesellschaft. DA Wien, 2014, 123f.

Literarische Anfänge

Abschied von Ungarn

Betty Glück tritt im Jahr 1832 erstmals literarisch in Erscheinung. Im Gedicht Abschiedswort an Ungarn (sechs achtzeilige Strophen in jambischen Fünfhebern mit Kreuzreim) spricht ein Ich, das Ungarn verlässt und über die Gründe für sein Weggehen Rechenschaft ablegt.19 In der ersten Strophe wird das Land Ungarn als Du adressiert, danach wechselt die Perspektive und die Sprecherin wendet sich an ein Kollektiv, das in der letzten Strophe als die »Theuern« benannt wird, die ihm in dem fremden Land »voll Lieb und Milde, / Voll holder Freundlichkeit« begegnet sind. Aber der Abschied ist ambivalent. So ist Ungarn wohl zum »zweite[n] Heimathsland« geworden, und durch den bevorstehenden Verlust wird dem Ich das Land »doppelt hoch und hehr«. Das Ich ist unsicher und verwirrt, sein Seelenzustand ähnelt einem »wüsten Traum« – ein Kontrastbild zum ›süßen Traum‹, der in der Lyrik der Zeit häufig evoziert wird. Die Trennung verursacht ihm »todesbitter[e] Schmerzen« und »tiefempfundne[s]« Leid. Das Ich schwankt: »Von dannen eil’ ich und möchte bleiben, / Ich könnte bleiben und ich will doch nicht!« Schließlich ist es ein »willenloses Wesen«, das einer vom Schicksal vorgezeichneten Bahn folgen muss.

Betty Glück ist der Name, mit dem dieses Gedicht gezeichnet ist und unter dem Paoli in den ersten beiden Jahren ihrer Dichterinnenkarriere veröffentlicht. Sie spricht in Abschiedswort an Ungarn zum ersten Mal, wenngleich auch noch nicht so unverstellt wie in späteren Gedichten, von der künstlerischen Bestimmung, die sie um- und antreibt. In ihren biographischen Notizen für Leopold Kompert nennt Paoli ihre Jugend eine Phase des Nachdenkens, in der sie sich ihres Ziels bewusstwurde.20 Kompert fand das für seine Kurzbiographie offenbar nicht deutlich genug und ergänzt Paolis Zitat: »[E]s war die Poesie!«21

Schon bei ihrem ersten poetischen Auftritt als Siebzehnjährige thematisiert Paoli das Schicksalhafte der poetischen Begabung und die dichterische Getriebenheit. In ihrer Lyrik wird sie außerdem immer wieder Abschiedsschmerz, aber auch andere Leidenserfahrungen wie Verlust, Verrat und Enttäuschung als Schreibanlass thematisieren. Der Literaturhistoriker Jakob Minor macht die interessante Bemerkung, Paoli drücke in ihrer Poesie »die weiblichste aller Empfindungen, den Schmerz um betrogene Liebe« aus.22

Schmerz als Inspiration ist eine lange wirksame frühromantische Vorstellung, der auch Paoli folgt. Sie beschreibt ihre erste Begegnung mit der Lyrik George Byrons: »[D]en Schmerz kannte ich bereits, jetzt lernte ich auch die Poesie des Schmerzes kennen, die grauenvolle Wollust des Wühlens in den eigenen Wunden«.23 Das Nachdenken über ihr Schreiben, die Begründung und auch die Rechtfertigung für ihre Poesie finden sich in Gedichten mit Titeln wie Dichterherz, Die Dichterin, Mein Dichten oder Die Pythia. Auf der einen Seite steht der übermächtige Drang zur poetischen Produktion, der das überragende Talent auszeichnet, und mit dem sich Paoli in die Tradition des ›hohen‹ Dichterbilds der ›Dichtergedichte‹ stellt.24 Auf der anderen Seite steht ihre Fähigkeit, Schmerz und Schicksalsschläge in Poesie zu verwandeln. Zwischen dem Bild der Frau, die erlebt, leidet und sich Gehör verschafft, und der Rolle des Genies (im Biedermeier eine paradoxe Konstruktion, in der Originalität zur Norm erhoben und mit Talent gekoppelt wird) betreibt Paoli ihr Selffashioning25 und verankert sich in der Wahrnehmung ihrer Zeitgenossen als getriebene Dichterin. Von Anfang an übt Betty Glück Techniken der poetischen Selbstbeobachtung, Zeichen einer selbstreflexiven, modernen und selbstbewussten Subjektivität, die die Überzeugung von der eigenen dichterischen Berufung ausdrücken.26

Die Siebzehnjährige hat mit Abschiedswort an Ungarn ihren poetischen Einstand an prominente Stelle, denn das Gedicht erscheint im Spiegel oder Blätter für Kunst, Industrie und Mode in Pesth (Budapest). Es war Ungarns »niveauvollste belletristische Zeitschrift der Epoche«, in der Lyriker der romantischen Schule und des Biedermeier, Vertreter des Jungen Deutschland und ihre österreichischen Pendants buchstäblich Seite an Seite standen.27 Zu den Beiträgern zählte im Jahr 1832 zum Beispiel Heinrich Adami, Schriftsteller und Journalist, der auch Redakteur von Adolf Bäuerles Wiener Theaterzeitung war, dem populärsten österreichischen Organ der Zeit. Außerdem finden sich im Spiegel Gedichte von Johann Gabriel Seidl, dem »Inbegriff« des österreichischen Biedermeierdichters28, und Texte von Moritz Rappaport, einem galizischen Schriftsteller und Arzt. Die Versepen von Rappaports Studienfreund Ludwig August Frankl, der im März 1848 das erste Gedicht der zensurfreien Zeit veröffentlichen und sich später durch besondere kulturelle Umtriebigkeit hervortun sollte, wurden im Spiegel regelmäßig besprochen.29 Betty Glück befand sich mit ihrer ersten Gedichtveröffentlichung 1832 also mitten in der literarischen Szene der Habsburgermonarchie und wurde zur Kollegin von Männern, die etwas abseits von Wien und nicht im direkten Blickfeld der strengen Zensur des Metternichregimes die publizistische und literarische Landschaft mitgestalteten.

Der Spiegel und die Wiener Theaterzeitung erschienen mehrmals wöchentlich und waren Unterhaltungsblätter moderner Machart. Sie enthielten kolorierte Modebilder, brachten Berichte aus dem Kulturleben, Theaterkritiken und Konzertankündigungen aus Pesth und Wien, aber auch Korrespondenzen aus anderen Städten, kurz: Stoff für die gesellige Unterhaltung im bürgerlichen Salon. Viel Platz bekamen die beliebten Novellen, zumeist konventionelle Prosa, die in Fortsetzungen gedruckt die Funktion hatte, die Leserschaft an die Zeitschrift zu binden.30 Wegen der Popularität dieser Beiträge waren die Verleger bereit, gute Honorare zu zahlen.31 Novellen waren also eine Einnahmequelle für Autoren und vor allem Autorinnen, die Gattung hatte aber den Nachteil, als kunsthandwerklich zu gelten und dem Ruf des ›wahren‹ Dichters zu schaden. So ist es nicht verwunderlich, dass Betty Paoli, die begnadete Schöpferin freimütiger Liebesgedichte mit Innovations- und Skandalpotential, ihren allerersten literarischen Auftritt im Spiegel nie erwähnte. Denn Abschiedswort an Ungarn ist zwar das erste Gedicht von Betty Glück, aber schon drei Monate zuvor erschien Alfred, eine Novelle in vier Teilen.32

Alfred. Novelle

Die erste Novelle Paolis entspricht in allem der Genrekonvention. Die Nennung realer Orte verleiht der frührealistischen Prosa den Anschein der Tatsächlichkeit; fremde Schauplätze und Handlungen in der Vergangenheit lassen Anspielungen auf Zustände und Begebenheiten zu, die ohne die örtliche und zeitliche Entrückung Probleme mit der Zensur gebracht hätten; der Wirklichkeitsgehalt wird oft durch eine Rahmenhandlung mit einer beglaubigenden Erzählstimme oder durch die Verwendung von Asterisken (zum Beispiel »Carl von ***«) unterstrichen.

In Paolis Novelle Alfred ist Paris die Chiffre für eine Großstadt mit ihrem Salonleben. Die Handlung spielt während der Napoleonischen Kriege, ist in sich geschlossen und hat ein zentrales, überraschendes Moment, das, ebenfalls novellentypisch, als Brief eingebaut ist: Die Marquise von Darency hat ihre Nichte Pauline aus Montpellier zu sich nach Paris geholt und hofft, sie mit ihrem Ziehsohn Alfred zu verheiraten. Dieser ist jedoch auf Napoleons Russlandfeldzug verschollen und wird von den beiden Frauen für tot gehalten. Die Novelle beginnt mit der überraschenden Heimkehr Alfreds. Er war in der Schlacht verwundet und von einem russischen Grafen gerettet worden. Das Treffen von Alfred und Pauline verläuft nicht so erfreulich, wie die Marquise und ihr Ziehsohn gehofft hatten. Während Alfred in Pauline verliebt ist, ist diese im Geheimen leidenschaftlich für einen jungen Russen entflammt, den sie in Montpellier kennengelernt hatte und der inzwischen nach Russland zurückgekehrt ist. Es kommt zur Aussprache zwischen Alfred und Pauline, wobei er in ihrem Zimmer zufällig ein Bild ihres Geliebten entdeckt und in ihm Fedor erkennt, den zukünftigen Schwiegersohn seines russischen Retters. Bestürzt verlässt Alfred das Zimmer und schreibt Pauline einen Brief, in dem er ihr berichtet, dass ihr Geliebter mit einer anderen Frau verlobt war und dass er, Alfred, ihn im Streit getötet hat. Pauline stirbt an gebrochenem Herzen. Alfred zieht wieder in den Krieg und kommt in der Schlacht bei Leipzig ums Leben. Der letzte Satz der Novelle lautet: »Einsam beschloß die Marquise ihr verödetes freudloses Leben.«

Vom Auftakt mit einer Gesprächsszene im adeligen Salon über die beiden verhinderten Liebesgeschichten bis zum gebrochenen Herzen und dem Soldatentod bedient Alfred die Erwartungen des biedermeierlichen Lesepublikums. Im Zentrum steht ein Ereignis, das bei aller sonstigen Wirklichkeitsnähe doch auch etwas Wunderbares in sich trägt (da begegnet der Protagonist im ganzen weiten Russland ausgerechnet dem heimlichen Geliebten seiner Angebeteten), die Figuren werden im gemäßigten Konversationston ohne Exzentrizität präsentiert, staatliche Ordnung und Religion spielen eine wichtige Rolle (Alfred trifft Pauline in ihrem Zimmer beim innigen Gebet an). Und obwohl große dramatische Effekte fehlen, ist doch ein gewisser Spannungsbogen vorhanden, so dass die wichtigste Funktion der Fortsetzungsnovelle aus verlegerischer Sicht, nämlich die Leserschaft bei der Stange zu halten, erfüllt ist. Betty Glück kannte den Markt der Unterhaltungsblätter, konnte ihn bedienen und als Verdienstmöglichkeit nützen. Zwar arbeitete sie später als Gouvernante, wurde Gesellschafterin, Übersetzerin und Sprachlehrerin, bekam Honorare für Gedichte, Kritiken und Essays und irgendwann wird sie auch mit Wertpapieren spekulieren (»Zwölf Stück Pilsener-Priesener Eisenbahn im Nominalwerth von 1800 um 1606 fl 33 kr gekauft«33), die Novelle Alfred stand aber am Anfang ihres literarischen Erwerbslebens. Nach diesen ersten Lebenszeichen im ungarischen Spiegel veröffentlichte Betty Glück andernorts einige Gedichte, die ebenso aufschlussreich in Bezug auf ihr poetisches Programm wie auf ihr Leben sind.

An die Männer der Zeit …

Betty Glück verließ 1832 Ungarn in Richtung Wien. Durch das Netzwerk des Spiegel eröffneten sich der achtzehnjährigen Dichterin Publikationsmöglichkeiten in der Residenzstadt, ihre nächsten Gedichte erschienen in der Theaterzeitung und in der renommierten Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode, über die der Kulturhistoriker Anton Schlossar schreibt, dass in ihr viele »später zur Berühmtheit Gelangten« ihre Karriere begannen.34 Gründer und Redakteur der Wiener Zeitschrift war Johann Schickh, nach seinem Tod im Jahr 1835 übernahm Friedrich Witthauer die Zeitschrift. Der war nach dem Zeugnis eines Zeitgenossen stets bescheiden, korrekt gekleidet, kultiviert35 und »einer der besten Kenner der österreichischen und allgemeinen Litteratur«36. »Der Hochtory der Journalisten, […] dessen Mitarbeiter die namhaftesten Schriftsteller Oesterreichs: Grillparzer, Lenau, Betti Paoli etc. waren, erhob sich mit wahren [sic] Stolze über seine Collegen und namentlich war Saphir ihm ein Dorn im Auge.«37

Der 1795 in Ungarn geborene Moritz Gottlieb Saphir war eine publizistische Skandalnudel, ein Spötter, der sich mit jedem anlegte und Klatsch und Tratsch verbreitete.38 Er war unter anderem Mitarbeiter von Bäuerles Theaterzeitung, 1837 gründete er die Zeitschrift Der Humorist. Warum Betty Paoli, die vom »Musterprosa«39 schreibenden Friedrich Witthauer gefördert wurde, im ersten Jahrgang von Saphirs Zeitschrift Gedichte veröffentlichte, ist rätselhaft.

Im Jahr 1831 erschien in Hamburg ohne Verfasserangabe unter dem Titel Spaziergänge eines Wiener Poeten eine Sammlung regime- und kirchenkritischer Gedichte. Sie standen am Anfang einer wahren Flut an politischer Literatur, die durch die Julirevolution in Frankreich befeuert wurde und gegen die Unterdrückung durch das restaurative Regime des Staatskanzlers Metternich gerichtet war. Bald wurde publik, dass die Spaziergänge von einem Autor stammten, der zuvor bereits unter dem Pseudonym Anastasius Grün veröffentlicht hatte. Wer aber wiederum hinter diesem Pseudonym steckte, nämlich Anton Alexander Graf von Auersperg, blieb noch jahrelang ein Geheimnis.40 Eines der Gedichte der Sammlung trägt den Titel Unsere Zeit. Die Stimme in diesem Rollengedicht gehört dem Anwalt der Zeit (im Sinne von Gegenwart), der sie gegen die Kläger verteidigt, die vor »Kruzifix und Kerzenlicht« über sie zu Gericht sitzen. Die Kläger werfen der Zeit vor, sie sei »trüb’ und unheildrohend und von sturmbewegtem Sinn«. Der Anwalt wendet sich an »Schöff ’ und Räte« mit der Belehrung:

Friedrich Witthauer, 1845

Lästert nicht die Zeit, die reine! Schmäht ihr sie, so schmäht ihr euch!

Denn es ist die Zeit dem weißen, unbeschriebnen Blatte gleich;

Das Papier ist ohne Makel, doch die Schrift darauf seid ihr!

Wenn die Schrift nicht just erbaulich, nun, was kann das Blatt dafür?41

Im August 1832 veröffentlicht Betty Glück in der Wiener Zeitschrift das Gedicht An die Männer unserer Zeit, verfasst im trochäischen Tetrameter in Paarreimen, dem Versmaß der Spaziergänge eines Wiener Poeten.42 Ihr Gedicht greift die Situation von Anklage und Verteidigung auf, die Ankläger sind hier die »Männer unserer Zeit«, das Ich des Gedichts verteidigt die von ihnen angeklagten Frauen. Vorgeworfen wird den Frauen ihre Oberflächlichkeit, ihr »Wankelmuth«, die »in zarten Mädchenherzen gar zu leicht entbrannte Glut« und die weibliche Gefallsucht im Allgemeinen. Die Rede an die Ankläger beginnt mit der Strophe:

Lästert feindlich nicht die Frauen! Schmäht Ihr sie, so schmäht Ihr Euch,

Denn es sind der Frauen Herzen einem reinen Spiegel gleich:

Selber ist er ohne Makel, doch das Spiegelbild seyd Ihr;

Will nun dieses nicht gefallen, ey, was kann das Glas dafür?43

Das Gedicht verwendet ein zeittypisches Bild: Frauenherzen, Frauenseelen, der Geist der Frau – alles ist abhängig von der männlichen Umgebung, die Frau spiegelt sie nur. Dann geht das Gedicht zum Vergleich mit einem ungeschliffenen Diamanten über, der durch falsche Behandlung verdorben werden kann. Von dort führt die Argumentation aber weg von der Passivität hin zur weiblichen, aktiven Nachbildung nach dem männlichen Vorbild: »Ihr seyd uns’re Herr’n und Meister! Ja, wir bilden uns an Euch, / Um von Euch geliebt zu werden, möchten wir Euch werden gleich.«44 Wie der Anwalt der Zeit in Grüns Gedicht hat auch das weibliche Ich in An die Männer unserer Zeit ein Rezept für die Verbesserung der Lage. Aber bei Paoli werden die Spiegelsymbolik und die Rolle des Vorbilds konsequent zu Ende gedacht. Anastasius Grüns Gedicht endet mit der Aufforderung an die Ankläger, die stumme Harfe der Zeit zum Klingen zu bringen wie Amphion, der Sohn des Zeus, der mit seinem Lyraspiel wilde Tiere zähmt und Steine zum Bau der Mauer von Theben bewegt. Der Lösungsvorschlag von Betty Glück ist nicht mythisch verklausuliert, sondern sehr konkret. Strophe sieben ihres Gedichts wendet sich an die Männer ihrer Zeit mit der Forderung:

Sollen Frauen sich veredeln, möget edler werden Ihr,

Möget bannen aus dem Busen wilder Leidenschaften Gier,

Mögt zuvor erst selber werden, wie die Frauen sollten seyn,

Fehlerfrey und ohne Mängel, und im Herzen treu und rein.45

Aber Paoli lässt es nicht bei dieser im Anbetracht der Geschlechterrollen der Zeit radikalen Idee bewenden. Sie dichtet eine achte Strophe, einen resignativen Schluss:

Ob dies jemals wird geschehen? Ach, ich glaub’ es nimmermehr!

Manches Jahr noch wird sich senken in der Ewigkeiten Meer,

Doch wohl nimmer wird man schauen, daß Ihr fühlt, wie’s unrecht sey,

And’rer Fehler zu bekritteln, wenn man selbst nicht fehlerfrey.46

Pessimismus bezüglich der Lernfähigkeit der Männer: Das ist ein überraschendes Statement aus der Feder einer jungen Dichterin. Hier kritisiert eine selbstbewusste Achtzehnjährige den sogenannten Geschlechts-Charakter, der sittsames Wohlverhalten von Frauen, dem »moralischen Geschlecht«47, verlangt und Männer davon aufgrund ihrer angeblich natürlichen Triebhaftigkeit ausnimmt. Diese stereotype Rollenverteilung gehörte zum Standardrepertoire von Literatur und Philosophie der Zeit, durchdrang das biedermeierliche Alltagsleben und brachte Mädchen und junge Frauen in Betty Glücks Situation (bürgerlich, unverheiratet, ohne Vermögen) in Schwierigkeiten. Ihre Tugendhaftigkeit, die augenscheinliche Zurückhaltung in erotischen Belangen, wurde für viele von ihnen zum wichtigsten Kapital, denn die Voraussetzung, um eine ›gute Partie‹ zu machen oder auch nur schlicht standesgemäß zu heiraten, war ein tadelloser Ruf.

Bürgerliche Männer konnten voreheliche Liebesbeziehungen führen, ohne dass ihr Wert auf dem Heiratsmarkt deshalb gesunken wäre, und auch außereheliche Beziehungen zu unverheirateten Frauen stellten üblicherweise kein gravierendes Problem für sie dar. Ihre weiblichen Pendants brachten sich mit dem gleichen Verhalten hingegen in existenzielle Not: Sie wurden für eine Ehe unvermittelbar und waren de facto außerstande, sich selbst und gegebenenfalls ein Kind zu ernähren, da es kaum Berufe gab, die sie ausüben konnten. Noch am Ende des 19. Jahrhunderts galt der Aphorismus von Marie von Ebner-Eschenbach: »Die Unschuld des Mannes heißt Ehre; die Ehre der Frau heißt Unschuld.«48 Betty Glücks Vater hinterließ als Feldarzt seinem Kind nur eine geringe Versorgung. Ihre Mutter hatte ihr Vermögen und das Haus in der Färbergasse verloren, Mutter und Tochter wohnten im Wiener Bürgerspitalzinshaus, einer Wohnanlage in der Inneren Stadt, in einer Mietwohnung.49 Und dass Betty Paoli später sagen wird, ihre Mutter sei »[leicht]sinnig, frivol, aber nicht schlecht, nicht verderbt«50 gewesen, bedeutet wohl, dass Therese Glück die Tugend ihrer Tochter und vielleicht auch ihre eigene nicht im wünschenswerten Maß bewachte. Betty Glück könnte selbst den männlichen Schmähungen von »in zarten Mädchenherzen gar zu leicht entbrannter Glut« ausgesetzt gewesen sein und im Gedicht An die Männer unserer Zeit durchaus pro domo sprechen. In jedem Fall ist es ein passender Startpunkt der Karriere einer Dichterin, die immer wieder freimütig aus der weiblichen Perspektive sprechen würde – auch über charakterschwache Männer.

Abgesehen davon, dass da eine junge Frau einen kritischen Blick auf ihre eigene schwierige Lage wirft, ist An die Männer unserer Zeit aber auch ein bemerkenswerter politischer Text. Denn Betty Glück klinkt sich durch den Bezug auf ein Gedicht von Anastasius Grün in den politischen Diskurs im Vorfeld der Märzrevolution von 1848 ein, in dem es um Freiheit und Selbstbestimmung geht, politische Forderungen, die sich gegen die Unterdrückung durch den Polizeistaat, gegen Zensur und gegen die Vorherrschaft der katholischen Kirche richten. Die Dichterin zeigt mit der metrischen Anlehnung an die Spaziergänge eines Wiener Poeten und der teils wörtlichen Übernahme aus einem Gedicht dieser Sammlung, dass sie sich für Politik interessiert, vor allem aber, dass es zum Thema Unterdrückung noch mehr zu sagen gibt, als Anastasius Grün und die anderen Vormärzautoren sagen. Betty Glück führt der Leserschaft vor Augen, dass außer den feudalen und klerikalen auch andere Herrschaftsverhältnisse bedacht, kritisiert und verändert werden sollten.

Dass ihr Gedicht den Untertitel Halb Scherz, halb Ernst trägt, ist keine Abschwächung, sondern unterstreicht vielmehr die Wichtigkeit des Themas: Die Forderung nach der sittlichen Verbesserung der Männer ist eben nicht als Scherz abzutun. Betty Glück kritisiert, dass die Moral von Frauen und Männern mit zweierlei Maß gemessen wird. Sie verlangt eine faire Behandlung und diese würde, konsequent zu Ende gedacht, für Frauen Selbstbestimmung bedeuten. Diesen emanzipatorischen Gedanken wird Paoli in ihrer Lyrik und ihren Essays immer wieder zum Ausdruck bringen. Ihr Freund Hieronymus Lorm, der prinzipiell gegen weibliche Emanzipation ist, kann nicht umhin, über Paoli zu bemerken: »[S]ie hat das Licht der Freiheit im Auge und der unerschrockene Flug danach wird nicht minder edel, ob es nun einer Nation oder nur ihrem Geschlechte leuchten soll.«51

… und an die Frauen

Betty Glück kam 1832 aus Ungarn nach Wien zurück und verbrachte dort den Winter, für Adalbert Stifter die schönste Jahreszeit in dieser Stadt, denn »die Cirkel glänzen, die Carrossen rollen, […] die Oper und das Schauspiel überfüllen sich, die Concerte überschwemmen uns, […] – das Gesellschaftsbuschwerk wuchert, und die Bälle und aller Teufel ist los.«52 Auch Betty Glück nahm an diesen Lustbarkeiten teil, der idealen Gelegenheit für Eheanbahnungen. Die Veranstaltungen waren aber wegen der geltenden moralischen Doppelstandards durchaus auch gefährlich. Das traf besonders auf Bälle zu, die dazu dienten, Mädchen in der Gesellschaft zu ›präsentieren‹, und bei denen es buchstäblich zur Berührung der Geschlechter kam. Ein Erziehungsbuch der Zeit warnt davor, die Töchter zu früh an Bällen teilnehmen zu lassen, erst mit vierzehn Jahren sei es passend, denn dann lerne das Mädchen »ein ganz neues Vergnügen kennen, und es wird ihr nicht einfallen, auch noch nebstbey Eroberungen zu machen«. Mädchen, die schon früher auf Tanzveranstaltungen gehen, seien bis zum heiratsfähigen Alter hingegen verdorben, da sie »keinen Reitz mehr am Tanzen allein finden, und das Vergnügen eines Balles in den Eroberungen suchen, die sie etwa machen würden.«53 Der Erzähler in Alexander Puschkins Versepos Eugen Onegin bringt die Gefahr auf den Punkt:

Ihr Mütter auch: mit strengen Mienen

Bleibt euren Töchtern zugewandt!

Habt die Lorgnette stets zur Hand!

Sonst – – – helfe Gott im Himmel ihnen!54

Gegen Ende der Ballsaison 1833 veröffentlichte Betty Glück ein Gedicht, in dem auch sie eine Warnung vor auf Bällen angebahnten Verbindungen ausspricht, allerdings aus der weiblichen Perspektive. Ihr Gedicht trägt den Titel Empfindungen am Ende eines Maskenballs55 und erschien in Adolf Bäuerles viel gelesener Theaterzeitung. Das Ich betritt mit uns den Ballsaal nach dem Fest:

Vorbei ist nun die frohe, der Lust geweihte Nacht,

Entflohn sind die Gestalten voll Reiz und bunter Pracht;

Ich steh’ allein im Saale, der erst noch so gefüllt,

Worin so strahlend glänzte manch lieblich Frauenbild.

Es war ein Maskenball, der hier stattgefunden hat, aber die Maskierten legen nach dieser Nacht ihre Masken nicht ab, sie vertauschen sie nur. Im geselligen Umgang ist alles nur Lug und Trug. Adressatinnen des Gedichts sind diejenigen, die noch an Verbindlichkeiten glauben, die naiven Geschlechts-, Alters- und Standesgenossinnen der Dichterin. Sie werden über die Natur der Bande, »geknüpft im Ballgewirr«, aufgeklärt:

Sie sind ja nur gewoben aus Lust und leichtem Scherz,

Umschlingend wol die Sinne, doch fesselnd nie das Herz,

Oft tilgt der nächste Morgen schon ihre fahle Spur

Und dem betrog’nen Busen bleibt die – Enttäuschung nur!

Das ist die desillusionierte Einsicht in die gesellschaftlichen Rituale des Täuschens und Betrügens, und auch hier spricht Betty Glück wohl aus eigener Erfahrung. Ihre Biographin Helene Bettelheim-Gabillon bemerkt, dass »das Schicksal« Betty Glück »zwang, auf eigenen Füßen zu stehen und sich dabei noch mit aller Kraft gegen verderbliche Einflüsse zu wehren, die ihre Mutter weit entfernt war, von ihr abzuhalten«56. Durchaus vorstellbar, dass die Dichterin zur Feder griff und mahnende Worte schrieb, nachdem ihre Mutter als Chaperon auf einem Ball versagt hatte; vielleicht war Therese Glück sogar so weit vom angemessenen mütterlichen Verhalten entfernt, dass sie selbst einem Fallensteller im Gesellschaftsbuschwerk erlegen ist; aus der Pflicht des weiblichen, tugendhaften Wohlverhaltens waren auch Witwen nicht entlassen und auch die Matrone musste noch auf ihren Ruf achten. Oder wie es K. A. Glaser, Mitarbeiter von Spiegel und Theaterzeitung, etwas unbeholfen ausdrückt: »Ein Weib, das allerlei Modentand, / Roman’ und Journals nur nimmt zur Hand, / Beim Hange zum Ball, zur Theaterschau, / Das ist eine sehr verderbliche Frau.«57

Zweifellos stand im Winter 1832 auch die Theaterschau auf Betty Glücks Vergnügungsprogramm. Ihre Liebe zur Bühne dürfte früh geweckt worden sein, sie stellte sie später als »Egeria«, also weise Beraterin des Publikumslieblings am k. k. Hoftheater Josef Lewinsky58, als Verfasserin von Theaterkritiken sowie als Übersetzerin französischer Salonstücke vielfach unter Beweis. Und auch als Verfasserin von Huldigungsgedichten für Bühnenkünstlerinnen.

Den Auftakt zu diesen poetischen Widmungen macht ein Gedicht an die junge Sängerin Sophie Löwe, aus dem wir schließen können, dass Betty Glück in der Saison 1832/33 in Wien das Kärntnertortheater besuchte, in dem Opern und Ballettproduktionen aufgeführt wurden. Betty Glücks Gedicht An Dlle. Sophie Löwe, als Giulietta in Bellini’s Oper: ›I Montecchi ed i Capuletti.‹59 ist eine Huldigung und zugleich ein origineller Beitrag zum komplizierten biedermeierlichen Liebesdiskurs. In den ersten beiden Strophen des vierstrophigen Gedichts besingt Paoli in direkter Adressierung die Künstlerin, ihre »holde Anmuth« des Liebesausdrucks und die Wirkung der lebendigen Darstellung des Liebesschmerzes: »Und auf dem Fittich Deiner Seufzer schwebet / Die Seele hoffend, sehnend, himmelwärts.« Das Du des Gedichts ist aber nicht nur die Sängerin, sondern auch die Figur Giulietta, wie der Librettist Felice Romani sie schuf. Es kommt zu einer Verschmelzung von Sängerin und literarischer Gestalt und zu einer Konzentration auf das Ende der Oper. Die Huldigung der Künstlerin mündet in den Lobpreis der Vereinigung der Liebenden im Tod, nachdem ihnen das Glück im Leben durch das Trennende »der Erde Macht« versagt war. Über die eher simple Anerkennung der schauspielerischen Leistung hinaus ist das eine eigenwillige Interpretation des Stoffes. Denn Romanis Giulietta (wie Shakespeares Julia) will sich nicht töten, sondern durch den Trick mit dem Scheintod weiterleben, und zwar mit ihrem Romeo. Der Tod der beiden ist genau genommen die Folge eines Kommunikationsversagens, in diesem Gedicht hingegen ist er für die hoffnungslos liebende Giulietta, deren Geliebter in ihren Armen stirbt, das »selig’ Loos«.

An Dlle. Sophie Löwe ist das erste Gedicht von Betty Glück, das Liebesschmerz, hoffnungslose Sehnsucht und den Tod als Erlösung oder Befreiung behandelt. Diese wichtigen Themen bilden insofern Paolis poetisches Alleinstellungsmerkmal, als es sehr ungewöhnlich ist, die Stimme der unglücklich oder hoffnungslos liebenden, gar todessehnsüchtigen Frau in der Liebeslyrik des Biedermeier zu hören. Es gibt viele verehrte, geliebte und begehrte Frauen in der von Männern verfassten Lyrik der Zeit, von diesen Frauen verraten die Gedichte allerdings meist nicht mehr als äußere Merkmale und Namen (und oft nicht einmal die), es sind Frauengestalten, die Chiffren für die Liebe selbst sind. In den Gedichten der Dichter kommen sie häufig zu Tode oder verschwinden nach einmaliger Nennung ohne Erklärung spurlos aus dem Text. Diese passiven Frauenfiguren sind Teil der »Orientierungsleistung«60, die die Liebeslyrik der Zeit für die bürgerliche Gesellschaft erbringt: Der unkontrollierbare Eros wird dämonisiert, die erfüllte Liebesbeziehung läge normgerecht in der Zähmung der Leidenschaften durch die Ehe, was implizit die Selbstabschaffung dieser Art der sehnsüchtigen Liebeslyrik bedeuten würde. Deshalb dominieren in der biedermeierlichen Dichtung unerfüllte Geschlechtsliebe, hoffnungslose Sehnsucht, Entsagung, Verzicht und der Tod der geliebten, verehrten Frau. Das Ideal dieser Lyrik ist nicht »das liebende Ich, sondern das Ich, das geliebt hat und sich diese Liebe, künstlerisch sublimiert, immer von neuem vergegenwärtigt«.61 Ein Kollege Paolis konstatiert: »Ist das Unerreichte erreicht, so fällt es dem realen Leben anheim und hört auf Objekt der Poesie zu sein.«62

Das Ich der biedermeierlichen Liebeslyrik ist männlich. Eine Frau, die im Gedicht selbst sehnsüchtig und hoffnungslos liebt, in ihrem Liebesschmerz Todessehnsucht verspürt, ist die Ausnahme.63 Und auch bei ihr muss die Liebe unerfüllt bleiben, da das weibliche Ich andernfalls seine Unschuld verliert; auch der Geliebte verschwindet, stirbt, ist unerreichbar. In der Lyrik Betty Paolis äußert sich gelegentlich ein erfüllt liebendes weibliches Ich, aber auch bei ihr scheitern die Verbindungen an unerklärten, unüberwindlichen Hindernissen, am Tod des Geliebten, an Verrat und Betrug oder – ein weiteres Skandalon – am Nichtgenügen des Geliebten. Besonders in der Sammlung Astern, Teil des Gedichtbandes mit dem sprechenden Titel Nach dem Gewitter64, spielt Paoli mehrere Varianten verhinderter und abgebrochener Beziehungen durch. Das lyrische Ich ist dabei immer auch ein Dichterinnen-Ich, das dem Verlust der Liebe in Versen Ausdruck verleiht, die unerfüllte Liebe wird zum kreativen Antrieb.

Im August 1833 finden wir in der Wiener Zeitschrift Betty Glücks Gedicht Dichterherz65, das aus dem gängigen Bildrepertoire schöpft und die Ausdrucksfähigkeit des Dichters mit der Äolsharfe, der Nachtigall und der blühenden Landschaft vergleicht. Für ihre Entfaltung bedarf es des »Schmerzensturmes Schwingen«, einer von Dornen verwundeten »blut’ge[n] Brust« und der »Himmelsthränen«. Das ›Sichaussprechen‹ des Subjekts, eine Definition von Lyrik, die Hegel in seinen Vorlesungen zur Ästhetik prägte, ist in diesem Gedicht also vor allem eine Bewältigung von Verletzungen. Die poetische Kraft speist sich aus schmerzlichen Erlebnissen und die Berufung führt in Paolis Lyrik das weibliche Ich heraus aus dem Kreis, in dem sich eine Frau idealiter zu bewegen hat, so zum Beispiel in dem Gedicht Bekenntniß:

Soll ich herab von meiner Höhe steigen,

Entsagen meinem Rechte, meinem Rang,

Um mich vor einem Irdischen zu neigen,

Der nie verstände meines Herzens Drang?66

Dieses Verlassen der zugewiesenen Sphäre ist das im Kontext der zeitgenössischen Lyrik auffallendste Beziehungshindernis für das Ich in Betty Paolis Gedichten.

Baden, Kremenez, Szaflary

Nach den winterlichen Vergnügungen in Wien machten Betty Glück und ihre Mutter das, was im Sommer für den Adel selbstverständlich und zunehmend auch für das Bürgertum üblich war: Sie verließen die Stadt und quartierten sich auf dem Land ein, konkret besuchten sie das »in der That lieblich gelegene«67 Baden bei Wien. Die Popularität dieses von der Residenzstadt aus bequem zu erreichenden Kurorts ging auf Kaiser Franz zurück, der von 1796 bis 1834 jeden Sommer in Baden verbrachte. Im Gefolge des Hofes fand sich »eine nicht geringe Zahl von Staatsmännern und Diplomaten« in Baden ein, außerdem die »haute finance« und

was immer auf guten Ton und Eleganz Anspruch machte. […] Schöne Frauen in sorglich gewählter Toilette, Staatsmänner, in deren Händen die Geschicke Europas lagen, Celebritäten aller Art verwandelten den Park, den man Mittags und Abends zu besuchen pflegte, in einen Salon voll anmuthiger, bedeutender oder interessanter Erscheinungen.68

So erinnert sich Betty Paoli später an ihren ersten Sommeraufenthalt in Baden. Und sie bemerkt: »Selbstverständlich blieben auch die problematischen Existenzen nicht aus, die aus einem solchen Zusammenfluß von Reichen und Vornehmen Gewinn zu ziehen hoffen.«69

Baden war für eine attraktive, mittellose junge Halbwaise und ihre leichtsinnige Mutter zu dieser Zeit also kein ungefährliches Pflaster, trotzdem finden wir in der Kurliste im Juni 1833 »Frau Theresia Glück, Med. Dr. Wittwe sammt Tochter aus Wien«70. Im Herbst des gleichen Jahres ist Theresia Glück zum zweiten Mal verheiratet und wollte weit weg von Baden oder Wien, und das ohne ihren neuen Ehemann Sigismund Groschan, der einige Jahre später im Zusammenhang mit dem Delikt der Adelsanmaßung aktenkundig werden sollte71. Theresia Groschan, »Secretärs-Gattinn«, beantragte im Oktober 1833 für sich und ihre Tochter einen Pass mit einer Gültigkeit von zwei Jahren, also für eine Reise zu Erwerbszwecken, denn »Luxusreisen« von dieser Länge waren behördlich verboten. Der Pass galt wie üblich nur für einen Ort72, und zwar für Kremenez in »Russisch-Pohlen«, also im russischen Kaiserreich (heute Ukraine).

Wir wissen nicht, was zwischen ihrer sommerlichen Übersiedlung von Wien nach Baden und diesem Passantrag passiert ist, aber der Wunsch wegzukommen hatte wohl auch mit den lockeren Sitten im Kurort zu tun: »Baden hatte zwar keine Spielbank, doch in jeder anderen Beziehung ging es dort kaum tugendlicher zu, als jetzt in Baden-Baden, Wiesbaden u. s. w.«73 Das schreibt Paoli in einem Feuilleton 1869, zur Zeit, als die baden-württembergische Stadt Baden-Baden die Hautevolee aus ganz Europa anzog und das hessische Wiesbaden wegen seines Kasinos das ›Nizza des Nordens‹ genannt wurde. Da lobt sich die Feuilletonistin der Ringstraßenzeit das harmlose, wenn auch etwas langweilige Ischl, Sommeraufenthalt Kaiser Franz Josefs, denn »nie hat das ›schöne Laster‹, das […] einst in unserem heimatlichen Baden so üppig florirte, hier seine Schlingen gelegt.«74 Mütter hatten ihre Töchter vor den Gefahren zu schützen, die an solchen Orten lauerten, Betty Glücks Mutter tat das offenbar nicht, wohl eher im Gegenteil. Denn es kam so weit, dass die Mutter von der Tochter »Verzeihung für das schwere Unrecht« »erflehen« musste, das sie an ihr begangen hatte.75

Als Indiz dafür, dass Theresia Glück ihrem Kind das Leben schwer gemacht hat, können wir Betty Glücks erstes Almanachgedicht interpretieren, das Ende des Jahres 1833 gedruckt wurde.76 Es trägt den Titel Meine Jugend, ist in seiner Prägnanz vielleicht das beste ihrer frühen Gedichte und das letzte, das sie unter ihrem bürgerlichen Namen veröffentlichte. Literarische Taschenbücher oder Almanache waren als Publikationsorte von besonderer Bedeutung und hier zu veröffentlichen, war für die junge Dichterin ein wichtiger Karriereschritt. Diese Verlagsprodukte erschienen jährlich und manche der Reihen bestanden jahrzehntelang. Das Taschenbuch des k. k. privilegirten Theaters in der Leopoldstadt, in dem Meine Jugend erschien, wurde 1814 gegründet und bestand unter dem Titel Thalia bis in die 1860er Jahre.

Almanache, oft mit floralen oder mythologischen Bezeichnungen, richteten sich hauptsächlich an ein Publikum, das in der ersten Jahrhunderthälfte ökonomisch wichtig wurde, nämlich an Mädchen und Frauen mit ausreichend Bildung und Muße für Lektüre und für eine eigene, zum häuslichen Gebrauch bestimmte künstlerische Produktion. Die einzelnen Ausgaben waren durch ihre dekorative Aufmachung ideale Geschenke, die üblichen Formate waren das handliche Kleinoktav oder das Oktav. Ein zeitgenössischer Kritiker meint, der Käufer sehe nur »auf den gepreßten Einband und die Küpferchen, damit das Geschenk wohlthuend in’s Auge falle«77, ein anderer spricht von »Damennippes-Litteratur«78. Um möglichst viele Leserinnen zu erreichen, wurden die Taschenbücher oft in mehreren Ausstattungen angeboten, die literarischen Beiträge waren von ganz unterschiedlicher Qualität, wie die Modezeitschriften und Unterhaltungsblätter lieferten aber auch die Almanache eine gute Grundlage für den geselligen Austausch am Teetisch, sie beeinflussten das Literaturverständnis der Zeit maßgeblich.79

Betty Glücks Gedicht Meine Jugend befindet sich in der Gesellschaft von Gedichten des hauptsächlich als vormärzlicher Lustspieldichter bekannten Eduard von Bauernfeld, des später mit Moritz Saphir verfeindeten Bühnenautors Josef Kilian Schickh, Neffe des Begründers der Wiener Zeitschrift, und des gemütvollen Vieldichters Johann Nepomuk Vogl, der in den Taschenbüchern der Zeit omnipräsent war, ein Zeitgenosse spricht von »Vogls Balladenmanufaktur«80. Aber auch eine Novelle von Magdalena Freiin von Callot mit dem Titel Lohn der Treue findet sich in dem Band.81 Darin pflegt die Heldin, eine arme achtzehnjährige Waise, während der Choleraepidemie in Wien im Jahr 1831 eine Hofrätin, in deren Sohn sie heimlich verliebt ist, aber als ihr der attraktive junge Mann aus Dankbarkeit für ihren Dienst einen Heiratsantrag macht, zögert sie: »Schüchtern, ihrem Glücke noch mißtrauend, wagte sie von Pflicht und Rechtlichkeit angetrieben, ihm vorzustellen, daß sie weit unter seinem Stande sey, daß er höhere Ansprüche machen könne.«82 Die Novelle ist ein Paradebeispiel für die Bestätigung und Einübung bürgerlicher Werte wie Treue, Standesbewusstsein, Familiensinn und sie hat ein Happy End im modernen Sinn. Hier zeigt sich: Wenn es um die Verfestigung von bürgerlichen Normen im Biedermeier geht, gibt es ein Netz aus Literatur und Kunst, in dem die Wirklichkeit frührealistisch abgebildet oder eine gesellschaftliche Konstellation so lange als Ideal vorgeformt wird, bis sie vom Lesepublikum nachgelebt wird.

In Betty Glücks Gedicht Meine Jugend präsentiert das Ich eine andere Seite des mit diesem Lebensalter assoziierten Frühlings, nämlich ohne Blüten, aber mit »Sturmeswüthen« und »Blitzeslicht«. Das Ich gibt »wahr und offen« Auskunft. Seine Jugend sei »Ein Trauern sonder Hoffen, / Von Schmerzensnacht umhüllt«.83 Bedenkt man die gesellschaftliche Funktion der Almanache im recht überschaubaren Zirkel des städtischen gebildeten Bürgertums, ist das als intime Selbstauskunft einer jungen Frau zu verstehen, die, neu im Salon, eine Antwort auf die Frage nach ihrem bisherigen Leben gibt. Und da das Gedicht nicht von näheren Umständen, sondern in einer Umkehrung der gattungsüblichen Jugendsymbolik spricht, verstand es die zeitgenössische Leserschaft als biographische Mystifikation eines dunklen Schicksals der Dichterin. Wir können davon ausgehen, dass Betty Glück hier von ihrem eignen Leben spricht und der innere Aufruhr des Gedichts seinen Grund in der äußeren Unsicherheit hat, in der sie ihre Jugend verbrachte und unter der sie litt.

Im Jahr 1855 schreibt Betty Paoli einen Brief an ihren Geliebten, den Schauspieler Ludwig Gabillon. Sie ist 39, als sie ihn kennenlernt, und klärt ihn nun über ihre Jugendzeit auf. Wir fänden auf dem ersten Blatt dieses Briefs wahrscheinlich Details über die seelische Verletzung, an der ihre Mutter Mitschuld hatte, wir bekämen vielleicht sogar genaue Auskunft über die Vorkommnisse im Badener Sommer 1833 und über die prägenden Ereignisse 1836, die Paoli dazu brachten, Wien ein zweites Mal für längere Zeit zu verlassen. Dieses erste Blatt aber fehlt. Erhalten ist Blatt zwei, auf dem Paoli berichtet: »Nun suchte ich eine Stelle in der Provinz; in Wien konnt ich nicht bleiben, man hätte mich hier nicht ruhig gelaßen, auch war mir zu dem neuen Leben, das ich beginnen wollte, eine neue Umgebung nothwendig.«84 Helene Bettelheim-Gabillon verwendete diesen Brief an ihren Vater wie alle persönlichen Dokumente Paolis, die sich im Besitz ihrer Familie befanden, für ihre biographische Arbeit nach »näherer Durchsicht und Prüfung«85 – und Zensur. In diesem hat sie sich nicht mit einer rücksichtsvollen Auswahl begnügt, sondern offenbar ein Blatt des Originals vernichtet. In ihrem Aufsatz Zur Charakteristik Betty Paolis zitiert sie aus dem Brief und wir erfahren dort, dass der Dichterin nach den Erlebnissen ihrer Jugend keine geordnete bürgerliche Existenz mehr möglich war: »[I]ch paßte in kein menschliches Verhältnis mehr hinein. Bei dem unseligen Versuch, den ich machte, jene Schranke zu überspringen ward mir die Schuld, die ich nicht begangen hatte, sondern die an mir begangen worden war, höhnend ins Gesicht geschleudert …«86 An der Stelle, an der Bettelheim-Gabillon das Zitat mit drei Auslassungspunkten abbricht, wird im erhaltenen Manuskript das ganze Ausmaß der Erschütterung der Lebensverhältnisse deutlich, denn der nächste Satz lautet: »Es war kurz vor der Geburt meines Sohnes; wäre der Instinkt, der mich das in mir schlummernde Leben heilig halten ließ, nicht zu mächtig gewesen, so hätte ich mich damahls getödtet«.87

Paolis moralisch gefährdete Jugend als Tochter einer leichtsinnigen, rastlosen Mutter, eine verheimlichte Schwangerschaft und Spekulationen über ein lediges Kind waren offenbar auch viele Jahre später noch Thema von Klatsch und Tratsch in den Wiener Theater- und Literaturkreisen (Ludwig Gabillon kam 1853 an das Hofburgtheater), so dass die Dichterin sich dazu genötigt sah, ihren Geliebten brieflich über die Wahrheit in Kenntnis zu setzen. Dass Gabillon das nicht gut aufnehmen würde, setzte sie voraus, und so stellt sie in dem Brief die rhetorische Frage: »Was ist das Glück des Menschen wenn das unbedachte Wort eines Gleichgiltigen es zerrütten und verschütten kann?«88 Die zerstörte Jugend des Gedichts findet sich in Paolis Brief wieder: »So ist das Leben hingegangen, die Jugend hingeschwunden und nichts davon zurückgeblieben als wüste Erinnerungen, deren Dunkel nun der Strahl meines Bewußtseins erhellt.«89

Es bleibt ein Rätsel, warum die Wahl von Mutter und Tochter für ihre Flucht vor einem Leben im sozialen Abseits auf Kremenez fiel, eine kleine Stadt im russischen Wolhynien, die bis 1831 ein wissenschaftlich anerkanntes Lyceum und einige polnische Revolutionäre aufzuweisen, 1833 seine beste Zeit aber bereits hinter sich hatte. Vielleicht war es auch gerade das, was für sie an Kremenez attraktiv war: Nach der Aufhebung des Lyceums »verzog sich der Adel und seine Stelle nahmen pensionierte Militairs und Beamten ein, da die verlassenen Wohnungen zu billigen Preisen zu miethen waren, überhaupt das Leben nicht theuer war.«90 Davor war Kremenez ein »Sammelplatz der polnischen Aristokratie« und wurde wegen des »regen Lebens, der vielen Feste, des bunten Treibens« als »wolhynisches Paris« bezeichnet.91

Es ist gut möglich, dass Betty Glück in Baden auf eine polnische großbürgerliche oder adelige Familie aus Wolhynien getroffen ist, die Bedarf an einer sprachgewandten Gouvernante hatte. Betty Glück sprach und schrieb perfekt Französisch. Die mündliche Beherrschung dieser Sprache zum Zweck einer oberflächlichen Konversation war im gehobenen Bürgertum üblich, Betty Glücks Französischkenntnisse übertrafen diese gängige Fertigkeit aber weit. Vielleicht hatte sie in ihrer Zeit in Ungarn engen Kontakt zur Familie ihres leiblichen Vaters – in der Aristokratie der Habsburgermonarchie war Französisch die Familiensprache.

Viele Angehörige der polnischen Oberschicht orientierten sich nach 1830 in Richtung Deutschland oder Frankreich, denn die russische Reaktion auf den Novemberaufstand der polnischen Nationalbewegung trieb Tausende in die Emigration. Vielleicht war es aber auch, wie von Helene Bettelheim-Gabillon kolportiert, eine russische Adelsfamilie, bei der Betty Glück als Erzieherin in den Dienst trat.92 Jedenfalls war ihr die große Distanz zu ihrer Heimatstadt, in der man sie »nicht ruhig gelaßen« hätte, sicher recht. Gehen wir von einer Route über Mähren, Krakau und Lemberg nach Kremenez aus, begaben Betty Glück und ihre Mutter sich auf eine Reise von beinahe tausend Kilometern – und das vor dem Bau der Eisenbahn.

Wir können mit Sicherheit annehmen, dass Gouvernante nicht Betty Glücks Traumjob war, die Verdienstmöglichkeiten für bürgerliche Frauen waren aber begrenzt. Die ohnedies schlecht bezahlte ›weibliche Handarbeit‹, gar die Putzmacherei im trauten Wiener Heim, kam für Betty Glück nicht in Frage; ganz abgesehen davon, dass sie nach eigenen Angaben, »geklagt sei’s Gott!«, nicht verstand, »Hüte und Hauben anzufertigen«93. Ihre Bildung und der Umstand, dass sie mehrere Sprachen beherrschte, befähigten sie aber zum Beruf der Erzieherin.

Die Anforderungen waren hoch – theoretisch, denn noch gab es keine Erzieherinnen- oder gar Lehrerinnenausbildung: »Jedem jungen Mädchen […], das sich zu dem ernsten, nichts weniger als leichten Berufe des Erziehungsfachs vorbereitet […] sei freundlich gerathen, neben der französischen Sprache ja auch die, gegenwärtig zu einer höhern Anstellung durchaus erforderliche englische zu studiren […].«94 Italienisch sollte die Gouvernante nur insoweit können, als es für musikalische Aufgaben nötig war, aber es werden »solide Kenntnisse in der Geschichte, Geographie, Naturgeschichte, Frauenarbeiten u. s. w.« vorausgesetzt, und auch das »schöne und so unendlich nützliche Talent des Zeichnens und Malens von Blumen und Landschaften« (Portraitmalerei galt als unweiblich) sollte sie mitbringen.95

Es war ein seltsamer und für die Ambivalenz des biedermeierlichen bürgerlichen Wertekatalogs aufschlussreicher Beruf, den Betty Glück ergreifen musste, ein Beruf, an dem sich die Schwierigkeiten der Konstruktion des ›natürlichen‹ Geschlechtscharakters96 besonders deutlich zeigen: Um Mädchen in der Häuslichkeit zur weiblichen Häuslichkeit zu erziehen, mussten andere Frauen außer Haus arbeiten, und zwar manchmal sehr weit weg vom eigenen Herd. Außerdem passt es keineswegs zur Vorstellung einer natürlichen Bestimmung der Frau, dass sie ausgerechnet die Erziehung ihrer Kinder in fremde Hände legt. Die Gouvernanten »verkörperten ganz offensichtlich ein weibliches Lebenskonzept, das konträr zum bürgerlichen Frauenideal stand«.97 Betty Paoli schreibt später in einem Feuilleton:

Es heißt, daß allen Frauen die Liebe für Kinder angeboren sei. Abgesehen davon, daß diese Regel vielen Ausnahmen unterliegen dürfte, wird es doch gewiß keinem Vernünftigen einfallen, den Frauen insgesammt auch die Befähigung zum Erziehungsamte zuzusprechen. Wie nun erst, wenn man – und dies ist der Fall – so viele junge und eben deßhalb erfahrungslose Mädchen sich dazu drängen sieht? Es liegt auf der Hand, daß sie den psychologischen Blick, die Ruhe und Selbstbeherrschung nicht besitzen können, deren es bedarf, um in diesem ernsten und schwierigen Berufe Ersprießliches zu leisten. Die Tausende