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Das Buch zur ARD-Eventserie DAVOS Ihr Schicksal entscheidet über Krieg und Frieden 1917: Der Erste Weltkrieg verwüstet Europa. In Kontrast dazu erscheint Davos, der noble Bergkurort in der neutralen Schweiz, wie eine Oase des Friedens. Doch in Wahrheit tobt hier hinter den Kulissen ein unerbittlicher Agentenkrieg der Weltmächte. Die junge Schweizer Krankenschwester Johanna Gabathuler gerät unerwartet zwischen die Fronten der Spione: Um ihre uneheliche Tochter zurückzubekommen, lässt sie sich auf ein tödliches Spiel mit dem deutschen Geheimdienst ein – und wird so plötzlich zum Zünglein an der Waage, das über Krieg oder Frieden entscheidet.
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Seitenzahl: 519
Ihr Schicksal entscheidet über Krieg und Frieden
1917: Der Erste Weltkrieg verwüstet Europa. In Kontrast dazu erscheint Davos, der noble Bergkurort in der neutralen Schweiz, wie eine Oase des Friedens. Doch in Wahrheit tobt hinter den Kulissen ein unerbittlicher Agentenkrieg der Weltmächte.
Die junge Schweizer Krankenschwester Johanna Gabathuler gerät zwischen die Fronten der Spione. Um ihre uneheliche Tochter zurückzubekommen, lässt sie sich auf ein tödliches Spiel mit dem deutschen Geheimdienst ein – und wird so plötzlich zum Zünglein an der Waage, das über Krieg oder Frieden entscheidet.
Luca Brosch
Roman
Graubünden, November 1916
Endlich stieß der Zug aus der Dunkelheit des Tunnels hervor, dabei hustete er schwarze Rauchschwaden in den Himmel der Schweizer Alpenlandschaft. Die erste Klasse wurde mit Sonne geflutet, das Licht fiel durch die Fensterscheiben der Waggons und brach sich in Kristallgläsern und Monokeln, sodass einige der Herren – die Damen waren in der Unterzahl – blinzelnd ihre Hände hoben, um sich schließlich beim Anblick der Schneelandschaft zuzuprosten. Sie alle waren auf dem Weg nach Davos. Die einen, um im Luxus dem Weltenbrand zu entfliehen, die anderen, um ihren Geschäften nachzugehen, welche für einige dank des Krieges besser liefen denn je. Während Europa in Flammen stand und die Männer auf dem Feld in Millionenstärke fielen, trafen sich Industrielle, der europäische Hochadel, Künstler und Intellektuelle – kurz: die Elite der verfeindeten Parteien – in Davos. Man ließ sich in Hinterzimmern Champagner servieren, diskutierte bei Austern, Zigarren, Cognac, Kaffee und Schweizer Schokolade neue Ideen für die heraufziehende Epoche. Das Ende der Monarchien galt einigen als ausgemacht, sie sahen das Zeitalter der Demokratie nun tatsächlich gekommen. Fast alle, die ihr Geld in der Kriegswirtschaft gewinnbringend angelegt hatten, fürchteten den Sozialismus und den Kommunismus. Es wurden Allianzen geschlossen, die keine Ländergrenzen und keinen Nationalstolz kannten, Fäden gezogen und Weichen gestellt, um die Konten zu füllen und nach dem Krieg nicht als Verlierer dazustehen – wer auch immer das Schlachten gewinnen würde. In Davos, einem winzigen Bergkurort, in aller Abgelegenheit und behaupteten Neutralität, wurde so die Zukunft eines Kontinents geformt. Hauptsächlich von Männern, die dabei ihre Schnurrbärte zwirbelten – doch auch von Frauen, denen nicht anzumerken war, wie mitleidslos sie für eine Idee töten würden.
Langsam kämpfte sich die Lokomotive bergauf, die schneebedeckten Hänge reflektierten das kalte Sonnenlicht, und endlos schien der Zug. Jetzt erblickte die zweite Klasse das Licht der weißen Welt, und erst als die Lok bereits hinter dem nächsten Berg verschwunden war, wurden die Waggons der dritten Klasse aus dem Schlund gezogen. Auch hier, im letzten Teil des Zuges, herrschte eine aufgekratzte Stimmung: Alle waren dem Elend, zumindest für ein paar Wochen, entkommen. Dicht gedrängt saßen hier diejenigen, die am Abend nicht in ein frisch gemachtes Federbett fallen würden, es wurden Zigaretten geraucht, keine Zigarren. Überwiegend handelte es sich um Schweizer Grenzsoldaten im Diensturlaub, aber auch deutsche Soldaten waren unter den Reisenden, Kriegsversehrte, die das Glück hatten, zur Genesung in die Berge geschickt zu werden. Viele hatten an der Front etwas verloren, ein Auge, ein Bein, einen Kameraden – zumindest die Hoffnung.
Die einzige Frau unter ihnen war eine junge Krankenschwester. Auch sie hatte etwas verloren, doch sie hatte auch etwas mitgebracht aus diesem Krieg.
Als ihr Abteil nun aus dem Dunkel des Tunnels auftauchte, das Sonnenlicht sich auf ihre düsterschönen Gesichtszüge legte, regte sich – nichts. Kein Blinzeln, kein Leuchten im Blick, die vertrauten Gipfel der Heimat vermochten ihre Augen nicht zu berühren. Lediglich ihr Mund verriet sie, mit einem leichten Zucken. Johanna Gabathuler wollte sich auf daheim freuen, doch das fiel ihr schwer. Während ihrer Zeit an der Front durfte ihr Vater einen Mann für sie suchen, dieser Bedingung hatte sie zugestimmt, und wie ihre Schwester beim letzten Telefonat andeutete, war die Suche nun erfolgreich verlaufen. Wer es war, hatte Mathilde nicht verraten. Johanna starrte ins Weiß hinter der Scheibe, auch ihre Rotkreuz-Uniform war weiß – sie starrte hinaus, wie sie zuvor ins Schwarz des Tunnels geblickt hatte.
Ihre Hände steckten in ebenso weißen Damenhandschuhen, die Linke ruhte auf dem Oberschenkel, mit der anderen bedeckte sie ihren Bauch. Papa würde eine Lösung finden. Er hatte immer eine gefunden. Und ihre Schwester war lieb gewesen am Telefon, als Johanna ihr alles erzählte hatte, es wird schon gut werden, hatte sie gesagt, weine nicht, komm heim.
Johanna Gabathuler erhob sich und betrachtete das Gepäcknetz über ihrem Kopf. Wie sie es hasste, um Hilfe bitten zu müssen. Allerdings sollte sie in ihren Umständen den schweren Koffer besser nicht selbst herunterheben. Als sie sich anschickte, es dennoch zu versuchen, streifte sie ungewollt das Gesicht eines dösenden Soldaten mit der Wölbung ihres Bauches. Er erwachte und blickte irritiert umher. Als er die Situation erfasste, sprang er auf und schob Johanna sanft beiseite. Seine linke Hand war bandagiert.
»Ich mach das«, sagte er.
Sie war in den vergangenen Monaten vielen Soldaten begegnet, aus allen Teilen des Deutschen Reichs waren sie an die Westfront beordert worden, in schwer verständlichen Dialekten hatten sie ihr von der Heimat erzählt, von der Liebsten, von den Kindern, und die, die selbst noch fast Kinder waren, von der Mutter. Dieser hier war ein Schweizer, er kannte den Krieg nur aus der Ferne.
»Steigst du aus?«, fragte er.
Als sie bejahte, signalisierte er mit einem Kopfnicken, dass er ihr den Koffer bis zur Tür tragen würde.
Johanna ging voraus, drängelte sich durch den schmalen Gang, stieg über Stiefel, vorbei an den hungrigen Blicken der Soldaten.
»Wo kommst du her?«, fragte ihr Kofferträger und blieb stehen, da sie am Ende des Abteils angekommen waren.
Johanna sah ihn an.
»Verdun.«
Er lachte, ebenso zwei Kameraden, die den Wortwechsel mitverfolgt hatten.
»Nein, im Ernst. Wo warst du? Auch an der Grenze?«
»Infanterieregiment 81. Zunächst bei Andechy, und dann in Verdun.«
»Du warst … in der Blutmühle?«, fragte der Soldat und strauchelte, als der Zug quietschend verlangsamte. Er musste sich an der Wand des Abteils abstützen, um nicht gegen Johanna zu prallen. Die verbundene Linke – ein Schmerz durchzuckte sein Gesicht. Noch immer wollte er ihre Antwort für einen Scherz halten, doch etwas im Blick der Krankenschwester verriet ihm, dass sie die Wahrheit sagte.
Johanna sah aus dem Fenster, betrachtete die kleinen, vorbeirollenden Gebäude und nickte kaum merklich. Ihre Hand ruhte schützend auf dem Bauch.
Als sich der Bahnsteig geleert hatte und der Zug in Richtung Davos davonfuhr, ließ Johanna den Blick über die Berggipfel wandern, gerade so, als sähe sie diese erst jetzt – und schlagartig wurde sie sich ihrer eigenen Winzigkeit bewusst. Das Gefühl war ihr noch aus der Kindheit vertraut, doch niemals war es mit der Ohnmacht verbunden gewesen, die nun von ihr Besitz ergriff. Früher hatte sie beim Anblick der Bergriesen Ehrfurcht, auch Zuneigung verspürt. Jetzt fühlte sie sich klein und verloren auf dem menschenleeren, fremden Bahnsteig. Mathilde hatte am Telefon gesagt, sie solle zwei Stationen vor Davos aussteigen. Warum bloß?
»Johanna! Endlich!«
Die vertraute Stimme riss sie aus den Gedanken. Mathilde.
Ihre Schwester, die vier Jahre älter als Johanna war, strahlte für gewöhnlich die Strenge einer alten Frau aus. Was nicht weiter verwunderte, da sie die Kindheit mehr oder minder übersprungen hatte – die Mutter der zwei war bei Johannas Geburt gestorben. Ihr Vater hatte stets ohne jedes Bedauern, sogar mit Stolz gesagt, Mathilde sei schon mit vier Jahren erwachsen geworden. Als sie jetzt ungestüm auf Johanna zugerannt kam, lag auf dem sonst so überernsten Gesicht ein kindliches Grinsen, und Johanna spürte die Erinnerungen an gemeinsame Tage und mit ihnen endlich auch das Heimatgefühl in sich aufsteigen. Die Schwestern fielen sich in die Arme, atmeten die Wärme und den Geruch der anderen, und aufgrund des Bauches zwischen ihnen mussten sie beide lachen.
Sie ließen sich wieder los. Johanna neigte den Kopf, um sich mit dem Oberarm über das Gesicht zu wischen, Mathilde betupfte sich mit einem Taschentuch die Augen, ihr Brustkorb hob und senkte sich einmal. So schnell ließen sich die Sorgen nicht wegdenken.
»Ich hab jeden Tag gebetet, damit du nur heil zurückkommst. Ihr … beide.« Mit den letzten Worten legte sie ihre Hände auf Johannas Bauch, vorsichtig. Mathilde schüttelte den Kopf, ganz leicht nur, fassungslos und etwas amüsiert zugleich. Dann übernahm die erwachsene, große Schwester die Kontrolle: Der Ernst kehrte zurück in ihr Gesicht, verscheuchte das Lächeln wie einen Eindringling, Mathilde straffte sich und legte einen grauen Wollumhang um Johannas Schultern. Die sah ihre Schwester liebevoll an.
»Danke, dass du mir hilfst. Aber … wieso wolltest du mich hier treffen? Warum nicht zu Hause?«, fragte Johanna und zog den Umhang fester.
»Wir haben ein Privatzimmer bei den Diakonissen organisiert. Mit einer äußerst erfahrenen Hebamme.«
Mathilde bückte sich zum Koffer. Als Johanna aufgebrochen war, war das Leder noch makellos gewesen, hatten die Verschlüsse geglänzt. Jetzt war der Koffer zerkratzt, zerbeult, zerschlissen, wie fast alles, was von der Front in die Heimat zurückkehrte.
Mathilde hob Johannas Koffer an und wollte losgehen, doch Johanna zögerte. Ihre Schwester nickte ihr aufmunternd zu. »Komm. Es wird alles gut.«
*
Die Wehen waren zuletzt im Minutentakt gekommen. Dann verbanden sie sich zu einem einzigen, nicht enden wollenden Schmerz. Johanna, schweißnass, hatte das Gefühl zu zerreißen, sie schrie, wie sie noch nie in ihrem Leben geschrien hatte. Mathilde stand nutzlos und elend neben der Hebamme, die bereits viele Kinder in diese Welt geholt haben musste, in diesen Raum, der kahl und schmucklos war, bis auf ein schlichtes Holzkreuz an der Wand. Unter der verrutschten Haube lugte der graue Ansatz ihrer Haare hervor, und während Johanna ihren Schmerz herausbrüllte und presste, presste, bis ihr Kopf, ihr Unterleib, bis die ganze Welt zu zerspringen drohte, verzog die alte Diakonissin keine Miene, gab ruhig ihre Kommandos, griff zu, und mit der letzten Presswehe drückte Johanna den kleinen Körper hinaus in das kalte Universum. Der Schmerz raubte ihr nicht etwa die Sinne, er verstärkte sie noch, und so nahm sie alles genauer und viel deutlicher wahr, ihren Körper, das Rauschen der Hormone, das Glück, das Eisen im Blut roch sie, das Fruchtwasser, sie stieß einen verbrauchten Schwall Luft aus und ließ die aufgestaute Energie entweichen, und als sie alles herausgeatmet, geschrien, gepresst hatte, hörte sie das dünne Stimmchen, das Lebewesen, das in ihr zu einem Menschlein herangewachsen war. Es lebte, es war hier, mit ihr.
»Es ist alles dran«, sagte die Hebamme sanft und schnitt die Nabelschnur durch. »Ein Mädchen.« Sie tauchte ein Tuch in die bereitstehende Schale mit warmem Wasser und wusch das Kind, hob Ärmchen und Beine an, wischte vorsichtig über Gesicht und Bauch und tupfte es trocken.
Vollkommen entkräftet schloss Johanna für einen Moment die Augen, doch nicht zu lang, die Wärme fuhr durch sie hindurch wie ein Strom, sie öffnete die Augen wieder und betrachtete ihr Kind. Da lag es, lag sie, ihre Tochter, klein und … perfekt. Die kleinen Arme versuchten erste Bewegungen, die winzigen Fingerchen griffen ins Leere, alles an ihrem Kind war in unbekanntem Maße zauberhaft. Ein Wunder, mehr konnte Johanna nicht denken, mehr wollte sie auch gar nicht denken, sie wollte endlich ihr Kind halten und küssen und riechen.
»Elli«, sagte sie matt und streckte eine Hand aus. Es war Erichs letzter Wunsch gewesen, sie so zu taufen. »Sie heißt Elli«, bekräftigte Johanna noch einmal und blickte zu Mathilde – ihre Schwester hatte feuchte Augen. Und senkte den Blick. Mathilde wischte sich seltsam grob über die Wange, schien ihre Träne ungeschehen, ungeweint machen zu wollen.
Die Hebamme hatte das Kind in eine Decke gewickelt, hob das immer noch schreiende Bündel hoch. Ungeduldig, fast gierig streckte Johanna beide Arme aus, um ihre Tochter entgegenzunehmen, sie spürte ein Ziehen in der Brust, die Vormilch trat aus – doch die Diakonissin wandte sich ab. Irritiert blickte Johanna zu Mathilde, die nun einen Schritt näher kam und ihre Hand ergriff. Die Hebamme entfernte sich, mit Elli, in Richtung Tür.
»Wo … wo gehen Sie hin?«, wollte Johanna sagen, doch die letzten Worte verschwanden in ihrer Kehle, bevor sie ihr überhaupt über die Lippen gekommen waren. War etwas mit Elli? Musste sie versorgt werden, ging es ihr nicht gut? Die Hebamme hielt inne, als sich nun die Tür öffnete und eine Nonne eintrat, gefolgt von – ihrem Vater. Endlich! Hatte er es noch geschafft. Doch Johannas Lächeln wurde nicht erwidert, es lag keine Wärme in seinem Blick, Peter Gabathuler betrat stattdessen den Raum, als handelte es sich um die Küche seines Curhauses. Unter seinem Schnauzbart, der sich in einen Backenbart ausdehnte, saß ein verkniffener Mund, das blanke Kinn war störrisch nach vorn geschoben, auch die Augen waren nur Schlitze, und er selbst, obwohl von kräftiger Statur, schien im Ganzen zusammengedrückt. Er sah sich nicht um, würdigte seine Enkeltochter keines Blickes und nickte der Hebamme nebenbei zu wie einer Angestellten, die schmutzige Tischtücher in die Waschküche brachte. Wortlos verließ sie mit der schreienden Elli den Raum.
Was geschah hier?
Johanna blickte verzweifelt von der sich schließenden Tür zu ihrem Vater, das Schreien auf dem Gang ertönte nur noch dumpf, wurde leiser und leiser und war schließlich gar nicht mehr zu hören.
»Papa …?«
Gabathuler blieb an der Tür stehen und schwieg. Er betrachtete das Kruzifix an der Wand. Johanna sah zu Mathilde auf, ihre Schwester würde alles klären können.
»Was … Elli … ELLI!«, schrie Johanna, Vater senkte den Blick, Mathilde schloss die Augen und sagte mit erstickter Stimme: »Es … es ist besser so … für alle.« Dann drehte sie sich um und floh aus dem Zimmer. Und erst jetzt, als Johanna mit ihrem Vater allein war und er noch immer an der Tür verharrte und sein grimmigstes Gesicht zur Schau stellte, den Hut in der Hand, in einen dicken Mantel gehüllt, erst jetzt stürzte die absolute Gewissheit über Johanna herein, wie eine Schneelawine, ein Steinschlag. Es hatte einen Plan gegeben. Mathilde und Papa hatten sich abgesprochen. Ihre Augen und auch ihr Mund öffneten sich, als sie begriff, dass Mathilde die ganze Zeit Bescheid gewusst hatte. Schon am Bahnhof. Noch schlimmer: Mathilde musste das alles organisiert haben.
»Johanna. Du hast kein Kind«, sagte ihr Vater bestimmt.
Während ihre Augen sich nun zum ersten Mal fanden, begannen Johannas Schläfen zu pochen, ihr Atem ging stoßweise, die Welt flackerte und drohte ganz wegzubrechen. Sie war leer, so leer, sie hatte ein Kind geboren – Elli, die sie ihr nun wegnehmen wollten, wie konnten sie ihr Elli wegnehmen, sie war das Einzige, was sie mit Erich verband, das Einzige, was sie noch hatte. War das wirklich ihr Vater? Der ihr immer alles hatte durchgehen lassen? Sogar den Wunsch, sich als Krankenschwester an der belgischen Front zu beweisen? Hatte er tatsächlich gerade »Du hast kein Kind« gesagt?
Doch, ich habe ein Kind, dein Enkelkind Elli, meine Tochter, hast du nicht gesehen, wie schön sie ist?
Johanna war zu schwach, vor Schreck wie gelähmt, ihr Mund rührte sich nicht.
Ihr Vater blickte ihr finster ins Gesicht. Falls hinter der Finsternis etwas kämpfte, konnte Johanna es nicht sehen.
»Wenn irgendjemand erfährt, dass du ein Balg in die Welt gesetzt hast, landest du im Gefängnis! Also: Kein Wort, zu niemandem – haben wir uns verstanden?!«
So bedrohlich hatte er noch nie geklungen, schon gar nicht ihr gegenüber. Johannas Mund, der weiterhin geöffnet stand, begann tonlos zu zittern, und als ihr Vater sich abwandte und mit der Nonne den Raum verließ, stieg ein Schrei aus ihr empor, der für sie selbst wie das Geräusch einer Fremden klang, immer lauter, lauter noch als unter der Geburt, denn nun waren es Wut und Verzweiflung, die sich Bahn brachen, und Johanna war allein, in dem kahlen Raum, nur die Wände hörten, wie Johanna ihnen den Namen ihrer Tochter entgegenschleuderte, aber die Wände standen still und unbeteiligt um sie herum.
Nach der Geburt blieb Johanna bei den Diakonissen. Sie verbrachte die Tage im Wochenbett in völliger Lethargie, aus dem Fenster starrend, ohne etwas anzusehen. Mit keiner der Schwestern, die sich von nun an um sie kümmerten, redete sie ein Wort. Sie pflegten und wuschen sie, wechselten ihre Laken, brachten ihr Tee und Hühnerbrühe, die sie schweigend löffelte. Johanna schleppte sich zur Toilette, erbrach die Suppe, quälte sich durch die Tage, weinte sich in den Schlaf. Ihr Busen spannte und schmerzte, wollte Milch geben, erst nach Tagen gab er endlich auf.
Niemand durfte wissen, dass sie bereits zurück in der Schweiz war. Wenn man sie so sah, würde es sofort Gerüchte geben: Ihr Gesicht war voller als gewöhnlich, ihr Körper sah aus wie im vierten Monat einer Schwangerschaft. Beim Blick in den Spiegel fragte sich Johanna, wie sie ihren noch immer gewölbten Bauch vor den Kollegen, den Patienten, nicht zuletzt vor ihrem Verlobten verbergen sollte. Denn wenn sie nun ins Curhaus zurückkehrte, würde sie ihn wohl kennenlernen müssen.
Die Schwestern schienen Erfahrung mit diesem speziellen Problem zu haben. Als zwei Wochen verstrichen waren und Johanna sich wieder halbwegs schmerzfrei bewegen konnte, halfen sie ihr beim Bandagieren, schnürten sie ein wie in ein Korsett. Vom Curhaus waren ein paar von Mathildes Kleidern geliefert worden, die etwas weiter geschnitten waren, und Johannas Appetitlosigkeit hatte ihr rundes Gesicht verschwinden lassen. Sie zog eins der Kleider an. Es passte. Vor dem Spiegel versuchte sie darin Haltung einzunehmen, die glaubhafte Version einer Johanna darzustellen, der lediglich ein monatelanger Fronteinsatz in den Knochen saß. Konnte sie das? Wollte sie das? Sie hatte zwei Wochen lang über nichts anderes nachgedacht und war zu dem Schluss gekommen, dass ihr, zumindest vorerst, nichts anderes übrig blieb. Was sollte sie sonst machen? Sie müsste das Waisenheim finden, in das Elli gebracht worden war. Und dann? Ihr eigenes Kind entführen und aus der Schweiz fliehen? Wohin sollte sie gehen? Die ganze Welt lag im Krieg miteinander, der Kontinent stand in Flammen, es gab keinen Ort, an den sie als Frau allein mit einem Säugling hätte gehen können.
Nein, sie würde mitspielen müssen, einen anderen Weg gab es nicht. Sie würde nach Papas Regeln spielen, so wie sie schon immer mitgespielt hatte, die hübsche Tochter des Curhausdirektors.
Sie holte tief Luft, zog den Bauch noch weiter ein, drehte sich zur Seite, streckte den Oberkörper und betrachtete ihr Spiegelbild. Sie hielt ein paar Sekunden still. Dann sackten die Schultern nach vorn und ihr schossen die Tränen in die Augen.
Johanna lehnte die Stirn an das kühle Glas.
Wie sie sich dafür hasste, dass sie Mathildes Worten geglaubt hatte.
Es wird alles gut.
Wie sie darauf vertraut hatte, dass ihr Papa eine Lösung finden würde.
Sie hatten ihr Elli weggenommen!
Johanna schluchzte auf, als sie an die Händchen ihrer Tochter dachte, die winzigen Finger, die ungelenk in der Luft umhergriffen, auf der Suche nach ihrer Mutter.
Du hast kein Kind.
Keine Elli.
Auch keinen Erich.
Sie wischte die Tränen ab und sah sich im Spiegel in die Augen.
Und keinen Papa mehr, dachte sie voller Zorn.
Und keine Mathilde.
Eine Woche vor dem Weihnachtsfest konnte sie nach Davos zurückkehren. Auch wenn sie noch immer geschwächt war, fing sie sofort wieder an zu arbeiten. Und wie gut es trotz allem tat, in die Routine des Schwesterndaseins abzutauchen – unter den paradiesischen Bedingungen, die hier im Sanatorium herrschten, im Vergleich zum Militärhospital hinter der Front. Ihre liebste Kollegin, Schwester Bigna, küsste sie überschwänglich auf die Wangen, froh, dass Johanna heil zurückgekehrt war. Auch das Wiedersehen mit ihrer Nichte, der kleinen Klara, warf etwas Licht auf ihr Dasein, und versetzte ihr zugleich einen Stich, als ihr das Kind um den Hals fiel und das weiche Haar Johannas Nase kitzelte. Selbstverständlich waren während ihrer Abwesenheit Patienten abgereist oder verstorben, neue Patienten eingetroffen, ranghohe Militärs und Soldaten, Botschafter und Adlige. Eine deutsche Gräfin lieh ihr zahlreiche Bücher, Der Gaukler von Bologna, The Voyage Out, aber auch Vom Kriege von Clausewitz – Johanna saugte alles auf, was die dunklen Gedanken fernhielt. Ilse von Hausner, so hieß die Gräfin, befragte sie zu ihrem Einsatz an der deutschen Westfront bei Verdun und diskutierte in der gleichen Ernsthaftigkeit mit Johanna über die Garderobe der anderen Gäste wie über die Weltpolitik. Zudem war neues Personal angestellt worden – zwei junge, schüchterne Krankenschwestern aus der französischen Schweiz und ein äußerst höflicher und zurückhaltender Chirurg namens Mangold, der ebenfalls aus Deutschland stammte.
So gelang es dem Alltag wider Erwarten schon bald, ihr den Schein einer Normalität vorzugaukeln. Manchmal, wenn Johanna bei der Arbeit besonders gefordert war, schaffte sie es, für einige Stunden nicht an Elli zu denken. Dann wieder kamen die Abende, an denen sie ein Buch zur Hand nahm, auf die Zeilen starrte und doch kein Wort las. Im geschäftigen Betrieb des Curhausalltags gelang es ihr zumeist, alles zu verdrängen, was Papa und Mathilde ihr angetan hatten. Doch an den Abenden holten sie die Bilder ein. Wie ihr Vater unvermittelt im Geburtszimmer auftauchte, mit kalten Augen, ihr Elli wegnahm. Mathilde, die ihre Träne wegwischte, als wäre sie unrechtmäßig geflossen. An diesen Abenden, wenn sie ein Buch auf dem Schoß hielt, ohne jemals umzublättern, fragte sie sich, was an ihrem Leben überhaupt noch lebenswert war.
Das Schlimmste war, dass Elli irgendwo da draußen war und atmete, weinte, lachte! Den Tod des Kindes, so glaubte Johanna, hätte sie besser verkraftet als dessen Verschwinden. Und schämte sich sogleich für den Gedanken. Aber dass jemand anderes ihre Elli fütterte, in den Armen wiegte, an den Busen drückte … wie sollte sie mit diesem Wissen leben, ohne verrückt zu werden?
Sie fragte sich, wie sie der Abmachung, die sie mit ihrem Vater getroffen hatte, jemals hatte zustimmen können. Es fiel ihr schwer, sich heute daran zu erinnern, aber das Versprechen, nach der Rückkehr zu heiraten, war ihre einzige Möglichkeit gewesen, um Davos hinter sich zu lassen, zumindest vorübergehend. Einzig aufgrund dieser Verabredung hatte ihr Vater – nach endlosen Streitereien – ihrem Wunsch nachgegeben, als Krankenschwester den Verwundeten im Feld zu helfen. Ob sie vielleicht tief im Inneren das gewollt hatte, was dann geschehen war? Mit Erich? Hatte etwas in ihr gehofft, dass der Einsatz in Deutschland eine Möglichkeit böte, den für sie vorgesehenen Pfad zu verlassen? Als sie dann feststellte, dass sie schwanger von Erich war, hatte sie von einer Liebeshochzeit geträumt, hätte für ihn sogar ihre geliebten Berge verlassen. So wie ihre Mutter Russland für Papa verlassen hatte – sofern es stimmte, was Olga Belova erzählte: Zwischen ihren Eltern, das war die große Liebe gewesen.
Umso herzloser kam es Johanna vor, dass sie nun jemanden heiraten musste, den ihr Vater ausgewählt hatte – unter rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Papa hatte Großrat Thanner auserkoren, und der hatte zugestimmt. Einen Politiker und Geschäftsmann, zehn Jahre älter als sie, wohlhabend, angesehen – und nicht ihr Typ. Sie kannte ihn vom Sehen, schon oft war er im Restaurant des Sanatoriums zu Gast gewesen und hatte seine Augen nicht von ihr lassen können. Noch nie hatte sie so etwas wie Anziehung empfunden, eher Abscheu, bestenfalls Langeweile. Thanner war die Sorte Mann, die sich am liebsten selbst reden hörte, Gesprächspartner waren für ihn bestenfalls Stichwortgeber, das galt insbesondere für Frauen.
Und jetzt war eine Anzeige in die Zeitung gesetzt worden, und auch im Schaukasten vor der Kirche war es angeschlagen: Ihre Verlobung geben bekannt … Es gab kein Zurück, es war offiziell, sie, Johanna Gabathuler, würde Großrat Rudolf Thanner heiraten. Ausgerechnet heute, am Heiligen Abend, sollte sich das Paar zum ersten Mal der Öffentlichkeit zeigen. Und sie würde, wie sie es von Kindesbeinen an gelernt hatte, ihre fröhliche Maske tragen, die Rolle spielen, die sie fast automatisch annahm, wenn sie das Curhaus betrat. Denn für die Patienten und Gäste gab es nur eine Johanna Gabathuler: Schwester Johanna – Cronwalds Sonnenschein.
Mit ihrem strahlendsten Lächeln schritt sie die breite Treppe hinab und wurde mit vereinzelten, wohlmeinenden »Aaaahs« von den im Foyer stehenden Gästen und Patienten des Luxussanatoriums empfangen. Sämtliche Köpfe fuhren herum, alle Aufmerksamkeit galt dem Paar des Abends. Rudolf Thanner machte ein paar Schritte auf Johanna zu und streckte ihr die Hand entgegen. Als er sie am Oberarm berührte, legte sich seine Hitze auf ihre Haut und kroch feucht in sie hinein. Er beugte sich vor, brachte seine rosigen Lippen in ihre Nähe und deutete einen Kuss auf ihrer Wange an. Sie hakte sich ein, und zum Glück wurde endlich der Champagner gebracht, der war dringend nötig, um den heutigen Abend zu überstehen. Peter Gabathuler reichte Thanner eine Zigarre, die schwiegerväterlichste Geste, die denkbar war.
Nachdem man angestoßen und getrunken, die Zigarren gekappt und entzündet hatte, schlenderte man gemeinsam in den Saal, vorbei an den weiß gedeckten Tischen, nahm Glückwünsche entgegen, prostete sich zu, der Pianist tupfte Es ist ein Ros entsprungen in den nach Tannengrün duftenden Raum, schließlich nahm man am Ehrentisch vor der Bühne Platz.
Da saß Johanna nun, an der Tafel neben ihrem Verlobten, umgeben von den Verrätern, die ihre Familie darstellten: ihr Vater, im schwarzen Frack, mit weißer Hemdbrust und gemusterter Krawatte, ihre Schwester Mathilde in einem dunklen, hochgeschlossenen Kleid mit langen, dezent gepufften Ärmeln. Mathildes Ehemann Jovin Caduff, der Polizeichef von Davos, war in Ausgehuniform erschienen. Jovin sah stets verschlafen aus und strahlte eine gutmütige Langsamkeit aus, die dazu führte, dass man ihn grundsätzlich unterschätzte. Auch jetzt glotzte er ausdruckslos vor sich hin wie ein Goldfisch in zu kaltem Wasser. Die Tochter der beiden, Klara, zappelte aufgeregt auf ihrem Stuhl herum, musste immer wieder von Mathilde zur Ruhe gemahnt werden.
Johanna lächelte wie eine Puppe.
Sie führte nur wenige Löffel der Bouillabaisse zu sich, hielt dafür aber einige Male dem Kellner das leere Glas hin. Heute trank sie zum ersten Mal seit Monaten wieder Alkohol, und nach den ersten Schlucken Champagner im Foyer hatte sie fast einen Moment der Leichtigkeit verspürt. Sie fühlte mit wissenschaftlichem Interesse in sich hinein und bemerkte, wie es ihr mit zunehmendem Rausch leichter fiel, das alles zu ertragen. Johanna orderte ein weiteres Glas; dem sorgenvollen Blick ihrer Schwester schenkte sie dabei keine Beachtung.
Als Thanner nach der Suppe seine Hand auf ihre legte, war Johanna froh um die weißen Damenhandschuhe, die sie trug. Die Erinnerung an die Berührung im Foyer lag noch immer auf ihrer Haut, seine hitzige Weichheit, die nichts Angenehmes hatte. Dazu der Geruch nach Weinbrand und Zigarre, der in seinem Bart steckte, dessen Haare ihr beim Begrüßungskuss in die Wange gestochen hatten. Thanner hielt einen seiner Monologe, die Banken, die Wirtschaft, die Rendite … Johanna betrachtete ihre Hand, die unter seiner begraben lag. Der Verlobungsring steckte fest an ihrem Finger, zu fest, als wollte er sie erwürgen, am liebsten hätte sie ihn mitsamt der daraufliegenden Hand abgestreift und den Großrat gleich mit, das Leben, das ihr Vater für sie ersonnen hatte: als lächelnde Gattin an der Seite des Politikers und erfolgreichen Geschäftsmanns, der sich mit seinen Aktien sogar am Krieg bereicherte.
Auf den Tischen leuchteten die Kerzen inmitten von weihnachtlichen Tischgestecken, die mit kleinen kupfernen Engeln, Trompeten und Sternen geschmückt waren. Auch Johanna fühlte sich wie ein Schmuckstück – und mehr nicht.
Ein Christbaum von abnormer Größe thronte auf der Bühne direkt neben dem Flügel, schlanke Kerzen brannten ruhig und wussten nichts vom Elend und den Toten auf den Schlachtfeldern und in den Schützengräben, wussten nichts von Elli, die erste Worte spricht, von Elli, die laufen lernt, Elli die tanzt, lacht, singt und weint und ihre Mutter vermisst, die sich verstoßen fühlt und ihre Mutter zu hassen beginnt.
Johanna wurde erlöst, als der Hauptgang serviert wurde. Thanner griff zum Besteck und begann, sich den Knödeln und der konfierten Entenkeule auf seinem Teller zu widmen.
»Eigentlich wollte der Bundesrat Schwerverletzte aller Kriegsparteien aufnehmen«, sagte er, tunkte ein Stück Fleisch in die dunkle Soße und führte es zum Mund. Kauend ließ er den Blick durch den Saal über die Männer und Frauen in Abendgarderobe schweifen. Johanna stocherte ein wenig im Fleisch herum, dann winkte sie ein weiteres Mal den Kellner herbei.
»Nun, ein verhältnismäßig geringer Preis, um die Schweiz aus diesem Krieg herauszuhalten«, sagte Peter Gabathuler, der als Herr des Hauses am Kopf der Tafel saß und seinem zukünftigen Schwiegersohn zunickte wie ein Mann von Welt. Sein Entenknochen war bereits blank, der Teller leer. Ihm war als Erstes serviert worden, und es hatte geschmeckt. Hochzufrieden lehnte er sich zurück, faltete die Hände über dem Bauch und suchte den Blick des jungen Großrats.
Dieser antwortete: »Zudem ist Ihr Curhaus so wieder besser ausgelastet, nicht wahr?«, und in sein Lächeln mischte sich eine gönnerhafte Überheblichkeit, geradeso als wäre es sein persönlicher Verdienst, dass die Abmachung der Schweiz mit den kriegführenden Nationen für volle Betten im Sanatorium sorgte. Thanner wusste, wie schlecht das Curhaus Cronwald aufgrund des Kriegs besucht gewesen war. Er wusste, dass Gabathuler Schulden angehäuft hatte. Und Thanner wusste zudem, dass der Direktor des Curhauses Vater einer schönen Tochter war und einen Investor brauchte.
Der Pianist spielte nun ein verträumtes Vom Himmel hoch da komm ich her, langsam und in der hohen Lage, mit durchgetretenem Haltepedal. Wie Sternenstaub rieselte die Klaviermelodie auf die Gäste herab und ergab mit dem gedämpften Geplauder und dem Geklapper von Besteck und Tellern einen festlichen Dreiklang. Draußen vor dem Fenster herrschte bereits Nacht, im Lichtkegel der Terrassenbeleuchtung schwebten vereinzelt dicke Schneeflocken zu Boden.
Thanners Blick ging wieder auf Wanderschaft und blieb am Rande des Saals stehen, direkt neben der Tür für Bedienstete, wo ein Tisch dazugestellt worden war, möglichst weit abseits. Seine Miene verzog sich. Dort wurde die Entenkeule in die Hand genommen, das Fleisch mit den Zähnen direkt vom Knochen gerissen: Drei Kriegsversehrten war zur Feier des Tages gestattet worden, im Saal mit der besseren Gesellschaft zu speisen. Als wären die drei einfachen Uniformen zwischen all der feinen Garderobe nicht störend genug, musste auch noch der Anblick von Augenklappe und fehlenden Gliedmaßen ertragen werden. Thanner schüttelte angewidert den Kopf.
»Müssen die wirklich mitten unter uns feiern? Was sind das nur für Männer, die sich im Krieg selbst verletzt haben? Simulanten und Deserteure.«
Er wollte seine Hand wieder auf Johannas legen, doch sie griff zum Weinglas. Thanner blickte sie an. Sie lächelte giftig, gab sich keine Mühe mehr, es echt aussehen zu lassen. »Da haben Sie recht – die Simulation der fehlenden Gliedmaßen gelingt dem Soldat dort mit der Krücke außerordentlich überzeugend«, sagte sie.
Niemand lachte. Mathilde, die gegenüber von Johanna saß, suchte den Blick ihrer Schwester, doch die sah zur Seite und lächelte ihren Verlobten nur weiter an. Der lächelte zurück, um einen jovialen Gesichtsausdruck bemüht.
»Was man nicht alles tut, um sich in einem Schweizer Sanatorium von Ihnen verwöhnen zu lassen … dafür würde ich mir auch ins Bein schießen.«
Diesmal lachten alle. Bis auf Johanna.
»Unsere Patienten können sich wirklich glücklich schätzen«, versuchte der alte Gabathuler die sarkastische Bemerkung seiner Tochter vergessen zu machen. »Vor allem seit der geschätzte Doktor Mangold bei uns operiert. Johanna arbeitet seit ihrer Rückkehr von der Front unter ihm.«
Auch Caduff, der bisher noch kaum ein Wort gesagt hatte, bemühte sich, das Thema zu wechseln: »Wann ist es denn eigentlich so weit, Herr Großrat? Wann läuten die Hochzeitsglocken?«
Thanner lächelte. »Nun …«, er drehte den Kopf zu Johanna und ließ seinen Blick genießerisch auf und ab wandern. »Noch heute? Ich zumindest hätte nichts dagegen.« Er hob sein Glas, und Johanna musste mitansehen, wie er einen Schluck trank, und noch einen, dabei genießerisch die Augen schloss, sich anschließend mit der Zungenspitze über die Haare seines Schnauzbarts fuhr und alles mit einer Stoffserviette abtupfte, und da hob auch sie ihr Weinglas, leerte es jedoch wie einen Schnaps, den man hinter sich bringen möchte, weil er betäubte, nicht weil er schmeckte.
Thanner sah zu Caduff.
»Nein, im Ernst: Kurz vor den Wahlen in zehn Wochen scheint uns ein guter Zeitpunkt für die Hochzeit.«
Johannas Kopf fuhr herum.
Uns?
Sie sah zu ihrem Vater, der nur bekräftigend nickte und ebenfalls einen Schluck trank. Ihr Herz raste. Sie wollte das Weinglas auf den Boden schmeißen oder etwas anderes kaputtschlagen – ihr Vater und Thanner hatten also bereits die Hochzeit geplant?
Der Großrat setzte wieder sein gönnerhaftes Gesicht auf und beugte sich zu ihr. »Und als Frau Großrat müssen Sie dann auch nicht mehr arbeiten. Sie Glückliche!«
»Aber …«, Johannas Gedanken sprangen umher, »ich arbeite doch gern …«, mehr bekam sie nicht herausgestammelt, da Thanner ihr bereits ins Wort fiel.
»Wie sähe das denn aus? Frau Großrat als Krankenschwester? Ich bitte Sie!«, er lachte gespielt irritiert, ein Lachen, das behauptete, keine Widerrede zuzulassen. Johannas Wut verwandelte sich in Finsternis, die tief in ihr brodelte wie ein schwarzer, heißer Sirup.
Gabathuler legte die Hand auf den Unterarm von Thanner und beugte sich mit einem Lächeln zu ihm. »Sie versteht nicht allzu viel von Politik.«
Johanna schloss die Augen. Sie wusste sehr wohl, was in der Politik, in der Welt vor sich ging. Sie las nicht nur die internationalen Zeitungen, sie hatte auch Carl von Clausewitz gelesen und kannte den Krieg zudem aus der Frontperspektive – im Gegensatz zu den zwei befrackten Männern, die, ohne sie einzubeziehen, ihr Leben durchgeplant hatten. Dass sie den Großrat heiraten würde, war bereits ein großes Opfer, ein allzu großes, aber nun sollte sie auch noch ihre Arbeit – ihre Identität aufgeben? Unter dem Tisch zog und drehte sie am Verlobungsring. Sie wollte den Ring auf den Tisch knallen, Thanner beschimpfen und von ihrem Vater fordern, dass er ihre Elli zurückholte, ihr Kind – eine hässliche Szene im Curhaus am Weihnachtsabend, von der noch lange gesprochen würde, die Demütigung des Großrats – doch da meldete sich Mathilde zu Wort.
»Es hat schon seine Richtigkeit, dass ihr Männer die Politik macht. Ich bin jedenfalls froh drum, dass ich damit nichts zu tun hab – es hat auch Vorteile, eine Frau zu sein!«
Die Männer lachten zustimmend, Johanna verzog keine Miene und gab dem Kellner ein Zeichen, der sofort herbeieilte, um ihr ein weiteres Mal nachzuschenken. Mathilde wies ihn unauffällig, aber mit entschiedener Handbewegung ab. Niemand bemerkte den vergifteten Blick, den Johanna ihrer Schwester zuwarf.
Mathilde.
Sie war eine von ihnen.
»Frauen in der Politik, das hat uns gerade noch gefehlt«, prustete Thanner in die Runde, und die Männer johlten vor Vergnügen bei dieser Vorstellung.
Johanna schob den Stuhl zurück und erhob sich. Die Runde verstummte, alle Köpfe fuhren herum.
»Sie entschuldigen mich.«
Thanner sprang auf, ihr Vater erhob sich ebenfalls und strich sich die Weste glatt, Caduff, der mit Töchterchen Klara getuschelt hatte, bekam einen Knuff von Mathilde, dann erhob auch er sich, wie es Sitte war, und Johanna verschwand in Richtung Ausgang.
Erhobenen Hauptes durchschritt sie den Saal, die Tochter des Direktors, der Sonnenschein des Cronwald, nickte in die eine Richtung, lächelte in die andere, dann verließ sie den Raum durch den Haupteingang und bog in Richtung der Toiletten ab. Ein Kellner kam ihr entgegen und ahnte nichts von dem Unwetter, das sich in ihr zusammenbraute. Als er verschwunden war, knipste sie das Lächeln aus und machte kehrt, warf vorsichtig einen Blick in den Saal, wo Vater und Thanner längst wieder ins Schwadronieren verfallen waren – und eilte los, in die andere Richtung, zum Roulette-Zimmer. Sie ignorierte ein paar Zigarre rauchende Herren, griff sich ein Glas Wein vom Tablett eines vorübergehenden jungen Livrierten, der ihr mit offenem Mund dabei zusah, wie sie es – nur kurz innehaltend – leerte und zurück aufs Tablett stellte. Sie verließ das Spielzimmer, um die dahinter gelegene kleine Bar zu betreten, alles, was links und rechts von ihr lag, verschwamm, während sie zielstrebig den Tresen ansteuerte. Der Barkeeper lächelte ihr zu. Ein schönes Lächeln. Ein schöner Barkeeper. Sie lächelte zurück.
»Fräulein Gabathuler! Frohe Weihnacht. Was darf es sein?«
»Schnaps. Einen Doppelten.«
»Sehr gern, Fräulein Gabathuler.«
Fragend zeigte er ihr das Etikett einer Flasche Kirschwasser, sie nickte, hätte zu allem genickt, er schenkte ein, sie trank, atmete scharf aus. Es war Gift, es schmeckte wie Gift, und es war das Einzige, was sie jetzt interessierte. Vergessen. Nicht bei Thanner sein. Am besten gar nicht bei Besinnung sein. Sie hatte eigentlich das Glas sanft auf den Tresen setzen wollen, doch es knallte laut auf das harte Holz, inzwischen konnte nicht mehr von einem Schwips die Rede sein, sie war deutlich angetrunken – und es gefiel ihr. Energisch zeigte sie mit dem Zeigefinger auf das leere Schnapsglas und grinste den Barmann an, der sein schönstes Barmannlächeln lächelte und ihr nachschenkte.
Hinter Johanna brandete mehrstimmiges Gelächter auf, ein helles Frauenlachen blieb etwas länger stehen, und dieses Lachen kannte sie nur zu gut. Mit dem Glas in der Hand drehte Johanna sich um und betrachtete die Runde: Ihre Lieblingspatientin Ilse von Hausner, wie immer umringt von einer Männerschar. Die Gräfin – alter deutscher Adel – war eine exzentrische Dame von fast fünfzig Jahren, attraktiv, im hochgeschlossenen Abendkleid, auf dem Kopf ein ausladender Hut. Und sie war eindeutig zu tuberkulosekrank, um hier mit einer Champagnerschale in der Hand fröhliche Weihnacht zu feiern. Rechts von der Gräfin saß der französische Marquis de Richelieu in einem der Clubsessel. Daneben ein Mann mit Monokel und schwarzem Schnurrbart. Es handelte sich um einen italienischen Offizier, wie sich unschwer an der graugrünen Ausgehuniform erkennen ließ. Und der Mann, der nun wieder das Wort ergriff, war ein deutscher Konsulatsmitarbeiter, an seiner Seite eine junge, blonde Frau, die ihm gebannt an den Lippen hing.
»… ich konnte meinen Kameraden doch nicht liegen lassen! Also packte ich ihn mir, hievte ihn mit letzter Kraft auf die Schulter, robbte mit der Gasmaske durch den Schlamm … überall Leichen, Helme, Blut, und Stacheldraht, der mir die Uniform und die Haut zerfetzte, über mir Feindesfeuer! Die Kugeln schlugen links und rechts ein, es war die Hölle …«
»Lemke, sie sind ein Held«, sagte die Gräfin gelangweilt.
Johanna kippte den Schnaps runter, erhob sich vom Barhocker. Für einen Moment musste sie sich sammeln, ihr Gleichgewichtssinn schwappte sich zurecht, dann ging sie hinüber.
»Gräfin! Sie sollten längst im Bett sein. In Ihrem Zustand!«
Sie spielte die strenge Schwester, schüttelte sogar mahnend den Zeigefinger.
Ilse von Hausner drehte sich um. Sie lächelten sich an.
»Ich soll in der Sonne liegen, sagen die Ärzte.« Sie blickte in die Runde. »Scheint jetzt die Sonne?«
Die Männer lachten, die Gräfin fuhr fort.
»Darf ich vorstellen – Johanna, meine Lieblingsschwester hier. Die Tochter des Hauses. Eine Heilige.«
Dann sah sie wieder hoch zu Johanna, nahm ihre Hand.
»Der Tag gehört Ihnen, die Nacht gehört mir, meine Liebe. Setzen Sie sich zu uns!«
Oh ja, Johanna wollte sich gern dazusetzen, neben die Gräfin, in die Nacht, nicht an die Seite ihres Verlobten, sie war es satt, die Wut auf ihren Vater herunterzuwürgen. Der Rausch hatte eine Euphorie in ihr geweckt, und nun wollte sie etwas von der Freiheit der Gräfin kosten, wollte laut sein wie sie, nicht dekorativ schweigend die Verlobte spielen. Ilse von Hausner war der Mittelpunkt jeder Runde; mit pointierten und scharfzüngigen Bemerkungen hatte sie die Lacher immer auf ihrer Seite. Passend zu ihrer eleganten Erscheinung trug sie ein Parfum, welches Johanna jetzt in die Nase stieg wie ein pudriger Lockstoff.
Ilse von Hausner klopfte auf den Sessel neben sich, und Johanna nahm Platz. Die Gräfin griff sich die leere Champagnerflasche aus dem Kübel und wedelte damit in Richtung des italienischen Offiziers.
»Edoardo. Was halten Sie davon, wenn Sie uns noch ein Fläschchen besorgen, hm? Ich weiß, Sie schaffen das.«
»Wie könnte ich Ihnen einen Wunsch ausschlagen, Carissima«, sagte der Italiener und sprang auf, griff nach der Flasche und eilte zur Bar wie ein Lakai.
»Nur weil sie sich in Europa die Köpfe einschlagen, muss doch hier bei uns der Champagner nicht schal werden. N’est-ce pas, Richelieu?«
»Absolument! Ihr Feind ist die Tuberkulose. Nicht der Franzose.«
Die Gräfin, der Marquis und selbst Johanna lachten, Lemke schwieg. Dann brummte er: »Trinkt, solange ihr noch könnt. Die Somme wird euch eine Lehre sein.«
»Die Somme war keine Schlacht, das war ein Gemetzel. Null Eleganz. Eine Million Tote. Und wofür? Die Westfront steht weiterhin still. Und die Ostfront?«
Die Gräfin winkte ab, steckte sich eine Zigarette in die dafür vorgesehene Spitze und beugte sich zum Marquis, der in die Westentasche griff und ihr umgehend Feuer gab.
»Danke.« Sie atmete Rauch in Richtung des Italieners, der mit einer neuen Flasche Champagner zurück von der Bar kam.
»Dieser Krieg kennt nur noch Verlierer. Man sollte ihn beenden«, sagte sie, und der Marquis stimmte ihr zu. Doch Lemke hielt grimmig dreinblickend dagegen: »Im Gegenteil. Der Kaiser muss jetzt seine U-Boote von der Leine lassen!«
Die Gräfin rollte mit den Augen. Sie blickte zu Johanna.
»Sie waren doch auch im Krieg, Johanna.«
Johanna zögerte einen Moment. Ilse von Hausner war selbst keine Frau, die sich mit Zuhören zufriedengab, und sie hatte – nicht nur bei ihren nachmittäglichen Gesprächen – stets ein aufrichtiges Interesse an Johannas Meinung gezeigt. Und an ihren Erfahrungen.
»In der Hölle sogar«, setzt die Gräfin nun hinzu. Jeder hier wusste, was mit Hölle gemeint war: Verdun. Und dass die allermeisten nicht lebend von dort zurückkehrten. Alle sahen Johanna jetzt an. Die Gräfin fuhr fort. »Was meinen Sie? Sollte der Kaiser seine U-Boot-Flotte gegen die Engländer einsetzen?«
Sogar das Gespräch am Nachbartisch verstummte, sämtliche Augen fixierten sie nun, gespannt, ob die schöne Krankenschwester etwas Sinnvolles zur Debatte beitragen konnte.
»Nun …«, begann Johanna, die alle Erinnerungen an Verdun mit sich herumtrug, an das Hospital, die Front, die Granaten, dazwischen immer wieder Erich. Was wollte ein pomadiger Konsulatsmitarbeiter ihr vom Krieg erzählen? Sie las die Zeitungen, sie hatte erfrorene Füße abgesägt, sie hatte ein Kind geboren. Sie wusste, wenn man es recht bedachte, mehr über den Krieg als ihr Vater, mehr als Thanner.
»… die Seeblockade Großbritanniens verstößt zwar gegen das Völkerrecht«, begann sie langsam, unter keinen Umständen durfte sie jetzt lallen, »doch einen uneingeschränkten U-Boot-Krieg zu beginnen halte ich für eine gefährliche Idee.« Dann fuhr sie fort, jetzt deutlich schneller und mit jedem Wort an Selbstverständlichkeit gewinnend. »Das würde die USA unnötig provozieren. Ich glaube nicht, dass sich das Kaiserreich einen Kriegseintritt der Amerikaner leisten kann.«
»Brava!«, sagte die Gräfin. »Haben Sie den Clausewitz schon gelesen?«
Johanna nickte, woraufhin die Gräfin lächelte und ein wenig stolz in die Runde blickte. Doch Lemke fuhr herum. Seine Augen tanzten ziellos umher.
»Also sollen wir einfach darüber hinwegsehen, dass die Engländer uns mit ihrer Seeblockade aushungern? Dass Tausende in Berlin buchstäblich verrecken?«
Ein Brite vom Nachbartisch, der dem Gespräch seit einiger Zeit folgte, schaltete sich nun ein. »Ach, bereuen Sie es jetzt, dass Sie den Krieg begonnen haben?«, fragte er den Deutschen, und Lemke sprang sofort auf, schwankte, der General erhob sich dafür umso zackiger, seine Gesichtsfarbe ähnelte der seiner roten Ausgehuniform, der Alkohol ließ ihn sofort in Rage geraten. Mit geballten Fäusten hob er das Kinn, mit jeder Faser zum Kampf bereit.
Johanna, die zwar berauscht, aber bei Weitem nicht so betrunken war wie die zwei Streithähne, schnellte ebenfalls hoch, um dazwischenzugehen. Sie war immer noch die Tochter des Hauses.
»Verehrte Gäste … ich bitte Sie«, sagte Johanna, doch Lemke schob sie grob beiseite, holte aus – als ihn bereits die Faust des Engländers traf. Lemkes blonde Begleitung quiekte kurz auf, er wankte, fasste sich ins Gesicht, wie um zu prüfen, ob es noch da war, dann stürzte er sich auf den General. Johanna trat einen Schritt zurück, blickte zur Gräfin, die den Kampf mit einer Mischung aus Langeweile und Spott verfolgte. Sie legte ihre Zigarette im Aschenbecher ab und griff zur Champagnerflasche.
»Meine Herren!«, stieß sie überraschend laut hervor, als die zwei Raufbolde gegen einen Tisch torkelten und Gläser zu Bruch gingen.
»Spielen Sie draußen weiter. Hier ist neutraler Boden. Da darf jeder sein Geld verlieren.«
Die beiden ließen sofort voneinander ab, wie dressierte Äffchen. Im ganzen Raum herrschte Stille, alle starrten die zwei Männer an. Der Brite massierte seine Schlaghand und strich sich die Uniform glatt. Lemke fasste sich in den Mund und betrachtete anschließend seinen Zeigefinger, doch es war kein Blut zu sehen. Seine Begleitung schmiegte sich an ihn, er ergriff ihre Hand. Dann ertönte ein lauter Knall. Johanna und der Brite duckten sich instinktiv, Johanna hob schützend die Arme über den Kopf, Edoardo schmiss sich auf die Erde. Alle drei hatten Bomben- und Granatenhagel überlebt. Lediglich Lemke verzog keine Miene und sah die drei entgeistert an, genau wie seine Begleiterin und der Marquis.
Die Gräfin, mit der nun geöffneten Champagnerflasche in der Hand, wandte sich an Lemke: »Erstaunlich, dass Sie den Graben überlebt haben, Lemke. Duckt man sich dort nicht als Erstes, wenn’s knallt?«
Die Frau an Lemkes Seite ließ seine Hand los – ein Frontmärchen hatte er ihnen aufgetischt! Sie rückte einen Schritt von ihm ab und sah ihn enttäuscht an. Der uniformierte Engländer kicherte amüsiert und setzte sich wieder an seinen Tisch. Lemke blieb nichts anderes übrig, als sich seinen Mantel zu holen und die Bar beschämt zu verlassen. Johanna und die Gräfin sahen ihm hinterher und tauschten einen belustigten Blick aus. Der italienische General Edoardo hatte sich wieder erhoben, übernahm die Flasche und schenkte der verbleibenden Runde ein. Die Gräfin nahm Johanna beiseite.
»Johanna, wir müssen reden«, sagte sie leise.
In ihrem Blick lag kein Spott mehr, keine Fröhlichkeit. Johanna blickte in ernste Augen.
»Was gibt es?«
Die Gräfin sah über Johannas Schulter und dann wieder in ihr Gesicht.
»Nicht hier. Können wir uns irgendwo unter vier Augen …«
»Johanna!«
Caduff. Die Stimme von Johannas Schwager schnitt der Gräfin das Wort ab. Er hatte die Bar betreten und blickte ein wenig erleichtert zu Johanna.
»Hier bist du! Komm, dein Vater hält gleich die Rede …«
Mit einem kräftigen Schlussakkord sorgte der Pianist für Aufmerksamkeit, Peter Gabathuler erhob sich, das Gemurmel im Saal verebbte langsam. Der Musiker verließ den Flügel, um der älteren Tochter des Curhausdirektors Platz zu machen – Mathilde betrat die Bühne, strich den Rock ihres Kleides zurecht und setzte sich auf den Klavierhocker. Vorn, am Bühnenrand, positionierte sich bereits die kleine Klara. Der Neunjährigen war die Aufregung deutlich anzusehen, verschämt winkte sie ihrer Tante Johanna zu, ein kurzes, scheues Handwedeln auf Bauchhöhe. Johanna winkte lahm zurück, versuchte zu lächeln und formte lautlos ein paar ermutigende Worte. Der Patriarch schlug gemächlich die Gabel einige Male gegen sein Weinglas und ergriff das Wort.
»Verehrte Gäste. Unten, in Europa, liegt die Welt im Krieg. Doch hier oben, bei uns in Davos, gibt es keine Nationen …«, er hob sein Glas und prostete der Reihe nach den im ganzen Saal verteilten Schweizern, Deutschen, Franzosen, Italienern und Engländern zu – Konsulatsmitarbeiter, Generäle und Industrielle, die allesamt Gäste seines Curhauses waren, »… heute gibt es auch keine Klassen …«, nun nickte er in gleicher Art den Soldaten am Rand des Raums zu, dann den Kellnern, die sich neben der Eingangstür versammelt hatten, und schließlich schenkte er dem Tisch mit den Krankenschwestern ein Lächeln, um den Satz zu beenden: »Und besonders an Weihnachten gilt es, uns in Erinnerung zu rufen: Wir alle sind Christen. Ich bin froh und stolz, dass wir hier und heute in Frieden und Eintracht gemeinsam feiern können.« Er hob das Glas, alle im Saal taten es ihm gleich. »Auf die Menschlichkeit, die uns miteinander verbindet. Prost, Santé, Salute, Cheers!«
Es wurde getrunken, und Johanna stürzte ihr Glas erneut in einem Zug hinunter. Ihr Zustand hatte nun alles Belebte verloren, der pulsierende Anfangsrausch begann einer bleiernen Trägheit zu weichen. Hinter ihrer Stirn spürte sie ein Stechen, sie schloss die Augen, was keine gute Idee war, schnell hob sie die Lider wieder, um den Schwindel loszuwerden. Sie fokussierte ihren Vater und wurde von einer eigentümlichen Traurigkeit erfasst. Wer war dieser Mann, der da den Christenmenschen mimte? Sie empfand fast Mitleid mit ihm. Ihr Vater hatte keine Ideale, für ihn zählte nur Ansehen, denn ohne Ansehen ließ sich mit einem Luxussanatorium kein Geld erwirtschaften, und für den guten Ruf war er sogar bereit, seine Enkeltochter zu opfern.
»Zum Ausklang unseres besinnlichen Mahls nun eine ganz besondere Einlage. Am Klavier: meine Tochter Mathilde, und es singt für uns Klara – der jüngste Spross unserer Familie.«
Bei den letzten Worten durchfuhr Johanna ein heller Schmerz, sie zuckte zusammen, doch niemand bemerkte es. In ihren Schläfen hämmerte das Blut.
Der jüngste Spross unserer Familie.
Mathilde begann zu spielen, dann erhob Klara die Stimme. Glockenhell erklang Stille Nacht, heilige Nacht.
Thanner griff nach Johannas Hand. Dieses Mal war sie nicht schnell genug und musste es geschehen lassen. Eine Zeit lang starrte sie das Tischtuch vor sich an, mustert die Soßenflecken und Brotkrümel, dann hob sie den Blick, drehte den Kopf und betrachtete das Profil des Mannes, an dessen Seite sie schon bald ihre Tage verbringen sollte. Er hatte die Augen geschlossen und hörte zu, ob ergriffen oder gelangweilt ließ sich nicht sagen, vermutlich dachte er über Anleihen und Zinsen nach. Sie sah hinüber zum Vater – auch er lauschte zufrieden, seine Augen ruhten voller Stolz auf der Enkeltochter, die Hände über seinem mächtigen Bauch gefaltet.
Als sie versuchte, ihre Hand zu befreien, um zum Weinglas zu greifen, umfasste Thanner sie fester und gab die Hand nicht frei, wie etwas, das er sich gekauft hatte und das für immer ihm gehörte.
Dies war der Moment, in dem Johanna aufgab. Sie konnte und wollte nicht mehr. Nichts mehr. Nicht hier sein, unter all den Verrätern, nirgendwo sonst. Sie griff mit der Linken zum Glas, führte es zum Mund, dabei wanderte ihr Blick über die Menschen im Saal.
»Nur das traute hochheilige Paar …«, sang Klara, während alles andächtig lauschte.
Johanna entdeckte Ilse von Hausner, die am Türrahmen bei den Kellnern lehnte und ihr mit einer Champagnerschale über die Köpfe der Gäste hinweg zuprostete. Sie nickte kaum merklich zurück, beide Frauen tranken. Dann verstummte der letzte Akkord, und das Publikum klatschte und jubelte, endlich ließ Thanner sie los, um ebenfalls lautstark zu applaudieren. Johanna bewegte langsam ihre Hände, wie ein Klatschen unter Wasser, ihre Schwester auf der Bühne erhob sich und trat nach vorn. Als Mutter und Tochter sich anlächelten, füllten sich Johannas Augen mit Tränen. Die kleine Klara schlang ihrer Mama die Arme um den Körper, vergrub erleichtert ihr Gesicht in Mathildes Kleid, weil alles gut gegangen war. Großvater Gabathuler erhob sich voll Stolz, er klatschte im Stehen, wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und klatschte weiter. Als er sich umdrehte und sah, dass auch Johanna weinte, nickte er ihr wohlwollend zu, vielleicht war es sogar aufmunternd gemeint, denn er verstand nichts.
Nur Johanna, die hatte entschieden, was zu tun war.
*
Der Wind pfiff, noch immer wirbelten vereinzelt Schneeflocken durch die schwarze, heilige Nacht. Johanna trug keinen Mantel, trotzdem spürte sie die Kälte nicht. Bei Tag hatte man von hier oben den schönsten Ausblick, jetzt sah man lediglich die letzten Lichter von Davos in der Nacht leuchten. Langsam ging der kleine Kurort schlafen, auch die meisten Gäste waren zu Bett gegangen, das Personal bereitete das Sanatorium auf einen neuen Tag vor. Johanna stand vor dem Mäuerchen, welches die Dachterrasse säumte, und starrte in die Dunkelheit.
Im nächsten Moment schon stand sie auf der Mauer. Es war nur ein kleiner Schritt gewesen. Sie sah nach unten. Noch ein weiterer Schritt – und alles wäre vorbei. Das konnte ihr niemand verbieten.
Sie holte tief Luft.
Wie ihr Vater alles bereuen würde.
Wie Mathilde für den Rest des Lebens mit der doppelten Schuld leben müsste.
Einfach fallen lassen.
Hoch genug war es.
Sie dachte an Elli. Nur ein letztes Mal noch wollte sie an ihre Elli denken. An Ellis Vater Erich, den sie an der Front in Frankreich zusammengeflickt hatte. Elli würde nie vom Tod ihrer Mutter und dem ihres Vaters, der in Verdun gefallen war, erfahren, selbst wenn Johanna einen Abschiedsbrief hinterlassen würde – alle Verbindungen waren gekappt.
Doch müsste sie nicht zumindest für Thanner eine Nachricht hinterlassen? Eine, in der stand, wie abstoßend sie ihn fand? Und dass sie lieber sterben wollte, als mit ihm zu leben?
Egal.
Thanner war nicht wichtig.
Alles egal.
Es war vorbei.
Sie schloss die Augen, um sich in die Dunkelheit fallen zu lassen, da fragte eine leise Stimme: »Fräulein Gabathuler?«
Johanna fuhr herum. Es war eins der Dienstmädchen, das sie leicht verwundert und auch beschämt anschaute.
Das Adrenalin hatte sie wach, fast auf einen Schlag nüchtern gemacht. Johanna straffte sich.
»So schön, die stille Nacht hier oben«, versuchte sie sich zu erklären, dabei klopfte das Blut in ihrer Stimme, verriet ihre Erregung. So beiläufig wie möglich stieg sie von der Mauer und zeigte aufs nächtliche Davos. Das Mädchen nickte.
»Aber was machen Sie hier oben?«, fragte Johanna. »Sie haben doch sicher Besseres zu tun, als die Aussicht bei Nacht zu genießen?« Es klang schärfer, als sie wollte, sie sprach sonst nicht derart herablassend mit den Dienstmädchen. Aber für gewöhnlich hielten diese sie auch nicht davon ab, sich in den Tod zu stürzen.
Das Mädchen griff in ihre Schürzentasche.
»Verzeihen Sie, ich hatte Sie die Treppe hochgehen sehen, und die Frau Gräfin von Hausner hat mir soeben diese Nachricht für sie gegeben … und gesagt, dass es wichtig ist.«
Wir müssen reden.
Sie hielt Johanna ein Kuvert hin. Die griff danach.
»Danke. Sie können gehen.«
Erleichtert machte das Dienstmädchen einen Knicks und verschwand.
Sofort öffnete Johanna den Briefumschlag, darin ein einziger, gefalteter Bogen. Sie entnahm ihn und drehte sich dem kleinen, erleuchteten Fenster zu, um die geschwungene Handschrift der Gräfin lesen zu können. Und stutzte. Was dort stand, wollte sie nicht glauben, sie las es noch einmal, und noch einmal. Sie atmete die kühle Nachtluft tief ein – und dann las sie es noch einmal.
Ich weiß, wo dein Kind ist.
Treffen nach Morgenvisite, mein Zimmer.
*
Als sie wenig später die Tür ihres Zimmers schloss, überkam Johanna die Übelkeit wie ein Angriff aus dem Hinterhalt. Während sich der Speichel im Mund sammelte, hastete sie zum kleinen Bad, stieß die Tür auf, und gerade noch rechtzeitig schaffte sie es zur Toilette und übergab sich. Danach spuckte sie Reste von Entenfleisch aus, schmeckte die Fischsuppe und musste erneut würgen. Schwer atmend griff sie nach oben und spülte. Sie streifte die Handschuhe ab, mitsamt Verlobungsring, und ließ alles liegen, erhob sich und trank vorsichtig kühles Wasser direkt aus dem Hahn. Dann spülte sie den Mund aus und spuckte letzte Reste ins Waschbecken. In den Spiegel mochte sie nicht schauen. Johanna befeuchtete sich Wangen und Nacken, schloss die Augen, atmete. Auf dem Weg ins Bett schälte sie sich aus dem Kleid, ließ alles auf die Erde fallen, Ohrringe und Halskette, lediglich die Haarspange ihrer Mutter legte sie behutsam auf dem Nachttisch ab. Dann sank sie ins Bett. Morgen. Morgen würde sie erfahren, wo ihre Tochter war. Sie drehte sich auf den Rücken und deckte sich zu.
Doch Johanna konnte nicht einschlafen. Ihre Gedanken kreisten um Elli, sie musste hier weg, musste zu Elli, ihre Tochter nehmen und mit ihr den Albtraum verlassen, zu dem ihre Heimat geworden war. Nach Italien, Südfrankreich, Hauptsache, raus aus Davos und weg vom Krieg. Die Aussicht auf ein Wiedersehen hielt sie wach. Wo hatten sie ihre Tochter hingebracht? Vater hatte sie der Kirche übergeben, so viel hatte Mathilde verraten. Welches Waisenheim kam in Frage? In Chur gab es eins, in Landquart ebenso. Doch wieso wusste die Gräfin darüber Bescheid? War ein Geistlicher aus Chur oder Landquart im Sanatorium gewesen? Sie musste im Gästeverzeichnis und bei den Reservierungen im Restaurant nachsehen, ohne dass es jemand bemerkte. Vielleicht jetzt? Gerade als sie begann, im Strudel der Gedankenspiele in den Schlaf zu sinken, klingelte ihr Wecker. Wie von Warnsirenen aus der Nacht gerissen schreckte sie hoch. Es war sieben Uhr.
Hinter den weißen Gipfeln kündigte sich leuchtend der neue Tag an, unten lag wie hingestreut eine Ansammlung weiß gepuderter Häuser: Die Kirche, der Bahnhof, die Curhäuser und Hotels, und am Rande des Orts die Höfe, in denen bereits Licht brannte – die restlichen Gebäude träumten noch.
Lemke hetzte durch die Morgendämmerung. Die Schuhe längst durchnässt, nicht gemacht für den ungeplanten Ausflug in die Berge. Hinter den Zacken am Horizont brach ein erster Sonnenstrahl hervor – doch Lemke hatte keinen Blick für das romantische Postkartenmotiv. Schwer atmend hielt er inne und sah sich um. Wurde er wirklich verfolgt? Und wenn ja – hatte er seinen Verfolger abgeschüttelt? In den Bergen würde ihn wohl kaum jemand vermuten.
Aber wahrscheinlich hatte er sich alles eingebildet, und der Mann war ihm heute Morgen nur zufällig zweimal kurz hintereinander begegnet.
Das inszenierte Streitgespräch mit dem englischen General, vor möglichst vielen Zeugen, das sich zu einer prächtigen kleinen Rauferei entwickelt hatte – Lemke und der Brite hatten ein überzeugendes Schauspiel abgeliefert, die Fortführung des Krieges zwischen England und Deutschland mit Fäusten. Nach dieser Szene würde doch niemand vermuten, dass er, Joachim Lemke, für die Gegenseite spionierte? Daher hatte es ihn zunächst nicht weiter beunruhigt, dass jemand seinen Weg kreuzte, in den frühen Morgenstunden, als er das Konsulat durch den Hintereingang verließ. Doch wenige Minuten später registrierte er denselben Mann an einer anderen Ecke der noch immer menschenleeren Stadt. Was, wenn er zum kaiserlichen Geheimdienst gehörte? Dann war Lemke in Lebensgefahr. Sie würden alles daransetzen, ihn aufzuhalten.
Wo konnte er hin? Irgendwo in Davos selbst oder in den umliegenden Dörfern musste die Entente ihre geheime Zentrale haben – niemand wusste, wo. Die Beauftragung und Bezahlung hatte er mit Zaire, dem Leibwächter von General Taylor, abgewickelt. Sie hatten kaum ein Wort miteinander gewechselt, fast alles war schriftlich gelaufen, die knappen Nachrichten, in denen die Bezahlung ausgehandelt wurde, hatte er direkt nach dem Lesen verbrannt.
Ein Drittel sofort, den Rest des Geldes bei Übergabe der Liste.
Lemke hatte am Vortag dafür gesorgt, dass in der Schreibmaschine des Konsuls ein frisches Blatt Blaupapier lag, das dieser bei der Erstellung eines Personalbogens benutzte, und für diesen Bogen Blaupapier, den Durchschlag einer Liste mit allen aktiven deutschen Spionen in der Schweiz, hatte die Entente ihm ein kleines Vermögen geboten. Die Informationen konnten den Kriegsverlauf entscheidend beeinflussen. Und dieses Blaupapier, auf dem alle Namen deutlich zu erkennen waren, trug er nun bei sich.
Wenn es ein Agent des Kaisers war, der ihn gesehen hatte, dann war seine Karriere im Konsulat, war sogar sein Leben als Deutscher Vergangenheit. Er würde nie wieder in sein Heimatland zurückkehren können. Sollte er nicht besser gleich hier in Davos, bei den Engländern, als politischer Flüchtling um Asyl bitten? General Taylor und seine Frau hatten im Cronwald ein ganzes Stockwerk für sich, abgesperrt und gut bewacht, unter anderem von Zaire.
Lemke rannte geduckt weiter. Endlich erreichte er das Fichtenwäldchen, schützend hielt er eine Hand vor die Augen und streckte den anderen Arm beim Laufen nach vorn. Hier würden seine Spuren schwer zu verfolgen sein, unter den Fichten lag kaum Schnee, erneut hielt er inne, um durchzuatmen. Er stützte sich auf den Knien ab, blickte zwischen den Stämmen hindurch ins Tal, in welchem das Örtchen nach und nach in Licht getaucht wurde und erwachte – da keifte ein Schuss durch den Morgen. Mit einem trockenen FTUCK! schlug das Projektil in einem Baumstamm neben ihm ein. Lemke rannte los, hetzte hakenschlagend davon, und als er das Wäldchen verließ, merkte er, dass er einen Fehler gemacht hatte: Vor ihm klaffte ein Abgrund. Er drehte sich um, wollte zurück in den Schutz der Nadelbäume, als ein Mann aus dem Schatten der Äste trat. Er ging langsam, schlenderte so gelangweilt wie zielstrebig auf Lemke zu, wie ein Hirte, der ein entwischtes Schaf zurück in die Herde treiben musste. Die Situation war so aussichtslos für Lemke, dass der Mann sich gar nicht erst die Mühe machte, die Waffe zu heben. Das war Franz Schmidt. Lemke erkannte ihn. Offiziell arbeitete Schmidt im Curhaus Cronwald – als Kellner hatte er noch letzte Nacht in der Bar des Sanatoriums Drinks serviert. Sein Atem ging erstaunlich ruhig, weiße Wolken, die aus seiner Nase stiegen und sich langsam im anbrechenden Licht des Tages auflösten. Auch Schmidt war einer der Namen auf der Liste. Inzwischen war er auf wenige Meter herangekommen. Erst jetzt hob er die Hand mit dem Revolver, als wäre dieser ihm gerade erst wieder eingefallen. Hinter Lemke der Abhang, vor ihm der Pistolenlauf. Er streckte die Arme in die Höhe.
»Verräterschwein«, sagte Schmidt mit ausdrucksloser Miene.
»Ich kann das alles erklären. Lassen Sie mich mit dem Konsul reden, ich …«, stammelte Lemke, doch der Agent unterbrach ihn, machte noch einen Schritt nach vorn.
»Halt’s Maul und gib mir die Liste.«
Schmidt klang müde. Lemke wich zurück. Er sah über die Schulter, in die Schlucht. Keine Chance, da war nichts, nur die abfallende Felswand und weiter unten die schneebedeckten Wipfel der Tannen. Die Kante war nur einen Schritt entfernt. Schmidt kam noch näher.
»Wer hat dich beauftragt? Und wie viel Geld haben sie dir gezahlt?«
»Ich … es ging mir nie ums Geld …«
Lemke wusste, dass er ein guter Lügner war, denn darin hatte er Übung, also fuhr er fort. »Sie haben mir gedroht. Die Belgier. Sie haben meine Schwester in ihre Gewalt gebracht.«
Schmidt verzog keine Miene und senkte den Lauf der Pistole, sodass er jetzt direkt auf Lemkes Schritt zielte.
»Du hast keine Schwester. Und jetzt sag mir, wo die Liste ist. Oder soll ich dir erst die Eier wegschießen?«