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Vom Sinnspruch bis zum autobiografischen Bekenntnis, von der Reflexion über das Schreiben hin zur ironischen Betrachtung über das Gehen aus Sicht eines Rollstuhlfahrers: Unterschiedlicher könnten die Texte nicht sein, die hier versammelt sind. Und doch folgen sie einer klaren Dramaturgie. Die Ernte aus zwei Jahrzehnten Leben mit der Sprache.
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Seitenzahl: 75
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Vorwort
Über das Schreiben
Kurzware
Du
Ich
Aus dem Tagebuch
Behinderung
Vorwort
Über das Schreiben
Die Geburt einer neuen Welt
Ein Lob dem herzhaften Text
Das Luftige und das Harte
An meinen Nachlassverwalter
Der Schreibtisch – Blick in meine Alltagswelt
Aus dem Sudelheft
Gegen das Verschwinden
Kurzer Versuch über das Schreiben
Sehnsucht nach Poesie
Entzauberung
Kurzware
Aufruf zur Rückeroberung der Sprache
Bekenntnis
Heute Morgen
Willkommen, Zukunft
Tanz mit dem Frühling
Osterfrage
Sommer-Notiz
Herbstlicht
Herbst-Notiz
Gedanken im Schneegestöber
Meine Seele im Wechsel der Jahreszeiten
Augenblicke des Glücks
Plädoyer für die Globalisierung
Sehnsucht
Gebet
Du
Deine Abwesenheit
Beim Blättern im Tagebuch
Der Weg zu dir
Erinnerung ans Glück
Schicksalsjahr
Ich
Der sicherste Ort
Vom Loslassen
Erinnerungen ans Kinderspital Basel
Sonntage oder: Der traurigste Tag der Woche
Mein gebrechlicher Körper
Mein Rückgrat
Über meine Spiritualität
Sterben und Tod – eine Annäherung
Aus dem Tagebuch
Eine unverfängliche Beobachtung
Koketterie auf der Autobahn
Zeitlose Instanz
Horizonterweiterung
Der Mensch als Individuum und als Kollektiv
Gedanklich entfliegen
Der Eros des Denkens
Reine Lebensfreude
Beim Zählen meiner Gedanken
In der Stille zu Hause sein
Behinderung
Über das Gehen – Betrachtungen eines Rollstuhlfahrers
Abenteuer Behinderung
Gibt es im Paradies Menschen mit Behinderung?
Die Menschwerdung eines Behinderten
«Die integrieren auf Teufel komm raus»
Drei Aspekte von Behinderung
Inhalt
Danke!
Über mich
Was hier vorliegt, könnte man auch Sammelsurium nennen: ein Sammelsurium von längeren und kürzeren Texten, die in den letzten zwanzig Jahren entstanden, teilweise schon auf meinem Blog oder in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht, zu einem guten Teil aber noch unveröffentlicht sind. Meine Lektorin hat mir davon abgeraten, diesen Begriff zu verwenden, entwerte er doch, was hier vorliegt. Die Gruppierung und Zusammenstellung sei alles andere als beliebig, folge vielmehr einer klaren Dramaturgie. Recht hat sie. Und ich möchte mich bei ihr bedanken, dass sie mich sprachlich immer wieder vor mir selbst geschützt hat.
Vom Sinnspruch bis zum autobiografischen Bekenntnis, von der Reflexion über das Schreiben hin zur ironischen Betrachtung über das Gehen aus Sicht eines Rollstuhlfahrers: Unterschiedlicher könnten die Texte nicht sein, die hier versammelt sind. Doch sie sind aus derselben Notwendigkeit entstanden, wie etwa der Bauer das Korn sät oder die Weiden pflegt. Er muss auch den Traktor warten, das Dach über dem Stall ausbessern und den Mist führen. So wie ich nicht darum herumkomme, noch ein Plädoyer für die Globalisierung zu schreiben oder eine Weile gedanklich zu entfliegen, bevor ich mit einem Seufzer der Erleichterung mein Notizbuch schliesse.
Die vorliegende Sammlung ist denn auch die Ernte aus zwei Jahrzehnten Leben mit der Sprache, eine Ernte, eingebracht in die Scheuer, bevor der Winter kommt. Nicht ausgeschlossen, dass es wieder Frühling wird. Doch diese Lese ist schon mal im Trockenen und kann während des Winters nähren und Wärme spenden.
Walter Beutler, Dezember 2021
Das weisse, unbeschriebene Blatt als Faszinosum, als offenes Fenster hinaus auf eine Landschaft, die erst noch entstehen muss und die es so noch nie gegeben hat. Mit dem ersten Wort, dem ersten Satz gebe ich dieser Landschaft eine Farbe, setze vielleicht ein paar dunkle Steine auf einen Talboden, nicht kantig, vielmehr vom Wasser über Jahrtausende gerundet. Liegen die ersten Steine, folgt mit einer gewissen Logik der Wasserlauf, der sich zwar immer wieder neue Wege bahnt, aber im Talboden gefangen bleibt und nicht bergauf fliessen wird. Dann die Bergflanken, steil und scheckig mit saftigen Wiesen und schwarzen Waldpartien, aufstrebend bis zu den baumlosen Gipfeln. Irgendwo tost ein Wasserfall, der nicht zu sehen ist. Mit ein paar kräftigen Sätzen sind auch die Bewohnerinnen und Bewohner dieser zeitlosen Landschaft eingeführt: Nachfahren von Bauernfamilien, die vor Jahrhunderten in sicherem Abstand zum Bergbach ein kleines Dorf errichtet haben, das heute nicht viel grösser ist als zu jener Zeit. Damals wie heute haben das raue Klima und die steilen Hänge die Gesichter der Dorfbewohner gezeichnet, ihre Rücken gebeugt und die Hände schrundig werden lassen.
Er war nicht der erste Fremde, der sich in dieses Hochtal verirrte. Doch sein Erscheinen und vor allem sein Bleiben sollten die Dorfgemeinschaft in ihrer Grundfeste erschüttern. Der Fremde tauchte ein erstes Mal an einem jener Herbsttage auf, wo tiefe Wolkenfetzen den grauen Berghängen entlang strichen und der Ruf des Steinadlers für lange Zeit ein letztes Mal zu hören war. Einer der Dorfbewohner gab später zu Protokoll, er habe an jenem Tag zuoberst im Tal ein Wolfsrudel gesichtet, was jahrzehntelang nicht mehr vorgekommen war.
Die ersten Pinselstriche auf dem weissen Blatt sind also getan. Aus der unendlich vielgestaltigen Leere ist eine neue Welt geboren, grob skizziert zunächst. Und noch ist unklar, ob daraus wirklich eine Erzählung wird – oder gar ein Roman. Oder ob das Blatt, wie so manches vor ihm, in einer meiner geduldigen Schubladen landen und dort verblassen wird. Ein neues weisses, unbeschriebenes Blatt liegt jedenfalls schon bereit.
Gute, tiefsinnige und aus dem Herzen geschriebene Texte lassen sich kaum durch etwas überbieten. Sie bewegen mich, verändern mich. Sie geben meinem Leben Sinn und Halt. Ich kann in sie eintauchen wie in ein Heilbad. Und wenn ich wieder auftauche aus dem Meer des Geistes, bin ich ein anderer Mensch. Ein Leben ohne solche Texte, sei es nun Poesie, ein Sachtext oder eine deftige Sprayerei an einer Hausmauer, kann ich mir nicht vorstellen. Es wäre um Dimensionen ärmer. Und wenn ich der Welt ein paar bewegende Texte zurückgeben kann, hat sich das Leben gelohnt.
Das Luftige und das Harte, beides soll in meinen Worten sein:
Verse wie Seifenblasen, die im Sonnenlicht zu schillernden Perlen zerplatzen,
hübsch und nichtig,
und weise Merksätze, in den härtesten Stein gemeisselt,
für die Ewigkeit bestimmt und tonnenschwer.
Ich bin der grösste Schriftsteller unserer Zeit. Bloss weiss das noch niemand. Bald sind die Schubladen meines Pultes und die Festplatte meines Computers voll von Texten, Fragmenten, Ideen und Entwürfen. In ihnen steckt Potenzial, poetische Sprengkraft, welche die Herzen der Menschen anrührt, sobald ich die Schublade öffne und die Texte loslasse, die Fragmente vervollständige und die Ideen verwirkliche. Zugegeben, da ist noch viel Arbeit, und für alles wird meine Lebenszeit nicht reichen. Aber das eine oder andere Herz werde ich mit meinen Worten erobern, und um den Rest kümmert sich mein Nachlassverwalter. Der wird aus mir einen grossen Schriftsteller machen.
Dreh- und Angelpunkt meines Lebens ist seit vielen Jahren mein Schreibtisch. Dieser hat die stattliche Grösse von vielleicht drei Quadratmetern und gleicht, recht betrachtet, einer vielfältigen Landschaft, ja einer Welt im Kleinen, die sich vor meinen Augen mal lieblich, mal herausfordernd ausbreitet, wenn ich mich hinsetze. Vor mir in klassischem Grün die Schreibunterlage, unter deren Rändern oben rechts sich manches ansammelt – einzelne Briefmarken, dann Einzahlungsscheine, die sich im Laufe des Monats vermehren. Auch eine Karte aus dickerem weissem Papier für Notizen liegt immer bereit. Allein anhand dieser Karten liesse sich bald eine Chronologie meines Lebens aufstellen. Denn seit Jahren kritzle ich sie voll mit Stichwörtern zu kleinen Pendenzen und grossen Ideen und achte darauf, dass nirgends weisse, unbeschriebene Stellen bleiben. Dann lege ich sie zu den anderen vollgeschriebenen Karten und versehe sie mit einer Laufnummer. Inzwischen bin ich bei 243 angelangt.
Gleich einem Halbmond, durch die Reichweite meines rechten Arms festgeschrieben, liegen auf meinem Schreibpult mehrere Stapel Bücher und andere Sachen. Ganz links beginnt dieses Halbrund mit Musiknoten, hauptsächlich für klassische Gitarre – Fernando Sor und Konsorten – sowie für südamerikanische Gitarrenmusik. Es folgen die Stapel mit den Büchern, die ich zurzeit lese, teils parallel, teils hintereinander. Vier, fünf Bücher sind auf jedem Stapel, wobei einzelne sich bestens oben halten können, bis sie zu Ende gelesen sind. Andere sinken im Stapel kaum merklich nach unten. Bei ihnen ist die Leselust entweder auf natürliche Weise versandet oder durch ein «wichtigeres» Buch verdrängt worden. Von Zeit zu Zeit werden die untersten Bücher entsorgt – zurück ins Bücherregal oder ins Brockenhaus.
Neben den Bücherstapeln steht ein Zettelkasten, Typ Patenkind. Will heissen, eines meiner Patenkinder hat einst einen rohen Holzkasten, wie man ihn in Bastelläden finden kann, liebevoll und knallig bunt mit dicker Farbe bemalt und mir zu Weihnachten geschenkt. Wie lange mag das her sein? Der Zettelkasten macht sich gut, ist aber eher schmückendes Beiwerk denn in Gebrauch. Ein Relikt aus anderen Zeiten, das doch nicht wegzudenken ist. Es folgt ein Keramikbecher, hellrosa glasiert und mit Bleistiften verschiedener Härten, Kugelschreibern, Filzstiften und Füllfedern vollgestopft. Auch die meisten Schreibutensilien sind Relikte aus anderer Zeit, ausser die Rot- und die Grünstifte, die ich beim Redigieren und Korrekturlesen verwende. Mein wichtigstes Schreibgerät ausser dem Computer liegt griffbereit rechts neben der Schreibunterlage: ein Tintenroller der Marke Parker.