Beweisstück A. Eine a_sexuelle Anthologie -  - E-Book

Beweisstück A. Eine a_sexuelle Anthologie E-Book

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Beschreibung

Was denken Sie, wenn Sie »Asexualität« hören? An ungehorsame Töchter, eitle Zauberer, einsame Werwölfe oder glückliche Familienväter? Oder an etwas ganz anderes? Mal nachdenklich, mal komisch, oft fantastisch und immer spannend erzählen 19 Geschichten vom asexuellen Spektrum. Mit Beiträgen von Ruth Boose, Carmilla DeWinter, Martin Engelrecht, Erich H. Franke, Jens Gehres, Marcus R. Gilman, Mo Kast, Carmen Keßler, Nicole Kojek, Emeryn Mader, Lili S. McDeath, Friederike Niemann, Katherina Ushachov, Vampyrsoul, Florian Waldner, Jordan T. A. Wegberg, Ria Winter und Amalia Zeichnerin.

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Inhalt

Die weiße Tür

Jens Gehres

120 Minutes in Hell

Emeryn Mader

Labyrinth

Nicole Kojek

Wissen und wissen

Lili S. McDeath

Heimgesucht

Carmen Keßler

Imago

Katherina Ushachov

Nach dem Kuss

Amalia Zeichnerin

Der Richtige

Mo Kast

Ein Schluck Silber

Ria Winter

Am Ende der Welt

Friederike Niemann

Gesellschaftliche Dynamik und Fortpflanzung organischer Lebensformen. Ein Überblick.

Erich H. Franke

Leidenschaft

Ruth Boose

Succubus Escort International

Carmilla DeWinter

Eine Tagestour zum Ende der Welt (Imbiss inklusive)

Martin Engelbrecht

Chaoslasagne

Vampyrsoul

Wurzellos

Carmilla DeWinter

Die eigenen Waffen

Marcus R. Gilman

Hemanda und Leo

Florian Waldner

Wie ich den Verstand verlor

Jordan T. A. Wegberg

Nachwort

Vielen Dank

100% Mensch

Content Notices – Inhaltshinweise

Glossar

Die Mitwirkenden

Die weiße Tür

JENS GEHRES

Rita Breier stand in dem teilweise möblierten Schlafzimmer der Wohnung, von der sie hoffte, dass sie bald ihr Heim werden würde.

Dies wäre nur der Fall, wenn sie die konservative Witwe Schmidt davon überzeugen konnte, dass Rita keine Probleme in ihr Haus brachte. Es war Mitte Mai 1964, aber die Hausbesitzerin hatte völlig antiquierte Vorstellungen über alleinstehende Frauen. Dass ledige Frauen inzwischen uneingeschränkt geschäftsfähig waren, schien bis zu ihr noch nicht vorgedrungen zu sein. Rita hatte allerdings vorgesorgt. Im Laufe ihres bisher einsamen Lebens hatte sie festgestellt, dass verheiratet oder verwitwet zu sein in den unterschiedlichsten Situationen von Vorteil sein konnte. Die meisten Männer hielten Abstand von einer vergebenen Frau.

Beim Mieten einer Wohnung jedoch war ein toter Mann nützlicher. Er ersparte Rita lästige Fragen von Vermietern und eine Frau im Trauerjahr bekam keinen Männerbesuch. Deshalb trug Rita heute Schwarz und spielte die trauernde Witwe, die aus finanziellen Gründen umziehen musste.

»Und wohin führt diese weiße Tür?«, erkundigte sich Rita.

Jemand hatte die Klinke von besagter Tür abmontiert, nur ein viereckiges Loch war zurückgeblieben. Das Schloss allerdings schien intakt zu sein.

»Ach, diese Tür da?« Witwe Schmidt winkte ab. »Die führte mal in die Wohnung nebenan. Janz früher war das janze Stockwerk mal eine große Wohnung.«

»Ah ja.« Rita nickte. »Ich muss also von dieser Seite nicht mit unangenehmen Überraschungen rechnen.«

»Nee, nee«, sagte Witwe Schmidt. »Die is schon seit über zwanzig Jahren verschlossen. Ick hab keene Ahnung, wo der Schlüssel abjeblieben ist. Und nebenan wohnt nur der junge Herr Junkers. Der studiert Ingenieurstechnik, der ist eh nie zuhause. Und das ist auch ein janz Lieber. Nur ab und zu trifft er sich am Wochenende mit einem Studienkollegen. Aber nur zum Arbeiten, nicht zum Trinken oder so.«

»Aha.« Rita wusste zwar nicht, was sie mit der Bezeichnung >janz Lieber< anfangen sollte, nickte aber und zwang sich zu einem schmalen Lächeln, das die mürrische Witwe nicht erwiderte. Jetzt musste sie alles auf eine Karte setzen und die entscheidende Frage stellen.

»Ich würde die Wohnung nehmen.« Rita war darum bemüht, ihre Stimme zu kontrollieren. »Können wir gleich den Mietvertrag abschließen?«

»Hundertachtzig Mark, junges Fräulein«, sagte die Witwe mit hochgezogenen Augenbrauen. »Zahlbar an jedem Ersten des Monats.«

»Das ist kein Problem, Frau Schmidt«, erwiderte Rita eilig. Vielleicht etwas zu eilig. Sie atmete einmal tief durch und zwang sich zur Ruhe. »Ich arbeite in der Margarinefabrik als Sekretärin und verdiene genug. Und Sie dürfen mich gerne mit Frau Breier anreden.«

Frau Schmidt warf einen prüfenden Blick auf Ritas linke Hand, beide Frauen trugen einen schmalen Goldring am Ringfinger. »Wat is denn mit Ihrem Mann?«, erkundigte die alte Witwe sich skeptisch. »Arbeitet der nich, oder wat?«

»Nicht mehr seit seinem Unfalltod«, gab Rita zurück. Auch das war eine Lüge. Den Ring hatte Rita für fünf Mark bei einem Pfandleiher besorgt.

Das Gesicht von Witwe Schmidt versteinerte und sie schwieg einen Moment. Dann murrte sie mit betont gleichgültiger Stimme: »Tschuldigung, dat wusste ich nich.«

Diese Wohnung ist viel zu klein für zwei Personen und ich trage tiefschwarze Kleidung, dachte Rita grimmig. Noch offensichtlicher kann eine junge Witwe nicht aussehen.

Rita hätte ihre Gedanken gerne Frau Schmidt ins Gesicht geschrien, erwiderte aber stattdessen: »Woher auch?«

»Na jut, dann schreibe ich Ihren Namen in den Mietvertrag und werfe ihn in Ihren Briefkasten.«

Frau Schmidt wirkte auf Rita plötzlich peinlich berührt. »Wenn Se ihn unterschriebn habn, schieben Se ihn einfach unter meiner Tür durch.«

Die alte Witwe schritt auf Rita zu und strich ihr mitfühlend über den Arm.

»Wir Witwen müssen doch zusammenhalten«, sagte sie leise. »Mein Hermann ist in der vorletzten Kriegswoche in der Nähe von Augsburch gefallen. Seither schmeiße ick hier alleene den Laden.«

Sie griff in die tiefe Tasche ihrer unvermeidlichen Kittelschürze und brachte einen Schlüsselbund zum Vorschein. »Wohnungsschlüssel, Haustürschlüssel, Briefkastenschlüssel, Kellerschlüssel und dit is der für die Waschküche.«

Frau Schmidt warf Rita einen ernsten Blick zu.

»Kein Herrenbesuch, klar? Dat hier is ein ehrenwertes Haus!«

Rita nickte eilig.

»Darum müssen Sie sich keine Sorgen machen, Frau Schmidt«, erklärte sie und dachte: Herrenbesuch ist garantiert mein geringstes Problem.

Energisch nickte Frau Schmidt, drehte sich um und verließ ohne ein Wort des Abschieds die Wohnung.

Rita lächelte und sah sich glücklich um. Ihr Plan war aufgegangen.

»Alles meins«, flüsterte sie leise.

Erschöpft öffnete Rita den letzten Karton, der ins Schlafzimmer gehörte. Noch mehr Unterwäsche. Sie atmete einmal tief durch und sah zweifelnd nach dem Ungetüm von Kleiderschrank, das sich in einer Ecke des Schlafzimmers wie ein Dämon aus der Unterwelt erhob. Witwe Schmidt hatte ihr versichert, dass er schon seit über vierzig Jahren an derselben Stelle stand. Rita glaubte ihr das sofort. Der Schrank war aus massivem Eichenholz, verdeckte die ganze vier Meter lange Wand und war garantiert schwer wie Blei. Er hatte drei klobige Türen und über ein dutzend gigantische Schubladen. Rita würde problemlos in eine der großen Schubladen hineinpassen.

Ein Schrank für eine Großfamilie.

In diesem Ungetüm nach einem Kleidungsstück zu suchen würde einer Amazonasexpedition gleichkommen.

Sie umfasste den Griff einer der kleineren Schubladen und zog. Sie klemmte. Rita seufzte und verdrehte die Augen. Dann packte sie mit beiden Händen den abgenutzten Eisengriff und zog, so stark sie konnte. Unerwartet gab die Schublade nach und Rita riss sie aus dem Schrank. Mit einem überraschten Aufschrei kippte sie mit den Armen rudernd nach hinten auf das Bett, die leere Schublade fiel klappernd zu Boden.

Entgeistert sah Rita zum Schrank, in dem jetzt ein riesiges Loch gähnte. Sie begann zu kichern und lachte kurz auf. Glücklicherweise hatte niemand sie bei ihrem Kampf mit dem Schrank beobachtet. Sie schüttelte lächelnd über sich selbst den Kopf und drehte die Schublade um, damit sie sehen konnte, was da geklemmt hatte.

Erstaunt gingen ihre Augenbrauen nach oben. In dem schmalen Raum unter dem Boden der Schublade klebte ein großer, brauner Papierumschlag. Der fleckige, zerknitterte Umschlag war schon länger an diesem Platz, vielleicht Jahre.

Neugierig glitten Ritas Finger den Rand des Umschlages entlang und fühlten alten, vertrockneten Kleber. Mit einem knisternden Reißen löste sich das Papier vom Holz. Rita drehte das Kuvert und betrachtete es von allen Seiten. Es war zugeklebt und unbeschriftet. Ihre tastenden Finger erspürten einen schmalen, etwa fünfzehn Zentimeter langen Gegenstand in der unteren Ecke und so etwas wie einen Packen Papier.

Rita riss den Umschlag auf und sah interessiert hinein. Dokumente, wie sie vermutet hatte. Sie nahm die Papiere aus dem Kuvert und blätterte sie durch, dabei weiteten sich ihre Augen vor Erstaunen.

Auf einer alten Schwarzweißfotografie mit zerfranstem Rand blickte ein Ehepaar ernst in die Kamera. Die Frau trug ein weißes Kleid, das in den Dreißigern modern gewesen war, und saß verkrampft auf einem Stuhl. Er trug einen schwarzen Anzug, stand hinter ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. Rita runzelte die Stirn, als sie im Hintergrund auf dem Kamin eine Menora entdeckte. Dieser siebenarmige Kerzenleuchter war ein Symbol der jüdischen Religion. Das nächste Dokument war eine Besitzurkunde aus dem Jahr 1932 von dem Haus, in dem sie jetzt wohnte. Es war mal im Besitz einer Familie Goldstein gewesen. Dann folgten andere wichtige Unterlagen, Geburtsurkunden, Zeugnisse und Ähnliches, aber keins der Dokumente war älter als Oktober 1938.

Ein kalter Schauer lief über Ritas Rücken. Am zehnten November 1938 hatte die Reichskristallnacht stattgefunden und tausende von Juden waren in Lagern verschwunden.

Ob Witwe Schmidt weiß, wem ihr Haus vorher einmal gehört hat?, dachte sie.

Sie legte die Papiere zur Seite, griff erneut nach dem Umschlag und der längliche Gegenstand plumpste auf ihre Tagesdecke. Es war ein bulliger, schwarz glänzender Eisenschlüssel mit langem Bart und einem fein gravierten Griffstück.

»Sie mal an«, murmelte sie überrascht und nahm den Schlüssel in die Hand. Er war schwer und unhandlich, das Griffstück blankpoliert von vielen Händen.

Ritas Blick glitt nach oben und kam auf der verschlossenen weißen Tür zur Ruhe. Sie erinnerte sich an Witwe Schmidts unangenehme Stimme: Ach, diese Tür da? Die führte mal in die Wohnung nebenan. Se is schon seit über zwanzig Jahren verschlossen, keene Ahnung, wo der Schlüssel abjeblieben is.

Rita legte den Kopf schräg und fixierte das Schlüsselloch auf der seit Jahrzehnten verschlossenen Tür. Abwesend fuhr sie mit ihrem Zeigefinger über das kalte Eisen des Schlüssels.

Sie kannte sich selbst und ihre eigene Neugier gut genug und wusste, dass diese Frage sie wochenlang in den Wahnsinn treiben würde, wenn sie es nicht jetzt sofort überprüfte.

Rita stand auf und ging zu der weißen Tür in der Mitte der Wand. Mit der Linken schob sie langsam und vorsichtig den Schlüssel ins Türschloss. Dabei versuchte sie verdächtige Geräusche zu vermeiden. Leicht wie eine Feder, mit einem leisen metallischen Klicken, rastete der Schlüssel ein.

Was zum Teufel tust du da?, schoss es ihr durch den Kopf. Was ist bloß mit dir los, Rita? Du brichst gerade in die Wohnung deines Nachbarn ein!

»Ich habe ja nicht vor, etwas zu stehlen«, murmelte sie, um sich selbst zu beruhigen.

Trotzdem machte sich ein mulmiges Gefühl in ihrem Bauch breit, dass Rita nicht einordnen konnte.

Was war das für ein Gefühl? Die Aufregung, die man fühlte, wenn man etwas Unerlaubtes tat? Fühlten Liebende dasselbe, wenn sie sich einander hingaben?

Rita kannte weder das eine noch das andere Gefühl. Bisher hatte sie nie etwas Verbotenes getan, außer bei ihrem Bewerbungsgespräch ein wenig zu flunkern. Und sie war auch noch keinem Menschen begegnet, der in ihr mehr als freundschaftliche Gefühle geweckt hatte.

Aber dieses Gefühl war neu und unbekannt, sie hörte ihr Herz in ihren Ohren klopfen und bekam feuchte Hände.

»Was soll schon passieren?«, beruhigte sie sich selbst. »Der Junkers wird um diese Uhrzeit wohl an der Universität sein.«

Sie griff den Schlüssel fester und drehte ihn im Schloss. Mit einem knirschenden Klacken, von dem Rita glaubte, man müsse es im ganzen Haus hören, sprang der Riegel zurück. Sie erschrak und zuckte zusammen, nach dem Erlebnis mit der Schublade hatte sie mit mehr Widerstand gerechnet.

Da die Türklinke fehlte, öffnete Rita die weiße Tür mit dem querstehenden Schlüssel. Mit einem leisen Quietschen in den Angeln schwang das Türblatt Rita entgegen. Neugierig beugte sie sich vor und sah in das Zimmer ihres Nachbarn.

Enttäuscht sackten Ritas Schultern nach unten, dann lachte sie über sich selbst. Was hatte sie erwartet? Narnia?

Der Raum hinter der weißen Tür war wohl Junkers' Schlafzimmer. Ritas Blick wanderte über Bücherregale voller Fachliteratur, einen Kleiderschrank, eine kleine Kommode und blieb an dem unordentlichen Bett hängen. Für einen Studenten ziemlich groß. Am Kopfende lagen zwei benutzte Kissen.

Sie lächelte. Der junge Mann schien doch öfters Damenbesuch zu bekommen. Rita fragte sich kurz, wie er es schaffte, die Mädchen ungesehen an diesem Hausdrachen namens Witwe Schmidt vorbeizuschmuggeln. Der Student lebte anscheinend gern gefährlich.

Langsam und vorsichtig machte Rita einen zaghaften Schritt nach vorne.

Was tust du da, Rita?, meldete sich eine erschrockene Stimme in ihrem Kopf. Du willst doch jetzt nicht noch weiter in die Wohnung eindringen, oder?

»Warum eigentlich nicht?«, murmelte sie. Rita hob gerade wieder ihren Fuß zu einem weiteren Schritt, als sie erschrocken innehielt.

Jemand schloss die Haustür auf, dann vernahm sie Tritte im Flur. Schwere Schritte kamen die Treppe nach oben. Junkers!

Panik durchströmte Rita und sie blieb einen Moment erstarrt stehen. Als die Schritte auf dem ersten Podest angekommen waren, gewann ihr Instinkt die Oberhand: Sie wirbelte auf dem Absatz herum und hastete so leise wie möglich durch die weiße Tür in ihre Wohnung zurück. Mit zitternden Fingern griff sie nach dem Türblatt und drückte es vorsichtig an den Türrahmen. Leise klickend schnappte der Verschluss ein. Fahrig griff sie nach dem Schlüssel und drehte ihn im Schloss. Der Riegel sprang mit dem ihr schon bekannten knirschenden Knacken in die alte Position zurück.

Die weiße Tür war wieder verschlossen.

Rita atmete keuchend aus. Hatte sie die Luft angehalten, seit sie die Schritte auf der Treppe vernommen hatte? Rita legte den Kopf schräg und lauschte.

Die Schritte waren auf ihrer Etage stehengeblieben. Rita hörte das Klappern eines Schlüsselbundes, dann wurde die andere Wohnungstür auf dieser Etage geöffnet.

Es war Junkers. Und er war nicht allein.

Aus den Schrittgeräuschen schloss Rita, dass zwei Personen die Wohnung durchquerten. Mit einem erleichterten Keuchen registrierte Rita, dass eine Person, wahrscheinlich Junkers selbst, in sein Schlafzimmer gegangen war. Den Geräuschen nach, die Rita durch die dünne Tür vernehmen konnte, um sich umzuziehen.

Nur um Sekunden hatte er Rita verpasst.

»Das war jetzt aber genug Aufregung für eine Woche«, bemerkte sie trocken in das leere Zimmer hinein.

Sie zog lautlos den Schlüssel aus dem Schloss und wog ihn kurz in der Hand.

»Du kleines, garstiges Ding«, sagte sie zu ihm. »Das war knapp. Untersteh dich, mich noch einmal so in Versuchung zu führen. Dafür kommst du eine Weile aus meinem Blickfeld, verstanden?«

Sie ging zum Schrank und öffnete eine der Schubladen, ließ den Schlüssel neben ihre Schlüpfer fallen und schloss sie wieder.

Sie warf der weißen Tür einen skeptischen Blick zu und murmelte dann: »Wollen wir mal hoffen, dass unser Student nicht auch so einen Schlüssel findet.«

Rita wollte gerade mit ihrer unterbrochenen Einräumaktion fortfahren, als sie das Quietschen von Bettfedern vernahm. Jemand hatte sich in Junkers' Zimmer auf das Bett gelegt.

Irritiert wandte Rita sich der weißen Tür zu und runzelte die Stirn. Es war etwas früh zum Schlafengehen. Die Bettfedern quietschten erneut. Der Liegende hatte sich umgedreht.

Oder jemand hat sich zu ihm gelegt, schoss es Rita durch den Kopf. Sie hörte ein Kichern, danach einen schmatzenden Kuss. Dann begannen die Bettfedern erneut zu knarzen. Es dauerte nicht lange und das Quietschen der Metallfedern folgte einem monotonen Rhythmus.

Ein Grinsen erschien auf Ritas Gesicht, und sie schüttelte ungläubig den Kopf.

»Nicht denen ihr Ernst?«, hauchte sie entrüstet. »Das kann man doch im ganzen Haus hören, was die beiden da machen.«

Ein anderes Geräusch ließ Rita herumfahren. Jemand hatte erneut die Haustür geöffnet und diesmal waren viele, schwere Schritte auf der Treppe zu vernehmen. Erschrocken registrierte Rita, dass schätzungsweise vier oder fünf Männer die Treppe hoch stürmten und auf ihrer Etage innehielten. Ein gellender Pfiff aus einer Trillerpfeife schallte durch den Flur und Rita zuckte zusammen.

Dann hämmerte jemand dreimal heftig mit der Faust gegen Junkers' Wohnungstür und schrie: »Sittenpolizei! Öffnen Sie, sofort!«

Ritas Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie zuckte wieder zusammen, als der Polizist von der Sitte erneut gegen Junkers' Tür hämmerte, als wolle er sie aus den Angeln schlagen.

»Junkers! Tür öffnen!«, brüllte der Polizist. »Wir wissen, dass Sie da sind!«

Das Quietschen war verstummt, eine grauenhafte Stille herrschte in Junkers Schlafzimmer.

»Oh mein Gott«, hörte Rita eine junge, männliche Stimme hinter der weißen Tür kaum hörbar flüstern. »Was machen wir jetzt?«

Weitere Schritte waren draußen auf der Treppe zu vernehmen, diesmal mit leichterem Tritt.

Ritas Gesicht verfinsterte sich, als sie die unangenehme Stimme von Witwe Schmidt vernahm: »Wenn die Herren mir mal en bisschen Platz machen, dann schließ' ich Ihnen de Wohnungstür auf. Datt fehlte mir jerade noch! Wejen eines Sittlichkeitsverbrechers det Türschloss reparieren! Haben Se'ne Ahnung davon, watt Handwerker heutzutage kosten?«

»Sie haben uns angerufen?« Das war die Stimme des Polizisten, der nach Junkers gebrüllt hatte.

»Da kannste awa einen drauf lassen, Jüngelchen!«, keifte die Witwe. »Datt hier is ein ehrenwertes Haus! Ick dulde hier keene Sittenstrolche!« Das Klappern von Schlüsseln hallte im Flur wieder. »Und jetzt geh'n Se mal ausm Weg, junger Mann!«

Ritas Abneigung gegen Witwe Schmidt wuchs ins Unermessliche. Sie konnte zwar nicht verstehen, was alle Leute an dieser körperlichen Zweisamkeit so reizvoll fanden, aber Rita war der Meinung, dass Junkers' Privatleben nur ihn etwas anging.

Was hat die alte Schachtel bloß für ein Problem mit den Beziehungen anderer Leute?, schoss es Rita durch den Kopf. Gleich die Sittenpolizei zu rufen, fand sie definitiv übertrieben.

Entschlossen stand Rita auf und schritt rasch zu der Schublade, in die sie den schweren Schlüssel geworfen hatte. Sie nahm ihn heraus, ging zu der weißen Tür und steckte ihn ins Schlüsselloch. Mit einer schnellen Handbewegung hatte sie die Tür entriegelt und öffnete sie leise.

»Pst!«, zischte sie in Junkers' Schlafzimmer hinein. »Hier drüben! Die weiße Tür.«

Das erstaunte Gesicht eines jungen Mannes Ende zwanzig sah sie aus dem Bett heraus an.

»Wer sind Sie denn?«, keuchte er erschrocken und zog sich die Decke unter das Kinn.

»Ihr Schutzengel«, fauchte Rita den Studenten an. Wie konnte man nur so schwer von Begriff sein? »Na los, Junkers! Schicken Sie mir Ihre ... Partnerin rüber in meine Wohnung!«, flüsterte sie und winkte ihm heftig mit ihrer rechten Hand zu.

Der junge Mann schüttelte den Kopf und antwortete mit riesigen Augen: »Ich ... äh ... bin nicht Jannick Junkers.«

Rita hielt inne und legte verständnislos den Kopf schräg, vor Erstaunen blieb ihr der Mund offen stehen.

»Was?«, äußerte sie wie vor den Kopf geschlagen.

Neben dem Kopf des Mannes, der nicht Junkers war, erschien ein weiterer Haarschopf unter der Decke. Die kurzen Haare gehörten einem anderen jungen Mann mit einem schmalen Schnurrbart, der Rita mit mindestens genauso großen Augen und bleichem Gesicht ansah wie sein Partner.

»Ähm ...«, murmelte der Mann mit dem Schnurrbart, »... ich bin Jannick Junkers.«

Wie vom Donner gerührt blinzelte Rita ungläubig.

»Oh ...«, hauchte sie tonlos.

Ein weiteres Trommeln gegen Junkers' Wohnungstür ließ Rita und die beiden Männer erneut zusammenzucken.

»Junkers! Öffnen Sie endlich, oder ich lasse von jemand aufschließen!« Die Stimme des Sittenpolizisten klang inzwischen immer ungeduldiger.

Das schwungvolle Klopfen half Rita bei ihrer Entscheidung: »Egal! Dann kommst du halt mit rüber in meine Wohnung!«, befahl sie dem verängstigten jungen Mann, der nicht Junkers war, mit energischen Worten.

»Aber ... ich hab nix an!«, gab er leise und verzweifelt zurück.

Rita stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn entgeistert an.

»Ernsthaft?«, zischte sie ihn an. »Draußen vor der Wohnung steht die Sittenpolizei, die euch beide verhaften will, aber du machst dir Sorgen darüber, ob ich dich nackt zu sehen kriege?«

Junkers stieß seinen Partner in die Rippen und zischte ihn an: »Na los! Rüber mit dir! Ich versuche, die verdammte Sittenpolizei loszuwerden!«

Kurzentschlossen machte Rita zwei Schritte in den Raum hinein, griff nach der Hand des jungen Mannes und zog energisch daran.

»Jetzt komm schon! Die sind gleich hier im Zimmer!«

Junkers' Freund gab nach, glitt nackt unter der Decke hervor und folgte Rita stolpernd durch die weiße Tür in ihre Wohnung. Hilflos blieb er mit knallrotem Kopf neben Ritas Bett stehen und sah sie verschämt wie ein junger Welpe von unten an. Mühsam versuchte er, seine Männlichkeit hinter seinen zitternden Händen zu verbergen. Was ihm, wie Rita mit einem hastigen Blick feststellte, nicht wirklich gelang.

Rita schoss die Schamesröte ins Gesicht, sie drehte sich zur Tür zwischen den beiden Schlafzimmern, warf Junkers einen letzten Blick zu und nickte entschlossen.

Junkers' Mund stand offen, so ganz schien er noch nicht verstanden zu haben, was gerade vorging. Aber dann nickte er Rita zu, und während sie die weiße Tür zuerst zu- und dann abschloss, warf er die schützende Decke zur Seite und stand auf.

»Ich komme ja schon!«, konnte Rita ihn dumpf rufen hören. »Sie haben mich wirklich in einem ungünstigen Moment erwischt.«

»Datt glaube ick dir sofort!« Obwohl Witwe Schmidt mit Sicherheit nicht laut gesprochen hatte, verstand Rita durch die dünne Wohnungstür jedes einzelne Wort. Das grimmige Lachen eines Sittenpolizisten begleitete ihren Kommentar.

Ritas Augen wurden vor Zorn schmal, als sie zu ihrer Wohnungstür blickte. »Du elende alte Schachtel«, murmelte sie fast lautlos. »Spielst hier den Sittenwächter, hast dein Haus aber von ermordeten Juden geklaut.«

»Und jetzt?«, wisperte der nackte junge Mann.

»Schschsch!«, zischte Rita ihn an, ohne ihn anzublicken, und hob abwehrend die Hand. Er zuckte zusammen, aus dem Augenwinkel konnte Rita erkennen, dass er den Kopf einzog.

»Ich ... äh ... hole Ihnen mal ein Handtuch«, murmelte Rita halblaut mit roten Ohren. Rasch ging sie in ihr winziges Bad, griff nach einem Badetuch und kehrte in ihr Schlafzimmer zurück. Als sie es dem jungen Mann reichte, vermied Rita es geflissentlich, ihn anzusehen. Er griff danach und sie vernahm ein gehauchtes »Dankeschön«. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er es sich erleichtert um die Hüfte band.

Inzwischen hatte Junkers die Wohnungstür erreicht und den Polizisten die Tür geöffnet.

»Was wollen Sie?«, erkundigte sich der Student, wurde aber ruppig unterbrochen.

Mit Erstaunen vernahm Rita, wie mehrere Polizisten sich an dem Studenten vorbei in die Wohnung zwängten und sich mit schweren Schritten darin verteilten. Nicht gerade zimperlich durchsuchten sie die Wohnung.

Die Stimme des Polizisten klang kalt und geschäftsmäßig, als er Junkers erklärte: »Ich bin Sittenkommissar Meier aus der Polizeiinspektion Karcherstraße. Jannick Junkers, gegen Sie liegt eine Strafanzeige wegen Paragraph 175 des Strafgesetzbuches vor. Dieser Paragraph verbietet sexuelle Handlungen zwischen zwei Männern. Wo ist ihr ... Geschlechtspartner?«

»Was? Da muss ein Irrtum vorliegen«, entgegnete Junkers mit mühsam beherrschter Stimme. »Was für ein Geschlechtspartner? Ich bin allein in meiner Wohnung.«

»Nur mit einer Unterhose bekleidet?« Kommissar Meiers Tonfall klang skeptisch.

»Ich wollte mich gerade umziehen«, gab Junkers zurück.

»Red keenen Unsinn!« Verachtung schwang in Witwe Schmidts Stimme. »Ick hab euch jehört! Sodom und Gomorrha sach ich nur! Aber datt hier ist ein ehrenwertes Haus! Hier jibt et sowat nich, klar?«

Rita vernahm wieder Junkers' beschwichtigende Stimme. »Was ist das denn nun schon wieder für ein Unsinn, Frau Schmidt? Sie konnten mich nicht mit Damenbesuch erwischen, deshalb muss es nun ein Mann sein?«

»Ick hab Euch beide im Flur küssen sehen!«, keifte die Witwe. »Da sachste nix mehr zu, wat?«

Diesem Vorwurf folgte betretenes Schweigen.

Rita warf dem jungen Mann mit dem Handtuch einen fragenden Blick zu. Dieser zuckte nur hilflos mit den Achseln und verzog entschuldigend den Mundwinkel. Rita blickte genervt zur Decke und schüttelte ungläubig den Kopf.

»Wie blöd kann man sein?«, hauchte sie ihn an. »Euch musste doch klar sein, dass die alte Vettel so was nicht duldet!«

Verlegen senkte er den Blick.

Rita atmete tief durch und lauschte weiter.

Das Getrampel in der Wohnung nebenan hatte aufgehört. Einer der anderen Polizisten meldete Meier: »Wir haben niemanden gefunden, Herr Kommissar. Er ist wirklich allein in der Wohnung.«

»Wat?« Witwe Schmidt war überrascht. »Da muss awa einer drinne sein! Ick hab die beiden doch an meinem Fenster vorbeigehen sehen! Unn dann sinn se beide die Treppe rauf!«

Junkers Stimme klang genervt. »Im Haus gibt es noch mehr Wohnungen als meine.«

Rita durchfuhr ein kalter Schauer. Hoffentlich kam niemand im Treppenhaus auf die Idee, ihre Wohnung ebenfalls zu durchsuchen. Immerhin stand da ein nur mit einem Badetuch bekleideter Fremder in ihrem Schlafzimmer, von dem sie noch nicht einmal den Namen kannte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Witwe Schmidt begeistert sein würde. Ganz abgesehen davon, dass sie die Sittenpolizei bereits im Flur hatte und es schwer werden würde, dafür eine Erklärung zu finden.

Auch Junkers' Partner wurde bleich und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Ihm war ebenfalls klar geworden, was sein Freund gerade gesagt hatte. Gehetzt blickte Rita um sich und ihr Blick fiel auf den gigantischen Schrank.

»Nein, nicht«, hauchte der junge Mann und wurde aschfahl. Abwehrend hob er die linke Hand, seine Rechte umklammerte verzweifelt das Handtuch. »Ich hab Platzangst! Und da drin sehen die bestimmt auch nach!«

Rita schloss kurz die Augen, ihre Gedanken rasten. Wie sollte sie den Nackten in ihrer Wohnung erklären, ohne Witwe Schmidt zu verärgern oder gar von der Sittenpolizei wegen Unzucht verhaftet zu werden?

Plötzlich hatte sie eine Idee. Keine besondere Idee, aber immerhin eine Idee. Sie beschloss alles auf eine Karte zu setzen und die Flucht nach vorn anzutreten. Entschlossen zischte sie den jungen Mann an: »Ins Bad! Rasch!«

Verständnislos runzelte er die Stirn und blieb stehen.

Hektisch wedelte Rita mit der Hand. »Na los! Keine Zeit für Diskussionen! Ab ins Bad! Ich muss zur Tür!«

Rita legte ihm die Hand auf den nackten Rücken und schob ihn Richtung Bad. Der junge Mann folgte ihr nur widerstrebend und wollte protestieren, aber Rita verschloss ihm rasch mit dem Zeigefinger den Mund.

»Kein Ton mehr!«, sagte sie leise, aber energisch. »Ich regele das!«

Er nickte resigniert. Einsam und allein stand er mitten in dem winzigen Bad und sah für Rita nun noch mehr wie ein begossener Pudel aus. Sie zog die Badezimmertür bei, ließ sie aber geöffnet, dann hastete sie zur Wohnungstür.

Mit fliegenden Fingern richtete sie sich die Frisur und ergriff die Türklinke.

Sie atmete einmal tief durch, dann öffnete sie.

Sechs Köpfe wandten sich ihr zu, sechs Gesichter sahen sie an, eins davon skeptischer als die anderen. Junkers vermied ihren Blick. Witwe Schmidt verzog die Mundwinkel.

»Was ist das hier für ein Radau im Flur?«, fragte Rita in die Runde. »Was machen die ganzen Polizisten hier?«

»Wer sind Sie?« Rita hatte nun ein Gesicht zu Kommissar Meiers tiefer, unangenehmer Stimme. Der Sittenpolizist war ein großer, bulliger Mittvierziger mit Dreitagebart, der die Welt aus stechenden Augen betrachtete. Anders als seine uniformierten Kollegen trug er gewöhnliche Straßenkleidung. Dunkles Hemd, Schlips, Anzughose und einen beigen Trenchcoat. Er musterte Rita wie etwas, das er unter seinem Schuh gefunden hatte.

»Rita Breier«, gab sie kurz angebunden zur Antwort und verschränkte ablehnend die Arme vor der Brust. »Und mit wem habe ich das Vergnügen?«

Meier zückte mit geübter Handbewegung seinen Ausweis aus der Tasche des Trenchcoats und hielt ihn ihr unter die Nase. Rita konnte nur einen kurzen Blick darauf werfen, bevor er ihn wieder darin verschwinden ließ.

»Kommissar Meier. Sittenpolizei«, informierte er Rita knapp. »Wir sind auf der Suche nach einem 175er.«

»Einem was?«, entgegnete Rita mit gespielter Überraschung.

»Einemhomosexuellen Sittlichkeitsverbrecher, gnädige Frau«, beantwortete Meier mit einem süffisanten Lächeln ihre Frage. »Im Polizeifachjargon auch 175er genannt.«

»Ach, tatsächlich?«

»Allerdings, junge Dame«, sagte Meier ungehalten. »Frau Schmidt hier ...«, Meier machte eine Handbewegung in Richtung der Witwe, »... will eine solche Person beim Betreten des Hauses beobachtet haben. Bisher konnten wir ihn allerdings noch nicht finden.« Meier beugte sich vor und flüsterte Rita zu: »Wenn er sich in Ihrer Wohnung befindet, nicken Sie nur kurz. Wir machen dann den Rest.«

Meier zwinkerte Rita an und richtete sich wieder auf.

Rita kannte Männer wie Meier aus Erzählungen ihres Vaters nur zu gut: Für die Kripo hatte es intellektuell nicht gereicht, aber für die Sittenpolizei war sein Spürsinn mehr als ausreichend. Solche Leute, die gern Jagd auf andere Menschen machten, hatten vor einigen Jahren in der Gestapo gedient.

Sie lächelte gewinnend und antwortete mit lauter Stimme: »Jemand Fremdes ist nicht in meiner Wohnung. Nur mein Bruder ist da, der ist gerade duschen. Aber der ist ja auch kein Fremder. Zumindest nicht für mich.« Ritas Blick wanderte zu Witwe Schmidt und ihre Augenbraue hob sich. »Männerbesuch ist nicht erlaubt, ich weiß. Aber ich nehme an, das gilt nicht für Familienmitglieder, oder?«

Witwe Schmidts Augen wurden schmal, zweifelnd beäugte sie ihre neue Mieterin, schwieg aber.

Kommissar Meiers Miene war zu einer Maske des Misstrauens erstarrt, als Rita ihm wieder ins Gesicht sah. Seine stechenden Augen musterten sie argwöhnisch.

»Würde Ihr ... Bruder uns einmal kurz mit seiner Anwesenheit beehren?«, verlangte er halblaut.

»Halbbruder«, korrigierte ihn Rita. »Selbe Mutter, unterschiedliche Väter.« Ohne den Blickkontakt mit Meier zu unterbrechen, drehte sie den Kopf ein wenig und rief über die Schulter in ihre Wohnung: »Kommst du mal kurz? Hier ist jemand, der dich ganz dringend sprechen möchte.«

Das bleiche Gesicht des jungen Mannes erschien in der Türöffnung zum Bad und er sagte entschuldigend: »Ich hab nur ein Handtuch an.«

»Das stört mich nicht sonderlich«, rief Meier aus dem Flur in die Wohnung. Er sah kurz an Rita vorbei direkt in das Gesicht des jungen Mannes.

Der schluckte trocken und ergab sich in sein Schicksal. Nur mit dem Handtuch bekleidet trat er aus dem Bad und schritt langsam zur Wohnungstür. Verlegen blieb er hinter Rita stehen und musterte den Menschenauflauf im schmalen Treppenhaus. Rita tat so, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, dass sich ein nur mit einem Handtuch bekleideter Mann in ihrer Wohnung befand.

»Wie schon gesagt, das ist mein Halbbruder«, erklärte Rita. »Er hilft mir beim Umziehen. Vom vielen Kistenschleppen war er verschwitzt und wollte gerade duschen. Hat einer der Anwesenden damit ein Problem?«

»Hat Ihr Halbbruder auch einen Namen?« Meier war immer noch misstrauisch.

»Michael Gerber«, murmelte der junge Mann leise.

»Ausweis?«, blaffte Meier fordernd.

»In meiner Brieftasche«, nuschelte Gerber. Nach einer unangenehmen Pause fügte er hinzu: »Zuhause. Ich wollte sie beim Umziehen nicht verlieren.«

Meier atmete tief durch und ließ seinen Blick skeptisch zwischen Rita und Gerber hin und her wandern.

»Natürlich«, erwiderte der Kommissar schließlich und seufzte. »Sie sollten Ihren Ausweis immer mit sich führen, egal wann. Man kann nie wissen, wann man ihn mal braucht.«

Gerber nickte betreten.

Meier drehte sich weg und sagte laut in Befehlston: »Abrücken!«

Murrend machten sich die Sittenpolizisten auf den Weg die Treppe hinunter.

»Sie wollen diese Gangster doch nicht etwa hierlassen?«, fauchte Witwe Schmidt.

»Vielleicht achten Sie das nächste Mal einfach darauf, in welcher Wohnung der mutmaßliche Sittlichkeitsverbrecher zu Besuch ist«, gab Meier bissig zurück und zuckte entschuldigend mit den Achseln. »Bei dieser Sachlage habe ich keinerlei Beweis für Ihre Behauptung, einer der beiden hier anwesenden Herren wäre ein Homosexueller, Frau Schmidt. Für eine Anzeige ist das definitiv zu wenig.«

Er wandte sich zum Gehen und schritt hinter seinen Männern die Treppe hinab. Witwe Schmidt sah ihm entrüstet nach, ihr Mund öffnete und schloss sich hektisch wie bei einem Fisch auf dem Trockenen. Sie rang um Fassung und die richtigen Worte, aber das einzige, was sie Meier noch hinterherrufen konnte, war ein Vorwurf: »Aber die haben sich doch geküsst!«

Meier verließ das Haus, ohne sich noch einmal umzudrehen. Klackend fiel die Tür ins Schloss.

»Also det is doch die Höhe!«, murmelte Witwe Schmidt entrüstet. Sie sah das leere Treppenhaus hinunter und stemmte die Hände in die Hüften. »Jetz haun die eenfach ab!«

Rita lehnte immer noch in ihrer Wohnungstür, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und musterte die Witwe unverhohlen feindselig. Auch Junkers hatte inzwischen die Arme vor der Brust verschränkt, sein Blick war nicht weniger vorwurfsvoll. Gerber sah die Witwe nur grimmig an. Um die Arme zu verschränken, hätte er das Handtuch loslassen müssen. Die schweigsamen, vorwurfsvollen Blicke lasteten auf Witwe Schmidt wie zentnerschwere Steine.

»Da is det letzte Wort noch nich gesprochen«, fauchte Witwe Schmidt.

»Was wohl die Familie Goldstein dazu sagen würde?«, fragte Rita sich halblaut.

Die beiden Männer blickten nur verwirrt, aber Witwe Schmidt wurde bleich und starrte Rita mit großen Augen an.

»Woher kennen Sie diesen Namen?«, hauchte sie ungläubig.

»Von einer Besitzurkunde aus dem Jahr 1932, die ich in meiner Wohnung gefunden habe«, antwortete Rita leichthin und deutete mit dem Daumen hinter sich in die Wohnung. »Soll ich sie kurz holen?«

Die Witwe hob beschwichtigend die Hände. »Nich nötich«, wehrte sie ab. Gehetzt glitt ihr Blick zwischen den Anwesenden hin und her.

»Dess is jetz a bissel peinlich«, sagte die Witwe kleinlaut und flüchtete die Treppe hinab in ihre Wohnung.

Als die Wohnungstür hinter der Verwalterin ins Schloss gefallen war, sackten die Schultern der drei Anwesenden erleichtert nach unten.

Junkers' dankbarer Blick traf Rita, die nur verschmitzt lächelte, mit dem Kopf Richtung Schlafzimmer nickte und langsam die Wohnungstür schloss. Sie drehte sich zu Gerber um und sagte zu ihrem unfreiwilligen Gast: »Vielleicht ziehst du dir jetzt erst mal wieder was an. Ich schließe dir die Tür auf.«

Dankbar nickte der junge Mann und trippelte vorneweg in Richtung Schlafzimmer.

»Ich koche uns mal Kaffee«, erklärte sie den beiden Männern, als sie Gerber durch die weiße Tür zurück in Junkers' Wohnung ließ.

Junkers, immer noch in Unterhose, hielt sie zurück und sagte: »Ich habe keine Ahnung, wie ich Ihnen danken soll. Wir kennen uns ja noch nicht mal.«

»Ich hätte da schon so eine Idee«, erwiderte Rita geheimnisvoll. »Wir besprechen das, wenn Sie beide wieder in vernünftigen Klamotten stecken, in Ordnung?«

Dankbar nickten die beiden Männer ihrer Retterin zu, dann schloss Rita lächelnd die weiße Tür.

Kaum zehn Minuten später saßen Junkers und Gerber in Ritas Küche und hatten einen dampfenden Kaffee vor sich. Gerber rührte abwesend in seiner Tasse, sein Blick wanderte zwischen Rita und seinem Freund hin und her.

Junkers sah irritiert in Ritas milde lächelndes Gesicht und konnte kaum glauben, was diese Frau den beiden Männern gerade für einen Vorschlag gemacht hatte.

»Sie meinen das ernst, oder?«, erkundigte sich Junkers überrascht.

»Natürlich meine ich das ernst«, bestätigte Rita. »Junkers, Ihnen ist schon klar, dass ich als die Frau in diesem Possenspiel das größte Risiko eingehe? Es gibt niemanden außer Ihnen, der mir versichert, dass Sie nicht auf Ihre Rechte bestehen, die Ihnen per Gesetz zustehen.«

Junkers verzog angewidert das Gesicht. »Selbst mit vorgehaltener Waffe könnte niemand mich dazu zwingen.«

»Ich muss Ihnen das einfach glauben, mein Freund«, bemerkte Rita trocken. »Überlegen Sie mal: Es hätte für jeden der Beteiligten nur Vorteile, jeder gewinnt etwas.«

»Wir kennen uns jetzt kaum eine halbe Stunde und Sie wollen mich schon heiraten.« Junkers schüttelte verwundert den Kopf.

Rita zuckte mit den Achseln und nickte Gerber zu.

»Meinen Halbbruder kann ich ja schlecht heiraten, oder?«

»Und wie haben Sie sich das vorgestellt?« Junkers lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah Rita skeptisch an.

»Nun ...«, sagte Rita gedehnt zu dem Studenten. »Das ist doch eigentlich ganz einfach. Wir beide heiraten offiziell. Ich ziehe zu Ihnen in die Wohnung, mein Halbbruder zieht in meine jetzige Wohnung. Offiziell bleibt die weiße Tür verschlossen. Inoffiziell können wir diese Tür so oft öffnen, wie wir wollen. Ihr Freund Gerber und ich werden auf dieser Etage einfach die Rollen tauschen. Ich werde in meiner alten Wohnung leben und Sie beide in Ihrer.«

»Und was haben Sie davon?«, erkundigte sich Junkers.

»Meine Ruhe. Und einen Ehemann, der mir jedes Dokument unterschreibt, das ich mir wünsche«, antwortete Rita. »Und der niemals auf die Idee kommen wird, seine ehelichen Pflichten bei mir einzufordern.«

»Und Ihre ... nun ja, körperlichen Bedürfnisse?«

Ritas linke Augenbraue ging in die Höhe.

»Es ehrt Sie, dass Sie sich solche Gedanken um mein körperliches Wohlergehen machen. Ich versichere Ihnen, ich habe keine Bedürfnisse, die auf solcherlei Art befriedigt werden müssten.«

»Tatsächlich?« Junkers wirkte nicht überzeugt.

Rita seufzte.

»Tatsächlich«, erwiderte sie. »Außerdem bin ich es leid, andere Leute ständig davon überzeugen zu müssen, dass ich auch ohne sexuelle Befriedigung prima zurechtkomme. Mit einem Ehemann hört das schlagartig auf.«

Junkers atmete tief durch. »Und wie lange soll diese Scharade andauem?«

Rita zuckte die Achseln. »Solange wie notwendig, denke ich. Sie müssen jetzt nicht sofort antworten. Sie beide können in Ruhe darüber nachdenken.«

Junkers sah Gerber fragend an. Dieser nickte und sagte: »Lass uns eine Nacht darüber schlafen, Jannick. Morgen können wir ihr eine Antwort geben.«

»Schön. Freut mich.« Rita nickte und lächelte das homosexuelle Paar an. »Sagt mir einfach morgen Bescheid.«

Früh am nächsten Morgen klopfte es an Ritas weißer Tür. Sie saß bereits angezogen auf dem Bett. Als sie das Klopfen vernahm, lächelte sie, erhob sich und öffnete die Tür. Junkers stand in der Türöffnung und sah sie schüchtern an. Hinter ihm auf dem Bett saß Michael Gerber und lächelte verschmitzt.

»Ja?«, fragte Rita nur.

»Willst du mich heiraten, Rita?«, fragte Junkers sie.

»Wenn du so nett fragst ...«, gab Rita zurück und lachte.

Am 14. August 1964 heirateten Rita und Jannick.

Am 11. März 1994 saßen die beiden erneut auf dem Standesamt. Genau einen Tag zuvor war der Paragraph 175 aus dem Strafgesetzbuch gelöscht worden.

»Was führt Sie zu mir?«, erkundigte sich der Standesbeamte.

Die beiden lächelten sich an und Rita antwortete fröhlich: »Wir möchten uns gerne scheiden lassen.«

»Sie wirken auf mich, als würden Sie sich auf die Scheidung geradezu freuen.«

»Wenn Sie wüssten, wie lange wir auf diese Scheidung gewartet haben«, antwortete Rita und lachte.

Die Scharade war vorbei.

120 Minutes in Hell

EMERYN MADER

Scheiße.«

Jürgen sah Angelika dabei zu, wie sie wie verrückt auf den Knopf mit der Null drückte, als ob der Fahrstuhl sich nach dem hundert und ersten Mal plötzlich doch wieder in Bewegung setzen würde. Nichts passierte. Sie steckten fest.

Er bemühte sich, nicht an Zigaretten zu denken oder wie sehr ihm gerade danach war, eine zu rauchen. Beim fünften Versuch aufzuhören hatte es endlich geklappt, und er hatte seit Jahren keinen Tabak oder Nikotin mehr angefasst. Trotzdem gab es immer wieder Momente, in denen er dem Drang kaum widerstehen konnte, einen Stängel anzuzünden und einen tiefen Zug zu nehmen. Zum Beispiel, wenn er unerwartet und für unbestimmte Zeit mit seiner langjährigen Ex aus Unizeiten in einem Fahrstuhl festsaß.

»Das hilft doch nicht«, seufzte er, als Angelika immer noch weiter drückte. Das unregelmäßige und viel zu schnelle Klickgeräusch ging ihm schon nach dieser kurzen Zeit gehörig auf die Nerven. War sie auch damals schon so ungeduldig gewesen?

»Dumm in der Ecke stehen aber noch weniger!«, erwiderte sie und Jürgen musste zugeben, dass sie damit recht hatte. Er zog sein Handy aus der Brusttasche seines Mantels. Oben links zeigte es null von vier Strichen an. Kein Signal, spitze. Er konnte also niemanden anrufen und über die Situation Bescheid geben. Das passte gerade super.

»Muss es hier drin nicht so etwas wie einen Notrufknopf geben?«, fragte er stattdessen. Es war das erste Mal, dass er in einem Fahrstuhl festsaß, und er konnte sich schönere Szenarien vorstellen, um die Realitätsbezogenheit dieses spezifischen Film-Mythos zu testen.

Es gab einen Notrufknopf.

Zehn Minuten später stand fest: Angelika und Jürgen würden so schnell nicht aus ihrer metallenen Zelle rauskommen.