Big Ideas. Das Literatur-Buch - Helen Cleary - E-Book
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Big Ideas. Das Literatur-Buch E-Book

Helen Cleary

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Beschreibung

"Von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat, ist die der Bücher die Gewaltigste!" (Heinrich Heine). Dieses umfassende Nachschlagewerk präsentiert die größten Meisterwerke, Romanhelden und Schriftsteller der Literaturgeschichte – von Fitzgeralds großen Gatsby über Goethes Faust bis zu Shelleys Frankenstein. Welche Bedeutung hat der weiße Wal in Moby-Dick? Wie funktioniert die Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms? Und was haben Lolita und Uhrwerk Orange gemeinsam? Begeben Sie sich mit diesem Buch auf eine faszinierende Entdeckungstour durch über 100 Bücher aus aller Welt, die das literarische Leben nachhaltig geprägt haben. Beeindruckende Abbildungen, inspirierende Autoren-Zitate und detaillierte Handlungszusammenfassungen machen Literatur greifbar. Interessante Kurzbiografien der bedeutendsten Schriftsteller und Schriftstellerinnen sowie anschauliche Erklärungen der gesellschaftlichen Hintergründe helfen außerdem dabei, die Bedeutung einzelner Literaturstücke zu vertiefen. Große Weltliteratur zum Leben erweckt – für Literaturstudenten und Literaturliebhaber!

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Seitenzahl: 610

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INHALT

EINLEITUNG

HELDEN UND LEGENDEN

3000 V. CHR.–1300 N. CHR.

Nur die Götter wohnen ewig unter der Sonne

Das Gilgamesch-Epos

Sich von den alten Tugenden zu nähren, bringt Beharrlichkeit

Buch der Wandlungen, König Wen von Zhou

Welch Freveltat begehe ich, oh Krishna

Mahabharata, Vyasa

Singe den Zorn, oh Göttin, des Achill

Ilias, Homer

Wie grauenvoll kann das Wissen um die Wahrheit sein, wenn aus ihr keine Hilfe erwächst!

König Ödipus, Sophokles

Das Höllentor steht offen Tag und Nacht; der Abstieg ist leicht

Aeneis, Vergil

Das Schicksal wird sich unweigerlich erfüllen

Beowulf

So Scheherazade begann …

Tausendundeine Nacht

Da das Leben nur ein Traum ist – warum sich vergeblich mühen?

Quan Tangshi

Wirkliche Dinge in der Dunkelheit erscheinen nicht realer als Träume

Die Geschichte vom Prinzen Genji, Murasaki Shikibu

Ein Mann soll für seinen Herrn viel auf sich nehmen

Das Rolandslied

Tandaradei, sang die Nachtigall lieblich

Unter der Linden, Walther von der Vogelweide

Wer nicht der Liebe folgt, der irrt gewaltig!

Der Karrenritter, Chrétien de Troyes

Lass die Wunde eines anderen mir eine Warnung sein

Njáls Saga

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VON DER RENAISSANCE BIS ZUR AUFKLÄRUNG

1300–1800

Ich fand mich mitten in einem Schattenwald wieder

Die Göttliche Komödie, Dante Alighieri

Lasst uns drei Brüderlichkeit schwören und Einheit unserer Ziele wie unserer Gedanken

Die Geschichte der drei Reiche, Luo Guanzhong

Blättre die Seite um und wähl eine weitere Geschichte

Die Canterbury-Erzählungen, Geoffrey Chaucer

Lachen – das ist Menschenrecht! Lebe fröhlich!

Gargantua und Pantagruel, François Rabelais

Und wie die Rose welkt die Schönheit hin

Amoren für Cassandre, Pierre de Ronsard

Wer das Vergnügen liebt, muss dafür fallen

Doktor Faustus, Christopher Marlowe

Jeder ist der Sohn seiner Taten

Don Quijote, Miguel de Cervantes

Sein Leben lang spielt einer manche Rollen

Erste Folio-Ausgabe, William Shakespeare

Alles zu schätzen bedeutet nichts zu schätzen

Der Menschenfeind, Molière

Doch hinter mir höre ich den geflügelten Wagen der Zeit näherkommen

Miscellaneous Poems, Andrew Marvell

Traurig scheide ich von dir; so ist es mit der Muschel: Geht schwer auseinander – wie wir […] im scheidenden Herbst

Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland, Matsuo Bashō

Niemand kann behindern und niemand wird behindert auf der Reise zum Berg des Todes

Liebestod bei Sonezaki, Chikamatsu Monzaemon

Ich bin geboren zu York im Jahre 1632, als Kind angesehener Leute

Robinson Crusoe, Daniel Defoe

Wenn das hier die beste aller möglichen Welten ist, wie sehen dann erst die anderen aus?

Candide, Voltaire

Mut hab’ ich genug, um barfuß mitten durch die Hölle zu gehen

Die Räuber, Friedrich Schiller

In der Liebe gibt es nichts, das schwieriger wäre, als Unempfundenes zu schreiben

Gefährliche Liebschaften, Pierre Choderlos de Laclos

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ROMANTIK UND DER TRIUMPH DES ROMANS

1800–1855

Poesie ist der Atem und der edlere Geist allen Wissens

Lyrical Ballads, William Wordsworth und Samuel Taylor Coleridge

Nichts ist wundervoller, nichts fantastischer als das wirkliche Leben

Nachtstücke, E.T.A. Hoffmann

Es irrt der Mensch, solang er strebt

Faust, Johann Wolfgang von Goethe

Es war einmal …

Kinder- und Hausmärchen, Jacob und Wilhelm Grimm

Denn wozu leben wir, wenn nicht, um unseren Nachbarn Anlass zum Lachen zu geben und dafür umgekehrt über sie zu lachen

Stolz und Vorurteil, Jane Austen

Wer kann die Schrecken meiner heimlichen Mühen erahnen

Frankenstein, Mary Shelley

Einer für alle, alle für einen

Die drei Musketiere, Alexandre Dumas

Doch zum Glück zog es mich niemals hin, es ist meiner Seele fremd

Eugen Onegin, Alexander Puschkin

Lass deine Seele kühl und gefasst vor einer Million von Universen stehen

Grasblätter, Walt Whitman

Ihr habt gesehen, wie ein Mensch zum Sklaven wird; ihr sollt sehen, wie ein Sklave zum Menschen wird

Mein Leben als Sklave in Amerika, Frederick Douglass

Ich bin kein Vogel; und kein Netz vermag mich zu fangen

Jane Eyre, Charlotte Brontë

Ich kann nicht ohne mein Leben leben! Ich kann nicht leben ohne meine Seele!

Sturmhöhe, Emily Brontë

Es gibt keinen Wahnwitz des Tiers auf dieser Erde, der nicht vom Wahnsinn des Menschen unendlich übertroffen wird

Moby-Dick, Herman Melville

Alle Abschiede weisen auf einen großen hin

Bleak House, Charles Dickens

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ABBILDUNG DER WIRKLICHKEIT

1855–1900

Langeweile, diese lautlose Spinne, wob ihr Netz im Finstern über jeden Winkel ihres Herzens

Madame Bovary, Gustave Flaubert

Auch ich bin Kind dieses Landes; auch ich wuchs hier auf

O Guarani, José de Alencar

Der Dichter gleicht dem Wolkenfürsten droben

Die Blumen des Bösen, Charles Baudelaire

Nicht gehört zu werden ist kein Grund zu schweigen

Die Elenden, Victor Hugo

Verquerer und verquerer!

Alice im Wunderland, Lewis Carroll

Leid und Schmerz sind der weiten Erkenntnis und dem tiefen Herzen immer eigen

Verbrechen und Strafe, Fjodor Dostojewski

Das Leben der Menschheit oder auch nur einer Nation genau zu beschreiben, scheint unmöglich

Krieg und Frieden, Leo Tolstoi

Nur ein beschränkter Verstand kann nicht ein Subjekt aus verschiedenen Perspektiven betrachten

Middlemarch, George Eliot

Man kann wohl menschlichen Gesetzen trotzen, sich aber nicht den Naturgesetzen widersetzen

Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer, Jules Verne

Wir in Schweden tun nichts, außer Jubiläen feiern

Das rote Zimmer, August Strindberg

Sie ist in einer fremden Sprache geschrieben

Bildnis einer Dame, Henry James

Menschen können schrecklich grausam zueinander sein

Die Abenteuer des Huckleberry Finn, Mark Twain

Er wollte wieder in die Grube hinab, um zu leiden und zu kämpfen

Germinal, Émile Zola

Die Abendsonne erschien ihr nun hässlich wie eine große entzündete Wunde im Himmel

Tess, Thomas Hardy

Der einzige Weg, eine Versuchung loszuwerden, ist, ihr nachzugeben

Das Bildnis des Dorian Gray, Oscar Wilde

Es gibt Dinge, alte und neue, die der Mensch nicht versteht

Dracula, Bram Stoker

Einer der dunklen Orte der Erde

Herz der Finsternis, Joseph Conrad

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BRUCH MIT DER TRADITION

1900–1945

Die Welt ist erfüllt von wahrscheinlichen Dingen, die zufällig von niemandem bemerkt werden

Der Hund der Baskervilles, Arthur Conan Doyle

Gestatten, ich bin ein Kater! Unbenamst bislang. Ich habe keine Ahnung, wo ich geboren wurde

Ich der Kater, Natsume Sōseki

Gregor Samsa fand sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt

Die Verwandlung, Franz Kafka

Dulce et decorum est / pro patria mori

Gedichte, Wilfred Owen

Ich zeige dir die Angst in einer handvoll Staub

Das wüste Land, T.S. Eliot

Der Himmelsbaum der Sterne, behangen mit feuchter, nachtblauer Frucht

Ulysses, James Joyce

Als ich jung war, hatte auch ich viele Träume

Aufruf zum Kampf, Lu Xun

Liebe gibt nichts als sich selbst und nimmt nichts als von sich selbst

Der Prophet, Khalil Gibran

Kritik bedeutet den Ursprung des Fortschrittes und der Aufklärung

Der Zauberberg, Thomas Mann

Wie Motten zwischen Geflüster, Champagner und Sternen

Der große Gatsby, F. Scott Fitzgerald

Die alte Welt muss stürzen, wach auf, du Morgenluft!

Berlin Alexanderplatz, Alfred Döblin

Schiffe in der Ferne haben jedermanns Wunsch an Bord

Und ihre Augen schauten Gott, Zora Neale Hurston

Tote sind schwerer als gebrochene Herzen

Der große Schlaf, Raymond Chandler

Es ist so geheimnisvoll, das Land der Tränen

Der kleine Prinz, Antoine de Saint-Exupéry

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NACHKRIEGSLITERATUR

1945–1970

Big Brother is watching you

1984, George Orwell

Jetzt bin ich siebzehn und manchmal führe ich mich auf, als ob ich dreizehn wäre

Der Fänger im Roggen, J.D. Salinger

Der Tod ist ein Meister aus Deutschland

Mohn und Gedächtnis, Paul Celan

Ich bin unsichtbar, verstehst du – einfach, weil die Leute sich weigern, mich zu sehen

Unsichtbar, Ralph Ellison

Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele

Lolita, Vladimir Nabokov

Wir alle werden verrückt geboren; manche bleiben es

Warten auf Godot, Samuel Beckett

Es ist unmöglich, mit der einen Hand die Ewigkeit und mit der anderen das Leben zu berühren

Der Tempelbrand, Yukio Mishima

Er war »beat« – die Wurzel, die Seele der Glückseligkeit

Unterwegs, Jack Kerouac

Was bei einem Volk gut ist, ist bei einem anderen abscheulich

Alles zerfällt, Chinua Achebe

Selbst Tapeten haben ein besseres Gedächtnis als die Menschen

Die Blechtrommel, Günter Grass

Ich glaube, es gibt nur eine Art von Menschen. Einfach Menschen

Wer die Nachtigall stört, Harper Lee

Nichts ist verloren, solange einer den Mut hat zu sagen, dass alles verloren ist und wir von Neuem beginnen müssen

Rayuela, Julio Cortázar

Er hatte beschlossen, ewig zu leben oder bei dem Versuch zu sterben

Catch-22, Joseph Heller

Alltägliche Wunder und die lebendige Vergangenheit

Tod eines Naturforschers, Seamus Heaney

Mit uns stimmt etwas nicht. Sonst hätten wir das wohl kaum getan

Kaltblütig, Truman Capote

Es endet jeden Moment – beendet aber niemals sein Ende

Hundert Jahre Einsamkeit, Gabriel García Márquez

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ZEITGENÖSSISCHE LITERATUR

1970–HEUTE

Unsere Geschichte ist eine Summe aus letzten Augenblicken

Die Enden der Parabel, Thomas Pynchon

Du schickst dich an, den neuen Roman von Italo Calvino zu lesen

Wenn ein Reisender in einer Winternacht, Italo Calvino

Um nur ein einziges Leben zu verstehen, muss man die Welt schlucken

Mitternachtskinder, Salman Rushdie

Sich selbst zu befreien, war das eine; den Anspruch auf dieses befreite Selbst zu erheben, ein anderes

Menschenkind, Toni Morrison

Himmel und Erde waren in Aufruhr

Das rote Kornfeld, Mo Yan

Eine Geschichte wie diese ließ sich nicht erzählen, eine solche Geschichte ließ sich nur fühlen

Oscar und Lucinda, Peter Carey

Eine historische Vision, das Ergebnis eines multikulturellen Engagements

Omeros, Derek Walcott

Ich fühlte mich tödlich, am Rande des Wahnsinns

American Psycho, Bret Easton Ellis

Schweigsam fuhren sie den ruhigen und heiligen Fluss hinunter

Eine gute Partie, Vikram Seth

Ein ausgesprochen griechischer Gedanke – zudem ein tiefgreifender. Schönheit ist Terror

Die geheime Geschichte, Donna Tartt

Was wir vor uns sehen, ist nur ein winziger Ausschnitt der Welt

Mister Aufziehvogel, Haruki Murakami

Wahrscheinlich sind nur in einer Welt der Blinden die Dinge das, was sie wirklich sind

Die Stadt der Blinden, José Saramago

Englisch ist ein ungeeignetes Medium für die Wahrheit Südafrikas

Schande, J.M. Coetzee

Jeder Augenblick geschieht zweimal: innen und außen – und beide sind zwei verschiedene Geschichten

Zähne zeigen, Zadie Smith

Die beste Art, ein Geheimnis zu wahren, besteht darin, so zu tun, als gäbe es keines

Der blinde Mörder, Margaret Atwood

Es gab irgendetwas Unangenehmes, das seine Frau und seine Kinder vergessen wollten

Die Korrekturen, Jonathan Franzen

Es rührt alles vom selben Albtraum her – dem, den wir gemeinsam schufen

Der Gast, Hwang Sok-yong

Wie schade, dass man ein ganzes Leben braucht, um zu lernen, wie man leben muss

Extrem laut und unglaublich nah, Jonathan Safran Foer

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Glossar

Danksagungen

EINLEITUNG

Das Erzählen von Geschichten ist so alt wie die Menschheit. Es diente der Weitergabe wichtiger Ereignisse und Überzeugungen von Gemeinschaften. In Form von Mythen und Legenden wurde Geschichte von einer Generation zur nächsten überliefert. Sie boten Erklärungen für die Entstehung des Universums und die Geheimnisse der Schöpfung.

Mit den frühen Hochkulturen tauchten auch die ersten Schriftzeugnisse auf. Zunächst kam der Schrift eine rein praktische Funktion zu: Sie diente vor allem dem Festhalten von Handelsinformationen. Tausende in Ugarit (Syrien) gefundenen Keilschrifttafeln lassen bereits um 1500 v. Chr. ein komplexes Schriftsystem erkennen. Schon bald wurde die Schrift auch zum Bewahren bisher mündlich überlieferter Sitten und Gebräuche, gesellschaftlicher Ideen und Strukturen genutzt. Daraus gingen die ersten Beispiele geschriebener Literatur hervor: die epischen Erzählungen aus Mesopotamien, Indien und dem antiken Griechenland sowie die philosophischen und historischen Texte des alten China. Wie John Steinbeck es in seiner Dankesrede für den Nobelpreis so treffend sagte: »Literatur ist so alt wie die Sprache; sie entstand aus einem menschlichen Bedürfnis und hat sich seither nicht verändert – abgesehen davon, dass wir sie dringender benötigen denn je.«

»Ich fange mit dem ersten Satz an – und vertraue für den zweiten auf Gott, den Allmächtigen.«

Laurence Sterne

Miss Bingley aus Jane Austens Stolz und Vorurteil mag töricht gewesen sein, als sie erklärte: »Wie viel schneller bekommt man alles andere satt als ein Buch!« Doch vielen von uns geht es ähnlich: Literatur stillt auch heute noch ein menschliches Grundbedürfnis und öffnet unseren Geist für die Vielfalt der Welt. Es gibt jahrhundertealte Werke, die uns bis heute in ihren Bann ziehen, vielschichtige postmoderne Texte, die uns gleichermaßen fesseln und herausfordern, und neue Romane, deren Sprache so unverbraucht klingt, als wäre sie eben erst erfunden worden.

Die Definition von Literatur

Eine einfache Definition von Literatur könnte lauten: »alles, was geschrieben ist«. Der Begriff bezieht sich jedoch üblicherweise auf epische, dramatische und lyrische Werke, denen ein besonderer künstlerischer Wert, etwas Erhabenes, zugeschrieben wird. Auf der Grundlage dieser nicht exakt bestimmbaren Kriterien wird seit Mitte des 19. Jh. immer wieder aufs Neue ein literatischer Kanon (griech. »Maßstab«) zusammengestellt, eine Sammlung von Werken anerkannt hoher Qualität.

Dieser Literaturkanon bestand zunächst fast ausschließlich aus Werken der westeuropäischen Literatur. Doch seit Mitte des 20. Jh. stellen Kultur- und Literaturtheoretiker immer wieder infrage, inwieweit diese Liste von Werken »toter, weißer Europäer« als allgemeiner Maßstab gelten kann. Die Idee eines Kanons »großer Werke« bietet trotzdem nach wie vor einen nützlichen Orientierungsrahmen. Doch statt darin immer dieselben Titel aufzuführen, erstellt heute jede Generation ihren eigenen Kanon und hinterfragt dabei die Ideologien, Machtstrukturen und Ausschlusskriterien, die der bisherigen Auswahl zugrunde lagen. Dieser kritische Diskurs und die Einbeziehung von Entstehungsbedingungen der Literatur kommt uns Lesern zugute.

Auch im vorliegenden Buch sind zahlreiche der traditionell anerkannten »großen Werke« aufgeführt. Gleichzeitig wird erklärt, welchen Platz diese Werke innerhalb der Weltliteratur einnehmen und wie sie sich in der Vielfalt des Schreibens rund um den Globus verorten. Neben ihnen stehen Texte, in denen andere Stimmen zu Wort kommen, die durch die Vorherrschaft europäischer Literatur und aufgrund sozialer Konstrukte wie Kolonialismus und Patriarchat jahrhundertelang zum Schweigen verdammt waren.

Zur Werkauswahl

»Das Literaturbuch« unternimmt eine Reise durch die Literaturgeschichte der ganzen Welt. Als Wegmarke dienen mehr als 100 literarische Texte aus verschiedenen Kulturkreisen, sodass der Leser auch die eine oder andere Neuentdeckung machen wird. Die ausgewählten Werke repräsentieren jeweils eine Epoche oder einen Stil oder stellen eine literatische Strömung vor, deren Ansatz von anderen zeitgenössischen Autoren aufgegriffen und von nachfolgenden Generationen weiterentwickelt wurde. Die Werke sind chronologisch geordnet, um die gesellschaftlichen und politischen Hintergründe literarischer Neuerungen zu verdeutlichen: Zum Beispiel entwickelte sich die französische Literatur im 17. und 18. Jh. von Molières neoklassischen Charakterkomödien über Voltaires satirische Kommentare zum Optimismus der Aufklärung hin zur drastischen Beschreibung der dekadenten französischen Aristokratie zu Beginn der Französischen Revolution in Pierre Choderlos de Laclos Gefährliche Liebschaften. Derartige Entwickungen überschneiden sich unweigerlich, da die einen Autoren mit neuen literarischen Techniken experimentierten, die später Allgemeingut wurden, während andere literarische Traditionen weiterführten.

Über Listen lässt sich trefflich streiten – und vermutlich ließen sich die rund 100 in diesem Buch versammelten Werke problemlos durch 100 andere ersetzen. Wir betrachten sie nicht als die definitive Liste von Werken, »die man gelesen haben muss«. Stattdessen wird jedes vorgestellte Werk einer Epoche und einem Genre bzw. einem Stil zugeordnet und im Kontext verwandter literarischer Ereignisse und Meilensteine betrachtet. Dazu kommen Verweise auf Werke, die mit ihm verbunden sind, weil sie von ihm beeinflusst wurden oder es geprägt haben. Zur intensiveren Erkundung der literarischen Landschaft einer jeden Epoche werden über 200 weitere Leseempfehlungen gegeben.

»Manche Bücher lassen uns Freiheit – und manche befreien uns.«

Ralph Waldo Emerson

Literaturgeschichte

Vor rund 4000 Jahren wurden die ersten, auf mündlichen Überlieferungen basierenden Erzählungen wie das Gilgamesch-Epos aus Mesopotamien und das Mahabharata aus Indien in Versform niedergeschrieben. Reim, Rhythmus und Versmaß (Metrum) waren hilfreiche Gedächtnisstützen für Lieder und mündlich Tradiertes; diese poetischen Techniken machten sich diese ersten Schrifttexte zunutze. Viele der frühen Texte sind religiösen Ursprungs; heilige Texte wie die Bibel oder der Koran haben das Schreiben über Jahrhunderte geprägt. Das griechische Drama nutzte eine balladenartige Form und führte individuelle Charaktere, den Chor für Kommentare sowie die bis heute gültige Unterscheidung zwischen Tragödie und Komödie ein. Die orientalische Geschichtensammlung Tausendundeine Nacht entstammt unterschiedlichen Quellen; in den Prosaerzählungen finden sich Erzähltechniken, die später zu tragenden Säulen des modernen Romans wurden – wie die Rahmenhandlung, innerhalb derer eine oder mehrere Geschichten erzählt werden, die Technik der Vorwegnahme oder die Einführung wiederkehrender Motive.

Wenngleich die Literatur des Mittelalters reich an weltlichen Schlüsselwerken wie dem angelsächsischen Beowulf und höfischen Romanen ist, war sie im Westen doch von religiösen Texten auf Lateinisch und Griechisch dominiert. In der Renaissance öffneten neue philosophische Denkansätze und ein immenser Erfindergeist den Horizont für literarische Neuerungen. Treibende Kraft hinter dieser Entwicklung waren die Neuübersetzungen antiker griechischer und lateinischer Texte; sie befreiten die Wissenschaft vom Dogma der Kirche. Das humanistische Bildungsprogramm berief sich auf die Weisheit der Antike und umfasste Philosophie, Grammatik, Geschichte und Sprachen. Die Bibel wurde in die Volkssprachen übersetzt, sodass Christen nun direkt zu ihrem Gott sprechen konnten. Gutenbergs Druckerpresse brachte Bücher auch in die Häuser gewöhnlicher Menschen, und Autoren wie Geoffrey Chaucer und Giovanni Boccaccio machten das Alltagsleben zum Gegenstand der Literatur.

Der Siegeszug des Romans

Zu Beginn des 17. Jh. schenkten Miguel de Cervantes und Daniel Defoe der Welt Texte, die als frühe moderne Romane angesehen werden können – und auch die erste Ausgabe von Shakespeares Dramen wurde zu dieser Zeit veröffentlicht. Bis zum Ende des 18. Jh. etablierte sich der Roman als wichtigste literarische Ausdrucksform.

»Ein Wort nach einem Wort nach einem Wort ist Macht.«

Margaret Atwood

Ebenso wie in der bildenden Kunst werden auch Autoren bestimmten Epochen und Strömungen wie dem Barock oder dem Rokoko, einem Stil, einer Technik oder einem Kulturraum zugeordnet. Die Romantik etwa mit ihren gefühlsbetonten Texten und ihren eigenwilligen Charakteren entstand aus der deutschen Bewegung des Sturm und Drang. Die romantischen Dichter in England besangen die heilende Wirkung der Natur auf die menschliche Seele; ähnliche Themen griffen die amerikanischen Transzendentalisten auf. Immer mehr »Genres«, also literarische Untergruppen wie z. B. der Schauerroman (Gothic Novel), entstanden.

Im 19. Jh. wurde die Romantik von einer neuen Form des sozialen Realismus abgelöst. Er fand zunächst Ausdruck in Jane Austens Schilderungen aus den Salons des gehobenen englischen Bürgertums und Gustave Flauberts Darstellung französischer Provinzstädte, wurde aber auch zunehmend genutzt, um die schlechten Lebensbedingungen der Unterschicht darzustellen. Fjodor Dostojewski nannte seinen Roman Verbrechen und Strafe »fantastischen Realismus«; in den düsteren inneren Monologen des Mörders Raskolnikow finden sich Elemente eines Psychothrillers.

Mit der Weiterentwicklung des Romans differenzierten sich auch die Genres und Subgenres und das Vokabular zur Beschreibung verschiedener Schreibstile weiter aus: Die Spanne reicht vom dialogischen Briefroman bis zu den verschiedenen Arten des Entwicklungsromans, von der Dystopie bis zur Holocaustliteratur. Auch die literarische Sprache veränderte sich: Zum Beispiel vergößerten volkssprachliche Elemente die Reichweite der Literatur – das gilt gleichermaßen für die Grimm‘schen Märchen wie für die Bücher von Mark Twain und Harriet Beecher Stowe.

Zu Beginn des 20. Jh. veränderten wissenschaftliche Umwälzungen, technischer Fortschritt, die Industrialisierung und neue Kunstbewegungen die westlichen Gesellschaften tiefgreifend. Im Ersten Weltkrieg starb eine ganze Generation junger Männer. Es folgte ein regelrechter Sturm literarischer Experimente: Die Autoren suchten nach Formen, um die Angst und Entfremdung angesichts dieser sich verändernden Welt zum Ausdruck zu bringen, und arbeiteten mit Techniken wie der Montage oder dem Bewusstseinsstrom (Stream of Consciousness). Nach einer kurzen Periode des literarischen Optimismus ließ der Zweite Weltkrieg, von dem die Autoren auf ganz unterschiedliche Weise betroffen waren – als Kriegsberichterstatter und Propagandisten, durch Zensur, auf der Flucht, im Widerstand oder in der inneren Emigration –, die Literaturproduktion einbrechen.

Die globale Explosion

Nach der Erfahrung zweier grausamer Kriege war die Welt bereit für eine Veränderung. Im Westen wurde die Literatur in den 1950er- und 1960er-Jahren zu einer treibenden Kraft der Gegenkultur. Die Texte postmoderner Autoren und Theoretiker forderten den Leser weit mehr als die bisherigen Formen der Erzählung. Fragmente und nicht-linear erzählte Passagen fanden ebenso Eingang in den Roman wie magisch-realistische Elemente, Mehrdeutigkeit und unzuverlässige Erzähler. Zur selben Zeit lockerte sich die Kulturdominanz der westlichen, v. a. englischsprachigen Literatur. In Ländern wie Nigeria, Südafrika und Indien entstand eine postkoloniale Literatur, und mit Autoren wie Gabriel Garcia Márquez wurde eine außerordentlich kreative Gruppe südamerikanischer Autoren international populär. Heute singen die zuvor ungehörten Stimmen von Feministinnen und Bürgerrechtlern, Homosexuellen, Farbigen, Immigranten und indigenen Autoren mit im Kanon moderner Literatur, und die Grenzen zwischen »hoher« und populärer Kultur haben sich aufgelöst. Internationale Medienkonzerne, unabhängige Verlage und Internetpublikationen sowie die wachsende Zahl von Übersetzungen bringen moderne australische, kanadische, südafrikanische, indische, russische und chinesische Werke einem weltweiten Leserpublikum näher. Die riesige Bibliothek der Weltliteratur ist ein Fest der Verschiedenheit und erinnert uns zugleich daran, dass wir alle derselben Menschheit angehören.

»Lesen ist das einzige Mittel, mit dem wir in die Haut, die Stimme und die Seele eines anderen schlüpfen – unwillkürlich und manchmal hilflos.«

Joyce Carol Oates

HELDEN UND LEGENDEN

3000 V. CHR. – 1300 N. CHR.

um 2600 v. Chr.

Die ältesten bekannten Texte sind in sumerischer Sprache geschrieben und finden sich auf Tontafeln aus Abu Salabih (Südmesopotamien/Irak).

12.–11. JH. V. CHR.

König Wen von Zhou verfasst einen Kommentar zu einer alten Methode der Weissagung, aus dem später das Buch der Wandlungen (I Ging) wird.

UM 8. JH. V. CHR.

Die Homer zugeschriebenen epischen Gedichte des antiken Griechenlands, die Ilias und die Odyssee, entstehen.

508 V. CHR.

Mit der Übernahme einer demokratischen Verfassung in der griechischen Stadt Athen wird die griechische Klassik eingeleitet.

AB 2100 V. CHR.

Das Gilgamesch-Epos gehört zu den frühesten Beispielen der Schriftliteratur.

9.–4. JH. V. CHR.

In Indien werden die Sansrit-EpenMahabharata und Ramayana verfasst.

551–479 V. CHR.

Der Philosoph Konfuzius stellt mit den Fünf Klassikern einen frühen Kanon chinesischer Literatur zusammen.

5. JH. V. CHR.

Die griechischen Tragödiendichter Aischylos, Euripides und Sophokles wetteifern um den Titel des größten Dramatikers von Athen.

29–19 V. CHR.

Vergil schreibt sein Meisterwerk – die Aeneis –, das wohl bekannteste Epos in lateinischer Sprache.

618–907 N. CHR.

Die chinesische Lyrik (Shi) erreicht ihren Höhepunkt in der Tang-Dynastie mit Werken von Dichtern wie Li Bai und Du Fu.

930

Nordische Siedler gründen in Island das Althing, die gesetzgebende Versammlung (das Parlament) ihres neuen Freistaats.

UM 8.–13. JH.

Während des »Goldenen Zeitalters« des Islams erlebt die klassische arabische Poesie eine Blüte, und die ersten Erzählungen aus Tausendundeine Nacht entstehen.

UM 1175–1181

Mit Lanzelot führt Chrétien de Troyes im Kontext der Arthussage die Idee des höfischen Romans ein, dessen bedeutendster Vertreter er wird.

5. JH. N. CHR.

Der indische Dichter Kalidasa schreibt die Sanskrit-EpenRaghuvamsha und Kumarasambhava sowie das Theaterstück Shakuntala.

868

Das älteste gedruckte Buch – das Diamant-Sutra, ein buddhistischer Text – wird in China mithilfe des Block- oder Holztafeldrucks hergestellt.

8.–11. JH.

Das angelsächsische Epos Beowulf entsteht – es ist das älteste überlieferte epische Gedicht in altenglischer Sprache.

11. JH.

Murasaki Shikibus Geschichte vom Prinzen Genji und Sei Shonagons Kopfkissenbuch spielen vor dem Hintergrund des Lebens am japanischen Kaiserhof zur Heian-Zeit.

Schriftsysteme wurden zunächst zur Aufzeichnung von Verwaltungs- und Handelstransaktionen genutzt. Mit der Zeit wurden sie immer ausgefeilter und dienten zunehmend auch dem Bewahren alter Weisheiten, historischer Berichte und religiöser Vorschriften, die bis dahin nur mündlich weitergegeben worden waren. In allen alten Zivilisationen – ob in Mesopotamien, China, Indien oder Griechenland – bestand der erste Literaturkanon aus Texten zur Geschichte und Mythologie.

Die ältesten Werke der Literatur waren Epen. Diese Großgedichte erzählten in Versform Legenden von großen Kriegern oder Herrschern und ihren Kämpfen gegen Feinde und die Mächte des Bösen. Historische Ereignisse und mythologische Abenteuer wurden zu so spannenden wie einprägsamen Darstellungen des kulturellen Erbes eines Volkes kombiniert.

Geschichten von Göttern und Menschen

Die ersten großen Epen, darunter das Gilgamesch-Epos sowie die Sanskrit-Epen Mahabharata und Ramayana, erzählen vom Ursprung ihrer jeweiligen Zivilisation oder einem entscheidenden Moment ihrer frühesten Geschichte. Anhand der heroischen Taten eines Einzelnen oder einer Herrscherfamilie erklären sie zudem den Einfluss der Götter, oftmals durch den Kontrast zwischen deren Macht und den Schwächen menschlicher Helden.

Um dieses Thema kreisen auch die späteren, Homer zugeschriebenen griechischen Epen. Seine Helden, Achill und Odysseus, erscheinen nicht nur als edle Kämpfer im Krieg gegen Troja, sondern zugleich als zutiefst menschliche Charaktere, die sich mit dem ihnen zugedachten Schicksal und mit den eigenen Schwächen auseinandersetzen mussten.

Später entwickelten römische Dichter ihre eigene Form des Epos und übernahmen, wie Vergil in der Aeneis, die Geschichte vom trojanischen Krieg, um einen Gründungsmythos für Rom zu erschaffen. Insofern bilden Homers Epen mit ihrer inhaltlichen Tiefe und poetischen Struktur das Fundament für die westliche Literatur.

Das griechische Drama

Ein weiteres Produkt antiker griechischer Erzähltradition ist das Drama. Es geht auf kultische Gesangsriten zurück. Durch die schauspielerische Darstellung von Charakteren gewann die Form an Lebendigkeit und wurde immer komplexer. Das Theater war ein integraler Bestandteil der griechischen Demokratie, und die Tragödien und Komödien von Dramatikern wie Aischylos, Sophokles und Euripides lockten Tausende von Besuchern an.

Von Europa bis Asien

In Nordeuropa überlieferte man Geschichten weiterhin mündlich; erst ab dem 8. Jh. begannen die Kulturen im Norden, ihre Erzählungen zu verschriftlichen. Das früheste vollständig erhaltene angelsächsische Epos Beowulf erzählt die Geschichte und Mythologie der skandinavischen Vorfahren der Engländer. Die später entstandenen Islandsagas gehen ebenfalls auf die nordischen Mythen zurück.

Zur gleichen Zeit ließ sich der Adel Zentraleuropas von professionellen Dichtern unterhalten. Einige bezogen ihre Themen aus der Mythologie der antiken Griechen und Römer. Die Troubadoure in Südfrankreich besangen die Abenteuer Karls des Großen und seiner Männer im Kampf gegen die muslimischen Mauren und Sarazenen. Nordfranzösischen trouvères wiederum stellten Erzählungen von Ritterlichkeit und höfischer Liebe aus dem Umfeld des legendären König Artus in den Mittelpunkt ihrer Lieder.

Weiter im Osten – während des »Goldenen Zeitalters« der islamischen Kultur und Wissenschaft im ausgehenden Mittelalter – waren epische Erzählungen wie diejenigen in Tausendundeine Nacht überaus geschätzt, wenngleich als höchste Form der Literatur die Poesie galt. Auch im alten China sah man Heldenlegenden eher als eine Art Folklore an. Die ersten schriftlichen Zeugnisse klassischer chinesischer Literatur befassten sich mit Geschichte, Philosophie und kulturellen Bräuchen. Neben diesen Sachtexten setzten einige Gedicht- und Liedsammlungen über Jahrhunderte den Maßstab für die chinesische Dichtkunst, die während der Tang-Dynastie ihren Höhepunkt erreichte.

Japan, das lange Zeit von der chinesischen Kultur dominiert wurde, entwickelte erstmals im 11. Jh. eine eigene Literatur in japanischer Sprache: Aus den Chroniken der Herrscherdynastien entstanden fiktionale Erzählungen vom Leben am Hof der Heian-Kaiser, die in gewisser Weise die Entstehung des europäischen Romans vorwegnahmen.

NUR DIE GÖTTER WOHNEN EWIG UNTER DER SONNE

DAS GILGAMESCH-EPOS (AB 2100 V. CHR.)

IM KONTEXT

EINORDNUNG

Literatur der Bronzezeit

FRÜHER

30. Jh. v. Chr. In Mesopotamien und Ägypten tauchen die ersten Schriftsysteme auf.

um 2600 v.Chr. Die ältesten bekannten (nicht-literarischen) Texte werden in Abu Salabih (Mesopotamien/Irak) auf Tontafeln festgehalten.

um 2285–2250 v. Chr. Die früheste bekannte Autorin, die akkadische Prinzessin und Hohepriesterin Enheduanna, lebt und schreibt in der Stadt Ur (Mesopotamien/Irak).

SPÄTER

um 1700–110 v. Chr. In Nordwestindien wird der Rigveda, der erste von vier heiligen Hindutexten, den Veden, verfasst.

um 1550 v. Chr. Das Ägyptische Totenbuch ist der erste Totentext der Ägypter, der auf Papyrus statt auf Stein oder Ton geschrieben wurde.

Die älteste Schrift tauchte zu Beginn der Bronzezeit (um 3300–1200 v. Chr.) in Mesopotamien auf. Keilschriftsymbole – zunächst aus Zahlzeichen für die Buchhaltung entwickelt – wurden zu einem Instrument zur Niederschrift der sumerischen und akkadischen Sprache.

Auf den 1853 von dem syrischen Altorientalisten Hormuzd Rassam gefundenen Tontafeln finden sich Textfragmente mit Geschichten um den legendären König Gilgamesch von Uruk; sie gehören zu den ältesten Beispielen der Schriftliteratur. Die ehemals mündlich überlieferten Erzählungen verbanden Historisches mit Mythologischem.

Vom Tyrannen zum Helden

Das Gilgamesch-Epos, wie die Geschichtensammlung genannt wurde, erzählt vom tyrannischen Herrscher der mesopotamischen Stadt Uruk und der Lektion, die er zu lernen hat, um ein Held zu werden. Um Gilgamesch für seine Arroganz zu strafen, schicken die Götter den »wilden« Urmenschen Enkidu. Nach einem Zweikampf werden die beiden jedoch Freunde und bestehen gemeinsam eine Reihe von Abenteuern. Diese Entwicklung erzürnt die Götter, und sie verurteilen Enkidu zum Tode. Gilgamesch verzweifelt angesichts des Verlusts seines Freundes und wird sich gleichzeitig der eigenen Sterblichkeit bewusst.

Der zweite Teil des Epos schildert Gilgameschs Suche nach dem Geheimnis des ewigen Lebens und seine Rückkehr nach Uruk – als nach wie vor sterblicher, doch nun weiser und edler Herrscher.

»Das Leben, das du suchst, wirst du niemals finden.«

Gilgamesch-Epos

SICH VON DEN ALTEN TUGENDEN ZU NÄHREN, BRINGT BEHARRLICHKEIT

BUCH DER WANDLUNGEN (12.–11. JH. V. CHR.), KÖNIG WEN VON ZHOU ZUGESCHRIEBEN

IM KONTEXT

EINORDNUNG

Die Fünf Klassiker

FRÜHER

um 2800 v. Chr. Chinas mythologischer erster Kaiser Fu Xi entwickelt eine Methode der Weissagung mithilfe von Trigrammen – die Basis des chinesischen Schriftsystems.

SPÄTER

um 500 v. Chr. Das Buch der Riten schildert chinesische Sitten und Hofzeremonien; es wird zunächst Konfuzius zugeschrieben.

um 200 v. Chr. Während der Han-Dynastie wird der Konfuzianismus zur Staatsphilosophie. Die »Fünf Klassiker« werden zum konfuzianischen Kanon erklärt – das herausragenste Werk ist laut Kaiser Wu das Buch der Wandlungen.

960–1279 In der Song-Zeit erweitert Zhu Xi den Kanon um die vor 300 v. Chr. entstandenen »Vier Bücher«.

Das Buch der Wandlungen ist ein Art Orakelbuch. Die ihm zugrundeliegende Methode der Weissagung soll der legendäre Kaiser Fu Xi entwickelt haben. Unter dem Namen Zhou yi stellte der Zhou-König Wen (1152–1056 v. Chr.) 64 Hexagramme zusammen, die möglichen Kombinationen beim Wurf von Münzen oder Schafgarbenzweigen entsprechen. Jede Kombination besteht aus sechs Zeichen und wird mit bestimmten Situationen und Umständen assoziiert, zu denen Wen Deutungen anbietet. Spätere Gelehrte fügten in den sogenannten »Zehn Flügeln« weitere Kommentare hinzu; zusammen wurde daraus das Buch der Wandlungen.

Das Buch der Wandlungen (Yijing oder I Ging) gilt als einer der Fünf Klassiker – neben dem Buch der Urkunden (Shujing), dem Buch der Riten (Lijing), dem Buch der Lieder (Shijing) und dem Buch der Frühlings- und Herbstannalen (Chunqui); sie alle soll nach damaliger Auffassung der große Dichter und Philosoph Konfuzius (551–479 v. Chr.) zusammengestellt haben. Seine Gesellschaftsphilosophie bildete seit 200 v. Chr. das ideologische Fundament Chinas.

Viel später, im 12. Jh., erweitert der Gelehrte Zhu Xi den Kanon des Konfuzianismus: Er fasste kürzere Texte, die ebenfalls Konfuzius zugeschrieben wurden oder auf seinen Lehren basieren, zu den »Vier Büchern« zusammen.

Quelle der Weisheit

Die Fünf Klassiker bildeten zusammen mit den Vier Büchern den Bezugsrahmen für den Konfuzianismus als Staatsideologie. Auf den ersten Blick scheint das Buch der Wandlungen nicht recht in dieses rationale Denkgebäude zu passen. Gleichwohl hat es seine Berechtigung neben der konfuzianischen Philosophie, Geschichte, Etikette und Dichtkunst: Bis heute nutzen es die Menschen in China nicht nur als Orakelbuch, sondern auch als praktischen Ratgeber, in dem beschrieben wird, wie »der Edle« sich in bestimmten Situationen verhalten sollte.

WELCH FREVELTAT BEGEHE ICH, OH KRISHNA?

MAHABHARATA (9.–4. JH. V. CHR.), VYASA ZUGESCHRIEBEN

IM KONTEXT

EINORDNUNG

Die großen indischen Epen

FRÜHER

3. Jt. v. Chr. Der Legende nach schreibt der Weise Vyasa die Urfassung des Mahabharata.

um 1700–1500 v. Chr. Aus mündlich überlieferten Texten entstehen die vier in Sanskrit verfassten Veden (Rigveda, Yajurveda, Samaveda, Atharvaveda), die ältesten heiligen Schriften des Hinduismus.

SPÄTER

um 5.–4. Jh. v. Chr. Valmiki schreibt Ramayana. Sein Shloka (»Ruf«), wird zur Standardstrophenform der Sanskritepik.

um 250 v. Chr.–1000 n. Chr. Entstehung der Puranas, die zu den wichtigsten hinduistischen Texten gehören. Sie umfassen eine Genealogie der Götter und Erzählungen zur Entstehung des Universums.

Die Heldenepen des indischen Subkontinents gehören zu den ältesten literarischen Texten der Welt und entwickelten sich aus einer langen Tradition mündlicher Überlieferung und Rezitation. Wie in anderen frühen Literaturen entwickelten sich auch diese Texte über Jahrhunderte hinweg aus einer Mischung von Mythen, Legenden und historischen Berichten, bis sie schließlich verschriftlicht wurden.

Neben der Heldendichtung gehören zu den frühen indischen Schriften die Veden. Diese zentralen Texte des Hinduismus wurden seit Mitte des 2. Jt. v. Chr. zusammengetragen. Aufgezeichnet wurden all diese Texte in Sanskrit, der klassischen Sprache der Brahmanen und der Literatur im alten Indien, aus der sich zahlreiche indoeuropäische Sprachen entwickelten.

»Dichter erzählten sie einst, Dichter erzählen sie heute; auch künftig werden Dichter diese Geschichte auf Erden erzählen.«

Mahabharata

Bis zum 1. Jh. v. Chr. bildeten die Veden gemeinsam mit den beiden großen Versepen Mahabharata und Ramayana das Herzstück der Sanskritliteratur. Obwohl sich das Ramayana aus Mythen, historischen Erzählungen und Volksmärchen zusammensetzt, scheint es das Werk eines einzelnen Dichters zu sein und wird in der Regel dem Weisen Valmiki zugeschrieben. Die Entstehungsgeschichte des bekannteren und umfangreicheren Mahabharata ist weit länger und komplexer.

Ein Geschenk Vishnus

Erste Fassungen des Mahabharata entstanden vermutlich im 9. Jh. v. Chr. In der seither tradierten Form aus rund 100 000 Doppelversen (Shlokas), die in 18 Bücher (Parvas) untergliedert sind, wurde es erst rund 500 Jahre später niedergeschrieben. Neben dem Kampf zweier verfeindeter Königsfamilien erzählt das Epos die Geschichte Indiens und damit zusammenhängend die des Hinduismus. Gleich zu Beginn erläutert der Erzähler des ersten Buches, Adi Parva (Buch der Urspünge): »Alles, was hierin enthalten ist, findet sich auch anderswo. Was aber nicht hier ist, ist auch nirgend sonst.«

Der Legende zufolge – und so steht es auch in der Einleitung – wurde das Mahabharata von dem Dichter und Weisen Vyasa niedergeschrieben; er soll im 3. Jt. v. Chr. gelebt haben und eine Inkarnation des Hindugottes Vishnu gewesen sein. Über weite Strecken der Erzählung fungiert Vaisampayana, ein Schüler Vyasas, als Erzähler, und noch zwei weitere Erzähler tauchen auf: der Barde Ugrasrava Sauti und Sanjaya, der Wagenlenker am Hof der Kaurava.

Vaisampayana erzählt, dass Vyasa den vollständigen Text in einer einzigen Sitzung dem elefantenköpfigen Gott Ganesha diktierte. Folglich erhielt die Erzählung erst viele Jahre später, als Sauti sie bei einem Treffen heiliger Männer wiedergab (wie es im Adi Parva, dem ersten Buch des Mahabharata geschildert wird) seine endgültige Form. Diese kompliziert verschachtelte Rahmenhandlung spiegelt den Weg der verschiedenen historischen Schichten und Versionen bis zu der Fassung, die wir heute kennen, wider. Und sie ist typisch für Verschränkung von Mythologischem, Historischem und Religiösem im Mahabharata. Im zentralen Handlungsstrang geht es um die Spaltung der Herrscherfamilie der Bharatas in Nordindien, die Schlacht bei Kurukshetra und ihre Folgen; doch durch die Einführung Krishnas – einer weiteren Inkarnation des Gottes Vishnu – erhält die Erzählung eine mythische Dimension. In zahlreichen Nebenplots und Exkursen – darunter das berühmte Lehrgedicht der Bhagavad Gita – werden anhand von Allegorien Themen wie Familienbindung und -konflikte, Pflichten und Mut, Schicksal und Wahlfreiheit als Elemente des Dharma (einer komplexen Vorstellung vom »rechten Weg«) erläutert.

Vyasa diktiert dem elefantenköpfigen Gott Ganesha das Mahabharata (»die große Geschichte der Bharatas«), das große Epos um zwei Königfamilien in Nordindien.

Familienbande

Das Mahabharata erzählt von der Spaltung des herrschenden Kuru-Klans in zwei rivalisierende Familien, die Kauravas und die Pandavas. Sie sind Nachkommen des blinden Prinzen Dhritarashtra und seines Bruders Pandu. Die Feindschaft beginnt, als Pandu aufgrund von Dhritarashtras Behinderung an dessen Stelle König wird. Pandu bleibt aufgrund eines Fluches kinderlos. Doch als die Götter ihm Söhne zeugen, scheint seine Nachfolge gesichert. Die 100 Söhne Dhritarashtras jedoch sehen sich um den Thron betrogen; und nach der Kröning von Yudhishtira, des ältesten der Pandava-Prinzen, betrügen sie diesen beim Würfelspiel. Er verliert alles und die Pandavas müssen ins Exil gehen. Jahre später kehren die fünf Söhne Pandavas zurück und beanspruchen wieder den Thron. Bei Kurukshetra kommt es zu mehreren Schlachten. Arjuna, der zweitälteste Pandava-Prinz, zieht mit seinem Vetter und Gefährten, dem Wagenlenker Krishna, nur zögernd in den Krieg – und erst, nachdem Krishna ihn davon überzeugt hat, dass es seine Pflicht ist, für das Recht seiner Familie zu kämpfen. Der Krieg gerät zum Blutbad, in dem fast alle Kauravas getötet werden. Die wenigen Überlebenden nehmen Rache: Sie überwältigen und ermorden die Pandavatruppen im Schlaf. Nur die fünf Pandava-Prinzen überleben und löschen nun ihrerseits die Familie der Kauravas aus.

Arjunas Wunsch, sich dem Dharma entsprechend zu verhalten, führt dazu, dass er zögert, bevor er handelt; doch sein Wagenlenker Krishna führt ihn auf den rechten Weg.

»Der Mensch hat nicht die Macht, über sein eigenes Glück oder Unglück zu bestimmen. Er ist wie eine Marionette, die an vielen Schnüren bewegt wird.«

Mahabharata

Yudhishtira wird erneut König, doch der Sieg schmeckt ihm bitter: Ausführlich schildert das Epos die schrecklichen Folgen des Krieges. Schließlich stirbt Krishna durch einen Unfall, und die Pandavas begeben sich auf den langen und gefahrvollen Weg in den Himmel, wo sie eine letzte Prüfung bestehen.

Moralisches Dilemma

Zu den zentralen Themen des Mahabharata gehört das Dharma – und zwar in zweierlei Hinsicht: als Frage des rechten Handelns in jeder Situation und als Herausforderung angesichts unserer menschlichen Schwäche und der Macht des Schicksals. Wie Kripa, einer der Kauravas, im zehnten Buch (Sauptika Parva, dem »Buch vom nächtlichen Überfall«) sagt: »Alle Menschen sind zwei Kräften unterworfen: dem Schicksal und dem persönlichen Bemühen. Alles ist von diesen beiden abhängig.« Was gut und was böse ist, ist selten eindeutig – und nur durch die Aussöhnung entgegengesetzter Interessen wie Liebe und Pflicht können wir uns aus dem Kreislauf von Leben, Tod und Wiedergeburt befreien.

Gandhari, die Frau des blinden Dhritarashtra hat die Augen verbunden, um an seiner dunklen Welt teilzuhaben. Nach dem Gesetz des Karma ist er wegen schlechter Taten in einem früheren Leben blind.

In jeder Episode des Mahabharata werden menschliche Schwächen und Stärken einander gegenübergestellt, befinden sich die Figuren in einem moralischen Dilemma. Der Kampf zwischen Richtig und Falsch, um den es in dem verheerenden Krieg zwischen den Kauravas und Pandavas in immer neuen Varianten geht, erweist sich als überaus komplex und letztendlich zerstörerisch. Erst gegen Ende des Epos erleben wir als Leser, wie sich die Charaktere ihrem spirituellen Schicksal stellen: Nach zahllosen Tragödien und Konflikten erlangen die Protagonisten ewige Glückseligkeit – doch auf der Erde gehen die Kämpfe der Menschen weiter.

Kulturelle Grundpfeiler

Diese vielfältigen Handlungsstränge und Themen des Mahabharata tragen bis heute zur Popularität des Epos bei. Es war so erfolgreich, dass sich über Jahrhunderte nur das Ramayana als zweites großes Sanskritepos neben ihm behaupten konnte. Das Ramayana ist zwar kürzer und weniger spannend, besticht aber durch seine Konsistenz und elegante Poesie. Gemeinsam beflügelten sie eine Schule der Sanskritdichtung, die zwischen dem 1. und 7. Jh. ihre Blütezeit erlebte. Die Großepen werden als Quellen hinduistischer Weisheit, indischer Geschichte und Mythologie in Indien kulturell ähnlich hoch geschätzt wie Homers Ilias und Odyssee im Westen.

»Wenn die Götter einer Person eine Niederlage bescheren, blenden sie als Erstes ihren Geist, damit sie die Dinge falsch sieht.«

Mahabharata

Die Bhagavad Gita

Im Zentrum des Mahabharata steht die Schlacht zu Kurukshetra. Sie beginnt im sechsten Buch, dessen Kapitel 25 bis 42 als Bhagavad Gita, »Gesang des Erhabenen« bekannt wurden. Vor Beginn der Schlacht erkennt der Pandavaprinz Arjuna im gegnerischen Kauravaheer Familienangehörige und senkt seinen Bogen. Doch sein Vetter und Gefährte Krishna erinnert ihn an seine Pflicht, diesen Krieg zu führen.

Der philosophische Dialog zwischen den beiden entfaltet sich in den 700 Strophen der Bhagavad Gita. Sie wurde zu einer zentralen Schrift des Hinduismus und erläutert Begriffe wie Dharma (der rechte Weg), Karma (Absichten und ihre Folgen) und Moksha (die Erlösung aus dem Kreislauf von Tod und Wiedergeburt). Obwohl sich Krishnas Rat ausdrücklich auf Arjunas Pflicht zu kämpfen bezieht, geht es in metaphorischer Hinsicht um die widersteitenden Kräfte des Guten und Bösen und die Entscheidung dazwischen, die alle Menschen treffen müssen.

SINGE DEN ZORN, OH GÖTTIN, DES ACHILL

ILIAS (UM 8. JH. V. CHR.), HOMER ZUGESCHRIEBEN

IM KONTEXT

EINORDNUNG

Das griechische Heldenepos

FRÜHER

ab 2100 v. Chr. Das älteste schriftlich fixierte literarische Werk, das Gilgamesch-Epos, kursiert in verschiedenen Versionen in sumerischer Sprache.

9. Jh. v. Chr. In Indien erscheint das Mahabharata.

SPÄTER

um 8. Jh. v. Chr. Das Homer zugeschriebene Epos Odyssee erzählt die Fortsetzung der Geschichte von Odysseus, einer Hauptfigur der Ilias.

um 700 v. Chr. Während Homers Epen ihre endgültige Form annehmen, beschreibt Hesiod in Theogonie die Entstehung der Welt und der antiken griechischen Götter.

1. Jh. v. Chr. Die griechischen Epen werden zum Vorbild für die Werke römischer Dichter wie Vergil, Horaz und Ovid.

Ein Epos ist ein erzählendes Gedicht über einen Helden als Repräsentant einer bestimmten Kultur. Es berichtet von seinem Streben und seinen Prüfungen, von seinem Antrieb und seinen Entscheidungen und legt auf diese Weise die moralischen Prinzipien einer Gesellschaft dar.

In vielen Kulturen gehören Epen zu den frühesten Literaturformen. Die Geschichten wurden zunächst mündlich weitergegeben und im Laufe der Zeit immer weiter ausgeschmückt, neu interpretiert, in feste Formen gegossen und schließlich niedergeschrieben. So wurden sie zum Grundstein der Literaturgeschichte einer Kultur. Epen erzählen meist von einer Vielzahl von Charakteren, überspannen mehrere Generationen und weisen eine komplexe Erzählstruktur auf. Es ist kein Zufall, dass das griechische Wort epos sowohl »Erzählung« als auch »Gedicht« bedeutet: Die Versform machte es einfacher, die Epen auswendig zu lernen und zu rezitieren.

Der trojanische Krieg

Im antiken Griechenland kursierten zahlreiche Geschichten über den Trojanischen Krieg – einen Konflikt zwischen den Achäern (eine Allianz griechischer Stadtstaaten) und der Stadt Troja. Die ersten und berühmtesten Erzählungen darüber waren die Ilias und die Odyssee; beide werden Homer zugeschrieben. Diese Epen wurden zwar von historischen Ereignissen inspiriert – in den fünf Jahrhunderten vor Niederschrift der beiden Epen gab es tatsächlich Kriege zwischen Troja und Griechenland –, die Charaktere und Handlungsstränge jedoch sind frei erfunden. Zu Zeiten Homers betrachteten die Griechen diese Erzählungen allerdings als historische Berichte über die Heldentaten ihrer Vorfahren.

»Auf in die Schlacht.«

Ilias

Etwa im 8. Jh. v. Chr. begannen die Griechen, ihre Epen schriftlich festzuhalten; die gebundene Sprache (Gedichtform) der mündlichen Überlieferung behielt man bei. Altgriechische Epen haben ein festes Versmaß, den epischen Hexameter: Jede Zeile besteht aus sechs Rhythmuseinheiten (Versfüßen) und diese wiederum aus einer langen und zwei kurzen Silben. Diesen Versfuß nennt man Daktylus. Kleine Variationsmöglichkeiten geben diesem Grundschema die nötige Flexibilität, um Eintönigkeit zu vermeiden.

Griechen und Trojaner erhielten Beistand von den Göttern, die den Krieg nutzten, um ihre eigenen Kämpfe untereinander auszutragen. Hera, Athene und Poseidon unterstützten die Griechen, Apoll, Aphrodite und Artemis die Trojaner; Zeus blieb weitgehend neutral.

Eine Geschichte von Göttern und Menschen

Die Ilias erzählt die Geschichte des trojanischen Krieges aus der Sicht des griechischen Kriegers Achill. Teile der Geschichte werden in der Rückblende erzählt oder als Vorverweis auf die Zukunft. In diese Haupthandlung sind diverse Nebenstränge eingewoben, Episoden, die zum Beispiel Einblick in das Leben einzelner Protagonisten geben.

Welche Teile dieser komplexen Erzählung wir Homer verdanken und was auf die generationenübergreifende Überlieferung und Überarbeitung zurückgeht, lässt sich heute unmöglich feststellen. Das Ergebnis verbindet Geschichte, Mythen und Legenden, Abenteuer und menschliche Tragödien und enthält alles, was eine gute Erzählung ausmacht.

Das Epos der Ilias ist sehr umfangreich: Es besteht aus 24 Büchern mit insgesamt mehr als 15 000 Versen. Statt die Geschichte chronologisch zu erzählen, verwendet Homer einen in Epen gängigen Kunstgriff: Er wirft den Leser mitten ins Geschehen (in medias res, wie der römische Dichter Horaz es nennt) und lässt seine Geschichte im letzten Jahr des Krieges beginnen, der bereits seit neun Jahren wütet. Zwar holt Homer immer wieder aus, um Hintergründe der Ereignisse zu erläutern; die Kenntnis der Konfliktursachen konnte er bei den zeitgenössischen Lesern jedoch voraussetzen.

Lange hielt man Troja für einen mythologischen Ort. Heute geht man davon aus, in Anatolien (Türkei) die Reste der Stadt gefunden zu haben, die die Griechen auch Ilios nannten.

Die Ursachen des Krieges

Die Wurzeln des Trojanischen Krieges gehen zurück auf Ereignisse rund um die Heirat der Meeresnymphe Thetis und des griechischen Helden Peleus, eines Gefährten des Herakles. Zur Feier erschienen zahlreiche Götter und Göttinnen, darunter auch Hera, Athene und Aphrodite. Zwischen den drei Göttinnen kam es zum Streit darum, wer die Schönste sei. Um ihn zu beenden, bat Göttervater Zeus Paris, den Sohn des Königs von Troja, in dieser Sache zu entscheiden. Aphrodite bot Paris die Hand Helenas, der schönsten Frau der Welt, als Bestechungsgeschenk an. Helena aber war bereits mit Menelaos, dem Bruder des Königs Agamemnon von Mykene – eines griechischen Stadtstaates – verheiratet. Daraufhin entführte Paris die schöne Helena und lieferte damit den Anlass für den Krieg.

Die Erzählung setzt ein, als Agamemnons Soldaten versuchen, Helena zu befreien. Schon die erste Zeile des ersten Buches – »Besinge, oh Göttin, den Zorn des Peleiaden Achill« bereitet den Leser auf den Krieg vor und macht klar, dass es sich um die Geschichte eines persönlichen Rachefeldzugs handelt und die Götter mit im Spiel sind. Parallel zum Krieg wird die Geschichte Achills erzählt, des tapfersten Kriegers der Griechen.

»Der Sieg wechselt unter den Männern.«

Ilias

Als Paris gefragt wird, wer die schönste Göttin sei, versucht Hera, ihn mit einem Reich zu bestechen, und Athene mit Ruhm; Aphrodite aber verspricht ihm Helena, die schönste Frau der Welt.

Die Macht des Zorns

Zorn ist eines der zentralen Themen der Ilias – er manifestiert sich im Krieg und scheint in den Beweggründen der Protagonisten auf. Da ist z. B. Agamemnons und Menelaos’ Wut über Helenas Entführung – und auf der anderen Seite der Zorn des Achill, der ihn zu einem gefürchteten Krieger macht. Er lässt sich immer wieder provozieren, und sein Zorn beschränkt sich weder auf die Trojaner noch auf menschliche Gegner: Einmal gerät er so außer sich, dass er sogar gegen den Flussgott Xanthus, den Stammvater der Trojaner, kämpft.

Achills Zorn liegt ein Ehrgefühl zugrunde, das – wie das der Griechen insgesamt – durch Respektlosigkeit und Ungerechtigkeit verletzt wurde. Im Konflikt zwischen Pflicht, Schicksal, Ehrgeiz und Loyalität kann sich dieser Zorn auch nach innen wenden. Zu Beginn der Ilias zürnt Achill dem griechischen König und Feldherrn Agamemnon, der ihm Briseis – eine Frau, die Achill als Lohn für seine Heldentaten im Krieg versprochen war – wegnahm. Unfähig, seinen Zorn direkt gegen den König zu richten, weigert sich Achill, weiterzukämpfen. Erst als sein Freund Patroklos im Kampf durch Hektors Schwert fällt, kehrt er zurück aufs Schlachtfeld und findet in dem Sohn des Priamos ein neues Ziel für seinen Zorn.

Geschichte zweier Helden

Hektor ist Armeeführer und gilt als der mächtigste und edelste Krieger Trojas. Sein Charakter steht im scharfen Kontrast zu dem Achills, sodass hier zwei einander entgegengesetzte Haltungen aufeinandertreffen: Achill wird von seiner Wut angetrieben, doch zugleich auch durch das edlere Motiv, die Ehre seines Königs und seines Landes zu verteidigen, und nicht zuletzt will er den Tod seines Gefährten Patroklos rächen. Hektor kämpft aus Loyalität gegenüber Troja und seiner Familie. Er beschützt seinen jüngeren Bruder Paris, der durch Helenas Entführung den Krieg auslöste, und steht seinem Vater Priamos, dem als weise und gütig geschilderten König, treu zur Seite. Achill ist der professionelle Soldat mit nur schwachen Familienbanden. Hektor hingegen zieht nur widerstrebend in den Krieg, doch verteidigt entschlossen Heimat und Familie.

Homer schildert beide als edle, doch mit Fehlern behaftete Männer: Ihre Charakterzüge und Erlebnisse sind Metaphern für widerstreitende gesellschaftliche und individuelle Werte, für das Aufeinandertreffen von Pflicht und Verantwortungsgefühl mit Loyalität und Liebe. Keiner von beiden ist ganz im Recht oder Unrecht; doch in diesem Krieg kann nur einer siegen – auch wenn am Ende beide Helden sterben. Achill tötet Hektor und wird selbst von einem tödlichen Pfeil an der Ferse getroffen. Trotzdem siegt letztlich der Heldenmut des Achill über die verwandtschaftlichen Bindungen Hektors. Damit bestätigt die Ilias, dass es ehrbare Gründe gibt, um zu kämpfen, und dass es ruhmvoll sein kann, Krieg zu führen.

Götter und Schicksal

Homer wusste, dass seine Leser, die Griechen, das Ende der Geschichte kannten – denn hätte Troja den Krieg gewonnen, hätte es keine griechische Zivilisation gegeben. Den Griechen war der Sieg vorherbestimmt – und um diese Unabwendbarkeit zu betonen, webt Homer in die Ilias zahlreiche Prophezeiungen und Erzählungen zum Einfluss der Götter und des Schicksals auf den Ausgang des Krieges ein.

Für die Griechen der Antike waren die Götter Unsterbliche, die mit bestimmten Fähigkeiten in ihren jeweiligen Bereichen herrschten; sie waren keineswegs (wie in späteren Religionen) allmächtige Gottheiten. Manchmal beeinflussten sie die Menschen, doch in der Regel überließen sie sie sich selbst. In der Ilias allerdings erleben wir einige Götter, die aus Eigeninteresse in den Krieg um Troja eingreifen. Die Entführung Helenas, der Tochter des Göttervaters Zeus und der Ätiolierin Leda, war der Anlass. Paris raubte sie mit Aphrodite als Komplizin. Bereits damit hatten sich im Olymp, dem Sitz der Götter, zwei Lager gebildet. Und es gibt weitere Verbindungen zwischen den Göttern und den Sterblichen – Thetis z. B. war Achills Mutter –, die die Götter veranlassen, in die Angelegenheiten der Menschen einzugreifen, sich vor ihre Schützlinge zu stellen und deren Feinden das Leben zu erschweren. Apoll etwa ist ein grimmiger Gegner der Griechen und bereitet ihnen zu verschiedenen Gelegenheiten Ärger. Als z. B. Patroklos, als Achill verkleidet, in die Schlacht zieht, zerschlägt Apoll ihm die Rüstung, woraufhin Hektor Patroklos tötet. Angesichts des toten Freundes schwört Achill Rache, und wieder greifen die Götter ein: Seine unsterbliche Mutter Thetis schenkt ihm eine von Hepheistos, dem Gott des Feuers, geschmiedete Rüstung.

»Unter allem, was auf der Erde atmet und kriecht, ist nichts Armseligeres als der Mensch.«

Ilias

Die Krieger Hektor und Achill unterscheiden sich stark in Persönlichkeit und Motivation; das bietet Homer viele Ansatzpunkte, um die Frage nach dem Heldenideal zu erörtern.

»Ich entschloss mich, was kein anderer Sterblicher auf Erden: jenes Mannes Hand dem Mund zu nähern, der mir die Kinder gemordet.«

Ilias

Dass die Menschen derartige Hilfestellungen benötigen, betont den entscheidenden Unterschied zwischen ihnen und den Göttern: ihre Sterblichkeit. Helden ziehen in den Krieg und wissen um die Todesgefahr; das Wissen, dass alle Menschen eines Tages sterben müssen, tröstet sie. Nicht nur die Protagonisten der Ilias sind sterblich, auch was sie schaffen, ist nicht von Dauer. Ihnen ist klar, dass der Krieg nicht nur Menschenleben fordert, sondern einen der beiden Staaten zerstören wird – und selbst die siegreiche Zivilisation wird eines Tages ihr Ende nahen sehen. Diesen Punkt betont Homer mehrfach, indem er den Leser durch Prophezeiungen in die Zukunft der Protagonisten und Trojas blicken und implizit wissen lässt, dass dies das Schicksal jeder Gesellschaft ist. Was fortlebt, ist der Ruhm der Helden und ihrer großen Taten – von ihnen künden Erzählungen, die über Generationen weitergegeben werden.

Jenseits des Konflikts

Nach all dem Krieg, Blutvergießen und Zorn endet Homers Epos mit Aussöhnung und Frieden. In einer besonders bewegenden Szene bittet der alt gewordene König Priamos Achill um die Herausgabe der Leiche seines Sohnes Hektor. Achill zeigt sich berührt von der Bitte des alten Mannes; ein Waffenstillstand auf Zeit ermöglicht ein angemessenes Begräbnis. Auch Achills Wut legt sich. Doch der Leser weiß, dass das noch nicht das Ende ist: Die Schlacht wird weitergehen, Troja wird fallen und auch Achill wird sterben.

Priamos küsst die Hand Achills und bittet ihn um den Leichnam seines Sohnes Hektor, den Achill im Kampf getötet hat: Dieser reagiert mit Mitgefühl auf Priamos’ Trauer.

Homers zweites großes Epos, die Odyssee, greift einige Handlungsfäden aus der Ilias auf und erzählt das Schicksal eines anderen griechischen Helden nach dem Krieg in Troja: das des Königs Odysseus von Ithaka, den die Römer Ulysses nannten. In der Odyssee erzählt der Titelheld von der Zerstörung Trojas und vom Tod Achills – allerdings nur als Hintergrund für die Geschichte seiner eigenen Irrfahrten auf dem Weg nach Hause.

Grundpfeiler der westlichen Literatur

Die Wirkung der Ilias und der Odyssee auf die Literatur der antiken Griechen und Römer und der gesamten späteren westlichen Literatur lässt sich kaum hoch genug einschätzen. Diese ersten literarischen Werke aus Europa bilden zugleich monumentale Grundpfeiler der epischen Erzählweise. Homers gekonnter Einsatz komplexer und sehr anschaulicher Gleichnisse verleiht seiner Poesie eine bisher nicht dagewesene Tiefe, und seine meisterhafte Beherrschung des Hexameters bringt seine Verse zum Klingen. Griechen wie Römer übernahmen in ihrer Poesie Homers Versmaß, und die von ihm genutzte Dialektmischung wurde zur griechischen Literatursprache.

Vor allem aber wusste Homer Stoffe der mündlichen Erzähltradition über Volkshelden in eine literarische Form, das Epos, zu gießen. Er prägte die Charakteristika des Epos, z. B. den Haupterzählstrang, der den Weg des Helden nachzeichnet, vor dem Hintergrund einer historischen Ereigniskulisse, in die unzählige Nebenhandlungen (Episoden) eingewoben sind. Und er setzte den Maßstab für den Subtext eines Epos: das Aufeinandertreffen individueller Werte mit entgegengesetzten gesellschaftlichen.

Die Odyssee erzählt vom Tod Achills durch einen Pfeil aus dem Köcher des Paris; gelenkt vom Gott Apoll, traf er ihn an seiner einzigen verwundbaren Stelle: der Ferse.

Die Ilias und die Odyssee inspirierten zahlreiche griechische Dichter zu Epen über ähnliche Themen. Auch im antiken Rom gehörten Homers Epen zum Kanon; dort inspirierten sie Dichter zur Entwicklung einer eigenständigen Poesie in lateinischer Sprache, die in Vergils Aeneis ihren Höhepunkt fand: Das Epos ist auch eine Hommage an Homer und nimmt Trojas Fall zum Ausgangspunkt seiner Erzählung.

»Zeus weiß, kein Zweifel – und jeder Unsterbliche ebenfalls –, welcher Krieger in seinem Tod all dies beenden wird.«

Ilias

Von überzeitlichem Einfluss

Doch der Einfluss von Homers Epen blieb nicht auf die Antike beschränkt: Auch im Mittelalter wurden seine Werke gelesen und ihre Geschichten in zahllosen Varianten immer wieder neu erzählt. Sie können ebenso als Vorläufer mittelalterlicher Sagen gelten wie als Urform des Romans. Im Zeitalter der Klassik gaben Homers Epen schließlich den Anstoß zur Entwicklung einer ganz neuen Form des Dramas. Seit dem 20. Jh. folgen neue, auf ein Massenpublikum zielende Erzählformen wie Kinofilme und Fernsehserien dem epischen Modell; sie verdanken Homer nicht nur ihre Struktur – die der Heldenreise –, sondern auch ihre kulturelle Relevanz.

Die Homerische Frage

Die beiden Großepen der Antike, die Ilias und die Odyssee, werden dem Dichter Homer zugeschrieben, doch man weiß nur wenig über ihn. Seit der Zeit des griechischen Historikers Herodot (5. Jh. v. Chr.) kursieren sehr unterschiedliche Angaben über Homers Lebensdaten, seinen Wohnort und Einzelheiten aus seiner Biografie. Altphilologen sprechen in diesem Zusammenhang von der »Homerischen Frage«: Wer war Homer? Hat er tatsächlich gelebt – und wenn ja, wann? War er der alleinige Autor der antiken Epen? Handelt es sich um eigenständige Erfindungen oder um die Niederschrift von Gedichten, die bis dahin mündlich überliefert worden waren? Viele Wissenschaftler gehen von Letzterem aus und sind der Auffassung, dass der Text von einer Vielzahl von Autoren überarbeitet und immer weiter ausgeschmückt wurde. Beweise gibt nicht – und daher ist die Homerische Frage nach wie vor unbeantwortet.

Homer lebte lange vor der Zeit realistischer Porträtkunst. Diese Büste basiert auf Bildern des Dichters aus dem 2. Jh. v. Chr.

WIE GRAUENVOLL KANN DAS WISSEN UM DIE WAHRHEIT SEIN, WENN AUS IHR KEINE HILFE ERWÄCHST!

KÖNIG ÖDIPUS (UM 429 V. CHR.), SOPHOKLES

IM KONTEXT

EINORDNUNG

Klassisches griechisches Drama

FRÜHER

um 7. Jh. v. Chr. Dithyramben – kultische Gesänge und Tänze eines Chores – werden zu Dionysos’ Ehren in Athen und Delos aufgeführt.

um 532 v. Chr. Thespis tritt als erster Schauspieler auf.

um 500 v. Chr. Der Dichter Pratinas führt das Satyrspiel ein, eine heitere Dramenform.

458 v. Chr. Uraufführung der Orestie des Aischylos, der einzigen erhaltenen klassischen antiken Trilogie.

431 v. Chr. Euripides’ Drama Medea schockiert das Publikum mit seinem Realismus.

SPÄTER

423 v. Chr. Aristophanes nimmt mit seiner Komödie Die Wolken die Athener und insbesondere Sokrates aufs Korn.

Mit einem Aufstand, dem Sturz des Tyrannen Hippias und der Errichtung einer Demokratie läutete der Stadtstaat Athen um 510 v. Chr. die griechische Klassik ein. Zwei Jahrhunderte lang war Athen nicht nur die politische Macht in der Region, sondern auch ein intellektuelles Zentrum, in dem Philosophie, Kunst und Literatur eine Blüte erlebten, die die gesamte westliche Zivilisation beeinflussen sollte.

Die klassische griechische Kultur war geprägt von den Errungenschaften der Gelehrten, Künstler und Autoren in Athen; sie postulierten die ästhetischen Werte der Klarheit, Form und Balance, denen die klassische Architektur ein Denkmal setzte. Die auf den Menschen ausgerichtete Weltsicht förderte die Entstehung einer relativ neuen literarischen Form, des Dramas, das sich aus religiösen Chor-Aufführungen zu Ehren des Gottes Dionysos entwickelte.

Die Geburt des Dramas

Zu Beginn der griechischen Klassik entwickelten sich diese kultischen Darbietungen von vorwiegend musikalischen Zeremonien hin zu dem, was wir heute unter einem Drama verstehen: einer von Schauspielern dargebotenen Geschichte. Diese neue Form der Unterhaltung wurde überaus populär und bildete den Höhepunkt der alljährlichen Dionysienspiele, die mehrere Tage dauerten und bis zu 15 000 Zuschauer anzogen. Autoren reichten Stücke zur Aufführung ein – meist in Form einer Tragödientrilogie, gefolgt von einem heiteren Stück – und wetteiferten um Auszeichnungen. Drei Dramatiker führten die Gewinnerliste im 5. Jh. v. Chr. an: Aischylos (525 / 524–456 / 455 v. Chr.), Euripides (484–406 v. Chr.) und Sophokles (497/496–406/405 v. Chr.). Ihre Beiträge – mehrere Hundert Stücke – setzten neue Maßstäbe für die Kunst der Tragödie. Aischylos, der älteste der drei, führte zahlreiche, bis heute mit der Form der Tragödie verbundene Neuerungen ein: Er setzte einen zweiten Schauspieler ein, sodass Dialoge möglich wurden und er den dramatischen Konflikt sehr unmittelbar umsetzen konnte. Wo zuvor der Chor die Handlung präsentiert hatte, standen jetzt die Schauspieler im Zentrum; der Chor bekam nun eine die Handlung gliedernde und kommentierende Funktion.

Das Theater in Delphi besteht aus einer Spielfläche, der Orchestra und den halbkreisförmigen Sitzreihen; es wurde im 4. Jh. v. Chr. erbaut und bot Platz für rund 5000 Zuschauer.

Euripides wagte einen stärkeren Realismus und reduzierte die Bedeutung des Chores noch mehr, indem er vielschichtige Charaktere komplex interagieren ließ.

Bruch der Konventionen

Doch es waren die Dramen des Sophokles, die als Höhepunkt des klassischen griechischen Dramas angesehen wurden. Nur sieben seiner insgesamt 123 Tragödien sind überliefert. Unter ihnen ist König Ödipus das herausragendste, eines von drei Stücken (neben Ödipus von Kolonos und Antigone), die Sophokles über den mythischen König von Theben schrieb. Anders als Aischylos, der die Konvention der Tragödientrilogie einführte, konzipierte Sophokles jedes seiner Stücke als eigenständige Einheit; sie wurden nicht chronologisch, sondern im Abstand von mehreren Jahren geschrieben und aufgeführt. König Ödipus gilt als Musterbeispiel für die Struktur der klassischen griechischen Tragödie: Nach einem Prolog folgt die Einführung der Charaktere; in einzelnen Epeisodien – von Schauspielern getragenen Handlungsteilen – entwickelt sich, unterbrochen von den Kommentaren des Chores, die Handlung bis zum Exodos, dem Schlussteil des Stücks nach dem letzten Chorlied. Innerhalb dieses Rahmens führte Sophokles als Neuerung einen dritten Schauspieler ein und erweiterte so den Handlungsspielraum; damit schuf er die Grundlagen für die psychologische Spannung, die wir heute mit dem Begriff »Drama« verbinden.

Die Entwicklung der griechischen Tragödie

Eine Tragödie wie diese erzählte üblicherweise die Geschichte eines Helden, dem ein Unglück geschieht, das ihn – aufgrund seines Schicksals oder durch das Eingreifen der Götter – in sein Verderben führt.

Im Zuge der Weiterentwicklung der klassischen Tragödie wurde diese Schicksalswende zunehmend als Folge einer Charakterschwäche oder eines Fehltritts seitens des Helden interpretiert – eine »tragische Schuld«. Bei den tragischen Ereignissen in König Ödipus spielen sowohl Schicksal als auch Charakter eine Rolle. Dabei wird der Protagonist keineswegs schwarzweiß gezeichnet: Zu Beginn des Stücks erscheint er als respektabler Herrscher von Theben, an den sein Volk sich wendet, um von einem Fluch befreit zu werden. Doch im weiteren Verlauf des Dramas offenbart sich seine unwissentliche Verstrickung mit ebendiesem Fluch.

Der Fluch trägt zur geheimnisvollen Atmosphäre bei, die die besten klassischen Tragödien auszeichnete. Die Untergangsstimmung erwuchs nicht zuletzt aus der Tatsache, dass die Zuschauer viele der Geschichten – die von Ödipus gewiss – gut kannten. Auf diese Weise entsteht tragische Ironie: das Publikum, das das Schicksal des Protagonisten kennt, wird Zeuge seines ahnungslosen Voranschreitens auf dem Weg ins Verderben. In König Ödipus steigert Sophokles den Eindruck der Unausweichlichkeit noch, indem er mehrfach Bezug auf Prophezeiungen nimmt, die viele Jahre zurückliegen und die Ödipus und seine Frau Iokaste ignoriert haben. Das Drama erzählt weniger vom Niedergang des Ödipus als vielmehr von den Ereignissen, die die Bedeutung seiner früheren Taten enthüllen.

»Am schmerzlichsten sind jene Qualen, die man frei sich selbst erschuf.«

König Ödipus

Ein altes Mosaik zeigt Masken mit übertriebener Mimik, wie sie Schauspieler in den Tragödien getragen haben, um die Darstellung der Charaktere zu unterstützen.

Die Vorhersage