Bin ich echt schon so alt? - Erika Plueckthun - E-Book

Bin ich echt schon so alt? E-Book

Erika Plueckthun

4,9

Beschreibung

"Es ist ihr Leben, daran gibt es keinen Zweifel. Und sie selbst sitzt tatsächlich hier vor ihrem Spiegel, betrachtet ihr Gesicht und schaut tiefer, immer tiefer, schaut in ihr Leben. Episoden blitzen auf. Lange vergessen geglaubte Geschehnisse, die unterschiedlichsten Bilder, stürmen auf sie ein. Erinnerungen lassen Gefühle hervorsprudeln. Sie versteht nicht, was da mit ihr geschieht, es stellt sich keine Ordnung ein. Die Gedanken wollen sich nicht einengen lassen, wollen sich keiner bestimmten Reihenfolge unterordnen. Immer wieder neue drängen sich in den Vordergrund. Was macht der Spiegel nur mit ihr?" Lisa fühlt sich wie im Karussell. So viele Facetten aus ihrem Leben blitzen auf, wirbeln um sie herum, schwirren vorbei. Sie taumelt mitten durch bewegte Zeiten, durch verrückte Erlebnisse, mal alleine, mal mit ihrer großen Liebe Andreas.

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Herzlichen Dank an meine Helfer und Unterstützer:

Malaika, Olga, Marius und Burkhard

Dies sind fiktive Geschichten!

Ähnlichkeiten mit real existierenden, lebenden oder verstorbenen

Personen sind rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Lisa und ihr Spiegel: Liebeskummer und Clochemerle

Andreas - Ebbe in der Geldbörse –der erste Tag

Lisas Beginn in der Schublade

Ferienjob - und täglich einmal Loreley

Abschied – Eifersucht und der Fiat 500

„Denn ich kann ohne dich nicht sein“ (Raymond Peynet)

Ob blond, ob braun - Freundinnen und der Lloyd

Lisa - das Spiegelbild und die Lesesucht

Teenager Sorgen: Klamotten, Freunde, Partys

Führerschein Erwerb nach alter Sitte

Mamas Auto - Papas Abkürzungen

Das perfekte Team: Der Gentleman und seine Fahrerin

Privat Fahrschule - Feuertaufe vor der Polizei

Kofferradio will verdient werden: Ferienjob

Abenteuerliche Urlaube mit Familie

Aufregung in Marseille

Andreas, verrückter Verführer

Frankreich, wir kommen!

Männer und ihr Jagdtrieb

Der heimtückischer Brunnen am Fuße des Mont Ventoux

La Provence, mon amour

Leichtsinn und Glück – die Sache mit der Verhütung

Nicht nur für die Schule wurde gelernt, nein, auch fürs Leben

Abenteuerliche Fahrt in die Schweiz

Brave Mädchen - und keine Eltern weit und breit

Cassis – Wer Paris gesehen hat und nicht Cassis, der hat gar nichts gesehen (nach Frédéric Mistral)

Cassis - die Verliebten - die Liebe – die Pille

Alaaf, Helau und Corps Studenten

Ein Schrank und sein Geheimnis

Und noch einmal Marienkäfer - bockig und eigenwillig

Tansania - ein Traum wird wahr

Exotik pur Mauritius / Sri Lanka / Seychellen

Tunesien - Wildnis Restaurant und falsches Klo

Lisa und ihr Spiegel:

Liebeskummer und Clochemerle

Tja, da sitzt sie nun, Lisa, die Frau, die auf ein ganzes Leben zurück blickt, die auf ihr Leben zurück blickt, auf ein schon ziemlich langes, erfülltes Leben.

Sie kann es gar nicht fassen, dass es ihr Leben ist und nicht das einer Romanfigur aus einem der unzähligen Bücher, die sie gelesen hat. So lange währt es schon? So viel ist geschehen? Das kann doch nicht wahr sein. Ich fühle mich ganz und gar nicht alt, bin doch noch eine recht junge Frau. Ja, schön wäre es, ist aber nicht so. In Gedanken jung, Im Herzen jung, gut, das stimmt, aber an Jahren?

Lieber gar nicht weiter darüber nachdenken. Bloß keine Jahre aufzählen oder gar zusammen rechnen! Dürfen Zahlen hier eine Bedeutung haben? Es ist ihr Leben, daran gibt es keinen Zweifel. Und sie selbst sitzt tatsächlich hier vor ihrem Spiegel, betrachtet ihr Gesicht und schaut tiefer, immer tiefer, schaut in ihr Leben.

Episoden blitzen auf. Lange vergessen geglaubte Geschehnisse, die unterschiedlichsten Bilder, stürmen auf sie ein. Erinnerungen lassen Gefühle hervor sprudeln. Sie versteht nicht, was da mit ihr geschieht, es stellt sich keine Ordnung ein. Die Gedanken wollen sich nicht einengen lassen, wollen sich keiner bestimmten Reihenfolge unterordnen. Immer wieder neue drängen sich in den Vordergrund. Was macht der Spiegel nur mit ihr?

Kaum sieht sie sich als junge, verliebte Frau, schon drängt sich das nächste Bild in den Vordergrund: Baby Lisa liegt in einer Schublade, ihrem ersten Kinderbettchen. Und wieder ein neues Bild: Lisa als junges Mädchen mit Teenager Sorgen, nein, jetzt sitzt sie im Zimmer eines Studentenheims, stimmt nicht, schau doch genauer hin: sie fährt lachend und singend durch Frankreich. Und schon steuert sie als Vierzehnjährige oder Fünfzehnjährige ein Auto, ihr Papa sitzt neben ihr. Und jetzt schlendert sie mit Eltern und Bruder im Hafenviertel von Marseille an Restaurants vorbei. Jetzt schnorchelt sie im glasklaren Wasser über Korallengestein. Stopp! Lisa ist verwirrt, ihr wird schwindlig. Das hat keinen Sinn! Sie schließt die Augen, sie versucht sich zu sammeln und murmelt:

„Hör auf, Spiegel! Ich kann dir so nicht folgen! Komm, Spiegel, so geht das nicht! Du springst zu schnell von Bild zu Bild, du wechselst zu stark zwischen den Jahren und Jahrzehnten. Wie soll ich mich da zurecht finden? Du musst dich schon entscheiden, was ich sehen soll, was du mir zeigen willst!“

Sie lehnt sich zurück und zwingt sich, ruhig zu atmen, sie will sich erinnern, sehr gerne möchte sie sich erinnern, sie will Einzelheiten erkennen, sie will sich vor Augen führen, wie sie in verschiedenen Lebenssituationen mit Problemen umgegangen ist, wie sie sie gelöst hat. Sie will Erlebnisse aus der Vergangenheit aufgezeigt, beschrieben und vielleicht sogar, jetzt aus dem sicheren Abstand heraus, erklärt bekommen bzw. sich selber erklären können.

Aber doch bitte nicht in dieser wirren rasanten Form! Es muss keine chronologische Darlegung werden. Nein, gerade das Hin- und Herspringen in ihrem Leben stellt sie sich als besonders spannend und aufregend vor. Aber die Wechsel dürfen dann nicht gar so schnell aufeinander folgen.

Sie will die Lebensabschnitte, die ihr vorgeführt werden, verstehen, will in schönen Erinnerungen schwelgen, will genießen, will sich ausführlich in alte Zeiten versetzen lassen, will vieles noch einmal durchdenken können, sich an immer mehr Einzelheiten erinnern, will sich wie ein Zuschauer im Theater im bequemen Sitz zurücklehnen und sich vom Geschehen auf der Lebensbühne, auf ihrer ganz individuellen Lebensbühne, fesseln lassen.

Lisa atmet tief durch, öffnet die Augen und fragt sich, wie sie nun am besten mit den Angeboten des Spiegels umgehen soll. Sie überlegt nicht lange. Ihr kommt rasch eine Idee. Sie weiß, was ihr helfen wird. Sie weiß, was genau zu ihrer gegenwärtigen Stimmung passt. Sie holt sich eine Flasche aus ihrem Weinkeller, öffnet sie mit geheimnisvollem Lächeln und schenkt sich ein Glas Rotwein ein. Ein Beaujolais muss es sein. Genau den braucht sie jetzt. Mit dem blutroten Wein im Glas setzt sie sich wieder vor ihren Spiegel. Sie hebt das halb gefüllte Glas und prostet ihrem Spiegelbild und allem, was sich dahinter verbergen mag, zu. Der Wein funkelt verführerisch. Und sie weiß, das ist der Schlüsselreiz für die erste Erinnerung, der perfekte Auslöser. Sie sieht nicht mehr sich, nicht mehr den Spiegel, nicht mehr den Wein. Ein Buch erscheint vor ihrem inneren Auge.

Als hielte sie das Buch in Händen, sieht sie den bunten Einband vor sich, auf dem neben dem Titel und dem Namen des Autors auch lachende Personen zu sehen sind, die sich anscheinend nur mühevoll auf den Beinen halten können und jeweils ein mit Rotwein gefülltes Glas in den Händen balancieren. Ein großes Glas, zur Hälfte mit funkelndem Wein gefüllt, rechts unten auf dem Cover, drängt sich dem Betrachter besonders in den Blick.

„Clochemerle“. Dieses Buch von Gabriel Chevallier, das sie so oft gelesen und vorgelesen hatte, das fällt ihr sofort ein. Es geht um skurrile Menschentypen in einer kleinen Stadt im Weinbaugebiet Beaujolais. Alles, was man braucht, um sich ein authentisches kleines französisches Weindorf vorstellen zu können, hat Chevallier liebevoll, charmant und witzig, immer mit einem Augenzwinkern, beschrieben. So lernt man einen Bürgermeister kennen, der den Bau einer Bedürfnisanstalt für Männer für dringend nötig hält, um seine Wiederwahl zu sichern. Die Männer des Dorfes, die sich nach außen zwar überaus stolz und machohaft zeigen, müssen ihre Frauen sonntags zum Gottesdienst begleiten. Alle fügen sich in ihr Schicksal und trotten stumm hinter ihren Frauen her. Einige Durchtriebene schlüpfen aber kurz vorm Betreten der Kirche zur Seite und versuchen, sich in Richtung Brasserie zu verkrümeln. Nur selten entwischen sie ihren Frauen, die sie mit strengem Blick oder energischem Armziehen wieder auf den Pfad der Tugend zurückholen.

Nach dem Gottesdienst ist dann allerdings kein Halten mehr und sie strömen in die Brasserie, um ihre vom inbrünstigen Singen so ausgedörrten Kehlen mit Wein zu kühlen. Ist ja klar, dass sie danach dringende Bedürfnisse verspüren. Was liegt da also näher, als so ein Bauwerk direkt gegenüber von der Kirche, neben der Kneipe, zu errichten?

Man schmunzelt und amüsiert sich über einen sehr menschelnden Priester, der in enger Verbundenheit mit seiner Haushälterin lebt und eventuelle Sünden regelmäßig mit einem befreundeten Pfarrer eines Nachbardorfes austauscht und sich so Absolution holt.

Man lacht laut über spezielle Bräuche, die von männlichen Dorfbewohnern und tapferen Burschen der Umgebung mit größter Sorgfalt gepflegt und erhalten werden. So stellt das jährlich stattfindende Wein-Wett-Trinken den absoluten Höhepunkt eines Clochemerle Jahres dar. Jeder Wettkampf wird bis zum bitteren Ende, sprich, bis auch der allerletzte Mitstreiter besinnungslos von seinem Hocker gefallen ist, durchgeführt. Auch wenn der Sieger nichts mehr wahrnimmt, wird er gebührend gefeiert.

Man lächelt über die Wirtin, die ihre üppigen Reize immer wieder gerne durch großzügige Ausschnitte ihrer Blusen allen lechzenden Männerblicken sowie den neidischen Frauenblicken präsentiert, sei es an der Theke oder wenn sie sich weit aus ihrem Wohnzimmer Fenster zur Straße hin hinaus lehnt. Verständlicherweise hält sich die Freude ihres Ehemannes dabei in engen Grenzen.

Diese attraktive Wirtin stellt den perfekten Kontrast dar zu Jungfer Putet, dem überaus sittenstrengen, prüden, vertrocknet wirkenden alten Mädchen des Dorfes, das so gar keine Reize vorzuweisen hat. Dafür aber fällt Putet umso mehr durch ihren unermüdlichen Kampf gegen Unsitte, Unmoral und nun insbesondere gegen das Pissoir auf.

Die Wände dieses von Männern als dringend nötig empfundenen Bauwerks reichen ihnen nur bis knapp über die Bauchmitte und ermöglichen den Benutzern daher einen sehr guten Rundumblick. Sie fühlen sich wie die Jäger der Urzeit, die ihr Gebiet vor tausenden von Jahren durchstreiften und überschauen beim Benutzen dieser Örtlichkeit wie einst ihre Vorfahren das umliegende Revier, sind demnach nie unaufmerksam, sondern immer auf der Hut vor nahendem Unheil. Gleichzeitig erlauben die recht niedrigen Seitenmauern tiefere Einblicke ins Innere, aber nur, wenn man sich weit genug aus einem Fenster im Obergeschoss des gegenüber liegenden Hauses beugt, dabei so hoch wie möglich auf die Zehenspitzen stellt und das Pissoir und vor allem seine Benutzer genau in Augenschein nimmt, wie Jungfer Putet es mit empörtem Eifer tut, um dann voller Abscheu wegen des skandalösen Anblicks gegen diese Bedürfnisanstalt zu wettern.

Lisa war fest überzeugt, genau solche Typen, wie die im Buch so treffend charakterisierten auch in ihrer Nachbarschaft schon gesehen zu haben.

Obwohl sie beide es ahnten oder sogar wussten, dass der von ihnen gesuchte Ort nicht wirklich existierte, sondern nur fiktiv war, machten sich Lisa und ihr Liebster, nennen wir ihn Andreas, kurz nach ihrem Kennenlernen auf den Weg nach Frankreich und auf die ausgiebige Suche nach diesem Städtchen Clochemerle. Natürlich war das ein von vornherein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Das störte sie aber keineswegs bei ihrer intensiven Suche. Das echte Clochemerle fanden sie somit nicht, aber sie fanden viele andere „Clochemerles“ und vor allem viele Menschen, die ganz sicher im echten Clochemerle wohnen würden, gäbe es diesen Ort tatsächlich, die zumindest perfekt hierhin gepasst hätten.

Woher kam diese Überzeugung nur? Was ließ sie beide immer wieder in dem Buch blättern, daraus vorlesen, über die Schilderungen lachen und unermüdlich Clochemerle suchen? Hatte vielleicht auch der Beaujolais Schuld, den Lisa und Andreas natürlich ausgiebig kosten mussten? Jedes Dorf, das sie entdeckten, bot ja seine speziellen Weinsorten zur Probe an. Es war nicht einfach, den besten aus diesem großen Angebot heraus zu schmecken. Immer wieder bemühten sie sich gewissenhaft und gründlich. So mussten sie manche Flasche leeren, um zu einem Urteil gelangen zu können.

Sie scheiterten dennoch. Es gelang ihnen nicht, den einzigen, den wahren, den besten Beaujolais herauszufinden. Sie konnten abschließend nur kichernd feststellen, Beaujolais schmeckt vorzüglich und ist genau richtig, um total verliebte Paare auf total verrückte Clochemerle Suche zu schicken. Meine Güte, waren sie verliebt gewesen! Andreas hatte sie nur wenige Wochen zuvor aus ihrer immer trübseliger werdenden Stimmung herausgerissen. Wie ein Wirbelsturm war er in ihr Leben geprescht. Ohne viel nachzufragen, wer sie war, wie sie ihr Leben geordnet hatte, wer zu ihr gehörte, ja, ohne überhaupt den Gedanken aufkommen zu lassen, es könne einen anderen Mann als ihn in ihrem Umkreis geben, hatte er Lisa wie eine alte Bekannte begrüßt und regelrecht beschlagnahmt. Sie war ihm, seinem Auftreten, seinem betörenden Charme ausgeliefert. Dieser Mann verstand es, sie zu beeindrucken, sie zu umgarnen.

An diesem Tag ihres Kennenlernens saß Lisa in ihrem Studentenheim Doppelzimmer, das sie sich nun schon mit der dritten Kommilitonin, endlich aber einer, die zu einer richtigen Freundin geworden war, teilen musste. Sie hatte wieder einmal auf einen Anruf gewartet, auf den Anruf!

Ohja, dieser Anruf, dieser anscheinend so lebenswichtige Anruf, nur für den hatte sie eine lange Zeit existiert. So lange, bis es ihrer Freundin endlich gelungen war, sie davon zu überzeugen, sich wieder an ein normales Leben, an ein munteres Studentenleben anzupassen, wieder auszugehen, wieder mit anderen Menschen, natürlich auch Männern, Kontakte zu knüpfen. Bis dahin war sie kaum dazu bereit gewesen, ihr Zimmer oder gar ihr Studentenheim mehr als unbedingt nötig zu verlassen, schon gar nicht, um mit Freunden etwas zu unternehmen.

Aber er kam nur höchst selten, dieser Anruf, vielleicht einmal in der Woche, manchmal seltener. Und der Anrufer, ein Mann, in den sie sich vor über einem Jahr Hals über Kopf verliebt hatte, der fünf Jahre älter war als sie und der so bestimmend war, dieser Mann, Torsten, der Anrufer, kam noch seltener.

Natürlich schrillte das Telefon auf dem Flur sehr oft und jedes Mal rannte Lisa voller Vorfreude zum Apparat, riss den Hörer von der Gabel, um in den meisten Fällen enttäuscht zu werden, da der Anruf nicht ihr gegolten hatte. Aber wenn es dann tatsächlich einmal für sie bimmelte, jemand also an ihre Türe klopfte und laut „Telefon für dich, Lisa!“ rief, so war das oft der Moment gewesen, an dem sie sich gerade nicht in ihrem Zimmer aufgehalten hatte.

Man musste ja schließlich auch einmal einkaufen, in die Uni oder mal unter die Dusche oder mit anderen auf einem anderen Flur klönen oder abends gemeinsam ein Bierchen trinken. Das verzieh ihr Anrufer Torsten aber nicht, sondern er fühlte sich genötigt, vielleicht zur Strafe, vielleicht zwecks Erziehung, die nächste längere Anruf- und natürlich auch Besuchspause einzulegen. Er ließ sie eine Weile zappeln, baute darauf, dass ihr schlechtes Gewissen von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag anwachsen würde. Anfangs gelang ihm das auch bestens.

Erst einige Zeit später rief er dann wieder an und machte ihr heftige Vorwürfe. Schließlich hätte er doch wohl erwarten können, sie anzutreffen, wenn er sich von seinem bisschen Freizeit mühevoll Minuten zum Telefonieren abgerungen hatte. Und überhaupt, wo war sie denn gewesen? War sie etwa mit einem Mann zusammen gewesen? Wer war der andere? Kannte er ihn? Hatte sie etwa Spaß gehabt? Hatte sie etwa gemeinsam mit anderen etwas unternommen? Wie kam sie nur dazu, wo sie doch ihn, ihren Torsten, hatte! Was für eine Freundin hatte er sich da nur ausgesucht! Er wählt sich die Finger wund an der Drehscheibe seines Telefons – Handys gab es ja noch nicht – und sie flaniert in der Welt herum. Naja, jetzt hat sie es sich selber zuzuschreiben, dass er sie nicht besuchen wird. Sie hat letzte Woche seine Zeit vergeudet, hat jetzt also seine gesamte Planung durcheinander gebracht, so dass er heute auf keinen Fall zu ihr kommen kann. Tja, selber schuld! „Denk das nächste Mal daran, sei am Telefon, wenn ich anrufe!“

Kleinlaut sah sie dann ihre vermeintlichen Verfehlungen ein und gelobte Besserung. Infolgedessen traute sie sich noch weniger, ihr Zimmer oder gar das gesamte Haus zu verlassen. War sie diesem Mann etwa hörig? Ja. Das war sie. Warum? Tja, warum?

Und warum kam er nicht regelmäßiger zu ihr? Warum eigentlich nicht täglich? Schließlich wohnte sie jetzt ganz in der Nähe seines Heimatortes und so anstrengend und besonders zeitfressend war sein Beruf nun wirklich nicht, dass er sie nicht besuchen hätte können. Liebte er sie denn überhaupt? Oder hielt er sich sie nur als Lückenbüßer für besonders langweilige Tage, an denen sich eben nichts Besseres finden ließ? All diese Fragen entstanden im Laufe der Zeit, nicht zuletzt durch die kritischen Hinweise ihrer Freundin, aber sie ließ sie erst nach vielen Monaten des Wartens und Hoffens zu. Erst allmählich gewann ihr Verstand wieder Oberhand und erlaubte logisches Denken und sie begann wieder, wie ein vernünftiger Mensch zu urteilen.

Viel hatte sie nie von ihm gehabt. Weder bei gemeinsamer Freizeitgestaltung noch bei intimen Dingen. Einmal, ein einziges Mal, ganz am Anfang ihrer Beziehung hatte er sie in einen Taumel ihr bis dahin unbekannter, aufwühlender Gefühle entführt und damit wohl so stark gebunden. Das musste doch Liebe sein, so hatte sie gedacht. Dann aber wurde er übervorsichtig. Er hatte panische Angst, von einem Mädchen eingefangen zu werden, wollte nie „heiraten müssen“. Also hielt er sie auf Distanz. Liebe bestand fortan nur aus recht mechanischem, wenig gefühlvollem Petting. Er beherrschte nicht einmal das besonders gut. Vielleicht war es auch Absicht, vielleicht wollte er sie gar nicht so liebkosen, erst recht nicht verwöhnen, dass sie viel Freude daran hatte? Er selber kam immer auf seine Kosten, ihm gefiel es anscheinend sehr gut, so wie es war. Und kaum hatte er sich wieder erholt, hatte er nur noch einen Gedanken: Waschen! Ganzkörperdusche! Hände waschen! Hände besonders gründlich schrubben! Welch seltsame Vorstellungen er gehabt haben muss? Fast schon krankhaft. Was hatte er ihr eigentlich unterstellt? Hatte er gemeint, sie sei darauf aus, ihn durch eine Schwangerschaft an sich zu binden? Ausgerechnet sie, die gerade begonnen hatte, erwachsen zu werden und ihre Freiheit zu genießen. Sie, die vorhatte, gar nicht zu heiraten, der ein eigen bestimmtes freies Leben ohne Zwänge vorschwebte. Doch diese Erkenntnisse kamen erst viel später, als sie Jahre von Torsten getrennt war und kopfschüttelnd aus der Distanz ihre Dummheit und seine Unverschämtheit, ja Boshaftighkeit, erkennen konnte.

Warum nur hatte sie geglaubt, ihn derartig zu lieben? Er behandelte sie wie einen Gegenstand. Gegenstände haben nun einmal keine Gefühle, die kann man hin und her schubsen, ganz nach Belieben. Auf Gegenstände muss man nur wenig achten. Rücksicht muss man nur nehmen, damit man in bestimmten Situationen seinen Vorteil aus ihnen schöpfen kann. Man holt sie bei Bedarf aus ihrer fast vergessenen Ecke hervor, stellt sie nach Gebrauch wieder weg und lässt sie einstauben.

Und genau so verhielt Torsten sich auch Lisa gegenüber. Sie war für ihn kein Mensch, auf dessen Gefühle man achten musste. Er verabredete sich vor ihren Augen mit anderen Frauen, immer hatte er logische und natürlich absolut harmlose Erklärungen parat und war zutiefst empört, wenn sie ihn zur Rede stellte oder gar verletzt war. Wehe, sie dachte etwas Böses dabei! Welch schmutzige Fantasie sie doch seinen Aussagen nach entwickelte! Selbst als sie ihn bei einem unangekündigten Besuch in der Wohnung eines befreundeten Ehepaares mittags im Ehebett liegend vorfand, akzeptierte sie seine fadenscheinige Erklärung und schickte jeden Gedanken an Betrug weit von sich.

Wie er mit unschuldiger Miene beteuerte, hatte er ganz harmlos diese Frau, seine Cousine über viele Ecken, besucht und plötzlich hatte er so gefroren und war so müde geworden. Was war da natürlicher, als sich im kuscheligen Ehebett zu erholen?

Der Ehemann arbeitete tagsüber in einer entfernten Stadt und kehrte erst spät abends heim, daher war das Bett ja verwaist und konnte für ein Mittags-Nickerchen genutzt werden. Man beachte den wichtigen Anfangsbuchstaben!

Die Ehefrau, Torstens Cousine um wer weiß wie viele Ecken, stand grinsend in ihrer Küche, kochte Kaffee und bestätigte die Aussage. Ganz normal unter Freunden. Oder? Schäm dich, Lisa, hinter allem etwas Unrechtes zu vermuten!

Lisa wurde immer perfekter darin geschult, Misstrauen zu verdrängen, Protest zu unterlassen, jede Ausrede zu glauben und Schuld bei sich selber zu suchen und dann eindeutig zu finden, bei sich, die sie immer derartig unbegründete Fragen stellte und solch abwegige Fantasie hatte.

Diese Verbindung zu Torsten hatte sich zu einer unerfreulichen Episode ihres Lebens entwickelt. Klar, auch diese Episode hatte einmal nett und aufregend angefangen. Das romantische junge Mädchen hatte sich verliebt, war auf diesen erfahrenen Mann hereingefallen, und wollte dann die Scheuklappen, die sich bei ihr so fest installiert hatten, einfach nicht mehr beiseite schieben, obwohl jeder, der sie wirklich gern hatte, ihr immer wieder versuchte, die Augen zu öffnen. Je mehr Menschen auf sie einredeten, desto sturer hielt sie zu ihrem Torsten, desto vehementer verteidigte und erklärte sie jede seiner Verhaltensweisen.

Vor allem ihr Bruder Stefan konnte sich kaum beherrschen und musste ernsthaft zurückgehalten werden, weil er diesen Mann schon früh durchschaut hatte und ihn am liebsten verprügelt hätte, windelweich wollte er ihn schlagen. In seinem Zorn konnte er unberechenbar sein.

Nein, nein! Wer will schon auf Ratschläge anderer hören, wenn er sich Hals über Kopf verliebt hat? Es lohnt sich nicht, weitere Gedanken an diese bittere Erfahrung einer jungen Frau zu verschwenden. Fehler sind dazu da, dass man sie macht, dass man dann aber auch aus ihnen lernt.

Und so, durch ihre Freundin, die es einfach nicht mehr mit ansehen konnte, und liebevoll, aber bestimmt immer wieder auf sie einredete, änderte sich dann doch ganz allmählich Lisas innere Einstellung. Immer öfter traute sie sich wieder fort aus der Hörweite des Telefons. Langsam bekam sie wieder Freude am Leben, wurde zunehmend gesellig und unternehmungslustig. Ihr schlechtes Gewissen meldete sich seltener, sie beschwindelte den Anrufer Torsten das ein oder andere Mal sogar, wenn sie eine Ausrede brauchte, warum sie nicht zu erreichen gewesen war. Sie merkte, dass sie immer besser damit leben konnte.

*******

Andreas - Ebbe in der Geldbörse –der erste Tag

Und dann, eines Tages sollte sich alles ohnehin grundlegend ändern! Und wie sich ihr Leben veränderte!

Es klopfte also an die Türe dieses Doppelzimmers im Studentinnenheim und er, Andreas, der spätere Clochemerle Sucher, stand im Zimmer. Lässig, sehr gut aussehend, charmant. Er fragte nach Ramona, der anderen Bewohnerin des Zimmers. Nun, sie war an diesem Wochenende gerade zu ihren Eltern nach Hause gefahren. Er zeigte keinerlei Bedauern, schaute sich im Zimmer um. Sicher wollte er nicht einfach so unverrichteter Dinge wieder umkehren. Er hatte schon das halbe Studentenheim auf der Suche nach einem netten Mädchen abgeklappert. Sehr erfolgreich war er nicht gewesen. So war er schließlich im obersten Stockwerk, direkt unterm Dach, gelandet. Hier sollte in einem der Doppelzimmer das hübscheste Mädchen des gesamten Hauses wohnen, hatten ihm irgendwelche jungen Männer verraten. Genau dieses Mädchen suchte er. Wie das Schicksal so spielt, diese Ramona, wirklich bildschön, exotisch, mit einer super Figur, mit langen schwarzen Haaren und fast schwarzen Augen, war aber nicht anwesend. Im Zimmer befand sich ein anderes Mädchen: Lisa, nicht exotisch, aber auch hübsch, mit guter Figur, mit langen hellblonden Haaren, mit blaugrünen Augen, echtes Kontrastprogramm zu Ramona.

Was hatte ihn überhaupt dazu gebracht, zu allererst an eben die Türe von Ramona und Lisa zu klopfen? Es gab ja noch mehr Doppelzimmer auf diesem Stockwerk. Nur an vereinzelten Türen gab es Namensschilder.

Aber Lisa hatte ihre Türe etwas geschmückt. Sie hatte eine dunkelrote Baccara Rose, die auf der Hülle einer Langspielplatte von Udo Jürgens geprangt hatte, heraus geschnitten und an die Türe geklebt. Kombiniert mit bestimmten Buchstaben ergab sich so eine Art Bilderrätsel und ließ mit ein bisschen Nachdenken Lisas Nachnamen erkennen.

Andreas liebte alles Ungewöhnliche, fühlte sich angesprochen von Dingen, die in seinem so geordneten und strengen Alltag nicht vorkamen und ließ sich durch dieses originelle Türschild verlocken anzuklopfen.

Lisa lächelt und denkt: „Vielleicht war es auch eine höhere Macht, vielleicht die berühmte gute Fee, die Erbarmen mit meinem Schicksal gehabt hat, die nicht mehr mit ansehen wollte, wie ich mich nach jemandem verzehrte, der es einfach nicht verdient hatte. Vielleicht war sie es, die diesen Mann Andreas, der wie ein hungriger Wolf auf Beutezug war, zu mir geschickt hat. Wer weiß das schon?“

Auf jeden Fall betrat er ziemlich forsch, starkes Selbstbewusstsein ausstrahlend, ihren kleinen Raum. Sie saß am Tisch, war nicht auf Besuch eingestellt, wirkte leicht zersaust, war ungeschminkt und sah unwillig von ihren Büchern auf. Sie lernte für eine Chemie Klausur. Ausgerechnet Chemie! Chemie war alles andere als ihr Lieblingsfach. Entsprechend miese war ihre Laune.

Kaum im Zimmer, entdeckte Andreas den ungewöhnlichen Türrahmen, auf dem mit Filzstift eine lange Liste mit Namen und Zahlen aufgetragen war. Hier konnte man Vornamen und Körpergrößen in Zentimetern eines jeden, der den Raum je betreten hatte, ablesen. Das gefiel ihm. Das war witzig. Auf diese Liste wollte er auch aufgenommen werden. Lisa amüsierte es und sie erfüllte ihm gerne seinen Wunsch. Ablenkung konnte nie schaden, schon gar nicht, wenn es um komplizierte chemische Formeln ging, dem absolut ungeliebten Lernstoff, den sie ohnehin nur mit Mühe verstehen und anwenden konnte, der ihr eigentlich total schnuppe war. Ohne Angst vor der kommenden Klausur hätte sie sich nie freiwillig damit beschäftigt.

Andreas war begeistert, aber gleichzeitig fühlte er beim Lesen der anderen männlichen Vornamen schon jetzt eine gewisse Eifersucht. Nebenbuhler mochte er nun gar nicht. Er kannte hier zwar niemanden, war erst fünf Minuten im Zimmer, hatte aber sofort Platzhirsch Gefühle und zeigte sie auch.

Lisa war belustigt, erstaunt, verwirrt, sprachlos, ein bisschen hilflos, eben überrumpelt. Sie fühlte sich aber nicht wirklich unwohl bei dem Gedanken, aus der eintönigen Beschäftigung mit diesem „Hexenwerk“ heraus gerissen zu werden.

Eigentlich hätte sie ja an Torsten denken müssen. Was war von ihrem Anrufer zu erwarten, wenn er von diesem Besuch erfuhr? Welche Strafmaßnahmen würde er sich ausdenken? Eigentlich hätte sie diesen Fremden sofort hinaus komplimentieren müssen, eigentlich hätte sie sich bei solchem überfallartigen Auftritt schon aus Selbstschutz sofort abschotten müssen. Benahm er sich nicht ähnlich bestimmend wie ihr Torsten? Nein, nicht ganz. Ihm fehlte diese spöttische Arroganz, die sie an Torsten anfangs so reizvoll und anregend gefunden hatte. Dieser Fremde wirkte ehrlich, viel unkomplizierter. Er versprühte Lebensfreude, hatte Sinn für Humor. Sie fand ihn gleich sehr sympathisch. Zudem zeigte er sich interessiert an chemischen Zusammenhängen, kannte sich mit den auf dem Tisch ausgebreiteten Aufgaben besser aus als Lisa. Er hatte schon immer ein Faible für diese Wissenschaft gehabt. Nun, das traf zwar bei ihr nicht wirklich zu, für sie war es nur ein ungeliebtes Fach, das zu ihrem Studium gehörte. Eines allerdings war sofort klar: die Chemie zwischen den beiden, die stimmte. Und wie sie stimmte! Vom ersten Augenblick an sprühten anscheinend Funken über, man spürte prickelnde Elektrizität.

Ein schlechtes Gewissen, wie sie das von früher gewöhnt war, wenn sie nur einen anderen Menschen als Torsten angesehen hatte, stellte sich bei Lisa nicht im Geringsten ein. Sie hatte große Fortschritte gemacht. Und irgendwann war es ganz leicht gewesen, einfach weniger an Torsten zu denken.

Jetzt, mit dem quirligen Besucher in ihrem Zimmer dachte sie gar nicht an diesen Torsten, den Anrufer. Wozu also dann ein schlechtes Gewissen entwickeln?

Und schon schlug Andreas vor, gemeinsam Mittag essen zu gehen. Verlockende Vorstellung, den Büchern mit ihren unendlich vielen Hieroglyphen entrinnen zu können! Sie wollte zu gerne mit Andreas gehen.

Doch da baute sich ein großes Hindernis vor dem gemeinsamen Mittagessen auf. Das nötige Geld! Besser gesagt, das fehlende Geld! Blitzartig stellte sie sich den Blick in ihre geöffnete Geldbörse vor. Sehr übersichtlich im Innern! Es gab nur ein Fach. Mehr brauchte sie auch nicht bei dem meist kargen Inhalt. Es war Monatsende und Papas Überweisung kam frühestens in drei Tagen, aber auch nur, wenn er pünktlich an die Überweisung gedacht hatte, häufig verzögerte sich das Eintreffen.

Wie oft reihte sie sich am Monatsanfang in eine lange Schlange vor einem Bankschalter ihrer Bank ein, wartete geduldig, bis sie an der Reihe war und musste sich dann manches Mal mit hoch rotem Kopf und beschämt wegschleichen vom Schalter und wieder nach Hause gehen, weil das Konto immer noch leer war und ein Überziehen ausgeschlossen war. Wie peinlich ihr das immer war! Sie bildete sich ein, alle Leute in der Warteschlange würden über sie tuscheln oder sie auslachen. Wahrscheinlich war das Unsinn, die meisten waren Studenten wie sie und kannten ihre Lage aus eigener Erfahrung nur zu genau. Sie war auch nie wirklich ärgerlich darüber, vielleicht ein bisschen enttäuscht. Papa machte das nicht aus Bosheit, sondern er vergaß es ganz einfach hin und wieder. Warum er keinen Dauerauftrag eingerichtet hatte? Sie wusste es nicht. Wenn es ganz hart wurde, sie wirklich nichts mehr hatte, um Essen zu kaufen, rief sie Mama an und diese wusch Papa wohl wie eine Furie den Kopf und umgehend kam die Überweisung.

Ab und zu ging Lisa auch mit einer Freundin zu einer Job Vermittlung. Dort wurden Studenten tageweise, selten längerfristig, an Firmen vermittelt.

Lisa hatte einmal das Glück, im Kaufhof in der Krawatten Abteilung arbeiten zu dürfen. Man zeigte ihr den Umgang mit der Kasse und wo welche Krawatten hingen bzw. in Schubladen zu finden waren. Über Preise und Qualität, und wie man Kunden berät, erfuhr sie nichts. Dann ließ man sie alleine. Heute wäre das sicher undenkbar, einer Tages Aushilfe so ohne weiteres die Kasse zu überlassen. Natürlich hatten sie Lisas Unterlagen, Name, Adresse etc., aber dennoch zeigte es viel Vertrauen. Lisa arbeitete dort acht Stunden und bekam ca. 30 DM, auf die sie sehr stolz war. Die Arbeit empfand sie als interessant, aber auch als sehr anstrengend.

Seither bewundert Lisa Verkäuferinnen und Verkäufer, ist bis heute immer sehr freundlich zu ihnen. Es ist nicht einfach, stundenlang zu stehen, Ware einzuräumen, auf Kunden zu warten und diese immer höflich zu behandeln, egal in welcher Stimmung die sind und wie sie sich benehmen. Ihr lustigstes und vielleicht auch peinlichstes Erlebnis war, als ein Mann mittleren Alters zielbewusst auf sie zustrebte und sie um Rat fragte. Bis jetzt hatten sich Kunden selbständig ein Teil ausgesucht und sie hatte es nur verpackt und den auf der Ware ausgeschilderten Preis kassiert.

Aber dieser Mann wollte beraten werden. Der Arme ahnte ja nicht, dass diese junge Frau vor ihm sicher weitaus weniger Ahnung von der Materie hatte als er selber. Sie kannte Krawatten und auch Fliegen bisher nur aus Papas Schrank oder Bruder Stefans Schrank, sah sie meist nur sonntags, wenn Papa und manchmal auch Stefan sich fein machten. Krawatten waren Kleidungsstücke, über die man ständig schimpfte, weil man Probleme hatte, diese verdammten Knoten zu basteln. Da gab es ja sogar unterschiedliche, jeder Knoten hatte seinen speziellen Namen. Papa kannte sie alle und als junger Mann, in der Zeit, in der er es liebte, tanzen zu gehen und sich zu diesem Zweck schick anzuziehen, um den Mädchen und Frauen zu gefallen, hatte er auch keinerlei Probleme gehabt, sie schnell und perfekt zu binden. Doch später, nach seinem schrecklichen Arbeitsunfall, den er nur durch viele Wunder, viele Schutzengel, viele sehr gute Ärzte, viele sehr liebevolle Pflege, erst durch Nonnen im Krankenhaus, dann zu Hause, überlebt hatte, konnte er diese Bewegungen nicht mehr ausführen, weil sein rechter Arm teilweise steif war und sich nur noch in einem eingeschränkten Winkel zum Hals und Kopf hin bewegen ließ.

Aber Papa war ja ein pfiffiger Mann, der sich von solchen Lappalien nie hatte unterkriegen lassen. Da hatte er schon ganz andere Probleme gelöst. Er ließ sich einfach von Mama und Stefan alle seine Krawatten fertig binden. Er kontrollierte streng die Güte der Knoten und die Länge der Bänder, dann wurden sie der Reihe nach im Schrank aufgehängt und bei Bedarf schlüpfte er nur mit seinem Kopf durch die Schlinge und musste nur noch den Knoten stramm ziehen. Das schaffte er recht gut alleine.

Ja, damit erschöpfte sich aber auch schon Lisas Wissen über Krawatten. Und nun stand hier dieser gut aussehende, freundliche Mann und erwartete ihren fachmännischen Rat. Sie dachte an zu Hause und erinnerte sich, wie Krawatten und Hemd zum Anzug ausgewählt wurden. Da Papa ja recht eitel war, legte er großen Wert auf passende Accessoires. Das war ein guter Anhaltspunkt für Lisa und sie fragte mit Miene und Tonfall einer Expertin, wie denn der Anzug und das Hemd aussähen, dass der Mann zu kombinieren wünschte.

Dann marschierte sie, als habe sie genau sein Outfit vor Augen, zu einem Stand, an dem seidene, nicht ganz billige Krawatten hingen und zeigte ihm einige, die ihr persönlich gefielen. Der Mann war glücklich, eine solch gute Beratung zu bekommen und entschied sich schnell. Lisa, nun schon mutiger, erklärte ihm, dazu passe natürlich ein Hemd bestimmter Farbe und Struktur am besten. Da er das nicht besaß, schickte sie ihn gleich zum Nachbarstand, wo er eines kaufen konnte. Hätte das ihr Chef mit bekommen, sie hätte vermutlich öfter hier arbeiten dürfen. Abends fiel sie hundemüde in die Federn. Ein harter Job, bei dem man nicht nur solch nette Kunden wie diesen Mann hatte. Es gab auch ganz andere. Vor allem gab es viele unverschämte und zickige Frauen. Aber auch in solchen Situationen musste man freundlich bleiben und lächelnd deren Wünsche erfüllen. Das wäre kein Job, den sie auf Dauer gerne machen würde. An diesem Tag hatte sie 30 DM verdient, ein kleines Vermögen, auf das sie sehr stolz gewesen war. Leider war das Geld im Blitztempo wieder aufgebraucht. Man brauchte ja schließlich die eine oder andere Kleinigkeit, um sich hübsch machen zu können.

Jetzt, auch ohne den Blick in die Geldbörse, wusste sie genau, es lagen nur noch insgesamt fünf mickrige Mark sehr gut erkennbar in ihrem Portemonnaie. Da versteckte sich nirgends auch nur der kleinste Geldschein. Das hatte sie schon mehrfach überprüft, als es darum ging, vielleicht noch etwas einzukaufen. Es war ihre eiserne Reserve, mit der sie eigentlich auskommen wollte und musste, bis die nächsten 250 DM für den kommenden Monat eintreffen würden.

Papa hatte ihr von Kindesbeinen an eingeschärft, nie etwas von Fremden anzunehmen, und seit einigen Jahren predigte er stets: Lass dich nie von einem Mann einladen. Bezahl alles, was du haben möchtest, immer selber. Wenn das nicht geht, dann musst du eben darauf verzichten. Hüte dich vor den Männern! Männer wollen nämlich immer nur „das Eine“. Was das genau war, hatte Papa nie verraten. Aber er kannte sich wohl bestens damit aus, er selber war ja seit seiner Jugend ein sehr gut aussehender und sehr beliebter Mann.

Männer wollen immer nur das „Eine“. Also hatte sie ganz alleine, ohne Papas Hilfe, herausfinden müssen, was das war. Das berühmte „Eine“. Mit fünfzehn oder sechzehn, sie erinnert sich nicht mehr so genau, also vier oder fünf Jahre zuvor, wusste sie Bescheid, was Papa gemeint hatte, und verstand nicht, was so Tolles an dem „Einen“ war. Wurde das nicht auch bei all den Gesprächen mit Freundinnen total überbewertet?

Es war vollkommen unromantisch gewesen. Es war unter Angst, Zeitdruck, Hast, ohne Zärtlichkeit und in falscher Umgebung gewesen. Es hatte weniger aus Verlangen und Sehnsucht stattgefunden als aus Neugier und um endlich mitreden zu können. Es hatte weh getan. Es war einfach ernüchternd gewesen. Ihr Partner und sie versuchten es hin und wieder erneut, aber ein besonderes Erlebnis wurde auch dann nicht daraus, daher wiederholten sie es nicht mehr oft. Sie liebten sich eben nicht. Der junge Mann war genauso ahnungslos wie sie gewesen und daher hatten sie beide dieses angeblich so große Ereignis im Leben junger Menschen eher zu einem Fiasko werden lassen. Sie waren sich danach nie böse. Anfangs waren sie ja sehr in einander verliebt gewesen, das legte sich mit der Zeit zunehmend. Das „Eine“ war für beide dann eine Pflichtübung gewesen, eine ähnlich enttäuschende. Sie sprachen nicht groß darüber. Und daher trennten der junge Mann und sie sich auch bald freundschaftlich und wünschten sich alles Gute für die Zukunft. Sie sahen sich nie wieder, hörten Jahre nichts mehr von einander. Irgendwann erfuhr Lisa, dass er auch sein Glück mit Frau und Kindern gefunden hat.

Vielleicht wird der Spiegel Lisa diese erste zarte Verliebtheit, die sie als junges Mädchen zu empfinden glaubte, noch einmal zeigen. Das Ende konnte er allerdings getrost in seinen unergründlichen Tiefen verschwinden lassen Das musste sie nicht noch einmal vorgeführt bekommen. Dieser kurze Rückblick reichte ihr.

Sie war lange ohne festen Freund und nur zu bereit, als eines Tages, nachdem sie gerade ihr Abitur bestanden hatte und neunzehn Jahre alt geworden war, Torsten auftauchte. Er lieferte ihr die zweite und viel bitterere Enttäuschung ihres Lebens. Und so hatte ihr Leben im Zimmer am Studienort die letzte Zeit hauptsächlich aus Warten und Sorge, den Anruf oder gar den Anrufer persönlich zu verpassen, bestanden. Bis zu diesem Klopfen an der Türe.

Und nun stand plötzlich dieser fremde Mann vor ihr und lud sie ein, mit ihm essen zu gehen. Und Papa war nicht da. Sie konnte ihn weder um Rat fragen noch um Geld bitten. Da saß sie nun in ihrem grün geblümten Sommer - Minikleidchen, das sie so toll fand, und das Mama genäht hatte, und druckste herum, sie habe keine Zeit, müsse sooo viel lernen.

Das allerdings spornte den selbstbewussten Mann nur an. Überreden, Bezirzen, Überzeugen und Erobern lagen ihm offensichtlich im Blut. Er ließ keine ihrer Ausreden zu. Nun gut, die waren auch schwach genug. Wider alle Alarmglocken, die in ihrem Gehirn Sturm läuteten, wollte sie ja mit ihm ausgehen.

Dass sie kein Geld für solche Unternehmungen hatte, mochte sie einem Fremden, der auch noch derartig attraktiv war, auch nicht gleich auf die Nase binden. Also überlegte sie, so werde sie eben nur eine winzige Kleinigkeit bestellen, dann würden die fünf DM schon ausreichen. Und wie die nächsten Tage weiter gehen würden? Das würde sich schon ergeben. Ein paar Scheiben Brot waren ja noch da und Marmelade sicher auch. Zur Not konnte man die Freundin um etwas Essbares anbetteln. Würde alles schon klappen. Außerdem war das jetzt alles so egal, da so ein Mann vor ihr stand und sie offensichtlich unbedingt als Begleitung mitnehmen wollte.

Kein Gedanke mehr an den Anrufer. Anrufer? Welcher Anrufer?

Gesagt, getan. Schließlich saßen sie in einem netten Lokal. Sie hatte alles versucht, ihn in eine kleine und vor allem billige Kneipe zu lotsen, aber nein, das war nichts für ihn, zumindest nicht an diesem Tag. So schön und aufregend er das Leben von Studenten fand, heute wollte er unbedingt in dieses Restaurant, in dieses feine Restaurant. Sein eigenes Studium war schon länger beendet und seine Studienzeit war nie so frei, lustig und ausgelassen gewesen, wie man das so aus Literatur und aus Schilderungen kannte. Er hatte sich das Studium, damals durch Studiengebühren und Gebühren für jede Veranstaltung sehr teuer, selbst finanzieren müssen, keine Zeit für Spiel und Spaß gehabt.

Inzwischen verdiente er gut und an diesem Tag wollte er unbedingt in dieses Restaurant, in dieses feine Restaurant. Klar, das war kein billiges. Jeder gut vorbereitete und gut situierte Tourist steuert auch heute noch dieses so urige Lokal an. Mit rotem Kopf saß Lisa am Tisch und las in der Speisekarte. Trotz mehrfachen gründlichen Erforschens fand sie kein einziges Gericht, das nur fünf DM oder gar weniger kosten sollte. Es gab kein einfach belegtes Brötchen, keine Bockwurst ohne Beilage und auch keine Frikadelle mit Senf.

Außerdem musste sie ja auch bedenken, dass noch ein Getränk dazu kommen würde. Sollte sie einfach sagen, sie habe so gar keinen Hunger und wolle nur ein Wässerchen bestellen? Das würde klappen. Da würde ja sogar noch etwas übrig bleiben für die nächsten Tage. Doch dieser Mann duldete keine Ausflüchte. Er erkannte bestimmt, welche Überlegungen sie anstellte. Lachend sagte er, sie sei natürlich zum Essen und Trinken eingeladen.

Klingeling, erste große Alarmglocke, nicht mehr zu überhören: Männer wollen alle nur „das Eine“. Auweia, Papa!!!! Papa!!! Was nun? Papa, was soll ich tun?

Papa war nicht da, also noch einmal die Speisekarte durchforsten. Immer, wenn man dich braucht, Papa, dann bist du weit, ganz weit weg! Also wirklich! Ganz auf sich alleine gestellt war sie nun.

Was war das billigste Gericht auf der Karte? Sie überflog die Liste nochmals. Gut, Wiener Schnitzel, kostete nur knapp über acht DM, dazu ein Glas Wasser. Das müsste gehen. Sie betonte, dass sie sich aber mit fünf DM an der Rechnung beteiligen wollte. Er grinste unverschämt charmant und bestellte Schnitzel für sie beide. Dazu ein Glas Wasser, aber auch noch zwei Gläser Wein. Ohne guten und leckeren Wein kann man keine Mahlzeit einnehmen, so erklärte er überzeugend.

Ohoh, klingelingeling. Die zweite noch größere Alarmglocke schrillte auf. War das schon der nächste Schritt zum „Einen“? Wein am hellen Tag! Wein trank man doch nur zum Geburtstag, zu Ostern, zu Weihnachten, vielleicht! Tja, Papa, und nun? Wieder mal unerreichbar, ihr Papa, der so kluge Ratgeber.

Das Essen verging wie im Flug. Andreas ließ sich von ihrem Studentenleben erzählen, lauschte begeistert ihren Schilderungen. Sie hing an seinen Lippen, als er von seinen Reisen in entfernte Länder erzählte, von tropischen Stränden, von Koralleninseln und Korallenriffen.

Eine völlig neue Welt eröffnete sich ihr. Sie fühlte sich benommen wie im Traum. Meeresbiologin, diesen Beruf hätte sie zu gerne erlernt. Doch man hatte ihr abgeraten. Damals waren Frauen in solchen Berufen reine Exoten mit wenig Aussicht auf einen Arbeitsplatz. Und nun saß sie hier am Tisch mit einem tollen Mann, der sich ebenfalls für Meeresgetier und ähnliches begeistern konnte.

Schließlich krönte er seine Beschreibungen mit der Feststellung, er würde seine nächste Reise nach Afrika auf jeden Fall mit ihr zusammen unternehmen. Sie würden gemeinsam im klaren warmen Wasser schwimmen, über Korallenriffen schnorcheln und das Land und das Meer erkunden.

Das war der Moment, in dem sie das erste Mal aus dem Traum aufwachte und sich dachte: „Meine Güte, an welchen Spinner bin ich denn hier geraten. Klein Lisa nach Afrika, ins tropische Afrika“. Tansania oder Kenia hatte er im Sinn. „Völlige Hirngespinste“, so sagte sie sich. Wie sollte das gehen, sie beide nach Afrika????

Irgendwann verließen sie das Restaurant. Sie wollten sich aber noch nicht trennen. Was faszinierte sie nur gegenseitig derartig?

Sie kehrten in ein Straßencafé ein. Saßen dort und redeten und redeten. Lisa wollte sich eine Zigarette anzünden. Schon fischte er ein sehr elegantes, silbernes Gas Feuerzeug aus seiner Jackentasche und gab ihr Feuer. Danach schenkte er ihr das Feuerzeug. Sie war unfähig, es abzulehnen, sie war unfähig, ihren eigentlichen Standpunkt zu erklären. Torsten, ihr Anrufer, hatte ihr innerhalb des letzten Jahres nichts geschenkt, eigentlich hatte er ihr außer einem Buch und ganz selten einmal Blumen nie etwas geschenkt. Und das war ja ganz in dem von Papa festgelegten Sinn, also gut. Dieser Mann forderte also nach Papas Theorie nicht „das Eine“.

Jetzt schenkte ihr ein Fremder ein für sie mit ihrem engen Budget kostbares Feuerzeug, das sie sich niemals selber hätte kaufen können.

Klingelingeling, klingelingeling! Alle Alarmglocken, die normalerweise für Sturm, Feuer, Wasser, also für Katastrophen jeglicher Art eingesetzt wurden, und diese ganz speziellen, die für das „Eine“ zuständig waren, läuteten jetzt wie wild in ihr. „Du darfst das nicht annehmen!!! Dieser Mann bezahlt dich! Er zahlt sogar im Voraus! Sicher will er dann auch etwas dafür bekommen, klar, „das Eine“, was denn sonst? Denk an Papa! Hüte dich!“

Andererseits, inzwischen war sie ja keine 15 oder 16 mehr. Sie war 20. Und Papa, stell dir vor, du hast dich geirrt. Nicht nur Männer wollen immer „das Eine“! Dieser Mann verzauberte sie. Sie konnte ihm nicht widersprechen. Auch sie spürte Verlangen nach „dem Einen“! Unfassbar! Jetzt schon! Sie kannte Andreas doch erst wenige Stunden!

Schon erzählte er von seiner schönen Wohnung und seinem riesigen Farbfernseher, damals einem der ersten, also eine Besonderheit. Sie kannte in ihrem Studentenheim nur den alten Schwarz-weiß Apparat, der in einem winzigen Raum auf dem Flur, eine Etage tiefer, stand. Fernsehraum nannte sich diese Abstellkammer großspurig. Immerhin konnte man dort recht gesellig auf den wenigen Tischen und Stühlen zusammen hocken. Bei einem oder auch mehreren Bierchen, ganz nach finanzieller Lage, fanden dort manche Gespräche bis in den frühen Morgen statt.

Farbfernseher kannte sie nur aus Erzählungen. Vielleicht hatte sie mal in einem Schaufenster eines Geschäftes, in dem ein farbiger Film aus Werbegründen vorgeführt wurde, einen kurzen Eindruck gewinnen können, mehr sicher nicht. Trotz aller inneren Kämpfe begleitete sie also Andreas zu seiner Wohnung. Praktischerweise wohnte er nur eine Seitenstraße entfernt von ihrem Studentenheim. Auf dem Weg zur Wohnung erzählte er so ganz nebenbei, dass er verheiratet sei, dass er eine kleine Tochter von knapp zwei Jahren habe. Sie dachte, die Welt um sie herum würde zusammen brechen. Da war also der Haken an dieser schönen Geschichte! Es musste ja so kommen. Es hatte sich alles einfach zu märchenhaft präsentiert.

Und welch ein Haken sich da offenbarte! Dieser verführerische Mann war vergeben, sogar ein Kind hatte er. Sie konnte es nicht fassen. Klar, er war einige Jahre älter als sie. Ein Wunder war das also nicht. Aber was hatte er sich nur dabei gedacht, einfach in ein Mädchenheim zu spazieren und sich dort eine Begleitung auszusuchen?

Sie war zutiefst verwirrt und wollte in ihr Haus, in ihr sicheres Doppelzimmer, ihre Wunden lecken, in Selbstmitleid zerfließen, sie wollte nicht mehr in seine Wohnung. Was hatten ihre Eltern ihr immer wieder eingeschärft? Der Mann einer anderen Frau ist tabu, absolut tabu! An so einen Mann darf man nicht einmal denken! Niemals! Und wenn gar noch ein Kind dabei ist, dann ist es noch viel mehr tabu, dann ist es einfach unmöglich, solchen Mann näher anzuschauen. Ja, Papa, ja, du hast ja so Recht!! Ja, Mama, du hast natürlich auch so Recht! Ich kann nicht mit ihm gehen! Ich will nicht mit ihm gehen! Stimmte das?

Schon erklärte Andreas mit absolut sachlichen und überzeugenden Worten, wie modern er und seine Frau die Ehe sähen. Sie war zur Zeit mit ihrem Töchterchen in Belgien in Urlaub und er eben hier zu Hause alleine. Sie lebten mehr oder weniger getrennt, so verstand sie seine Ausführungen. Direkt ausgedrückt hatte er das nicht. Im geschickten Argumentieren war er ein Meister. Lisa wollte es genau so verstehen und schob ihre Bedenken ganz weit weg.

Und Papa und Mama waren ja nicht da. Und überhaupt, musste man ihnen denn alles erzählen? Vielleicht war morgen ja schon alles wieder vergessen, wozu sich also heute besonders aufregen? Und was war denn schon dabei, sich einen Farbfernseher anzusehen? Zumal gleich ein Film mit wunderschönen Unterwasser Aufnahmen gesendet werden würde?

Danach würde sie natürlich umgehend zurück in ihre Dachkammer gehen, sich an ihren Tisch setzen und Formeln pauken. Klar, genau so würde sie es machen. So würde es geschehen.

Und schon betraten sie seine Wohnung. Schick eingerichtet, ohne Frage. Da stand der Fernseher. Er schaltete ihn ein und tatsächlich, herrliche Bilder von bunten Fischen, von in der Strömung schwebenden Quallen, von Korallen und exotischen Meeresschnecken, von Seeanemonen und anderen bildschönen Meeresbewohnern zogen vorbei.

Er bot ihr einen Portwein an. Sie kannte das nicht. Zum Mittag ein Glas Wein, jetzt Portwein. Das war ja schon ihre halbe Jahresration. Wann trank sie Wein? Vielleicht öffnete Papa zu Weihnachten, zum Gänsebraten, mal eine gute Flasche Moselwein oder ab und zu, wenn Gäste zu Geburtstagen kamen. Aber Lisa trank nur wenig, vielleicht zum Anstoßen ein Schlückchen. Portwein kannte sie nur dem Namen nach, hatte ihn nie getrunken.

Dann müsse sie aber auf jeden Fall diesen herrlichen Tropfen probieren. Na gut. Sie probierte. Er hatte Recht, schmeckte sehr lecker. Er saß neben ihr, legte einen Arm um ihre Schultern. Sie bebte innerlich. Was war nur los mit ihr? Welche Schleusen öffnete er da gerade? Er küsste sie sanft. So hatte noch niemand sie geküsst. Sie zitterte, sie war zu keinem Gedanken mehr fähig. Sie reagierte nur noch. Sie meinte, wie diese Quallen im Film, die vom Wasser sanft bewegt wurden, durch eine ihr unbekannte Macht zum Schweben gebracht zu werden. Nie zuvor hatte sie solche Gefühle erlebt. Sie spürte seine Hände auf ihrem Rücken. Sie strichen zart über den langen Reißverschluss. Und schon öffnete sich dieser nur zu bereitwillig. Sie rückte leicht beiseite und bemühte sich, das Kleid wieder in Ordnung zu bringen, nestelte am Reißverschluss, zog ihn wieder hoch. Das war wohl das letzte Aufbäumen ihres Anstands, sehr schwach allerdings, mit wenig Wirkung.

Warum nur sprang sie nicht verärgert auf und verließ die Wohnung? Ja, warum? Warum gab sie ihm nicht wenigstens eine Ohrfeige? Das wäre doch jetzt angebracht gewesen. So hätte sie sich doch normalerweise verhalten! Aber dann schoss wieder ein anderer Gedanke durch ihren Kopf. Verheiratet, ein Kind, aber eben doch nicht so eine richtige Ehe, oder? Und schon wieder öffnete sich der Reißverschluss, und wieder schob sie ihn hoch. Warum stand sie immer noch nicht empört auf?

Doch, sie stand schließlich auf, er stand vor ihr und zog sie hoch, ihr Kleid war nun bereits auf dem Teppich. Sie küssten sich stürmisch und plötzlich standen sie in seinem Schlafzimmer. Zwei Betten nahm sie aus den Augenwinkeln wahr. Eines links in einer Ecke, das zweite an einer anderen, weiter entfernten Wand. Ja, so erwartet man das, wenn ein Paar getrennt lebt. Und schon war alles vergessen, Papas kluge Ratschläge, Mamas ängstliche Einwände, der Anrufer, die Ehefrau, das kleine Kind, alles.

Als sie Stunden später wieder ihr eigenes Zimmer betrat, war sie immer noch nicht fähig, klar zu denken. Sie wusste kaum noch, wie sie her gekommen war. Andreas hatte sie bis zum Haus begleitet. Dann hatte sie sich verabschiedet. Sie musste nun alleine sein. Musste wieder zu sich kommen. Zitternd setzte sie sich auf ihren Stuhl vor die aufgeschlagenen Bücher, die vorwurfsvoll zu warten schienen.

An Lesen und Lernen war natürlich gar nicht zu denken. Sie musste erst einmal ihre Gedanken und Gefühle ordnen. Was war das für ein Tag gewesen? Was war heute geschehen? Was hatte sie nur getan? Meine Güte, sie hatte gegen alle Prinzipien verstoßen, hatte jedes Tabu gebrochen. Am ersten Tag des Kennenlernens war sie mit in die Wohnung eines fremden Mannes gegangen. Was hätte da alles passieren können! Und was war da schon bald tatsächlich alles passiert!

Ohoh, Papa, ja, „das Eine“, das hatte sie nun genauso erwischt, wie es doch laut Papa nur fremde Männer erwischte. „Das Eine“ kann man eben nicht einfach so mit dem Verstand beiseite wischen. Und, Papa, es war so traumhaft aufregend und schön gewesen! Das müsstest du ja eigentlich auch wissen! Und wie du das weißt! Und Mama weiß es auch ganz genau!

Du wolltest sicher nur, dass sich dein Töchterlein das für den richtigen Mann aufspart.

Aber, war das heute der richtige gewesen? Das kann ja gar nicht sein. So schön auch alles war.

Halbwegs zurück in der Realität wurde ihr klar, das musste ein einmaliges Erlebnis bleiben! Das durfte sich nie wiederholen. Unter keinen Umständen! Nie!

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Lisas Beginn in der Schublade

Der Spiegel schien ihr zuzuzwinkern. Er kannte sie. Er kannte ihr Leben. Ihn konnte sie nicht täuschen. Sie wollte ihm auch gar nichts vorschwindeln. Wozu auch? Der Blick in den Spiegel war wie der Blick in die eigene Seele, in die eigene Vergangenheit. War es nicht bisher ein wunderschönes Leben gewesen? Natürlich war es ein Leben mit Höhen, mit Tiefen, mit Freuden, mit Schmerzen. Ganz normal eben, wie es sein sollte. Nur dass bei ihr die Höhen und Freuden überwogen. Sie war eben ein Sonntagskind. Ersehnt und bereits während der Schwangerschaft geliebt, begann ihr Leben. Liebevoll umsorgt und absolut geborgen nahm es seinen weiteren Lauf.

Die ersten Schritte ins Leben waren zwar rein äußerlich betrachtet nicht rosig gewesen, aber was zählen schon Haus und Wohlstand, wenn es um die Liebe zu einem Kind geht? In Wahrheit wurde sie zwar in absolute Armut hinein geboren, aber mehr geliebt und mehr geborgen als sie konnte kein anderes Kind auf dieser Welt aufwachsen.

Wie oft erzählte man ihr von den ersten Lebensstunden und den Tagen als kleiner Mensch auf dieser Welt. Sie kam als drittes Kind ihrer Eltern in die Familie, ein absolutes Wunschkind. Ihr ältester Bruder wurde acht Jahre zuvor während des Krieges geboren. Seinetwegen musste damals eine Blitzhochzeit durchgeführt werden. Hochzeit per Telefon, eine sogenannte Ferntrauung, die dann später mit weißem Kleid und schicker Uniform noch einmal korrekt nachgeholt wurde, so wie es sich gehörte. So, wie man es dann stolz auf Fotos präsentieren konnte. Diese Hochzeit musste sein, es sollte ja schließlich alles seine Ordnung haben. Den äußeren Schein zu wahren, das war in der damaligen Zeit ungeheuer wichtig. Für dieses Paar war es ein guter Entschluss. Beide hatten diesen Schritt nur zu gerne gemacht. Sie liebten sich. Eine echte Liebe war es, eine Liebe, die ein langes Leben lang dauerte.

Das bewusste Foto hängt heute noch bei Lisa an einer Wand und veranlasst sie jedes Mal zu einem Lächeln, wenn sie es im Vorbeigehen anschaut. Ihre Eltern hatten ihren Kindern eine gute und glückliche Gemeinschaft vorgelebt, ihnen also beste Voraussetzungen für ihr Leben mit gegeben.

Schmunzelnd erinnert sich Lisa, wie sie jedes Mal die immer gleiche nervöse Antwort bekam, wenn sie stichelnd, aber mit absoluter Unschuldsmiene, Hochzeitstermin und Tag der Geburt des Bruders erfragte. Mama errötete, Papa hatte dringend etwas im Garten oder Keller zu erledigen und Mama stotterte verlegen: „Kind, es war Krieg!“