Bis ans Meer - Peggy Patzschke - E-Book
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Peggy Patzschke

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Beschreibung

Wie weit gehst du für die Liebe?

Januar 1945: Nur mit dem Nötigsten am Leib und bei eisigen minus dreißig Grad muss Frieda über Nacht mit ihrer Tochter aus Schlesien fliehen. Ihr Mann Karl ist an der Front. Frieda und er haben einander versprochen, sich wiederzufinden und den Glauben an ihre Liebe zu bewahren – ohne zu ahnen, welchen Preis Frieda dafür zahlen wird.

Jahrzehnte später fragt sich ihre Enkelin, warum sie jene Bindungen, nach denen sie sich doch eigentlich sehnt, nicht eingehen kann. Woher rührt diese Angst vor Nähe? Als sie sich auf Spurensuche in ihrer Familie begibt, entdeckt sie eine dramatische Geschichte, die bis in die Gegenwart wirkt. 

Was kann uns die Liebe abverlangen? Ein mitreißender Roman, der auf wahren Begebenheiten beruht. Erzählt nach der Familiengeschichte von Fernsehmoderatorin Peggy Patzschke.

„Peggy Patzschke stellt sich schonungslos dem größten Problem unserer Gesellschaft: der Weitergabe von Traumata von Generation zu Generation – bis wir nicht mehr wissen, wer wir sind oder warum. Ein Roman, der inspiriert, seine eigene Geschichte zu hinterfragen und aufzuräumen mit der Vergangenheit.“ Nina Gummich.


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Seitenzahl: 528

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Mit der Nachricht konfrontiert, dass sie ein Kind erwartet, begibt sich eine Frau auf Spurensuche in ihrer Familiengeschichte. Was hat es mit der Distanz zwischen ihrer Mutter und ihrer Großmutter Frieda auf sich, über die sie viel zu wenig weiß? In der Hoffnung, Antworten zu den schmerzhaften Leerstellen ihres eigenen Lebens zu finden, taucht sie ein in das dramatische Schicksal ihrer Großmutter.

Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs muss Frieda mit ihrer kleinen Tochter Erika über Nacht ihre Heimat im niederschlesischen Brieg verlassen, um sich bei minus dreißig Grad vor der heranrückenden russischen Armee in Sicherheit zu bringen. Die Liebe zu ihrem Mann Karl und das Versprechen, einander wiederzusehen, das sie sich gegeben haben, verleihen ihr Kraft auf ihrer Flucht – und kosten sie doch fast alles.

Ein ergreifender Roman über drei Frauen, die sich den Prüfungen der Liebe und des Lebens stellen müssen.

Über Peggy Patzschke

Peggy Patzschke war über ein Jahrzehnt die Radiostimme Mitteldeutschlands. Heute arbeitet sie als Redakteurin und Moderatorin vor und hinter der Kamera für ARD, MDR und 3sat und hat einen Podcast. Sie lebt in Leipzig, dies ist ihr erster Roman.

Mehr unter peggy-patzschke.de 

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Peggy Patzschke

Bis ans Meer

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Motto

Prolog

Kapitel 1

Heute

Kapitel 2

Schlesien, Januar 1945

Kapitel 3

Brieg, Dezember 1916

Kapitel 4

Auf der Flucht, Januar 1945

Kapitel 5

Brieg, Dezember 1917

Kapitel 6

Auf der Flucht, Januar 1945

Kapitel 7

Heute

Kapitel 8

Brieg, September 1929

Kapitel 9

Auf der Flucht, Januar 1945

Kapitel 10

Brieg, Oktober 1940

Kapitel 11

Brieg, September 1927

Kapitel 12

Heute

Kapitel 13

Brieg, April 1944

Kapitel 14

Ankunft im Glatzer Schneegebirge, Februar 1945

Kapitel 15

Brieg, Dezember 1927

Kapitel 16

In Wünschelburg, Februar 1945

Kapitel 17

Brieg, Juli 1928

Kapitel 18

In Wünschelburg, Juli 1945

Kapitel 19

Heute

Kapitel 20

Brieg, Oktober 1932

Kapitel 21

Zurück in Brieg, August 1945

Kapitel 22

Brieg, September 1933

Kapitel 23

Zurück in der Heimat, August 1945

Kapitel 24

Heute

Kapitel 25

Brieg, November 1933

Kapitel 26

Brieg, Oktober 1945

Kapitel 27

Brieg, Juli 1938

Kapitel 28

Zurück in der Heimat, November 1945

Kapitel 29

Brieg, Dezember 1944

Kapitel 30

Brieg, Dezember 1945

Kapitel 31

Brieg, Mai 1944

Kapitel 32

Heute

Kapitel 33

Brieg, September 1946

Kapitel 34

Brieg, November 1944

Kapitel 35

Brieg, Oktober 1946

Kapitel 36

Brieg, August 1916

Kapitel 37

Brieg, Oktober 1946

Kapitel 38

Brieg, Juli 1934

Kapitel 39

Heute

Kapitel 40

Brieg, Oktober 1946

Kapitel 41

Brieg, Juli 1939

Kapitel 42

Oberröblingen in Preußen, Dezember 1946

Kapitel 43

Heute

Kapitel 44

Brieg, August 1942

Kapitel 45

Ankunft in Halle, Dezember 1946

Kapitel 46

Brieg, Januar 1945

Kapitel 47

Heute

Kapitel 48

Halle, November 1948

Kapitel 49

Halle, Juni 1949

Kapitel 50

Halle, Januar 1950

Kapitel 51

Halle, Oktober 1952

Kapitel 52

Heute

Kapitel 53

Halle, Oktober 1953

Kapitel 54

Halle, April 1954

Kapitel 55

Halle | Hamburg, Juli 1955

Kapitel 56

Heute

Kapitel 57

Halle, Juli 1956

Kapitel 58

Halle, Juli 1957

Kapitel 59

Heute

Kapitel 60

Halle | Hamburg, März 1958

Kapitel 61

Heute

Kapitel 62

Heute

Epilog

Nachwort

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

Für Frieda

Und die Sehnsucht in dir

Prolog

Heimat, deine Sterne spielen die Streicher, als sich Frieda in Karls Armen am Orchester vorbeidreht. Es gibt kaum noch Sauerstoff im Saal. Die Fenster sind beschlagen, und vor lauter Füßen sieht man nirgendwo das Parkett. Den ganzen Tag über schneit es schon, und Frieda hat unten auf dem Eis des Schwanenteiches eine Pirouette nach der anderen geübt. So viele, dass sie die Zeit vergessen und es gerade noch rechtzeitig geschafft hat, sich für die Verabredung mit Karl umzuziehen. Jetzt trägt sie ihr neues Kleid, das rote aus Seide, das perfekt zu ihrem Haar passt. Sie weiß, dass er sich kaum daran sattsehen kann.

»Das wird immer unser Lied sein«, flüstert er ihr bei der nächsten Drehung ins Ohr. Frieda legt ihre Wange an seine und schließt die Augen. Wie ein Paar tanzt, sagt viel darüber aus, wie es liebt. Bewegen sich zwei Menschen im Einklang, oder hängen sie wie Kletten aneinander? Bei dem Gedanken muss sie lachen. Ja, Karl ist ein guter Tänzer, und sie spürt auch diesmal die bewundernden Blicke. Mit ihm zu tanzen ist wie schweben. Gleich wird er sie wieder in eine der weniger beleuchteten Ecken führen, um sie zu küssen, und dann – es ist jedes Mal dasselbe – wird ihr das Herz aufgehen, um Platz für die ganze Welt zu schaffen. Und tatsächlich zieht er sie mitten im Lied in eine Ecke des Saales, greift nach einer ihrer Haarsträhnen, schiebt sie ihr über die Schulter und gibt ihr einen Kuss auf den Hals. Dann lächelt er sie an. »Was für ein Kleid. Was für eine Frau. Hatte ich das schon erwähnt?«

Sie hebt das Kinn und tut gelangweilt. »Mindestens fünfmal.«

Er zwickt sie in die Seite. »Frech wie die Nacht, Fräulein Katscher. Das müssen wir Ihnen austreiben!«

Sie kichert und zwickt zurück. »Versuch’s, wenn du dich traust.« Dabei spürt sie, wie sich ihr Puls beschleunigt. Das Blau seiner Augen lässt sie ans Meer denken. Tief und unergründlich. Auch wenn sie den Anblick des Ozeans bisher nur von Gemälden kennt. Eines Tages aber, das weiß sie, wird sie dort stehen. Mit den Zehen im Sand und dem Geruch von Algen und Salz in der Nase wird sie auf peitschende Wellen blicken und das Spiel des Lichts auf ihnen beobachten – mal blau, mal grau und dann wieder grün –, und der Wind wird ihre Haare zum Tanzen bringen.

»Wollen wir noch eine Runde?«, unterbricht Karl sie beim Träumen. Er weist mit einem Nicken zur Tanzfläche, wo das Orchester gerade das Tempo wechselt. »Charleston, den magst du doch so.«

Jetzt gibt sie ihm einen Kuss. »Gleich. Warte noch einen Moment.« Dann lehnt sie sich in seinen Arm und kneift die Augen zusammen. Sie liebt es, wenn alle Lichter zu einem einzigen Streifen verschwimmen und sie sich leicht wie ein Flockenwirbel fühlt. So wie am Nachmittag, als sie sich unten auf dem See in ihren Schlittschuhen im Schnee drehte. Ja, beschließt sie, ganz bald – vielleicht im nächsten Sommer – fahre ich mit ihm an die Küste, und dann stehen wir zusammen vor den Wellen.

Genauso wie jetzt, Hand in Hand.

Kapitel 1

Heute

Was ich über meine Großmutter weiß, ist, dass sie das Meer liebt. Und dass sie Geheimnisse hat. Als Kind hörte ich immer mal wieder, wie andere über sie sprachen. Dass zwischen ihr und ihrer Tochter etwas vorgefallen sei. Etwas Schlimmes. Und danach sei alles anders geworden, für beide. Ob das stimmt, habe ich sie nie gefragt. Für mich war Oma immer eine Frau voller Wärme. Eine, die jedes Zittern in mir beenden konnte, sobald sie mir die weiche Hand an die Wange legte. Sie warf mit ihrer Liebe nur so um sich, und es war herrlich, davon getroffen zu werden. Selbst wenn sie einem nur einen Apfel aufschnitt, wusste man, was man ihr bedeutete. Auf Mutters Gesicht hingegen bemerkte ich häufig Schmerz, wenn ich sie erwähnte oder wir uns aufmachten, um sie zu besuchen. Das blieb so – bis heute –, und deshalb frage ich mich mittlerweile auch öfter, wie das alles zusammenpassen kann – Oma, wie ich sie kenne, und Oma als die Frau, die meine Mutter so traurig macht.

Auch jetzt, da ich bei Mutter in der Küche stehe, brennt mir die Frage wieder unter den Nägeln. Ich beobachte sie bei jedem Handgriff. Sie wirkt müde. Heute kann ich sie nicht danach fragen. Während sie mit der einen Hand kochendes Wasser in eine Kanne gießt, hält sie sich mit der anderen den Rücken. Dabei ist mir ihre Haltung längst aufgefallen: gekrümmt, als stände sie in einem Sturm, dem man nur mit eingezogenem Kopf begegnen kann. Noch eine ganze Weile schaue ich ihr beim Teemachen zu. Dann halte ich es nicht mehr aus.

»Wo sind eigentlich Omas Sachen?« Dabei drücke ich drei Finger gegen meine Schläfe, so wie ich es immer tue, wenn sich eine Migräne ankündigt. Jedes Mal in der Hoffnung, dass das irgendwas bringt. Tut es aber nie.

Mutter klingt gereizt. »Welche Sachen?«

»Na, ihre Aufzeichnungen. Die hattest du mir doch mal gezeigt, über ihre Ehe, die Liebe und so.«

»Über die Liebe?«

»Ja, mit dieser Botschaft an dich.«

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

Sie widmet sich wieder dem Teesieb. Ihr Zeichen an mich, dass sie nichts mehr zu dem Thema zu sagen hat. Ich spüre, wie Ärger in mir aufsteigt. Was erwarte ich mir überhaupt von der Kramerei in der Vergangenheit, und warum statte ich Mutter ausgerechnet heute einen Besuch ab? Wahrscheinlich weil eine Stunde zuvor meine Welt aus den Fugen geraten ist. Weil wieder einmal mein Mund schneller war als mein Verstand, als ich vorhin aus dem Studio kam. Und er in der Garderobe auf mich wartete.

Zehn Minuten später waren wir getrennt.

Ich hatte das Ende ausgesprochen, ohne dass ich es wollte. Tat das gefühlt zum fünften Mal, seit wir uns kennen. Fügte nun allerdings hinzu, dass es für immer war. Was ich natürlich wieder nicht so meinte. Diesmal aber war eine Sache anders: Bruno nahm mich beim Wort. Er ging. Direkt nachdem die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, bereute ich meinen Auftritt. Ich weiß ja, dass sich mein Kopf überall einmischt, weil er meinem Herzen nicht traut, und damit ständig Katastrophen produziert. Aber ich konnte nicht anders, als er plötzlich vor mir stand mit dem Ring und der Blume. Ich kam nicht einmal dazu, ihm von dem Schwangerschaftstest am Morgen zu erzählen. Zu sehr hatte mich der zweite Strich auf der Anzeige durcheinandergebracht. Immer wenn etwas droht, verbindlich zu werden, macht es mir Angst, und nun, da ich Mutter werden soll, erst recht. Jede meiner Freundinnen würde sagen, dass das doch ein großes Glück ist und ich mich freuen soll. Vor allem, da ich schon vierunddreißig bin. Doch mich versetzt das, was sich in mir abspielt, in Panik. Ich muss flüchten. Sofort! Als säße da ein Monster in meinem Kopf und würde mir absurde Entscheidungen zuflüstern. Eines, das nur auf Chaos aus ist und sich mit Vorliebe meldet, wenn eigentlich gerade etwas Schönes geschieht. Es übernimmt die Kontrolle. Und ich? Ich sitze hinterher verwirrt in einer Ecke und frage mich, was gerade passiert ist. Und ob das Leben auch irgendwie einfacher geht.

Woher habe ich bloß mein Talent für Unglück?

Kommt das, was da aus mir spricht, wirklich von mir? Oder könnte es sein, dass ich es von anderen übernommen habe? Manchmal finden wir einen Hinweis, einen Schlüssel, mit dem wir eine Tür in uns öffnen und plötzlich Zusammenhänge erkennen können, für deren Begreifen wir sonst zehn Jahre gebraucht hätten. So einen Schlüssel habe ich leider nicht. Aber vielleicht entdecke ich einen Hinweis in Großmutters Geschichte. In all den Gerüchten über ihr Leben, voller Rätsel und Lücken, die in unserer Familie stets mit diesem seltsamen Blick erzählt werden?

»Du meinst sicher die Zeilen aus ihrem Tagebuch, die sie mir mal geschenkt hat«, sagt meine Mutter plötzlich. »Vielleicht liegen die Seiten im Schrank, in der Kammer. Zusammen mit den anderen Briefen von ihr.«

Ich schaue sie überrascht an. Hier gibt es also noch mehr Erinnerungsstücke von Oma? »Kannst du mir die Sachen mal mitgeben?«, frage ich, während mir Mutter einen Becher Tee herüberschiebt.

»Um Himmels willen, Mädchen!« Ihre Stimme flattert. »Die stecken irgendwo ganz hinten. Dafür habe ich jetzt keine Kraft.«

Sofort ist da wieder dieses Unbehagen. Der Standardsatz meiner Mutter, der mich seit meiner Kindheit begleitet. Der meist fiel, wenn ich mit ihr spielen wollte. Wenn ich ihren Kleiderschrank durchstöberte, mich mit ihren Schuhen und Hüten verkleidete. Jedes Mal bekam ich dieselbe Antwort, und jedes Mal dasselbe Gefühl, zu viel einzufordern. Seitdem fürchtete ich mich davor, genauso zu werden wie sie, das Leben meiner Mutter weiterzuleben, ein Leben, in das vor Langem die Traurigkeit eingezogen ist wie eine kranke Katze, die sich anschleicht und deinen Garten okkupiert. Alles, was sich leicht und schön anfühlte, durfte bei meiner Mutter nicht bleiben. Ich sah ihr dabei zu, wie sie meinte, in jedem Moment ihres Lebens kämpfen zu müssen. Irgendwann hatte ich das, was ich bei ihr wahrnahm, den Schleier des Schmerzes genannt. Wie ein Fluch lag er über unserem Zuhause. Dabei wollte ich Mama so gern lachen sehen und einfach nur das tun, was all die anderen Kinder in meinem Alter taten: Freunde mit nach Hause bringen, eine große Geburtstagsparty feiern; wild sein, nicht rücksichtsvoll.

»Dann suche ich sie selbst«, sage ich kurzentschlossen, doch ebenso schnell, wie ich drüben in der kleinen Kammer bin, ist Mutter hinter mir.

»Mach doch nicht so einen Stress. Ich kann diese Unordnung nicht gebrauchen.«

Wir streiten uns. Bis ich zwanzig Minuten später ihre Wohnung verlasse. Mit einem Karton unterm Arm.

Zu Hause angekommen, widme ich mich meiner eigenen Verzweiflung. Ich gehe ins Bad, um mir den Tag vom Gesicht zu waschen. Als das nicht hilft, lasse ich mir eine Wanne ein und verstecke mich hinter dem Schaumberg. Meine Nase ist vom Heulen verstopft, ich kann nur noch durch den Mund atmen und genieße die Stille, die der Schaum verbreitet. Wie Schnee, der auf die Landschaft fällt und allem Streben eine Pause verordnet. Dann wachsen höchstens noch Eisblumen an den Fenstern. Der Rest der Welt gibt Ruhe. Hier in meinem Badezimmer wird die Ruhe lediglich unterbrochen vom Knistern, mit dem sich funkelnd und glitzernd der Schaum vor mir auflöst. Einer nach dem anderen verschwinden die kleinen weißen Hügel, als wären sie niemals da gewesen, und mit ihnen schrumpft die Zeit.

Halbe Stunden werden zu Sekunden. Draußen an der Tür kein Laut. Kein Schlüssel, der sich im Schloss herumdreht, keine Schritte im Flur, die näher kommen. Es bleibt still, und ich lausche. Bis ich zu frieren beginne. Um mich herum ist das Wasser wieder klar. Ich kann den Grund der Wanne sehen. Und frage mich, was ich nun mit dieser Neuigkeit anfangen soll – der vom Teststäbchen, das noch am Wannenrand liegt. Wie soll ich das alles denn schaffen? Ich kriege doch noch nicht einmal mein eigenes Leben auf die Reihe. Wie kann ich da Mutter werden? Ich werfe mir eine Handvoll Wasser ins Gesicht und überlege: Aber welche vertrauenswürdige Ärztin käme infrage und welche Klinik für den Eingriff?

Ich klettere aus der Wanne, greife mir ein Handtuch und breite den Inhalt des Kartons auf dem Boden aus. Plötzlich bin ich so gefesselt, dass ich gar nicht bemerke, wie ich im Schneidersitz Zentimeter um Zentimeter nach vorn sinke und mein tropfendes Haar beinahe den Inhalt ruiniert. Briefkuverts, die nach Vergangenheit riechen, katapultieren mich in ein anderes Universum. Sütterlinschrift, die ich nicht entziffern kann, bis auf den Namen Karl. Ein Bilderrahmen mit einem Familienfoto von 1942, das meine Mutter früher auf der Anrichte hatte. Darauf meine Oma mit ihrem Mann und den beiden Kindern in Schwarz-Weiß. Ich nehme es in die Hand. Ganz vorn in einem Taftkleid mit passender Tasche steht meine Mutter, etwa acht Jahre alt. Sie sieht hübsch aus mit ihren langen blonden Zöpfen. Auf den kleinen Armreif muss sie sehr stolz gewesen sein. Sie hat sich fein gemacht für den Ausflug, wirkt glücklich. Wie der Rest der Familie. Nur Opa steht ein wenig abseits.

Die Fundstücke machen mich neugierig. Was ist im Leben meiner Großmutter nun eigentlich geschehen? Wieder muss ich an dieses Gerücht denken, das mit dem schlimmen Vorfall vor langer Zeit, und erinnere mich auch wieder, dass mal jemand sagte, Oma hätte ihrer Tochter etwas antun wollen. Aber warum hätte sie das machen sollen? Gut, zwischendurch war sie lange von zu Hause weg. Ist sie ja auch heute wieder, mittlerweile für immer. An einem schrecklichen Ort mit vergitterten Fenstern. Seither ist sie ein Dort-Mensch, denn jeder, der nach ihr fragt, bekommt nun diese ungenügende Antwort: Sie sei dort.

Ich überlege. Falls Großmutters Geheimnis tatsächlich so dunkel ist, muss ich ihr ähnlich sein, denn auch mit mir stimmt etwas nicht. Auch bei mir will das Glück nicht bleiben, und wenn es das doch einmal vorhat, jage ich es viel zu schnell davon.

Plötzlich knallt es.

Der Rahmen mit Großmutters Bild ist mir aus der Hand geglitten und liegt auf den Fliesen. Zum Glück hat es nur eine einzelne Öse an der Rückwand erwischt, so dass der Rahmen jetzt locker sitzt. Das Glas über dem Foto ist heil geblieben, keine Risse auf den Gesichtern. Ich spüre den Schreck. Fast wie ein Zeichen, oder?

Ich nehme ein paar tiefe Atemzüge, um mich zu beruhigen. Und dann fasse ich einen Entschluss:

Ich werde alle Puzzleteile jener Frau sammeln, ohne die es mich gar nicht geben würde, um mein eigenes Leben zu retten.

Am nächsten Morgen holt mich alles wieder ein. Die Nacht war schrecklich. Der Kopf zu wach, um zu schlafen, der Körper zu müde, um aufzustehen und das Licht anzumachen. Dabei hätte ich den Schlaf dringend nötig gehabt. Genauso wie ich diese eine Sekunde gebraucht hätte, in der man beim Aufwachen erst mal nicht weiß, wer man ist. Eine herrliche Sekunde, frei und voller Möglichkeiten. Heute aber läuft mein Hirn auf Hochtouren, seit dem Moment, da ich die Augen aufgemacht habe.

Ich schleppe mich ins Bad. Wie immer in Brunos Hemd, darin schlafe ich am liebsten. Sollte ich aber mal ändern, denn es riecht noch nach ihm … Und schon kreist wieder all mein Denken nur um ihn. Vielleicht ist er wirklich der Mann fürs Leben. Nur womöglich nicht für meines?

Ich greife nach der Zahnbürste. Dabei wandern meine Gedanken zu unserem letzten unbeschwerten Treffen. Zu dem Moment dort auf der Bank. Nach einem Ausflug hatten wir uns am Fuß einer Burg niedergelassen, die Wärme des Abendlichts auf unseren Gesichtern. Kurze Zeit zuvor hatte ich ihm eine Taschenuhr geschenkt. Eine, die er sich schon lange wünschte, weil sie ihn an seinen Großvater erinnerte, und so hatte ich ihm auch gleich seine Initialen eingravieren lassen. Hier, mit meinen Zehen im Badteppich, sehe ich alles noch einmal vor mir. Wie Bruno sie aus der Jackentasche fischt, sie bestaunt und dabei so glücklich ist. Darum habe ich ihn immer beneidet. Glücklich sein, lieben – das fällt ihm leicht. Er hat den Mut dazu. In den Phasen, in denen wir zusammen waren, erlebte ich es aus nächster Nähe. Mit seinen Gefühlen ist es wie mit einem Baum. Sie schaffen es, jeden Tag ein Stück zu wachsen, tiefer zu wurzeln, Halt zu finden. Bei mir klappt das nicht. Verspreche ich jemanden etwas, hinterfrage ich es im nächsten Moment, und genau deshalb verspreche ich erst gar nichts. Verbindlichkeiten sind mir so unangenehm, wie sich direkt nach dem Duschen in eine enge Strumpfhose hineinzuzwängen, Entscheidungen die pure Qual. Und falls ich sie treffe, sind es häufig die falschen. Bruno aber meißelt jeden seiner Beschlüsse in Marmor. Sein Leben verläuft nicht im Konjunktiv, er ist sich sicher in allem, was er wählt. Wie diese Leute, die die erste Idee gleich mit dem Kuli festhalten anstatt mit einem Bleistift. Überhaupt ist Bruno ganz anders als ich, und ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, wie anders. Selbst beim Kennenlernen kam von ihm kaum ein Wort. Nur ein aufmerksamer Blick. Länger als üblich sah er mich an, doch er sagte nichts. Das verwirrte mich. Bis ich begriff, dass sein Schweigen nicht Desinteresse bedeutete. Er war leise, weil er so viel fühlte, und genau dieses Anderssein zog mich zu ihm hin. So sehr.

Während meine Zahnbürste im Mund kreist, sehe ich ihn vor mir, wie er dort auf der Bank sitzt und mit dem Daumen über die silberne Taschenuhr streicht, als liebkoste er das kleine Ding, und dann höre ich ihn den verhängnisvollen Satz sagen: »Lass uns zusammenbleiben, für immer.« Ich weiß noch, wie mir die letzten beiden Worte direkt in die Eingeweide schossen. Für immer? Vermutlich beschloss ich bereits in dem Augenblick unsere Trennung.

Ich halte inne.

Jedes Detail der Szene ist mir in Erinnerung geblieben. Es war noch lange nicht dunkel. Die Nacht ließ sich Zeit – und doch war es genau diese Sekunde, in der die Sterne zu Boden fielen.

Ich stütze mich auf dem Waschbecken ab. Wieder kommt mir ein Wort in den Sinn. Verloren. Mir fallen die Haare ins Gesicht, und ich habe keine Lust, darunter hervorzukommen. Im nächsten Moment wird mir übel, und ich knie mich vors Klo.

Kapitel 2

Schlesien, Januar 1945

Der Gesang von Rudi Schuricke füllt Friedas Küche. Heimat, deine Sterne. Ihre Tochter ruft von nebenan über die Musik: »Darf ich dein Kleid noch mal sehen, Mami?« Die Stimme im Volksempfänger hält dagegen: »Sie strahlen mir auch am fernen Ort …« Erika erscheint in ihrem Sonntagsdirndl mit wippenden Zöpfen neben dem Herd und zieht an der Schürze der Mutter.

»Bitte!«

Frieda unterbricht das Rühren in den dampfenden Töpfen und streicht ihr übers Haar. »Gut, ganz kurz, denn wir essen gleich.« Sie schiebt Erika vor sich ins Schlafzimmer, dann gibt die Tür des Eichenschranks die darin verstauten Schätze unter knarrendem Protest frei. Frieda genießt den Duft, der ihr entgegenkommt, und auch das Kind hält ehrfürchtig inne. Eine Mischung aus Lavendel und der Seife, die dort zwischen der Wäsche liegt. Ganz rechts alle Kleider nach Farben geordnet.

Sofort streckt Erika einen Finger aus. »Da ist es, das rote.«

Frieda muss lächeln, denn als sie zehn Jahre alt war, ging es ihrer Mutter sicher genauso. Immer wollte sie deren Hüte und Tanzschuhe sehen. Sie legt Erika das Abendkleid mit dem Bügel über die Schultern, und die dreht sich damit sofort vorm Spiegel. Wie eine Ballerina. Dann hebt sie den Rock mit der beeindruckenden Weite und singt lautstark mit. »Tausend Sterne stehen in weiter Runde, von der Liebsten freundlich mir zugesandt …«

»Das ist Papas und mein Lieblingslied«, ruft Frieda, »dazu haben wir oft getanzt.« Sie fällt mit ein: »In der Ferne träum ich vom Heimatland.«

Als die Stimme des Sprechers im Radio ertönt, müssen sie beide lachen und drehen sich noch einmal im Kreis.

»Wenn du groß bist, bekommst du das Kleid ohnehin. Versprochen.«

Erika stutzt und rennt hinüber zum Türrahmen. »Aber ich bin ja schon viel größer als vergangenen Monat!« Dabei tippt sie mit dem Finger auf die Linie, die dort mit Bleistift angezeichnet ist. »Schau.« Im nächsten Moment steht sie mit dem Rücken an der Wand, um zu beweisen, dass ihr Kopf über die letzte Messung hinausreicht. »Du kannst auch gleich einen neuen Strich ziehen.« Dabei streckt sie sich noch etwas, damit sie die alte Linie in jedem Fall übertrifft.

Frieda holt Stift und Lineal, um den Fortschritt zu dokumentieren. Dabei fällt ihr Blick auf die letzte Messung ihres Sohnes, der an der Front ist. So wie ihr Mann. Sie liest 1,75 Meter und spürt, wie sich ihr die Kehle zuschnürt. Wie es den beiden wohl gerade geht? Laut sagt sie: »Tatsächlich. Aber nicht auf die Zehenspitzen stellen!« Sie tritt einen Schritt zurück. »Erledigt, und jetzt komm. Sonst kocht noch alles über.«

»Was gibt’s denn heute?«

»Kaninchen.«

»Kaninchen«, wiederholt das Mädchen langsam, so als wäre es sich nicht sicher mit seinem Appetit.

Frieda hält kurz inne, dann läuft sie in den Flur, setzt sich die Schirmmütze ihres Mannes auf und ahmt ihn mit tiefer Stimme nach. »Was höre ich da?« Sie legt der Kleinen einen ihrer Zöpfe über die Schulter. »Mein Mädchen will nicht das schöne Kaninchen essen, das Papa vor seiner Abreise extra noch für sie schlachten ließ?« Sie kniet sich vor Erika hin und krault sich den imaginären Bart. »Damit meine beiden Lieblingsfrauen am Sonntag was Leckeres auf dem Tisch haben.« Ihr Zeigefinger pikst Erika sanft in die Brust. »Das lehnst du ab?«

Jetzt muss ihre Tochter lachen und spielt mit. »Aber nein, Papi. Ich freu mich schon drauf.« Ihre Augen leuchten.

Frieda erhebt sich und lüftet Karls Schirmmütze. »Na bestens«, sagt sie noch einmal mit tiefer Stimme. »Dann lasst es euch schmecken, und du bleibst mein braves Mädchen! »

»Ja, Papi«, kichert Erika und hüpft zur Vitrine. »Und ich decke den Tisch.«

Zwei Stunden später ist das Kind im Bett, der Abwasch gemacht und das Licht der Straßenlaternen vorm Fenster verschwunden. Verdunklungsstunde, wie immer ab zehn Uhr abends, und gerade als Frieda in der Kammer ihre Schürze ablegt, um auch gleich noch die Kerzen in der Küche zu löschen, klopft es wie wild an die Haustür. Vor Schreck ist sie wie gelähmt, doch im nächsten Moment wird aus dem Klopfen ein Hämmern.

»Einen Moment«, ruft sie aus der Wäschekammer. »Ich komme!«

Sie öffnet die Tür, doch es vergehen ein paar Sekunden, bis die Gestalt im spärlichen Licht des Hauseingangs an Kontur gewinnt. Frieda erkennt das Männergesicht mit pockennarbiger Nase unter der Schirmmütze, es ist der Blockwart der Straße.

»Frau Puchalla, Sie müssen weg, Befehl des Gauleiters. Nehmen Sie nur das Nötigste mit!« Frieda will etwas erwidern, doch er redet sofort weiter. »Finden Sie sich morgen früh fünf Uhr mit maximal zwei Gepäckstücken am Platz vorm Bergel ein. Dort warten Busse fürs ganze Viertel. Wir müssen Sie aus der Schusslinie bringen.«

Frieda versteht nicht. »Schusslinie?«

Der Alte nickt. »Wir erwarten einen Angriff der Russen.«

»Aber warum? Ich dachte, es besteht keine Gefahr. Das habe ich doch kürzlich noch gelesen – in der Bekanntmachung des Kreisleiters.«

Noch ein eiliges Nicken des Blockwarts. »Die Rote Armee ist vor acht Tagen an der Weichsel durchgebrochen. Vorgestern wurden alle waffenfähigen Männer zum Volkssturm geholt. Sie sind jetzt zur Verteidigung im Feuerwehrdepot, drüben im Minoritenkloster.« Er redet so schnell, dass ihm Frieda kaum folgen kann. »Gauleiter Hanke in Breslau hat den Befehl zur Evakuierung gegeben. Die Busse bringen Sie zum Flughafen, von dort aus geht’s weiter mit der Bahn.« Er blättert hektisch in den Unterlagen. »Als Auffanglager ist Hirschberg im Riesengebirge vorgesehen.« Seine Stirn legt sich in Falten. »Soll aber schon voll sein. Vielleicht machen Sie gleich weiter nach Mittel- oder Westdeutschland. Dort ist es ja noch ruhig.« Er scheint die Panik in Friedas Augen aufflackern zu sehen und bemüht sich um Zuversicht in der Stimme. »Das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. In zwei, höchstens drei Wochen sind Sie wieder daheim. Ach ja«, ruft er im Gehen, »und der Fleischer vorn am Markt gibt Wurst raus. Ohne Lebensmittelkarten. Holen Sie sich noch was!«

Kurz darauf rennt Frieda mit einem Wurstpaket quer durchs Schlafzimmer. In der anderen Hand hält sie die große Leinentasche, und auf dem Bett steht schon der Koffer. Sie spürt den Puls in den Schläfen und zwingt sich, noch einmal alles durchzugehen: Wirklich nur das Allerwichtigste darf mit. Für jede von ihnen drei Paar Unterwäsche und alles, was sie an warmen Sachen haben, übereinander angezogen. Eine Decke. Am besten noch das Bettzeug, fest zusammengerollt, die wichtigsten Papiere, Essen, etwas Schmuck, Stiefel und Socken … Ja, so viele Socken, wie sie in alle Ecken stopfen kann! Und den Pullover ihres Mannes, den er ihr immer borgt, wenn ihr kalt ist. Eilig packt sie alles in den Koffer, nimmt alles wieder heraus, überlegt neu und packt von vorn.

Als sie nach vier Stunden das Nötigste beisammen hat und gerade ein paar Wertsachen im Garten vergräbt, hört sie Erikas Stimme aus dem Hauseingang.

»Mama«, ruft das Mädchen blind in die Nacht.

»Ich komme, mein Schatz.«

An der Haustür gibt Frieda ihrer Tochter einen Kuss. »Hast du deine Sachen rausgelegt?«

Erikas Unterlippe zittert. »Ja, Mama. Aber wo gehen wir denn hin? Und wer passt inzwischen auf unser Zuhause auf?«

Frieda beugt sich zu ihr hinunter. »Nur keine Angst. Wir machen es so, wie ich es mit Papa verabredet habe, wenn es hier ungemütlich wird. Wir treffen uns alle bei Tante Charlotte und Onkel Walter in Wünschelburg.« Sie umfasst Erikas kleine Hand. »Den magst du doch. Bei ihm in den Bergen ist es noch ruhig, und wenn der Krieg vorbei ist, können wir bestimmt schnell zurück. Aber jetzt brauchst du deinen Schlaf, damit du morgen Kraft hast und ich dich nicht den ganzen Weg tragen muss.« Dabei stupst sie Erika auf die Nase. »Dazu bist du mir nämlich zu schwer.«

Sie sieht, wie ihre Tochter um ein Lächeln kämpft. »Kann ich Sigrid mitnehmen?«

Diese Frage hat Frieda befürchtet, denn durch die geöffnete Tür erkennt sie, dass Erika ihre Lieblingspuppe bereits zurechtgelegt hat. Gleich neben die dicken Pullover und den Schal, den sie zu Weihnachten von ihrem Bruder geschenkt bekam. Aber auf einem derart ungewissen Marsch mit knappem Gepäck ist kein Platz für ein Spielzeug von solchem Ausmaß. Immerhin ist Erikas Liebling so groß wie ein Baby. Bevor die Unterlippe ihrer Tochter zu zittern beginnt, greift Frieda nach Sigrid und spricht mit ihrer Puppenstimme: »Ach du, ich komme lieber nicht mit. Sonst ist euer Gepäck zu schwer, und außerdem muss hier jemand auf die anderen achtgeben.« Erikas Unterlippe verharrt unschlüssig. Sigrid redet schnell weiter. »Sei nicht traurig! Unter all deinen Spielsachen bin ich nun mal die Erfahrenste, und deshalb mache ich dir jetzt einen Vorschlag: Ich bleib hier und pass auf die anderen auf. Du hast es morgen mit deiner Mama etwas leichter, und dann kommst du ganz schnell zu uns zurück.« Sigrid hüpft. »Ja? Machen wir das so?«

Erika drückt die Puppe fest an sich.

»Das ist eine wirklich gute Idee von deiner Puppe«, sagt Frieda. »Aber jetzt ab ins Bett. Es ist schon spät. Und vergiss morgen früh nichts. Ich stecke auch noch das Kommissbrot von Papa ein.«

Erika nickt und verschwindet mit Sigrid in ihrem Zimmer. »Gute Nacht, Mami.«

Als sich hinter ihr die Tür schließt, sackt Frieda zusammen. Noch eine Weile lang sitzt sie direkt auf dem Betonboden im Flur. Mit dem Rücken an die Kommode gelehnt, die Beine ausgestreckt. Gott, denkt sie, wie soll ich das morgen bloß schaffen? Allein mit Erika, ohne Schutz, ohne Gewissheit, dass wir unser Ziel überhaupt erreichen? Die Kühle des Bodens durchströmt ihre Waden, und ihr Kopf dröhnt. Schon jetzt spürt sie eine unendliche Müdigkeit. Sie schließt die Augen und sieht ihren Mann vor sich. Wir treffen uns in Wünschelburg, flüstert seine Stimme in ihrem Kopf, bei deinem Bruder! Dabei spürt sie den Druck seiner Hände. Als sie die Augen wieder öffnet, fällt ihr Blick auf Karls Mantel am Garderobenständer. »Ja«, flüstert sie in den Raum, »wir sehen uns in Wünschelburg. Möglichst bald.« Dann rafft sie sich auf und schleicht hinüber ins Schlafzimmer, ganz leise, um Erika nicht aufzuwecken.

Am nächsten Morgen läuft Frieda als Erstes hinaus zur Gartenlaube, um den Kastenwagen für den Transport ihres Gepäcks zu holen, kehrt aber sogleich zurück ins Haus.

»Was ist denn los, Mama?«, ruft Erika aus dem Flur.

Frieda schüttelt den Kopf. »Bei den anderen Häusern klettern schon überall die Zwangsarbeiter über die Zäune und holen sich Essen und Kleidung aus den Wohnungen. Selbst nebenan bei Schölzkes.« Sie lässt sich aufs Bett fallen. »Ich kann da nicht mehr raus.«

In Erikas Stimme hört sie die Sorge. »Aber Mama, die haben doch gesagt, dass wir ganz zeitig am Sammelplatz sein müssen.« Das Kind zupft sie am Ärmel. »Und die Leute von nebenan und die Frau von oben sind auch schon weg!«

Frieda erhebt sich. »Ich weiß.« Dabei reibt sie sich die Augen, greift nach Karls Pullover. »Also los, zieh dir die letzten Sachen über, und dann brechen wir auf.«

Als beide das Haus verlassen, wirft sie noch einen Blick auf ihren Mandolinenkoffer im Flur, und Erika verabschiedet sich eilig von Sigrid. Dann schließt sie die Haustür ab. Wie immer, als würden sie bald wiederkommen.

»So.« Frieda zieht an Erikas Hand. »Jetzt aber los, mein Schatz.«

Dabei weiß sie genau, was in der Kleinen vorgeht. So vieles, an dem ihr Herz hängt, muss sie hierlassen. Auch das rote Kleid, das sie ihr gestern versprochen hat.

Das Vorankommen ist schwerer als erwartet. Die Straßen sind vereist, und je weiter die beiden ihren Karren Richtung Innenstadt ziehen, desto größeres Gedränge herrscht. Aus allen Häusern quellen Menschen, meist Frauen mit ihren Kindern und Großeltern. Dick eingepackt, mit Koffer- und Taschenbergen, die sie auf Leiterwagen balancieren oder in Wäschekörben auf Rollen hinter sich herziehen. In der Menge herrscht Unruhe, und Frieda eilt mit großen Schritten voraus, so dass Erika hinten am Kastenwagen kaum hinterherkommt. Aber mit den glatten Sohlen und der schweren Last wird der Weg auch für Frieda zur Strapaze. Es ist so eisig, dass selbst die Schals, die beide noch zusätzlich um ihre Mützen gebunden haben, längst eine feine Eisschicht tragen.

Als sie das Restaurant Zum Bergel erreichen, sieht Frieda nichts als aufgebrachte Menschenmassen – nirgendwo einen Bus.

»Um Gottes willen, Frau Puchalla, was machen Sie denn noch hier?«

Jemand packt sie von hinten an der Schulter. Erschrocken fährt sie herum, erkennt Herrn Strübitz, Karls Chef aus der Autoschlosserei. In seinen Augen liegt ein nervöses Flackern. »Hier kommen Sie nicht mehr weg. Der letzte Bus ist gerade abgefahren.«

»Aber …«, sie ringt um Worte. »Die haben doch gesagt, dass wir von hier …«

»Ja«, unterbricht er sie und reibt sich die Stirn. »Aber hier herrscht Chaos. Die haben sich viel zu spät um ihre Leute gekümmert.« Sein Blick fällt auf Erikas kleines Gesicht hinter Friedas Rücken und das Gepäck der beiden. »Wenn ihr euch beeilt, schafft ihr es vielleicht noch rechtzeitig zum Fliegerhorst. Ihr müsst zu Fuß über die Dörfer.« Er schiebt den Ärmel seines Mantels hoch, um nach der Uhr zu schauen. »Da dürfte noch ein Transport abgehen. Den müsst ihr kriegen! Sonst kommt ihr hier nicht mehr raus.«

Es bleibt keine Zeit für ein Danke oder einen Abschied. Der Mann rennt weiter, und Frieda gibt Erika ein Zeichen, sich zu beeilen.

»Du hast es gehört.« Sie sieht, wie ihre Tochter mit den Tränen kämpft, und muss selber schlucken. »Komm, Eke«, ruft sie bereits im Gehen. »Ich ziehe vorn, du schiebst von hinten, so gut du kannst.« Der Karren rumpelt über den Weg. Immerhin kennt Frieda die Strecke, denn am Fliegerhorst arbeitet sie. »Das schaffen wir.«

Wenig später haben die beiden die Landstraße erreicht und sind Teil eines gespenstischen Zuges. Hunderte Menschen auf der Flucht vor der Roten Armee. Bei minus dreißig Grad bewegt sich der Tross aus Frauen, Kindern und ein paar Großvätern mitsamt ihren beladenen Schlitten, Kinderwagen und Handwagen über vereiste Wege stadtauswärts in Richtung Strehlen. Einige von ihnen schleppen dicke Säcke direkt auf dem Rücken.

»Sind Sie auch aus Brieg?«, fragt eine Frau neben Frieda. »Mein Jüngster ist im Volkssturm und verteidigt gerade das Oderufer – von der Zuckerfabrik bis zum Vorwerk Briesen. Aber die haben doch überhaupt keine Chance.« Frieda sieht, wie die Augen der Frau feucht werden.

»Und wer weiß, was aus uns wird«, ruft jemand hinter ihnen. »Ich glaube nicht, dass die Reichsbahn noch fährt!«

Wenn sich Frieda umschaut, entdeckt sie kaum bekannte Gesichter. Die meisten hier sind schon länger unterwegs. Kommen vermutlich aus Leubusch, Kreuzburg oder Oppeln weiter im Osten und können kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen. Die Kälte und die Angst vor dem wiederkehrenden Geschützdonner in der Nähe nehmen ihnen den Atem. Immer wieder sackt eine Frau am Wegesrand zusammen. Dann ziehen Verwandte weinend an ihrem Kragen und flehen sie an, wieder aufzustehen. Doch von denen, die fallen, rafft sich kaum noch jemand auf. Irgendwann versuchen manche aus der Kolonne, den Weg über das Eis des Sees zu nehmen. Prompt gibt es ein fürchterliches Knacken, und einige brechen ein. Gleich darauf treiben sie im eisigen Wasser. Ihre Schreie sind so fürchterlich, dass sich die anderen am Ufer die Ohren zuhalten. Zumindest die, die nicht mit beiden Händen einen Leiterwagen ziehen.

»Komm«, ruft Frieda durch die gläserne Luft zu Erika. »Nicht hinschauen, lauf weiter! Wir müssen den Zug bekommen.«

»Ich kann nicht mehr, Mama«, hört sie ihr Kind jammern.

Was Erika dann noch sagt, erreicht Frieda im Schneegestöber nicht mehr, der Wind verschluckt ihre Worte. Frieda läuft mit dem Kopf nach unten, doch alles, was nicht von Schal oder Mütze verdeckt ist, wird von Frost überzogen. Auch an den Wimpern und Augenbrauen sammeln sich Eiskristalle. Das Einzige, woran sie denken kann, ist der nächste Schritt. Immerfort, immerfort. Nur ab und an schaut sie auf, um sich zu orientieren. Dann geht ihr Blick hinauf zum Schneehimmel und hinaus in die Weite, wo die Kälte als Nebel über der Landschaft liegt. Er verschlingt die Aussicht, und Frieda meint, dass er immer näher kommt. Irgendwann scheint ihr auch der Karren schwerer als zuvor, so als säße Erika mit darauf.

»Geh bitte runter«, schreit sie über die Schulter nach hinten. Aber als sie sich umdreht, sieht sie, wie ihre Tochter tapfer versucht, den Wagen zu schieben, auf dem spiegelglatten Weg jedoch keinen Halt findet.

Erika schaut verzweifelt auf. »Ich rutsche immer aus.«

»Alles gut«, ruft Frieda hinter dem Schal. Sie hat ihn bis unter die Augen geschoben, von Kälte und Atemluft ist er ganz steif. Als hätte sie ein Brett vor dem Gesicht.

»Wir machen eine kurze Pause, und dann geht’s weiter. Wir schaffen das.«

Frieda war noch nie in ihrem Leben so erschöpft. Für einen Moment lauscht sie in die Landschaft hinein. Unter normalen Umständen hätte sie die Kulisse schön gefunden und versucht, trotz Schneegestöber eine der Flocken im Auge zu behalten. Jetzt aber erscheint ihr alles um sie herum bedrohlich. Ihr Blick wandert über die schneeversunkenen Pappeln am Wegesrand. Die Allee scheint kein Ende zu nehmen. Angeblich sind es nur noch drei Kilometer. Vielleicht wäre es tatsächlich möglich, den Flughafen rechtzeitig zu erreichen. Doch sie weiß nicht, wie sie noch einen einzigen Meter vorankommen soll. Vorsichtig setzt sie einen Fuß auf die nächste überfrorene Pfütze und tatsächlich – das Eis trägt. Ihre Zuversicht nicht. Am ganzen Körper diese schneidende Kälte und überall die verdammten Eiskristalle. Sie kleben an den Handschuhen, mit denen sie den Karren hinter sich herzieht, an der Mütze und nun auch an den Haaren, die darunter hervorschauen. Wie gern würde sie jetzt in ihrer Küche stehen und einen Kuchen für die Kinder backen. Horst würde an seiner Trompete üben und Karl nebenan vorm Schallplattenspieler sitzen …

»Komm, Eke«, ruft sie. »Wir müssen weiter.« Dabei wandern ihre Gedanken zurück zum allerersten Schneegestöber, damals in ihrer Kindheit am Teich.

Kapitel 3

Brieg, Dezember 1916

Mit jeder neuen Windböe weht ein Teil der Akkordeonmelodie herüber zum Schwanenteich. Drüben drehen sich die ineinander verschlungenen Paare auf der Tanzfläche im Restaurant Bergel, einige singen die Volkslieder lautstark mit, manche merklich betrunken. Und so schwirrt die Wolke aus Sehnsucht und Klängen hinaus in den Stadtpark.

Unten am Ufer ist Frieda in ihrer eigenen Welt. Sie ist die Schneekönigin. Der dichte Flockenwirbel lässt ihr braunes Haar verschwinden, umfängt es mit einem funkelnden Schleier, während Frieda die Augen zusammenkneift, um durch das Stück Eis in ihrer Hand die Promenade im Hintergrund zu erkennen. Immer wieder wendet sie ihren Schatz hin und her, wie eine Lupe, und summt in Gedanken eine eigene Melodie. Dann lässt sie den Arm sinken und konzentriert sich auf das Zwirbeln im Gesicht. Die Winter in Schlesien sind streng. Nicht selten erreicht das Thermometer minus dreißig oder fünfunddreißig Grad, und heute scheint es besonders kalt zu sein. Aber sie möchte noch nicht nach Hause. Sie liebt den Winter. Schon immer. Und der Dezember ist ihr Lieblingsmonat, nicht nur, weil sie da Geburtstag hat, sondern weil er immer besonders viel von dem zarten Weiß bringt, das beim Schlittschuhlaufen so schön auf der Zunge schmilzt. Am liebsten mag sie die Nacht, in der der erste Schnee fällt. Dann ist die Stadt verwandelt, von einem Moment zum nächsten. Das gräuliche, seltsam unheimliche Licht der Straßenlaternen verschwindet durch den Zauber, der sich Puderzucker gleich über Straßen und Bäume legt und diese geheimnisvolle Stille bringt. Selbst der alte Ahorn im Vorgarten der Eltern trägt ein Schneekleid, und von ihrem Dachfenster aus kann sie dabei zusehen, wie ihm der Wind in die Spitze fährt und die weißen Mützen von den verdorrten Früchten fegt. Die, die der Herbst vergessen hat und die sich noch tapfer an die kahlen Zweige krallen.

Auch hier im Stadtpark, im Schein der Laterne, bieten einige der Flocken ein besonderes Schauspiel. Mitten im Fallen scheinen sie innezuhalten. Sie haben es nicht eilig. Eine rieselt derart langsam nach unten, dass es Frieda für einen Moment so vorkommt, als gäbe es auf dieser ganzen Welt nichts anderes als diese eine besondere Schneeflocke. Wieder kneift sie die Augen zusammen, diesmal die Lampions auf der Terrasse vom Bergel im Blick. Kunterbunte Linien entstehen, die sie tanzen lassen kann, je nachdem, wie weit sie die Augen öffnet oder wieder schließt.

Da hallt plötzlich Mutters Stimme in ihren Gedanken nach: Komm heute bitte rechtzeitig zurück …

Sie erschrickt.

Ja, gerade heute sollte sie pünktlich sein. Und nun ist es schon dunkel! Sie schnappt sich die Schlittschuhe und rennt los. »Bitte«, ruft sie hinauf zum Himmel. »Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.« Aber als sie die elterliche Wohnung neben der alten Badeanstalt in der Mollwitzer Straße erreicht, brennt überall Licht, und im Flur, das weiß sie, wartet für solche Fälle der Teppichklopfer. Erst ein einziges Mal hat sie ihn zu spüren bekommen. An jenem Sonntag war sie nicht beim Gottesdienst gewesen, sondern stattdessen früh aus dem Haus geschlichen, um mit ihren Freundinnen zum Schlittenfahren zu gehen. Auch dabei hatte sie die Zeit vergessen und war erst abends zurückgekehrt. Mutter war vor Sorge um sie beinah gestorben. Das jedenfalls sagte Vater, als er sie an dem Abend an der Eingangstür empfing. Und als sie den beiden nicht einmal erzählen wollte, wo sie den ganzen Tag über gesteckt hatte, griff er nach dem Klopfer. Allerdings schlug er nur ein paarmal zu, denn schon nach dem ersten Hieb schien es ihm genauso wehzutun wie ihr, und auch Mutter winkte ab, damit er die Prozedur verkürzte. Eine Woche später hätte sie beinahe wieder Schläge bekommen. Zumindest forderte das der Rektor ihrer Mädchenschule, als er die Eltern extra aufsuchte, um sich über ihre ungezogene Tochter zu beschweren. Angeblich hatte sie dieser Doktor Bojak als Teil einer Bande ausmachen können, die das Fahrrad der Klassenlehrerin auf dem Schulhof beschädigt habe. Aber das war natürlich Unsinn. Erstens hatten sie der ollen Basewitz nur die Ventile aus den Schläuchen gezogen, zweitens hatte es die alte Hexe verdient, weil sie im Unterricht ständig den Rohrstock schwang. Selbst wenn einem der Mädchen nur mal ein Stück Kreide herunterfiel, schlug die Basewitz zu, und dann sagte sie auch noch Sachen wie: »Ein blauer Fleck zur rechten Zeit wirkt wahre Wunder.« Drittens war Frieda nicht einfach Teil dieser Mädchenbande, sondern deren Anführerin. Das Erstaunliche: Als Vater die Hintergründe der Tat erfuhr, musste er sich ein Lächeln verkneifen. »So etwas macht man nicht«, sagte er damals in bemüht strengem Ton. Auf eine Strafe jedoch verzichtete er, und den Direktor schickte er weg.

Friedas Blick ruht auf den beleuchteten Fenstern ihres Elternhauses. Dann streckt sie den Rücken. Wird bestimmt nicht so schlimm werden, denkt sie, und greift nach der großen Klinke mit der Bärentatze. Vor allem darf man kein Angsthase sein.

Kapitel 4

Auf der Flucht, Januar 1945

Es knirscht und knackt unter Friedas Stiefeln. Die Schneeluft macht es weiterhin unmöglich zu erkennen, wohin der Treck steuert. Sie alle können nur hoffen, an jeder Weggabelung den richtigen Abzweig genommen zu haben. Zumal sie, immer wenn es geht, durch ein Waldstück marschieren, um vor möglichen Tieffliegern geschützt zu sein. Nachdem sie bei einem Angriff auf der Landstraße sogar das Gesicht eines Fliegers erkennen konnten, bevor sie sich in Todesangst in den Boden krallten, wollen sie kein Risiko mehr eingehen. Und so zerren und schieben auch Frieda und Erika den Wagen über die gefrorenen Waldwege, bis sie wieder zurück auf die Landstraße müssen, und sie geben ihr Bestes, um auf den letzten Metern nicht noch zu stürzen.

Plötzlich ein Schrei.

Erika ist stehen geblieben. Sie kann den Blick nicht vom Wegesrand abwenden. Dort liegt eine alte Frau im Graben. Leblos. Ein Junge kniet vor ihr und zerrt ihr gerade einen Ring vom Finger. Ein paar Schritte weiter auf der Wiese liegen Soldaten, die meisten tot, einige schwer verwundet. Und weiter vorn, neben dem Panzer, eine Kinderleiche. Daneben der Körper einer jungen Frau. Auch sie wirkt, als hätte man sie ausgeplündert. Der Oberkörper ist fast nackt. Pullover und Mantel fehlen. Eine Brust liegt vollständig frei, die Strümpfe mitsamt Strumpfhalter hängen ihr um die Knöchel, und selbst die Schuhe der Frau sind verschwunden. Grausam, schießt es Frieda durch den Kopf. Erika steht indes mit hängenden Schultern inmitten der drängelnden Menge.

»Komm her«, ruft Frieda, quetscht sich durch den Flüchtlingstross zurück zu ihrer Tochter und kauert sich vor sie, um sie in die Arme zu nehmen. »Schau da nicht hin«, flüstert sie. Sie spürt ihren eigenen Herzschlag und den ihres Kindes. Sie wiegt die Kleine hin und her, bemüht sich um Ruhe in der Stimme. »Mein Schatz, wir müssen jetzt tapfer sein und durchhalten. Am Flughafen kenne ich ein paar Leute von der Arbeit, die werden uns bestimmt weiterhelfen.« Erika hat bitterlich zu weinen begonnen, und Frieda dreht den Kopf ihrer Tochter beiseite, weg von den Toten auf der Wiese. »Wir wollen doch Papa und Horst bald wiedersehen, nicht wahr? Das haben wir ihnen versprochen.« Dann rappelt sie sich mühsam auf, um weiterzulaufen, doch nach den ersten Schritten hält sie erneut inne.

»Mama«, ruft es hinter ihr.

Aber Friedas Blick klebt an einem Soldaten, der vor ihr an einem Baum über dem Straßengraben baumelt. Sie will wegschauen, will weitergehen. Aber sie schafft es nicht. Während der Lärm um sie herum zu verstummen scheint, zittert sie am ganzen Körper. Vielleicht sollte sie schauen, ob sie ihm noch helfen kann. Aber sie kann sich nicht bewegen, ist wie versteinert. »Vater«, flüstert sie hinter ihrem Schal, »wie bei Vater. Gott, hilf mir …«

»Mama, Mama«, hört sie es erneut irgendwo schreien, und endlich bemerkt sie, dass Erika an ihrem Mantel zerrt.

»Alles gut«, keucht sie gegen den Wind. »Komm, es geht weiter!«

Erika nickt und wischt die Tränen mit dem Mantelärmel fort. Das letzte Mal, dass sie ihrer Kleinen solche Angst gemacht hatte, war vermutlich damals beim Abendessen, als Karl und Horst noch da waren und am Tisch plötzlich die Rede von Großvater Hermann war. Kaum hatte jemand den Namen ihres Vaters ausgesprochen, erstarrte sie. Dann lief sie ins Schlafzimmer, und dort hörte man sie weinen, bis Karl ihr ins Zimmer folgte, um sie zu trösten. Frieda drückt sich die steife Mütze noch tiefer in die Stirn. Der Wind ist wütend. Das spürt sie an der Kälte, die er durch jede Naht ihres Mantels treibt, hört es am aufgeregten Rascheln des vertrockneten Schilfrohrs im Wassergraben, dessen lange Blätter hin- und hergeschleudert werden, genauso wie die verdorrten Hagebuttensträucher weiter vorn.

Zum ersten Mal in ihrem Leben beginnt sie, den Winter zu hassen. Plötzlich ist es nicht mehr ihr Freund, der die Stille bringt. Plötzlich bringt er das Grauen, und ihr ist, als müsste sie jeden Moment erfrieren auf diesem endlosen Marsch. Wie mag es erst ihrer Tochter gehen? Mit einem bangen Blick zurück auf Erika hinter dem Karren holt sie Luft unter ihrem Schal. So tief, wie sie kann. Vorwärts, Schritt um Schritt.

Immer breiter wird der Zug der Flüchtenden. Und immer stummer. Nur ab und an fliegen ein paar Wortfetzen durch die Luft. Aus den Augenwinkeln sieht Frieda, wie ständig neue Trecks aus den Gehöften der umliegenden Dörfer strömen und in den ihren münden. Jede Gruppe mit vollbeladenen Wagen. Obendrüber ein Gestell, mit Läufern oder Decken behangen als Schutz vor Kälte und Schnee. Sie weiß genau, was in den Köpfen der anderen vorgeht. Jeder hier will den Russen entkommen. Alle zu Fuß, manche so erschöpft, dass sie sich nur zentimeterweise vorwärtsbewegen. Bald ist der Zug mehrere Kilometer lang. Die Menschen schleppen sich und ihre Habseligkeiten zwischen Panjewagen und Militärkolonnen durch, die auf dem Rückzug sind. Der Teppich aus Toten am Wegesrand nimmt kein Ende. Überall Erfrorene oder verunglückte Wagen, die auf dem Glatteis vom Weg abgekommen und einen Abhang hinuntergestürzt sind, begleitet vom bedrohlichen Summen der Silbervögel über ihnen und dem Zittern der Straße unter ihren Füßen von den nahen Einschlägen. Der Krieg ist ein Monster. Frieda weiß das schon lange.

Kapitel 5

Brieg, Dezember 1917

An diesem Morgen macht Pauline Katscher kein Frühstück. Sie hockt mit versteinertem Blick am Esstisch. Zu den feinen Linien, die sie mit ihren achtunddreißig Jahren auf der Stirn hat, scheinen plötzlich noch mehr hinzugekommen zu sein, und ihre Hände, vom Waschen im Zuber noch ganz aufgeweicht, liegen ihr reglos im Schoß. Frieda entdeckt einen Umschlag zwischen den Fingern der Mutter, aus dem eine vorgedruckte Feldpostkarte und ein Wehrpass hervorragen.

»Was ist denn, Mama?« Das Mädchen zieht sie am Arm. »Mama?«

Doch Pauline rührt sich nicht. Als gäbe es keinen Grund mehr dafür. Zum zweiten Mal hat sie so eine Feldpost erhalten, und schon beim ersten Mal war sie danach wie tot. Frieda kniet sich vor sie, sucht ihren Blick – vergebens. Mutters helle Augen unter den Strähnen, die aus dem Dutt herausgerutscht sind und ihr nun bis zu den Wimpern reichen, scheinen von Sekunde zu Sekunde matter zu werden. Eben noch voller Tränen, jetzt starr und leer. Vorsichtig nimmt Frieda das Schreiben an sich. Absender ist die 3. Kompanie der 52. Infanterie-Division. Sie liest:

Die Kompanie erfüllt hiermit die traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Sohn, der Unteroffizier Hans Wilhelm Katscher, am 14. November 1916 beim Sturm in der Schlacht an der Somme in Serre, südlich von Pys, gefallen ist. Er starb den Heldentod fürs Vaterland!

Das Ticken der Wanduhr dröhnt Frieda in den Ohren. Sie greift sich an den Hals, denn ihre Kehle schnürt sich zu. Hans ist ihr Lieblingsbruder. Er hat sie immer vor allem beschützt. Im Hof vor den anderen Kindern, in der Schule, hier daheim. Bis er sich als Freiwilliger gemeldet hat.

Das Ticken der Wanduhr wird unerträglich.

»Mama«, flüstert sie. Keine Antwort. Frieda streicht über die Hand der Mutter. Dann setzt sie sich auf eine Fußbank vor ihr und legt den Kopf in ihren Schoß, auf die blaue Schürze. So verharren sie bis zum Mittag. Bis Vater für eine Mahlzeit nach Hause kommt.

Hermann gelingt es nicht, seine Frau zum Essen oder Schlafen zu bewegen. Pauline hungert und wacht die ganze Woche, ebenso wie die Woche darauf. Auch Frieda kann nicht zu ihrer Mutter durchdringen. Nur einmal streicht Pauline ihr über den Kopf.

»Ach, mein Friedelchen«, flüstert sie, noch immer mit den Augen woanders. »Gut, dass ich dich hab.«

Dann taucht sie wieder ab in ihre Welt der Stille.

An einem dieser Abende belauscht Frieda ihre Eltern hinter der Küchentür. Sie sieht, wie sich Vaters kräftige Hand auf die schmale der Mutter legt und ein paarmal darüberstreicht. Er hat noch etwas über Hans’ Tod an der Westfront in Erfahrung bringen können, nämlich dass ihr Sohn auf freiem Gelände in das feindliche Maschinengewehrfeuer geraten sein soll und in diesem Niemandsland mit seinen Brust- und Bauchschüssen nicht von den Sanitätern geborgen werden konnte. An dieser Stelle sackt Vaters Hand nach unten. Er muss sich erst wieder beruhigen, bevor er weitersprechen kann.

»Es kann sein«, presst er schließlich hervor, »dass sich unser Junge noch über Tage gequält hat.« Wieder herrscht Schweigen im Raum, und Frieda hinter der Tür drückt sich den Arm vor Nase und Mund, damit ihr Weinen sie nicht verrät.

»Das schaffen wir,«, hört sie irgendwann den Vater flüstern und beobachtet, wie er Mutter an sich zieht und sie ihren Kopf an seine Schulter sinken lässt.

Frieda schleicht sich hinauf in die Kammer. Dort liest sie einen alten Feldpostbrief von Hans. Wieder und wieder, denn diese Zeilen hat er damals nur an sie geschrieben:

Ich bin immer noch im Krieg, aber mir geht es gut. Ich habe ein großes Pferd und 200 Soldaten, die haben alle Gewehre und einen Stahlhelm auf. Ich selbst habe schon schrecklich viele gefangene Engländer und Franzosen gesehen, und wir essen jeden Abend Pferdefleisch. Die feindlichen Flieger haben leider schon etliche Pferde auf dem Gewissen, und es gibt hier mehr als tausend Lastautos. Aber ich passe auf mich auf.

Sei Du bitte lieb zu den Eltern und lauf fleißig auf dem Eis. Darin bist Du einfach die Beste. Ich zieh Dich an Deinen Zöpfen. Viele herzliche Grüße von Deinem Hansi

Die letzten Sätze verschwimmen unter Friedas Tränen, die schließlich auf das Papier in ihrer Hand tropfen. Hektisch tupft sie die feuchten Stellen mit dem Rock ab, der Brief darf keinen Schaden erleiden. Er ist doch ihr letztes Andenken an ihn.

Ihr Blick wandert über Hansis Stiefel, die in der Ecke warten, bis zu dem Gedicht an der Wand hinterm Schreibtisch, das er vor seiner Abreise abgeschrieben und neben eine Zeichnung von einer Klippe am Meer aufgehängt hatte. Es stammt von Guillaume Apollinaire. Ihre Augen ruhen auf der Handschrift des Bruders, fein geschwungen und ordentlich, wie er immer schrieb. Sie kennt die Zeilen des Gedichts auswendig, denn alles, was Hans etwas bedeutete, war auch für sie eine Entdeckung, und obwohl sie die Worte nicht ganz versteht, geben sie ihr Trost. Sie schließt die Augen und rezitiert laut in den leeren Raum:

»Kommt an den Rand der Tiefe!«

»Wir können nicht, wir fürchten uns.«

»Kommt an den Rand der Tiefe!«

»Wir können nicht, wir werden fallen!«

»Kommt an den Rand der Tiefe!«

Und sie kamen. Und er stieß sie.

Und sie flogen.

In dem Moment fällt ihr etwas ein. Sie springt auf und holt ein kleines, in Rindsleder gebundenes Buch aus der Wäschetruhe. Ein Geschenk von ihm. Für ihre Träume und geheimsten Gedanken, hat er damals gesagt. Vorsichtig legt sie den gefalteten Brief hinein und beginnt mit der ersten Seite, einem Wunsch für ihren toten Bruder und der Bitte an Gott, dass sie der Mutter in ihrem Schmerz helfen kann.

Kapitel 6

Auf der Flucht, Januar 1945

Endlich erreichen Frieda und Erika den Fliegerhorst. Sofort eilt Frieda zu ihrem Arbeitsplatz, dem großen weißen Flachbau mit der Aufschrift »Annahme und Versand«, in den die Schienen, die sich über das gesamte Gelände erstrecken, direkt hineinführen.

»Um Himmels willen.«

Ihre Chefin schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. »Ihr seid zu spät.« Doch Frau Kleywitz fasst sich schnell und gibt genaue Anweisungen. »In zehn Minuten rollt hier ein letzter Bus vom Feld. Der könnte euch zum Flughafen in Schweidnitz bringen, und von dort aus müsst ihr versuchen, mit der Bahn weiterzukommen. Vielleicht fährt da noch was.« Ihr Blick fällt auf den Kastenwagen mit den Habseligkeiten. »Aber euer Gepäck kriegen die nicht mehr mit.« Sie reißt das Fenster auf und späht über den Hof. »Ihr habt Glück, zwei sind noch da.« Sie wendet sich um. »Behaltet nur das Handgepäck und bringt die großen Taschen zu den Pferdewagen da drüben. Unsere russischen Zwangsarbeiter transportieren sie für euch nach Schweidnitz, dort könnt ihr sie wieder in Empfang nehmen.« Jeden Versuch einer Zwischenfrage wedelt die Kleywitz mit einer Handbewegung fort. »Los, der Bus fährt gleich!«

Als Frieda und Erika kurz danach auf der letzten freien Ecke eines Sitzes hocken und sich die Räder des Busses in Gang setzen, sagen sie fast gleichzeitig: »Gott sei Dank!«

Doch das, was sich draußen jenseits der verdreckten Scheiben abspielt, vertreibt jede Euphorie. Ein endloser Zug aus entkräfteten Menschen schleppt sich neben dem Bus her über die vereisten Straßen. So viele, dass sich Staus bilden und niemand mehr überholen kann. Immer mehr Tote sind im Straßengraben zu erkennen. Beide bemerken ein Bündel, das wie eine Puppe aussieht. Doch da es direkt neben einem umgestürzten Leiterwagen liegt und keines der Kinder ein so großes Spielzeug mit auf die Flucht nehmen konnte, vermutet Frieda sofort, dass es sich um ein echtes Baby handelt. Sie erhebt sich ein Stück vom Sitz, um die Landschaft nach seinen Eltern abzusuchen. Nach irgendjemandem, der sich um das Bündel kümmern kann. Doch da ist niemand. Jeder, der an dem Leiterwagen vorbeikommt, ist mit sich beschäftigt. Alles, was sie entdeckt, ist eine zweite Puppe zwischen Straße und Wiese. Die aber ist kohlrabenschwarz, als hätte ein großes Feuer gewütet. In dem Moment hört sie Schreie direkt unter der Fensterscheibe und sieht, wie Erika die Nase ans Glas presst und nach unten starrt. Zwei Kinder irren zwischen den Erwachsenen umher. »Mutti, wo bist du? Mutti …«, rufen sie immer wieder, und ihre verzweifelten Stimmen klirren Frieda in den Ohren.

»Sieh nicht raus«, flüstert sie ihrer Tochter ins Ohr. Doch sie weiß, dass Erika es kaum schaffen wird, den Blick abzuwenden. Wegschauen funktioniert nicht mehr.

Nach einer dreistündigen Fahrt über zerstörte und überfüllte Straßen erreicht der Bus das Gelände des Flughafens Schweidnitz. Frieda bringt Erika in eine Ecke der Wartehalle hinter den Gleisen.

»Du bleibst hier, und ich suche den Pferdewagen mit unseren Taschen.« Sie hebt den Zeigerfinger, was sie sonst nur selten tut. »Bitte, es ist wichtig, dass du nicht wegläufst oder mich suchst, falls es etwas dauern sollte. Du wartest hier, ganz egal wie lange ich brauche. Ich komme in jedem Fall wieder, genau hierher. Hast du verstanden?«

Erika nickt und reibt sich die Hände. So wie Frieda. Beiden fließt das Blut zurück in die steif gefrorenen Finger und bringt sie zum Kribbeln. Frieda weiß genau, was ihr Mädchen in dem Moment denkt. Und wenn du nicht wiederkommst? Doch Erika spricht es nicht aus, mit Sicherheit will sie ihr keine zusätzlichen Sorgen bereiten. Tatsächlich kommt von ihr nur ein braves Nicken. »Ja, Mama, ich warte hier, bis du zurück bist.«

Fünf Stunden später ist Frieda wieder da. Mit blutleeren Wangen, einem Koffer und der großen Leinentasche, tritt sie durch die Schwingtür der Bahnhofshalle. Draußen ist es längst dunkel, ebenso wie im Wartesaal vor ihr. Überall hocken Menschen am Boden. Die meisten angelehnt an Wäschekörbe, so vollgepackt, dass sie mit Gürteln zusammengehalten werden müssen. Alle warten auf die Züge, die sie hier hoffentlich bald wegbringen.

»Vorsicht«, schreit in dem Moment jemand hinter Frieda in der Tür, »am Ende zerbricht er uns noch.« Sie springt zur Seite, und zwei Helfer im Schlepptau einer Krankenschwester tragen einen erfrorenen Menschen herein, so behutsam, als wäre er aus Porzellan. Wohl in der Hoffnung, ihm noch helfen zu können. Frieda verfolgt das Geschehen zwei, drei Sekunden lang, dann eilt ihr Blick wieder durch den Raum, auf der Suche nach dem Platz, wo sie Erika vor Stunden zurückgelassen hat. Inzwischen erscheint ihr die Wartehalle voller als zuvor. Fast als wären während ihrer Abwesenheit noch einmal doppelt so viele Flüchtlinge hinzugekommen. Wie soll sie ihr Mädchen in dem Chaos wiederfinden? Sie wird nervös, gleichzeitig zerrt die Erschöpfung an ihr. Sie läuft los, einmal quer durch den Saal, das schwere Gepäck an den Armen, doch bei ihrem Treffpunkt lässt sie alles fallen. Erika ist weg. Nur das Handgepäck, auf das sie achtgeben sollte, liegt noch da. Frieda wird schlecht. Als sie endlich wieder einen klaren Gedanken fassen kann, wendet sie sich an Leute gleich neben ihr.

»Haben Sie ein kleines Mädchen gesehen mit blonden Zöpfen? Das saß genau hier.« Die alte Frau schüttelt den Kopf, ihre Töchter zucken matt mit den Schultern. Frieda rennt los, ohne Taschen, in doppeltem Tempo. Ihr Kopf dreht sich hin und her, und immer wieder spricht sie jemanden an. »Haben Sie ein kleines Mädchen gesehen, blond, mit braunem Mantel, zehn Jahre alt?« Je tiefer sie in die Dunkelheit der Halle vorstößt, desto schwieriger wird es, sich durch die wartende Menge zu quetschen. Gerade als sie glaubt, vor Angst ersticken zu müssen, greift die Hand eines alten Mannes nach ihr.

»Dort, hinter der Pendeltür«, sagt er mit einem Nicken, »ich glaube, da sitzt jemand auf einem Hornschlitten, auf den die Beschreibung passen könnte.«

Als Frieda einen Augenblick später vor ihrer Tochter hockt, kann sie die Tränen nicht unterdrücken. »Da bist du ja, mein Schatz!« Sie lässt sich zu ihr auf den Schlitten fallen und reißt sie in ihre Arme.

»Mama«, ruft Erika aufgelöst. »Ich dachte, du kommst gar nicht mehr. Das hat so lange gedauert.«