Bis dass der Tod uns meidet - Alexander Peer - E-Book

Bis dass der Tod uns meidet E-Book

Alexander Peer

4,8

Beschreibung

Nietzsche und Beziehungsdilemma! Was könnte besser passen und sich gleichzeitig mehr ausschließen als die pathetisch-ironische Philosophie des großen Unzeitgemäßen und die verwegenen Erwartungen sowie trübenden Niederungen, die sich ereignen, wenn zwei aufeinandertreffen?Der Erzähler Franz schlittert in eine fiktional-reale Dreiecksbeziehung, als die Beziehung zu Rebecca zu erodieren beginnt: Immer mehr steigert sich Franz in einen Monolog mit dem Diagnostiker und Überwinder des Nihilismus hinein, driftet zwischen Selbstauflösung und Bestimmung. Nietzsche als Brennpunkt von Rastlosigkeit. "Je verlotterter das Leben, umso ergiebiger das Denken", könnte das Motto von Franz sein, einem sich an seinem Übervater wundreibenden modernen Menschen, der seine Identität findet, indem er sich verliert.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 349

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
14
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alexander Peer

Bis dass der Tod

uns meidet

Roman

Vermutlich hing die Gründung der Familie damit zusammen, daß das Bedürfnis genitaler Befriedigung nicht mehr wie ein Gast auftrat, der plötzlich bei einem erscheint und nach seiner Abreise lange nichts mehr von sich hören läßt, sondern sich als Dauermieter beim Einzelnen niederließ.

Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur

Schreibt man nicht gerade Bücher,

um zu verbergen, was man bei sich birgt?

Friedrich Nietzsche

1

Selten dieser Umstand, nichts zu verlangen und zu erkennen, dass alle Erwartungen erfüllt wurden. So ging ich – ziellos erst, dann nach Hause – nach meinem ersten Treffen mit Rebecca durch behaglichen Nieselregen, schwül war der Tag gewesen, die Nacht.

Während meines Schreibworkshops hatte ich sie kennengelernt. Ich weiß, wie leicht es fällt, Erlebnissen erst im Nachhinein eine Bedeutung zu geben – erst dann, wenn eine Begegnung diese Bedeutung entwickelt hat –, aber ich erinnere mich, wie sie einige Minuten zu spät den Raum betreten hatte und ich den Workshop damit begann, nach den Impulsen zu fragen, die uns zum Schreiben drängen. Sie sagte, es sei die Liebe zur Sprache. So einfach, so gut. Es war insbesondere die Pause, die sie dabei machte, die mich für sie einnahm. Dieses Hände-ineinander-Verschränken und Oberkörper-Aufrichten, das gleichzeitige Strecken des Halses und Ausrichten ihres Blicks.

Am folgenden Tag schloss ich die Schreibanimationen im Wegerpark mit einer Visualisierung ab. Ich lud die Teilnehmer ein, die Augen zu schließen und eine Landschaft zu imaginieren, einem Weg zu folgen, der zu einem Haus führt. Ich fragte, wie es wirke und ob sie es betreten wollten, wie die Zimmer aussähen und welche Möbel die Besitzer ausgewählt hätten. Ob Personen anwesend seien und in welcher Beziehung sie zueinander stünden. Es wird meist das Elternhaus gewesen sein. Aber das blieb schließlich jedem selbst überlassen – nicht nur die Reise, auch die Interpretation derselben. Die Übung hilft, Räume und Beziehungsverhältnisse zu konkretisieren. Wir öffneten die Augen und kamen allmählich in den Wegerpark zurück, wurden wieder zu den Erwachsenen, die wir waren. Der Sommer suchte sich in diesem Park ein Denkmal zu setzen. Das Kind, das wir eben in uns verlassen hatten, kehrte wieder in einem anderen Menschen, der noch keine zehn Jahre alt sein mochte und durch den Park tollte. Das dichtgewachsene Gras bettete den ganzen Körper so leicht, man mochte liegen bleiben ohne Ende. Über unseren Köpfen schwirrte das durch Äste und Zweige gebrochene Licht, es flackerte über unsere Gesichter. Der den gekniffenen Augen abgerungene Blick auf den Nächsten machte Mut, Wünsche auszusprechen.

Nach dem Ende der Visualisierung ging ich den gleichen Weg wie Rebecca. Sie erzählte von einem vor Kurzem unternommenen Ausflug aufs Land mit Rioja und Manchego, von den Tanninen, die den Mund aushöhlen, die Zunge dunkelrot einfärben, sie lederner und lederner werden lassen, Rachen und Kehlkopf betäuben. Ich sah während unseres Spaziergangs durch den Wegerpark den Traunsee in der Mitte der Wiese flimmern. Hier hatte sie das ewige Leben geprobt und mit der zweiten Flasche Wein hatte sich die Lücke geschlossen zwischen den Gefühlen, die sich in ihr rieben, und den Worten, die für diese Gefühle einstanden. Der akrobatische Zwang, der Sprache eine überhöhte Bedeutung abzuringen, fiel ab. Mit jedem Schluck wurde das Gesagte selbstverständlicher, vertrauter, kein Zweifel mehr drängte sich zwischen Herz und Kopf. Was gut war, nannte sie auch so.

Sie erinnerte sich an den Abend, als das Licht ausgegangen war und die achtjährige Rebecca in ihrem verwunschenen Gartenhaus allein mit einer Kerze der Dunkelheit trotzte und nicht wusste, wer käme und sie holen würde. Sie witzelte über Hesse und zitierte Nabokov. In ihrer Hand schien ich jetzt die flackernde Kerze von damals auszumachen, die ganz verängstigt war, dass man sie aus dem warmen Hort der Erinnerung in die ungefilterte Gegenwart hinaustrug, und die schließlich an einem Herzschlag erlosch, als an der Kreuzung ein Auto hupte. Im Gehen machte Rebeccas Körper größer und größer werdende Sprünge, bis sie aufstieg und ich ihrem seltenen Gefieder nachblickte, federleicht flog das wehende Wesen über den Zebrastreifen einer Straßenbahnhaltestelle zu. Dort – an der Bank – beruhigte sich das Geschöpf, ließ die Flügel sachte angelehnt. Ich sah ihr nach und dachte: „Tja.“

Am letzten Tag des Workshops fehlte sie. Ich fürchtete, sie nie mehr zu sehen. Nie mehr endete am Abend. Rebecca erschien zur Abschlussveranstaltung. Ich spüre jetzt noch diese Erleichterung, sie wiedergesehen zu haben. Das lange vermisste Gefühl, als gäbe es jemanden. Es waren nicht zu gering zu schätzende Mengen Chardonnay, die uns ins Albern trieben. Sie narrte mich, weil ich hie und da entgegnete „It’s too personal“, wenn sie mit frechen Fragen an dem Kokon bohrte, den ich in den letzten Jahren mühsam und prinzipiell unerwünscht, doch letztlich unvermeidbar errichtet hatte. Meine Abwehr blieb bescheiden, ihre nächste Spitze traf erneut und ich war fast dankbar für die Irritation, die diese Rebecca aus Michigan in mir provozierte. Der Liebe wegen kam sie nach Wien. Die Liebe zog eines Tages weiter. Rebecca blieb.

Es war eben Mitternacht geworden, als ich allein in der U-Bahn saß und zufrieden war. Der Workshop war gut gelaufen. Ja, es waren richtige Begegnungen gewesen.

Rebecca schrieb mir ein paar Tage später ein E-Mail: „I’m looking very much forward to seeing you again.“ Ich wusste, ich hätte es für eine Phrase halten können, aber ich zögerte nicht, again zum Leben zu erwecken.

Der Juli kam zu seinem Ende, als ich Rebecca im Pub „Kings & Queens“ traf. Kaum hatte ich Platz genommen, war ihr Vater anwesend, weil auch er einer der Abwesenden war. Jahrelang hatte er sich nicht gemeldet. Früher, als sie noch in der Keimzelle Familie lebte, kam sie nie an ihn heran, keinen Platz hatte sie gehabt, sich ihm mitzuteilen.

Nicht nur der Vater wurde herbeizitiert in seiner Abwesenheit, auch der eine oder andere Mann aus ihrem Leben. Eine langjährige Beziehung, die immer mehr dem Desaster entgegenfieberte, schließlich mit einer Katastrophe endete, hatte ihr die Beziehungswilligkeit ausgetrieben. Auf meine Frage, welcher Art die Katastrophe gewesen sei, wich Rebecca aus und erzählte, kaum Atem schöpfend, von anderem. Je verausgabender Rebecca sprach, umso mehr trieb mich meine Stummheit in die Beobachterrolle. Irgendwann musste ich feststellen, dass mein Blick, der erst fest in ihre Augen gerichtet war, langsam abwärts driftete, erst den glatten, weißen Nasenrücken überschritt, an ihrer Spitze seine Flagge aufsetzte, dann – müde vom Rausch des Gipfelsturms – langsam herabkam und an den Lippen kurz rastete. Ungefragt glitt er weiter über den Hals zu ihrem Dekolleté, als hätte er seine Tour spontan verlängern wollen. Hier weidete er sich eine Zeit lang und widmete der schmalen Grube, die ihre Brüste schufen, seine ganze Konzentration. Rebecca zog die Jeansjacke eng zusammen. Man mag es als Zufall bezeichnen, dass ich zu dieser Zeit das überaus lesenswerte Buch Liebe und Betrug von Manfred Schneider las, ein Buch, das über die Sprachen des Verlangens Auskunft gibt. Genau eine Stunde vor meinem Treffen mit Rebecca hatte ich darin das folgende Zitat Marquis de Sades gelesen: „‚Mein Freund‘, sprach ich, ‚ich lese in deinen Augen, dass dich dein Samen verraten wird, den du bei den Reizen dieser Szene nicht halten können wirst (…).‘“ Ich spürte eine schmerzvolle Erektion, die in meiner Lederhose nicht angemessen zur Entfaltung kommen konnte. Ich bestellte instinktiv ein Bier, obwohl das vor mir stehende noch nicht einmal zur Hälfte geleert war. Rebecca hatte zu reden aufgehört. Wir sahen einander wortlos an.

„Are you listening to me?“

„Of course … of course I do. Just keep on … erzähl ruhig.“

Ich schob die beiden Biergläser vor mir hin und her, als wäre ich ein Marionettenspieler, der das Stück vergessen hat und, nur um das Missgeschick zu kaschieren, seine Figuren rascher und zielloser auf der Bühne dirigiert. Rebecca blickte meiner Inszenierung mit einer gewissen Neugier zu, auch wenn sie sich einen Teil denken musste, der nicht zu meinem Vorteil geriet. Ich hielt inne, hob ein Bier, trank es aus und stellte das leere Glas auf den Nebentisch. Ich schaute Rebecca fest in die Augen und noch eine Spur beharrlicher griffen meine Finger um das andere Glas Bier.

Sie hatte schon zu Beginn unserer Verabredung angekündigt, nicht lange bleiben zu können, da sie am nächsten Tag zu einem Wanderausflug aufbrechen wolle. Je näher dieser Wanderausflug in Stunden rückte, umso weiter weg rückte er in unserer Wahrnehmung. Stattdessen sprachen wir über den ersten und den letzten Kuss. Wir erinnerten uns an den seinerzeit im Mathematikbuch versteckten Roman, statt Algebra studierte ich den Kurzen Brief zum langen Abschied, Rebecca las Wuthering Heights, als von Tangenten gesprochen wurde. Es ging in unserem Redeparcours um Studentenjahre mit einem Studium jenseits der Hörsäle, um rauschende Feste, die nie enden sollten und es später doch taten, weil die Furcht vor der Zukunft uns zu verantwortungsvollen Erwachsenen werden ließ. Ich sprach von Miles Davis und sie von Lennie Cohen und obwohl es uns als zwingendes Indiz schien, dass damit etwas Verbindliches über unser Alter festgestellt war, waren wir tatsächlich jünger. Schließlich pfiff ich das Solo von David Gilmour in Comfortably Numb. Immerhin ich selbst meinte es zu erkennen. Wir machten einander den Sommer am Michigansee und den Winter in Zell am See anschaulich. Wir erörterten den falschen Mann, die falsche Frau, das falsche Leben im richtigen.

Schließlich wurden die Holzstühle um uns auf die Tische gestellt. Mit einem riesigen Lappen wischte eine verstummte, schlotternde Frau zwischen uns die Spuren verschütteten Alkohols auf. Rebecca und ich waren durch die Labyrinthe unserer Biografien getaumelt, um drei Uhr nachts fanden wir den Ausgang, kamen auf die Straße der Gegenwart zurück. Ich glaube nicht, dass mein Leben ereignislos ist, aber ich hatte das Gefühl, als wäre dieser Abend einer der schönsten gewesen – so seltsam er auch begonnen hatte –, den ich mit einer Frau verbracht hatte, ohne mit ihr zu schlafen.

Der Befund „ohne mit ihr zu schlafen“ genügte für Fantasien, die mich durch die Nacht kneteten und matt in den nächsten Tag trieben. Ich musste aufs Land, weg von den Straßen, die mich zu Rebecca und von ihr wieder weg geführt hatten. In den Bergen verfasste ich für den hiesigen Tourismusverband einige kurze Gesinnungselaborate für eine Broschüre über das Wandern: „Dem Nebel des Tales entstiegen, packst du dein Jausenbrot neben dem Gipfelkreuz aus und genießt es sonnenbeschienen.“ Zwei Seiten Text reichten für die Vergewisserung, ich hätte einige Dreitausender bezwungen. Dabei hatte mich die Gondel praktisch in die unmittelbare Nähe meiner Hütte gebracht. Ausgenommen einen Höhenspaziergang täglich bewegte ich mich mäßig und schrieb vielmehr über die Gesundheit des Wanderns, dabei auf die Bequemlichkeit eines gut gepolsterten Stuhles vertrauend und auf diesem sitzend. Meine Hütte sah zwar außen rustikal aus, wies jedoch sowohl einen Kühlschrank als auch ein Radio auf. Aber kein Warmwasser. Absurd: Erst das eisige Wasser einer Quelle brachte mich auf andere Gedanken.

Mein Portemonnaie wies ein seltenes Gewicht auf, der Sommer bewies seine Sonnenseite; es ging voran, das heißt es ging und das hieß immer voran. Alle drei Tage kam ich ins Tal und in ein Internetcafé. Ich wünschte Rebecca durch das Schreiben nahe zu sein, und es mochte schon vor langer Zeit gewesen sein, dass mir das Schreiben von Mails wirklich als Briefwechsel erschien.

Als ich nach zehn Tagen zurück in die Stadt kam, trafen wir uns, kaum dass ich meine Tasche in meine Wohnung geworfen hatte. Wir spazierten durch den Tiergarten am Stadtrand. Die Nachmittagssonne lag über den ruhenden Tierkörpern wie eine helle und durchsichtige Decke. Der breite Kieselsteinweg war ausschließlich uns vorbehalten. Ich hatte Rebecca beim Wiedersehen auf die Wangen geküsst. Unsere Hände schwangen jetzt in der Bewegung des Gehens, streiften einander. Ich zeigte auf den Büffel, der am Horizont den Nacken in die Höhe richtete und brüllte oder vielleicht bloß röhrte. Das Alter mochte ihm das Brüllen ausgetrieben haben, aber zu sehen war deutlich, wie sehr er sich um eine Jugend bemühte, die ein für allemal vorüber war. Wir sahen ein Reh, das in der Wiese verschwand, sich bloß durch die über die Grasspitzen hinausragenden Ohrspitzen zu erkennen gab, und von den Ohrspitzen ausgehend entstand der Rest des Körpers in meiner Vorstellung. Kinder rannten uns plötzlich entgegen. Sie verschafften sich mit Brotkrümeln, Nüssen und Gräsern das Vorrecht, kleine, pelzige Zungen auf ihren weichen Händen zu spüren. Hasen und Ziegen um uns.

Inmitten des Tiergartens lag ein Herrenhaus, mit Efeu verpackt. Dunkles Grün wuchs empor. Das Haus war von übermächtigen Bäumen bewacht. Man musste die Äste zur Seite biegen, das Haar an den Blättern vorbeilotsen, um die Veranda zu betreten. Erst jetzt richtete ich meinen Blick auf die Fassade, die Fenster im ersten Stock. Ich konnte keine Vorhänge ausmachen und meinte, dass das Leben ausgegangen war und das schon vor vielen Jahren. Wahrscheinlich wollte es hier nicht mehr wohnen. Rebecca berührte meine Schulter und wies mir einen Platz an einem runden Tisch. Wir waren fast allein, nur der Kellner des nahen Cafés störte uns, da auf der Veranda Tische und Stühle seines Machtgebietes standen. Immer wenn der Kellner kam, verscheuchte ich ihn rasch mit einer neuen Bestellung, rief ihm diese schon fünf Meter, bevor er unseren Tisch erreicht hatte, zu, nur um mit Rebecca allein zu sein.

Wir gingen schließlich im dämmernden Licht dem Ausgang des weitläufigen Tiergartens zu, langsam und langsamer, als verzögerte jeder zurückhaltend gesetzte Schritt die Trennung. Doch dann standen wir geradezu plötzlich bei einer Haltestelle, und als hätte unser Erscheinen ihr erst eine Bedeutung gegeben, fuhr sogleich ein Bus ein, und noch bevor wir überlegen oder über das Überlegte diskutieren konnten, sprangen wir hinein. Mitten in die Stadt gab der Bus uns ab an einen Abend, der sich langsam einrichtete mit leuchtenden Straßenlaternen, weggesteckten Sonnenbrillen und aktenkoffertragenden Geschäftigen, die sich durchs Haar fuhren und immer wieder die Zeit prüften.

Wir gingen in ein Café, aßen uns satt und sahen uns an. Still hungry. Merlot und Veltliner stießen aneinander, klangen hell. Die Gauloises schrumpften zwischen unseren Fingern. Ein Luftzug wehte die Asche auf ihren Handrücken. Erst jetzt erkannte ich, wie einsam und ruhig ihre Hand auf der Tischplatte lag. Dann wurde sie sanft von der anderen von der Asche befreit. Der Alkohol trieb mich dorthin, wohin ich wollte. In vino veritas. Die Welt, die vor wenigen Tagen noch mit zahllosen Menschen bevölkert war, bestand jetzt endgültig nur noch aus Rebecca. Stündlich waren es weniger geworden, stündlich starben mehr und mehr aus meiner Wahrnehmung weg, ohne begründbare Chance, je wieder in sie zurückkehren zu können. Rebecca saß mir gegenüber und der Körper, in dem ich zu Hause und gefangen war, wurde durchlässiger, immer mehr. Er schien auf diesen anderen Körper zu warten und die Verschränkung unserer Hände, die ich herbeiführte, weil ich vorgab, prüfen zu wollen, ob nicht doch noch ein Ascherest auf ihrem Handrücken war, ließ mich erkennen, was die am Nebentisch schon wussten, die zwar aus meiner Wahrnehmung rausgefallen waren, in deren Wahrnehmung Rebecca und ich aber einen umso höheren Stellenwert erreichten. Leicht öffneten sich Rebeccas Lippen. Ich setzte ein erleichterndes So oder ein lösendes Ach oder auch ein zufriedenes Hm in ihren Mund, welches vielleicht da, aber zu verschüchtert war, um sich zu erkennen zu geben.

Zehn Minuten später saßen wir im Taxi zu mir nach Hause. Sie trank auf meinem Sofa zwei Martinis, ohne Eis, Zitrone, Soda, leerte bloß zweimal ein randvoll mit Martini gefülltes Whiskeyglas. „Eklig süß“ mochte ihr verzerrtes Gesicht sagen. Meine Frage, ob und wohin sie flüchten wolle, blieb unbeantwortet.

„Well … let’s do it.“

„So nicht, Rebecca, so nicht.“

Wir suchten einige lange Minuten nach den richtigen Berührungen. Es half uns sehr, dass keine wirklich falsche dabei war. Ich roch an ihrem Nacken ein Versprechen, das sich erfüllte, als ich mit meiner Zunge weiterkam. Ihre Hände begannen sich selbstverständlicher zu bewegen. Ihre vierzigjährige Haut war weich, warm, aber nicht erhitzt, sie zu berühren beruhigte mich. Es war allmählich einfach, einander nah zu sei. Das Spiel der Geschlechter nahm sich Zeit, und der Wunsch, den Körper des anderen so zu berühren, wie dieser es wollte, ließ das Spiel gelingen.

Sie wollte danach aufbrechen, nach Hause fahren, ich streichelte ihr nasses Haar, roch an meinen Fingerkuppen und leckte daran. Um fünf Uhr in der Früh hatte ich noch nie eine Fußreflexzonenmassage gegeben. Bis jetzt. Die Massage überzeugte sie zu bleiben. Ich war erschöpft von Tiergarten, Merlot und Orgasmus.

Als ich einschlief, dachte ich an die Jugend und dass es gut war, älter zu sein. Am Tag des Herrn suchten wir vergeblich nach einem Grund, das Bett zu verlassen. Die Körper verstanden einander, als hätten sie sich im Schlaf noch vertrauter gemacht, als wäre durch das bloße Seite-an-Seite-Liegen die Topografie des anderen Körpers ergründet worden. Man konnte Experimente starten, endlich lustvoll avantgardistisch sein. Ich ließ Sturmtruppen in mein Land.

Erst als ein neuer Abend dämmerte, setzten wir uns erschlagen zu einem Teller Nudeln. Jeder aß still, wir verabschiedeten uns. Die Wohnung war mit einem Mal ausgestorben, das Wochenende auch.

Wir waren beide keine Kinder mehr, wir waren Erwachsene, denen das Spielen im Laufe des Lebens immer wieder so weit abhandengekommen war, dass es fast seltsam erschien, es wieder zu beginnen. Vielleicht waren wir auch Kinder, die, selbst wenn sie spielten, nur ernst zu spielen verstanden. Ich wusste sofort um diesen Augenblick, diesen kostbaren, unwiederbringlichen Moment der unbedarften Begegnung. Ich wollte ihn nicht verscheuchen durch meine Gedanken. Mehrere Abende lang gab es keinen Zweifel am Savoir-vivre … Kino, Cocktail, Körpernähe. Lauschige Gastgärten wurden unser Wohnzimmer. Wir spazierten an den freien Tagen um die Stadt, fanden hinter einem Busch ein Schlafzimmer, Moos und warmes Gras hätten ihre Qualitäten gar nicht besser bewiesen bekommen können als durch uns, die wir darauf lagen und schliefen. Liegende, die ihre Hände in die Erde wühlten.

Bald fuhr ich erneut für einige Tage aufs Land. Ich hatte Rebecca eingeladen und war überrascht, dass sie kam. An Gräsern und Bäumen hatte der nahende Herbst seine ersten Markierungen getan. In den Städten war der Herbst auftragslos geworden bis in den Oktober hinein, die Bäume zeigten keinen Willen, sich von ihren Blättern zu trennen; der Wind war immer noch die Sommerbrise. Am Land jedoch, in den Tälern, konnte er früh schon beweisen, dass auch dieses Jahr nicht mit ihm zu spaßen war. Es mochte ein von der Natur engagierter, geschäftiger Maler sein, der genau dort, wo man nicht hinsah, seinen Pinsel ansetzte oder ein frühes Blatt fallen ließ, das ihn störte und mit dem er sein unvermeidbares Kommen ankündigte. Immer wenn die Nächte kühl zu werden begannen, bedauerte ich doppelt das Einem-Ende-Zulaufen des Sommers: Stets erinnerte mich der Morgentau des späten Augusts daran, dass wieder der Lehrberuf meinem für kurze Zeit anarchischen Lebensstil ein Ende bereiten würde und dass sich dann ein Gefühl des Versäumens – wie reich die Monate auch immer gewesen waren – in mir einnisten wollte. Wahrscheinlich würde eben irgendwo ein Schüler ähnlich fühlen, aber dann in zwei, drei Wochen würden in der Schule alle wieder so tun, als ginge sie das Leben der anderen nur bedingt etwas an … und es wäre ihnen nicht zu verübeln. Die Fragen nach dem Befinden mussten so beantwortet werden, dass sie zwar einerseits etwas zu Befindlichkeiten aussagten, andererseits jedoch nichts wirklich Persönliches vermittelten. Die Schule bewies Schopenhauers berühmtes Stachelschweinbeispiel am eindrucksvollsten, und genau in dieser Umgebung sollten die Nächsten, also die Nachkommenden, zu ihrer eigenen Persönlichkeit finden?

Die Sonne hatte keine Kraft mehr, die Höhe des Firmaments zu erreichen, und ging schon gebückter über die Erde. Ich kochte für Rebecca, üppige Saucen zu magerem Fleisch, Gemüse, das noch knackte, als man es biss. Wir spazierten durch Laub- und Nadelwälder, kehrten ein in Kaffeehäuser, lasen einander Artikel vor und kommentierten diese, spielten mit den Anmaßungen der Horoskope, die auf den Zuckerpackungen Menschen und ihre Eigenschaften taxierten. Abends lagen wir in einer Badewanne, die als Kleinschwimmbecken gelten konnte. Der Dampf stieg über unseren Köpfen zur Zimmerdecke. Auf ihrem Schenkel ruhte meine Hand, als sollte das künftig ihre einzige Bestimmung sein. Wir trockneten einander ab, schlüpften in das Bett, dessen Lattenrost knarrte, beim bloßen Atmen schon. Später sprangen einzelne Bretter heraus, die Matratze sank ab, und fast wären wir auf dem Boden gelandet mit unserem Höhenflug.

Zwei Tage später musste sie zurück in die Stadt. Am selben Abend schrieb sie mir ein SMS: „I just took a bath, that was half the bath without the other half. An often toad who sometimes knowed how to tell of love un-toad, was missing wanted to kissing.“

Ich kam wenige Tage danach in ihrer Badewanne an, das Kerzenlicht hatte es leicht an diesen Abenden, der Romantik eine neue Chance zu geben. Hätte ich sie gehabt, die blaue Blume, ich hätte sie ihr geschenkt. Immerhin kaufte ich wieder Rosen.

3