Bis ins dritte und vierte Glied - Anne Chavez - E-Book

Bis ins dritte und vierte Glied E-Book

Anne Chavez

4,8

Beschreibung

Mit Ende vierzig findet Micha sich in der Psychiatrie wieder. Der ehemalige Bauingenieur, der in einem Kino arbeitet, hat versucht, mit dem Messer auf seine Mutter einzustechen. Nun ist Micha gezwungen, sich seiner Geschichte zu stellen. Wie ihn der Betrug der Mutter am Vater kränkte. Wie hilflos er war, als die Mutter das Kind zum Komplizen machte. Wie es ihn drängte, den Vater zu verteidigen – und scheiterte. Jahrzehntelang bewahrte er die Wut in sich. Dann lassen dahingesagte Worte seine Seele bersten. Allmählich begreift Micha, wie Geschichte vererbt wird. Er will es besser machen mit seiner Tochter Ella. Und doch lebt auch er einen Kampf um Einfluss und Liebe, der bis in die Zukunft zu reichen droht. Anne Chavez beschreibt eine Suche nach Wegen aus Abhängigkeit und Gewissensqualen. Sie findet Bilder für unser aller Dilemma. Dass wir gefangen sind in der Geschichte unserer Familie und selbst die nächste Generation in Haftung nehmen. Bei alldem übersieht die Autorin jedoch nicht die wunderbaren Höhepunkte eines schwierigen Lebens.

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cocon

Auf der ersten Seite stellt man sich vor,mit dem ersten Satz ist schon alles geschehen;dem ersten Satz geht das ganze Buch voraus(Elazar Benzoëtz, Die Eselin Bileams und Kohelets Hund)

Die Väter essen saure Trauben, und den Söhnen werdendie Zähne stumpf.(Ezechiel 18, 2)

Anne Chavez

Bis ins dritte und vierte Glied

Roman

Anne Chavez: Bis ins dritte und vierte Glied2. AuflageTitelgestaltung: Daniel Nachtigal unter Verwendungeines Fotos von www.lifeofpix.comErschienen im CoCon-Verlag, Hanau, 2015www.cocon-verlag.de

eISBN 978-3-86314-786-0

Anne Chavez

Bis ins dritte und vierte Glied

Teil I 1995

Der Verwirrte ist Teil der Verwirrung

1

Montag, 2. Oktober 1995

„Auf–wa–chen. Bitte auf–wa–chen! Herr Valentin, auf–wa–chen!“

Der sanfte Klang dieser Worte dringt an die Schwelle von Michas Bewusstsein. Träumt er oder wacht er? Noch einmal hört er die freundliche Stimme: „Auf–wa–chen!“

Er will wissen, woher die Aufforderung kommt. Doch sein Kopf schwimmt davon, und eine große schwarze Hand zieht ihn ins Dunkel zurück. Dagegen ist er machtlos. Aber die Frau gibt nicht auf.

„Herr Valentin! Hallo! Wach werden!“

Jemand tätschelt ihm kräftig die Wangen. Er blinzelt. Die Helligkeit schmerzt seinen Augen. Wieder spürt er den Backenstreich. Diesmal stärker. Seine Augen öffnen sich unwillkürlich. Sie klappen auf wie die beweglichen Lider einer Schlafpuppe. Vergeblich versucht er, den unbekannten Klang und das Bild der jungen Frau vor ihm zusammenzubringen. Er gibt auf, fällt in wolligen Nebel, eine angenehm farblose Weiche. Jetzt rüttelt und zerrt es an ihm. Wieder öffnet er die schweren Augendeckel. Vor ihm diese junge blonde Frau, die ihn unsicher anlächelt.

„Endlich, Herr Valentin.“ Sie klingt erleichtert.

Micha reckt den Kopf ein wenig hoch. Die Menschen an seinem Bett sprechen, doch er kann nicht folgen. Um ihn ein fremder Raum, er sieht das Fußende eines grellweißen Metallbettes. Es dämmert ihm: Das ist ein Krankenhaus.

Die junge Frau mit dem hübschen Gesicht hat sich über ihn gebeugt. Micha starrt in unglaublich blaue Veilchenaugen.

Als könnte sie seinen Blick nicht aushalten, wendet sie sich ab zu einem Mann und einer Frau, die wie sie ganz in Weiß gekleidet sind. Verhalten, wie zu sich selbst, sagt sie:

„Die Dosis war zu hoch. Man sieht doch, dass dieser Patient federleicht ist.“ Und zu Micha gewandt, sagt sie in gütigem Ton: „Sie befinden sich in der Frankfurter Psychiatrie. Ich bin Doktor Breisach, Ihre Stationsärztin. Setzen Sie sich bitte auf, ich möchte Sie untersuchen.“

Micha rappelt sich mühsam auf, lässt sich gehorsam in Augen und Mund leuchten, die andere Frau hilft ihm, den am Rücken offenen Klinikkittel abzustreifen. Nachdem sie ihn abgehört hat, sagt die Ärztin freundlich, aber bestimmt:

„Kommen Sie bitte gleich um zehn Uhr in die Sprechstunde, am Ende des Nebenflurs, das letzte Zimmer links.“

Dann verlassen die drei Unbekannten den Raum. Micha legt sich zurück in die Kissen.

Den Kopf zur Seite gedreht, versucht er, sich zu orientieren. Offenbar handelt es sich um ein Zweibettzimmer. Ein gemachtes Bett steht auf der gegenüberliegenden Seite. Nackte Wände, Nachtschränkchen neben den Betten, zwei Stühle, und links und rechts des Eingangs deckenhoch eingebaute Schränke mit glänzend weißen Fassaden. Alles reinweiß, unschuldig. Inmitten dieser Gesichtslosigkeit fällt das Erinnern schwer.

Gestern oder vorgestern hat man ihn hierher gebracht. Er widersetzte sich, als er gewahr wurde, dass man ihn in eine psychiatrische Klinik brachte. Als er den Schnapper des Schlosses klacken hörte, wusste er Bescheid. Er wurde laut, rüttelte an der Milchglastür, wollte kein Medikament einnehmen, mit niemandem sprechen. Der Arzt kam ihm zu nah, so dass er ihn abwehren musste. Der Mensch missverstand ihn, und im Nu waren sie in eine Rauferei, einen regelrechten Kampf verwickelt. Zu zweit überwältigten sie ihn und gaben ihm eine Spritze. Er wurde ruhig, danach kam dieser tiefe Schlaf – bis eben.

Wieso ist er ausgerechnet hier? Er durchkämmt sein Gedächtnis. Eine Ahnung schimmert auf. Es hat mit seiner Mutter zu tun. In seinem Kopf ist Watte, undurchdringliche Watte. Er ist immer noch schläfrig. Es wird ihm hoffentlich einfallen, wenn nicht, werden sie es ihm sagen.

Während es sich anfühlt, als schwebe sein Körper vom Himmel herab, ist das Wissen auf einmal da.

Er ist hier wegen seiner Mutter, dieser Idiotin. Wegen ihr in der Psychiatrie zu landen! Zwecklos sich dagegen zu wehren. Niemals, so lautete sein Schwur, niemals würde ihm das noch einmal passieren. Das eine Mal vor über zwanzig Jahren, das war verzeihlich, da war er noch jung, aber heutzutage als Vater von Ella und Partner von Aimée ist das äußerst peinlich und störend. Und alles wegen dieser verdammten Hexe! Abschalten. Wegdrücken. Den Kopf tiefer ins Kopfkissen gepresst, zieht er die Decke ans Kinn. Als das Dösen ihn gnädig übermannen will, öffnet sich die Tür und die Frau, die vorhin bei der Untersuchung neben der Ärztin stand, kommt herein.

„Denken Sie daran, Herr Valentin, in einer Dreiviertelstunde müssen Sie zur Sprechstunde bei Frau Dr. Breisach. Sie sollten sich noch frisch machen und frühstücken. Übrigens, ich bin Schwester Antje.“

Als Micha die Augen wieder schließt und sich nicht rührt, legt sie ihre Hand sacht auf seine unter der Decke verborgenen Füße.

„Ich zeige Ihnen den Frühstücksraum.“

Da er keine Anstalten macht, sich zu bewegen, spricht sie ihn noch einmal an:

„Ihre Lebenspartnerin hat gestern Abend einen Koffer mit Kleidung gebracht. Der steht im linken Schrank. Sie können mir dann den Klinikkittel zurückgeben.“

Die Schwester bleibt am Fußende seines Bettes stehen, wartet auf eine Reaktion. „Herr Valentin, soll ich Ihnen ein wenig helfen?“

„Ja, bitte“, hört er sich leise sagen.

An der Hand zieht sie ihn auf, stützt ihn unter dem Ellbogen, so dass er sich aufsetzen kann. Sie ist mollig, ihre Nähe ist ihm angenehm. Nun geht sie zum Schrank und entnimmt ihm einen Trainingsanzug und schwarze Lederpantoffeln. Mit sanfter Hand unterstützt sie ihn beim Ankleiden.

„Ich nehme an, Sie sind noch benommen. Deshalb helfe ich Ihnen. Morgen müssen Sie das allein erledigen.“

Er nickt.

Ihm ist alles recht, wie gerne würde er sich von der warmen Stimme dieser Schwester in den Schlaf lullen lassen. Ach, in die traumlose Bewusstlosigkeit wegsacken, so lange er will. Obwohl er schlapp ist und bleierne Müdigkeit auf ihm lastet, dringt das Peinliche dieser Situation zu ihm durch. Es ist beschämend, hier zu sein, in der Irrenanstalt – Patient zu sein vor dieser Frau.

Schwester Antje zeigt ihm die Station. Sie gehen den geräumigen Flur entlang, vorbei an der grünen Couch schräg gegenüber dem Stationszimmer. Während er sich fühlt, als hätte ein ganzes Team Baseballspieler auf ihn eingedroschen, versucht er, den Erklärungen zu folgen. Sie betreten kurz den Aufenthaltsraum mit dem eingeschalteten, aber stummen Fernseher. Die Böden sind blitzsauber, das Weiß der Wände kaum sichtbar hinter den großformatigen, sehr bunten und rätselhaften Bildern. „Von Patienten“, erklärt die Schwester auf Michas fragendes Kopfschütteln.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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