Bis zum hellsten Morgen - Brittainy Cherry - E-Book

Bis zum hellsten Morgen E-Book

Brittainy Cherry

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Beschreibung

Der größte Schauspieler der Welt hat einmal mir gehört, aber jetzt sind wir nichts als Fremde füreinander

Als Aiden Walters mir nach fünf Jahren wieder gegenüberstand, konnte ich es kaum glauben. Einst war er mein gewesen. Mein bester Freund, meine große Liebe. Doch inzwischen lag dem Oscarpreisträger die ganze Welt zu Füßen, und wir sprachen kein Wort mehr miteinander. Ich wollte ihn in die Arme schließen, ihn festhalten und ihm sagen, wie sehr ich ihn vermisste. Aber ein Blick in seine ozeanblauen Augen reichte, um zu wissen, dass ich ihm damals unwiderruflich das Herz gebrochen hatte und wir nie wieder zusammen sein würden. Doch ich sah darin auch den Jungen, den ich einst geliebt hatte und den es plötzlich mehr denn je vor der Welt zu beschützen galt ...

"Brittainy C. Cherry geht so besonders mit ihren Worten um, dass sie tief in die Seele treffen. Sie bricht dir das Herz, aber fügt die Stücke gleichzeitig wieder liebevoll zusammen." CHAPTERS.ABOUT.ME

Abschlussband der emotionalen COMPASS-Reihe von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Brittainy C. Cherry

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Seitenzahl: 489

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Ähnliche


INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

Motto

Teil eins

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

Teil zwei

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

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Epilog

Die Autorin

Die Romane von Brittainy C. Cherry bei LYX

Impressum

Brittainy C. Cherry

Bis zum hellsten Morgen

Roman

Ins Deutsche übertragen von Katja Liebig

ZU DIESEM BUCH

Seit sie denken kann, ist Hailee Jones in Aiden Walters verliebt. Er war ihr bester Freund, ihre erste Liebe, schon immer ihr Lieblingsmensch. Sie war dabei, als seine Karriere als Kinderschauspieler Fahrt aufnahm, sie wartete auf ihn, als er für seinen ersten Job nach Hollywood ging, und niemals hätte sie sich vorstellen können, dass er irgendwann nicht mehr Teil ihres Lebens sein würde. Doch dann traf sie eine folgenschwere Entscheidung, die alles zwischen ihnen veränderte! Jetzt ist Aiden zurück in ihrem Heimatort und steigt ausgerechnet in dem Hotel ab, in dem Hailee arbeitet. Und als sie sich das erste Mal seit fünf Jahren wieder gegenüberstehen, ist es, als würde die Zeit angehalten. Sie will ihn am liebsten sofort in die Arme schließen, ihn festhalten und ihm sagen, wie sehr sie ihn vermisst hat. Aber ein Blick in seine ozeanblauen Augen reicht, um zu wissen, dass sie sein Herz damals unwiderruflich gebrochen und sich der Aiden von früher in einen kalten, unnahbaren Mann verwandelt hat. Und doch erkennt sie hinter seiner Fassade manchmal noch den Jungen, in den sie sich einst verliebt hat und den es offenbar mehr denn je vor der Welt zu beschützen gilt …

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Euer LYX-Verlag

Für meine Großeltern, meine Lieblingssterne am Himmel.

Ich hoffe, ihr könnt stolz auf mich sein.

Für die zweiten Chancen im Leben – mögen wir mutig genug sein, sie zu ergreifen.

TEIL EINS

»Betrachte die Schönheit des Lebens. Schau hinauf zu den Sternen und sieh, wie du gemeinsam mit ihnen rennst.«

Marcus Aurelius

1

HAILEE

Acht Jahre alt

Aiden machte es einem leicht, ihn zu hassen.

»Das kannst du nicht machen!«, schrie ich in sein hässliches Gesicht. Er hatte mit seinen schmutzigen Fingern in das Glas mit den Keksen gegriffen, die Mama und ich gebacken hatten. Mama hatte uns beiden bereits jeweils einen davon gegeben, bevor wir nach draußen in den Garten gelaufen waren, um zu spielen, doch als wir wieder ins Haus gekommen waren, hatte Aiden sich in die Küche geschlichen und war auf die Arbeitsplatte geklettert. Er brach einfach alle Regeln!

»Kann ich wohl, wenn du einfach mal den Mund halten würdest, Hamsterbacke!«, antwortete er.

Ich schnaubte und blies die Backen auf. Dabei spürte ich, wie mein Gesicht heiß wurde, während ich die geballten Fäuste in die Seiten stemmte. »Ich habe keine Hamsterbacken!«

»Und warum sehen deine Backen dann aus wie Hamsterbacken?«

»Jedenfalls sieht mein Gesicht nicht aus wie ein Gorillahintern!«

»Lieber Gorillahintern als Hamsterbacken.«

»Ich hasse dich, Gorillahintern!«

»Mir doch egal, Hamsterbacke!«, gab er zurück.

Aiden Walters war eine einzige Plage. Er machte immer nur Ärger, und ich war ständig damit beschäftigt, ihn möglichst davon abzuhalten. Ständig musste ich ihm sagen, was er nicht tun durfte, und er war ständig damit beschäftigt, mich zu ignorieren.

Jetzt kletterte ich zu ihm auf die Arbeitsplatte und riss ihm das Keksglas aus der Hand. »Wenigstens ist mein Kopf nicht so fett wie deiner!«, sagte ich und streckte ihm die Zunge raus.

Er riss das Glas wieder zurück und schubste mich leicht. »Dein Kopf ist viel fetter als meiner!«

»Ist er nicht!«

»Ist er doch! Fetter als ein Elefantenkopf!«

Ich griff nach dem Glas und zog es wieder zurück. »Halt die Klappe, Aiden!«

»Halt du doch die Klappe, Hailee!«, gab er zurück und zog ebenfalls an dem Glas.

So ging es hin und her, bis Mama in die Küche kam.

»Was ist denn hier los?«, rief sie.

Aiden und ich erschraken so sehr, dass wir das Glas fallen ließen. Es krachte zu Boden und zerbarst in eine Trillion Scherben.

Wir erstarrten.

Unsere Blicke schossen zu Mama.

Dann zu dem kaputten Glas.

Dann zurück zu Mama.

Dann wieder zu dem kaputten Glas.

»Er war’s!/Sie war’s!«, riefen wir gleichzeitig und zeigten jeweils auf den anderen, um ihm die Schuld für den Scherbenhaufen zu geben. Natürlich war es Aidens Schuld, aber er war ein dicker, fetter Lügner. Es wunderte mich, dass seine Hosenbeine nicht schon brannten von den ganzen Lügen, die er erzählte.

»Ich schwöre es, Mama! Er war’s! Er wollte sich noch mehr Kekse nehmen, aber ich habe ihm gesagt, er darf sich nicht noch mehr Kekse nehmen, aber er hat trotzdem versucht, sich noch mehr Kekse zu nehmen, und, und …«

»Sie hat gesagt, ich hab einen fetten Kopf, Penny, und dass ich ein Gesicht wie ein Gorillahintern habe!« Aiden schob die Unterlippe vor und ließ seine Augen feucht werden. Oh mein Gott! Er ist so eine Drama-Queen!

»Er hat gesagt, ich hab einen fetten Mund, und er hat mich Hamsterbacke genannt!«, gab ich zurück. »Ich habe keine Hamsterbacken!«

»Hast du wohl!«, spottete Aiden.

»Hab ich nicht.«

»Hast du wohl!«

»Hab ich nicht!!!«

»Hast du wo-hol!«, sang er.

Für einen Jungen, der genauso alt war wie ich, benahm er sich echt wie ein Baby.

Mama sah nicht so aus, als würde sie sich für unsere Anschuldigungen und unser Gezänk interessieren. Sie senkte die Brauen und fuhr sich mit der Hand über ihren Afro Puff. Dann nickte sie knapp. »Runter mit euch, alle beide. Ihr wisst, was jetzt kommt.«

Aiden und ich stöhnten auf. »Aber …«, schrien wir einstimmig. Ich hasste es, dass wir so viele Dinge gleichzeitig machten, denn das Letzte, was ich wollte, war, so zu sein wie er. Ich hasste die Momente, in denen wir das Gleiche taten. Sie machten mich so wütend. Unsere weniger einträchtigen Momente gefielen mir viel besser, denn wenn ich anders war als er, dann war ich kein fettköpfiger Gorillahintern.

Mama rieb sich mit der Hand über die Stirn. »Kein Aber. Kommt schon, runter mit euch. Und dann ab ins Wohnzimmer. Zeit für eine Dauerumarmung.« Mama wedelte mit der Hand.

Wir kletterten von der Küchenplatte und stapften ins Wohnzimmer.

Mama hatte mal in einer Talkshow gesehen, wie eine Frau von Dauerumarmungen erzählt hatte, zu denen sie ihre Kinder immer zwang, wenn die sich stritten. Dann mussten sie sich in den Arm nehmen und für das entschuldigen, was sie dem anderen angetan hatten. Sie mussten sich so lange umarmen, bis beide sich ohne Wenn und Aber entschuldigt hatten.

Ich wünschte mir, Mama würde nicht fernsehen. Das brachte sie nur auf dumme Ideen.

Ich hasste Dauerumarmungen, musste sie aber ständig mit Aiden machen, weil er so ein dämlicher Idiot war und mir immer Ärger einbrachte. Wenn überhaupt, dann sollte Aiden sich selbst in den Arm nehmen. Ich wollte damit nichts zu tun haben. Schließlich hatte ich die Kekse nicht gegessen!

Trotzdem mussten wir uns in den Arm nehmen, was wir nun murrend taten.

Als Aidens Mom Laurie rüberkam, sah sie uns beide so dastehen und lächelte.

»Haben sie sich schon wieder gestritten?«, fragte Laurie.

»Ja«, antwortete Mama. »Das typische Tom-und-Jerry-Spielchen, wie immer.«

»Und noch keine Entschuldigung?«

»Kein Wort.«

Laurie sah hinunter auf ihre Uhr. »Nun, Aiden, dann gib mal Gas, sonst kommst du zu spät zu deinem Schauspielkurs.«

»Aber Mom!«, heulte Aiden.

»Kein Aber. Raus damit«, befahl seine Mom.

Ich mochte Laurie, auch wenn ihr Sohn ein Arschgesicht war. Sie gab mir immer Süßigkeiten, wenn ich bei ihr war, und fragte mich, wie meine Backstunden mit Mama liefen.

»Tut mir leid, dass ich dich beschimpft habe, Hailee«, sagte Aiden. Er meinte es nicht ehrlich, aber er sagte es trotzdem. Es klang sogar so, als meinte er es ehrlich, was bedeutete, dass sein blöder Schauspielkurs tatsächlich Wirkung zeigte. Deshalb hatte er eben fast geheult – irgendein dummer Lehrer hatte ihm verraten, wie man das anstellte!

Trotzdem musste ich grinsen, denn er hatte sich zuerst entschuldigt. Doch dann spürte ich, wie Mama mich gegen den Arm stieß.

Ich brummte mürrisch: »Mir tut’s auch leid, dass ich dich beschimpft hab, Aiden.«

»Da seht ihr’s. War das wirklich so schlimm?«, fragte Mama.

»Ja«, erklärten wir einstimmig. Wieder so ein einträchtiger Moment. Ekelhaft.

Wir ließen einander los und sahen zu, dass wir möglichst weit vom anderen wegkamen. Aiden und Laurie verabschiedeten sich, damit Laurie ihn zu diesem dummen Schauspielkurs bringen konnte, und Mama und ich buken später am Abend noch ein ganzes Blech Brownies. Es waren die besten Brownies, die ich je gebacken hatte, und als ich ins Bett ging, schmuggelte ich noch einen davon heimlich in mein Zimmer.

Ich ging ans Fenster und sah hinüber zum Nachbarhaus, wo Aiden jetzt in seinem Zimmer saß. Er war der nervigste Nachbar, den man sich vorstellen konnte, und ich hasste es, dass ich jedes Mal, wenn ich aus dem Fenster schaute, sein dummes Gesicht sehen musste.

»Hey, du Looser!«, rief ich.

Aiden sah auf, kam zum Fenster gelaufen und sah mich mürrisch an. »Was willst du, Extra-Looser?«

»Von dir jedenfalls nichts, Mega-Looser!«, gab ich zurück.

»Warum hast du mich dann gerufen, hm?«

»Um dir zu sagen, was für ein Looser du bist. Und dass ich heute Abend die allerbesten Brownies der Welt gebacken habe. Und du konntest sie nicht probieren.« Ich hielt den Brownie hoch und winkte damit.

Er kniff die Augen zusammen. »Gib ihn mir!«

»Ganz sicher nicht.«

Er kletterte aus dem Fenster, schlich sich durch den Garten zu mir herüber und stieg in mein Zimmer. Hastig schnappte er den Brownie aus meiner Hand und rannte zurück zu seinem Zimmer, wo er ihn superschnell verschlang.

Aber ich hatte trotzdem gewonnen, denn ich wollte ja, dass er ihn probierte und mir sagte, was er von meinem Brownie hielt.

Er sah wieder zu mir rüber. »Du hast recht«, sagte er mit Krümeln im Gesicht. »Das war der beste Brownie der Welt, und jetzt ist er weg!«

»Ich hasse dich, Aiden Walters.«

»Ich hasse dich auch, Hailee Jones.«

Ich schaltete das Licht aus und kletterte in mein Bett. Er konnte es nicht sehen, aber ich lag da und lächelte, denn Aiden mochte meine Brownies, und obwohl ich es nicht wollte, war es mir wichtig zu wissen, was er dachte.

Gorillahintern mochte meine Brownies.

Cool.

2

AIDEN

Zehn Jahre alt

Ich konnte einfach nicht glauben, dass Hailee auch in Mrs Elks Kurs war. Jetzt hatte ich nicht nur ihr dummes Gesicht vor mir, sobald ich aus meinem Fenster blickte, sondern sie hockte auch noch das ganze Jahr mit mir im selben Kurs. Das war eindeutig zu viel Hailee. Letztes Jahr, in der zweiten Klasse, war sie auch schon in einem meiner Kurse gewesen, und ich hatte ihr die ganze Zeit über Grimassen geschnitten, weil sie sich so schön darüber ärgerte. Aber jetzt war ich in der Dritten und wollte ihr Gesicht einfach nicht mehr sehen. Blöde Hailee mit ihren blöden Hamsterbacken.

In der Pause liefen wir alle nach draußen. Auf dem Schulhof gab es eine riesige Landkarte von den Vereinigten Staaten, und Lars Thomas schlug vor, ein Spiel zu spielen, für das wir uns in zwei Teams aufteilen mussten. Jeder von uns bekam eine Nummer, und wenn er eine Nummer und einen Staat ausrief, mussten die jeweiligen Spieler der beiden Teams zu dem aufgerufenen Staat rennen. Wer zuerst dort ankam, hatte gewonnen.

Dashing States nannte er sein Spiel – ein blöder Name, aber ich mochte es, beim Spielen zu gewinnen.

Hailee war im anderen Team. Gut so. Ich konnte sie im Gewinnerteam auch gar nicht brauchen. Im Gegenteil, ich freute mich, wenn sie verlor.

Ich war Nummer zwei. Hailee war Nummer fünf.

Alle wussten, dass zwei besser war als fünf.

Lars rief meine Nummer und Kalifornien.

Das war leicht.

Ich rannte nach Kalifornien und war schon da, bevor Peter überhaupt in Texas angekommen war.

Grinsend ging ich zurück zu meinem Team und sah selbstgefällig zu Hailee hinüber. Doch sie verdrehte bloß die Augen. Sie ärgerte sich, dass ich gewonnen hatte. Ich konnte es kaum erwarten, mich zu freuen, wenn sie verlor.

Lars räusperte sich. »Okay. Die Nummern fünf, macht euch bereit!«

Hailee kniff die Augen zusammen und beugte sich nach vorne, als wollte sie wie eine Rakete zu dem Staat fliegen, den Thomas gleich rief. Sie rannte gegen Kevin aus meinem Team. Oh Mann, hoffentlich machte er sie so richtig fertig, damit ich sie bis in alle Ewigkeit damit aufziehen konnte.

Lars rief: »Mississippi!«

Die beiden rannten los, und – Mist! – Hailee war schneller. Zuerst wirkte sie zufrieden und stolz, aber das hielt nicht lange an.

»Sie hat geschummelt! Die fette Kuh kann auf keinen Fall schneller gewesen sein als ich! Sie war im falschen Staat!« Kevin ging zu ihr und schubste sie so fest, dass sie hinfiel. Hailee schrammte mit den Händen über den harten Beton und schürfte sich ziemlich fies die Haut auf.

Ich wusste nicht, was ihr mehr wehtat, Kevins Stoß oder seine Worte.

Ihre Augen glänzten feucht, und ich war mir fast sicher, dass sie anfangen würde zu heulen. Doch bevor es so weit kommen konnte, stürzte ich mich auf Kevin, warf ihn zu Boden und schlug mit den Fäusten auf den Idioten ein. Ich hab ganz schön Ärger deswegen bekommen, und meine Eltern meinten, ich darf nicht mit den Fäusten auf andere Leute einprügeln. Aber sie hatten Hailees Blick nicht gesehen. Sonst hätten sie diesem Blödmann auch eine reingehauen.

An diesem Abend stellte ich mich ans Fenster und warf einen Schuh gegen ihres, um sie auf mich aufmerksam zu machen.

»Hey! Hey, du Loserin!«, rief ich.

Sie kam ans Fenster und öffnete es. Ich kletterte raus und ging zu ihr hinüber.

»Was willst du?«, fragte sie. Ihre Hände waren voller Pflaster. Keine Ahnung, warum, aber als ich das sah, zwickte es ganz doll in meinem Bauch. Am liebsten hätte ich dem blöden Kevin gleich noch mal eine reingehauen, weil er ihr wehgetan hatte. Ich konnte Hailee nicht ausstehen, aber niemand durfte ihr jemals wehtun.

»Nichts«, murmelte ich und kratzte mich im Nacken.

»Warum hast du dann einen Schuh gegen mein Fenster geworfen?«

»Hab ich nicht.«

Sie blickte hinunter ins Gras, wo mein Schuh lag.

Ich trat ihn hinter mich, als könnte ich damit verhindern, dass sie ihn sah.

Und dann schnaubte ich und sagte: »Wollte bloß sehen, ob’s dir gut geht, okay?«

»Wieso interessiert es dich, ob es mir gut geht?«

»Tut es gar nicht!«, fauchte ich, aber mein Bauch fühlte sich immer noch nicht gut an. Warum war ich so wütend? Hailee hatte nicht mal irgendwas Blödes gesagt. Und trotzdem war ich wütend. Glaubte ich. Ich glaubte, ich war wütend. Manchmal verstand ich meine eigenen Gefühle nicht.

»Okay.« Sie widersprach mir nicht. Sie beleidigte mich nicht. Sie griff nur nach dem Fenster, um es wieder zu schließen, und als unsere Blicke sich trafen, sah sie immer noch traurig aus. Genauso traurig wie auf dem Schulhof. Und das machte mich wütend. Oder traurig. Oder traurig und wütend.

»Hailee, warte«, sagte ich, um zu verhindern, dass sie das Fenster schloss.

»Was?«, fragte sie knapp.

Ich starrte sie an.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

Ich wusste nicht, was ich fühlen sollte.

Alles, was ich wusste, war, dass ich heute Abend bei ihr sein wollte, auch wenn ich nicht wusste, warum.

»Du bist komisch«, sagte sie.

»Bin ich nicht.«

»Bist du doch.«

»Bin ich nicht!«

»Bist du doch!«

»Ach, egal. Geht es dir gut?«, fragte ich und rieb mir den Nacken. »Nach dem, was heute passiert ist, meine ich?«

Ihre Augen sahen aus, als wollte sie wieder anfangen zu weinen, und jetzt zwickte mein Bauch noch viel mehr. »Es geht mir gut.«

»Oh … okay. Nun … ich dachte, ich frag einfach mal nach.«

»Okay.«

»Okay.«

»Gute Nacht.«

»Nacht«, murmelte ich und drehte mich um, um wieder zu meinem Fenster zurückzugehen.

»Hey, Aiden?«

Ich blickte über die Schulter und sah, wie Hailee sich ein paar Tränen aus den Augen wischte, was meine Augen auch irgendwie traurig machte. Ich hatte gar nicht gewusst, dass traurige Augen bei jemand zu sehen die eigenen auch traurig machen konnte. »Ja?«

»Findest du auch, dass ich eine fette Kuh bin, so wie Kevin?«

Ich würde diesem Arschloch morgen in der Schule den Arm ausreißen.

»Nein. Kevin ist strohdoof und sagt strohdoofe Sachen, weil er so doof ist. Du bist genau richtig, so wie du bist, Hailee. Du bist keine fette Kuh.«

»Versprochen?«

Ich nickte. »Versprochen.« Ich spielte mit den Füßen im Gras, schob die Hände in die Taschen meiner Jeans und zuckte mit den Schultern. »Manche Menschen würden sogar denken, du bist perfekt.«

Sie schüttelte den Kopf. »Niemand denkt das.«

»Ich bin mir sicher, dass es jemanden gibt, der so denkt.«

»Oh … okay.«

»Okay.«

»Okay.«

»Hailee?«

»Ja?«

»Hör auf zu weinen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das kann ich gerade nicht.«

»Oh … okay.«

»Okay.«

»Okay.« Ich räusperte mich. Ich wollte sie nicht allein weinen lassen, also zeigte ich seufzend auf das Gras. »Hast du Lust, dich mit mir auf die Wiese zu legen und Sterne zu zählen? Meine Mom und ich machen das manchmal.«

Sie zuckte mit den Schultern, aber dann sagte sie Ja.

Wir legten uns nebeneinander ins Gras und sagten eine ganze Weile nichts. Dann fing Hailee an zu zählen. »Eins … zwei … drei …«

»Vier, fünf, sechs.« Ich zeigte in den Himmel.

Wir kamen bis vierunddreißig. Hailee drehte sich so, dass sie mich ansehen konnte. Ihre Augen sahen nicht mehr so traurig aus, sodass sich meine sofort auch nicht mehr so traurig anfühlten.

»Du hast dich meinetwegen mit Kevin geprügelt«, flüsterte sie.

»Ja.«

»Du weißt, was das heißt, oder? Das heißt, dass wir jetzt Freunde sein müssen.« Sie drehte sich wieder auf den Rücken und zeigte nach oben. »Fünfunddreißig.«

»Den hast du schon gezählt.«

»Nein, hab ich nicht.«

»Doch, hast du.«

»Hab ich nicht!«

»Doch!«

»Aiden!«

»Was?«

»Wir sind jetzt Freunde, als musst du manchmal mit mir einer Meinung sein, ob es dir gefällt oder nicht. Freunde tun so was.«

Ich murrte und verdrehte die Augen. Und dann zeigte ich im selben Moment nach oben, in dem auch Hailee nach oben zeigte. »Fünfunddreißig.«

3

AIDEN

Zwölf Jahre alt

Ich war berühmt.

Also, so richtig berühmt.

Sicher, ein paar Leute hielten das vermutlich für ein wenig theatralisch. Aber was sollte ich dazu sagen? Ich war theatralisch. Und berühmt.

Hatte ich schon erwähnt, wie berühmt ich war? Nicht mehr lange, und ich würde einen Bodyguard brauchen.

»Hast du den Werbespot gesehen?«, fragte ich Hailee, als wir an der Bushaltestelle standen und auf den Schulbus warteten.

Ich hatte gerade meinen ersten Werbeauftritt als wandelnder Taco gelandet und war davon überzeugt, dass ich so berühmt war, wie man nur sein konnte.

Hailee grinste von einem Ohr zum anderen und legte beide Hände an die Träger ihres Rucksacks. »Meine Eltern haben ihn aufgenommen und gestern Abend immer wieder abgespielt. Du bist echt berühmt.«

Ich grinste und tätschelte ihre beiden Afro Puffs. »Wenn du willst, kann ich dir später ein Autogramm geben.«

»Schon okay. Das würde bedeuten, dass du deinen Namen schreiben müsstest, und ich weiß, dass Rechtschreibung nicht unbedingt deine Stärke ist. Oder Lesen. Es hat mich ehrlich gesagt überrascht, dass du überhaupt in der Lage warst, das Skript zu lesen.«

»Ich musste nichts sagen, das hat es ein wenig einfacher gemacht.«

»Das ergibt Sinn.«

Meine beste Freundin würde immer jede Gelegenheit nutzen, um mich aufzuziehen. Ja, richtig gelesen, das Mädchen, das ich früher gehasst hatte, war zu meiner besten Freundin geworden. Wir hatten die letzten beiden Jahre damit verbracht, die Sterne zwischen unseren Häusern zu zählen.

Als wir jedoch an der Schule ankamen, war alles genau andersherum. Statt mich für ein Schauspielgenie zu halten, spotteten die anderen über mich und behaupteten, wenn ich in dem Werbespot tanzte, sähe ich aus, als wollte ich den Bus vögeln. Sie sagten, ich sei der schlechteste Schauspieler der Welt.

In der Mittagspause verkroch ich mich in der Putzkammer und heulte mir vor Scham die Augen aus. Doch es dauerte nicht lange, bis Hailee mich fand. Selbst wenn ich ihr nicht sagte, wo ich war, wusste sie es trotzdem irgendwie immer. So waren beste Freunde wohl einfach – sie wussten, wo du warst, und ließen dich an den schlechten Tagen nicht allein.

Sie kam rein und schloss die Tür hinter sich. Eine Weile sagte sie gar nichts, sondern saß einfach neben mir und ließ mich weinen. Bei den meisten Leuten wäre es mir peinlich gewesen, wenn sie mich hätten weinen sehen, aber wenn ich vor Hailee weinte, sagte sie kein Wort dazu. Außerdem hatte ich sie auch schon viele Male weinen sehen.

Nach einer Weile sah sie mich an und legte eine Hand auf meine Schulter. »Weißt du, was mein Dad immer sagt, wenn die Leute Mamas Backkünste niedermachen?«

»Was?«, murmelte ich und wischte mir mit dem Ärmel den Rotz von der Nase.

»Scheiß auf sie«, erklärte sie trocken.

Ich sah sie mit großen Augen an. »Du sollst so was nicht sagen.«

»Tu ich auch gar nicht. Mein Dad hat es gesagt«, korrigierte sie mich, als wären die Worte nicht aus ihrem Mund gekommen.

»Aber du hast es gesagt, als du gesagt hast, dass er es gesagt hat.«

Sie zuckte ungerührt mit den Schultern. »Mein Dad sagt auch, das Worte nur Worte sind. Wie man sie ausspricht, macht sie gut oder schlecht. Ich habe es nicht auf schlechte Art gesagt. Ich habe es gesagt, damit du dich besser fühlst.«

»Oh«, murmelte ich.

»Und?«

»Und was?«

»Hat es funktioniert?«

»Hat was funktioniert?«

»Fühlst du dich besser?«

»Oh.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«

Sie runzelte die Stirn und kratzte sich das krause, straff zurückgekämmte und zu zwei hohen Afro Puffs zusammengebundene Haar. Manchmal beschwerte sie sich darüber, dass sie keine glatten Haare hatte wie die anderen Mädchen in unserer Klasse, dabei hatte sie mit Abstand die besten Haare. Irgendwie hatte sie von allem das Beste abbekommen – von ihrem Lächeln und den krausen Haaren, die sie von ihrer Mutter hatte, bis zu ihrer runden Nase und den Sommersprossen von ihrem Vater. Hailee machte es einem leicht, sie anzusehen. Manchmal ertappte ich mich sogar dabei, wie ich sie heimlich anschaute.

Sie seufzte, weil ich mich noch nicht besser fühlte. »Und willst du wissen, was meine Mama gesagt hat?«

»Hat sie auch das Wort ›Scheiße‹ benutzt?«

Sie schnappte nach Luft. »Du sollst dieses Wort nicht sagen!«

»Aber du hast doch gerade …«

»Mama sagt, zuerst lachen die Leute über dich, weil sie nicht verstehen, was du machst, und später fragen sie dich, wie du es gemacht hast, also sollte man sich nicht ärgern, wenn die Leute es nicht sofort verstehen. Sie sind bloß langsam.«

»Und wenn sie es nie verstehen?«

»Na und? Wir können sie doch sowieso nicht leiden.«

Wo sie recht hatte, hatte sie recht.

Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander, dann sagte Hailee: »Ich finde, du bist der beste Taco, den ich je gesehen habe.«

Und wie sich herausstellte, war Hailees Meinung die einzige, die wirklich zählte.

4

HAILEE

Sechzehn Jahre alt

Meine Eltern hatten mir beigebracht, was Liebe war. Mein Vater liebte meine Mutter über alles und sie ihn ebenso. Es war eine leise Liebe und eine laute. Eine sture Liebe und eine sanftmütige. Eine wilde Liebe und eine beständige. Ich wuchs in einem Zuhause auf, das mit bedingungsloser Liebe gesegnet war. Im Laufe der Jahre sah ich, wie sich das Leben meiner Eltern, ihre Körper, ihr Berufsleben, auf unzählige Arten veränderte, doch ihre Liebe zueinander veränderte sich nie.

Meine Mutter hätte fünfundzwanzig Kilo zunehmen können, und mein Vater hätte trotzdem nicht die Finger von ihr gelassen. Mein Vater hätte seinen Job verlieren können, und meine Mutter hätte ihn trotzdem so angesehen, als könnte niemand besser für seine Familie sorgen als er. Und wenn einer von ihnen einen Traum hatte, stand der andere an seiner Seite und feuerte ihn an. Sie unterstützten einander, selbst wenn es manchmal Enttäuschungen und Einschränkungen mit sich brachte. Es war eine ausgewogene Liebesgeschichte, bei der sich beide gleichermaßen wertgeschätzt fühlten.

Meine Vorstellung davon, was es bedeutete, einen Menschen zu lieben, hatte ich ganz sicher von meinen Eltern.

Und das war wohl auch der Grund, warum ich Aiden in der aktuellen Situation unterstützen würde – selbst wenn es ein paar Enttäuschungen und Einschränkungen mit sich brachte.

»Los Angeles? Für wie lange?«, fragte ich, als Aiden und ich in Sweatshirts und Jogginghosen im frostigen Gras saßen. Es war erst September, aber die Kälte war bereits bis nach Wisconsin gekommen. Wir befanden uns in der seltsamen Zwischensaison, in der man morgens fror, mittags komplett durchgeschwitzt war und bei Sonnenuntergang wieder anfing zu frieren. Aiden nannte es das Höllenloch, und ich konnte ihm nicht widersprechen.

»Vielleicht nur ein paar Monate, aber wahrscheinlich eher ein gutes Jahr«, sagte er.

Diese Worte brachen mir das Herz. Aiden hatte das beste Angebot seiner Schauspielkarriere bekommen und sollte eine der Hauptrollen in einer TV-Serie spielen, die in Burbank in Kalifornien gedreht wurde.

Über ein Jahr lang.

Ein ganzes Jahr!

Ich wollte wirklich nicht die Drama-Queen rauskehren, aber ich war nun mal ich und würde daher zumindest ein wenig dramatisch reagieren, denn ein ganzes Jahr ohne meinen besten Freund fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Wie sollte ich dreihundertfünfundsechzig Tage lang durchhalten, ohne dass er morgens neben mir an der Bushaltestelle stand? Ohne dass er neben mir im Gras lag? Ohne dass er mich in den Wahnsinn trieb?

Mit wem sollte ich die Sterne zählen?

Allein bei dem Gedanken daran hätte ich am liebsten losgeheult, aber das würde ich natürlich nicht tun. Ich musste mich mit ihm freuen, und ich freute mich mit ihm. Das war eine gigantische Chance. Aiden hatte bereits in der letzten Staffel der Serie mitgespielt, aber nicht als Reocurring Character. Das war eine richtig große Sache – er hatte so hart dafür gearbeitet und jeden Erfolg verdient.

Trotzdem …

Er würde mir fehlen.

Die meisten Leute hatten viele Freunde und so in ihrem Leben, aber ich nicht. Ich hatte keine anderen Menschen. Ich hatte nur einen, und der würde unsere kleine Stadt verlassen, um ein Star zu werden.

Mir war klar gewesen, dass dieser Tag kommen würde. Aiden war einfach zu talentiert, zu gut, um nicht eines Tages der hellste Stern am Hollywood-Himmel zu werden. Doch ich wünschte, er könnte an zwei Orten gleichzeitig sein.

»Ich sag ja nicht gern etwas Nettes zu dir, weil ich weiß, wie sehr du dein Ego aufblasen kannst …«, erklärte ich.

»Oh ja, es ist gigantisch. Und es wächst mit jeder Minute.«

»Ich weiß. Dein Kopf ist schon ganz dick vor lauter Großspurigkeit. Aber dieses eine Mal werde ich dir etwas Nettes sagen, und wenn du es jemals noch mal erwähnen solltest, schlag ich dir gegen den Hals.«

»Verstanden.«

Meine Finger spielten mit dem frostigen Gras, und ich zuckte mit den Schultern. »Ich bin stolz auf dich. Du wirst unglaubliche Dinge tun, und du wirst unendlich viele Fans und so haben, aber du sollst wissen, dass ich immer dein größter Fan sein werde.«

Er grinste und sah mich aus schmalen Augen an. »Ist meine Hailee da gerade etwa emotional geworden?«

Meine Hailee.

Wieso flatterte es in meiner Brust, als er das sagte?

Ich reckte die Faust und schüttelte sie. »Direkt auf die Halsschlagader, Aiden.«

Er hob abwehrend die Hände. »Schon gut.«

Normalerweise war Aiden der Emotionalere von uns beiden. Die enge Verbindung zu seinen Gefühlen hatte ihm sicher auch bei der Schauspielerei geholfen. Für mich dagegen war es eine echte Herausforderung, mich zu öffnen und so zu riskieren, verletzt zu werden. Wir waren in so vielen Punkten verschieden. Ich war eine Typ-A-Persönlichkeit, die alles in ihrem Leben vorausplante. Tortendiagramme und Statistiken waren meine liebsten Ausdrucksmittel. Aiden dagegen gehörte zum Typ B, der sich einfach treiben ließ – womit er mich manchmal schier wahnsinnig machte.

Versteht mich nicht falsch, ich konnte mich auch treiben lassen – solange ich wusste, wohin der Strom floss und wie schnell er war und wie lang und wie chaotisch er aufgrund elementarer Gleichungen werden konnte, und solange ich seine Vor- und Nachteile kannte, und warum zur Hölle wollte irgendjemand sich überhaupt treiben lassen, wo man doch im Voraus planen und für jede Eventualität gerüstet sein konnte?

Jedenfalls … ich war cool, ruhig und gefasst. Keine große Sache.

»Weißt du was?«, fragte Aiden. »Ich glaube, das ist das Netteste, was jemals jemand zu mir gesagt hat. Das kann nur bedeuten, dass du mich vermissen wirst.«

Ja.

Das werde ich.

Mehr als Worte ausdrücken können.

Ich könnte auf der Stelle anfangen zu heulen, wenn ich nur daran denke.

Ich verdrehte die Augen. »Vermissen ist ein ziemlich großes Wort und eine schwache menschliche Regung, die die Leute davon abhält, sich auf ihr Leben zu konzentrieren.«

Aiden lächelte. »Ich werde dich auch vermissen, Hails.«

»Wann fliegst du?«, fragte ich.

»Ehrlich gesagt schon morgen.«

Morgen?

So wie in … der Tag nach heute?

So wie in … weniger als vierundzwanzig Stunden?

So wie in … Oh nein. Mein Herz. Es fühlte sich an, als würde es jemand in zwei Teile zerreißen. Zuerst langsam, dann unglaublich schmerzhaft und schnell.

So also fühlte sich ein gebrochenes Herz an. Es überraschte mich, wie leise ein Herz brechen konnte, wenn andere Menschen dabei waren. Und ich konnte verstehen, warum manche Menschen dieses Gefühl vermieden und sich entschieden, gar nicht erst zu lieben. Aiden wusste nicht mal, dass alles in mir schmerzte, während ich da neben ihm saß, dass alles in mir in den tiefsten Abgründen der Traurigkeit versank. Ich konnte nicht länger sitzen bleiben, denn sonst würde ich anfangen zu weinen. Und wenn ich weinte, würde Aiden sich schlecht fühlen. Aber ich wollte nicht, dass er sich schlecht fühlte, denn auf ihn wartete etwas Wunderbares. Und doch fühlte es sich an, als wäre der beste Tag seines Lebens zugleich mein schrecklichster, und ich war mir nicht sicher, wie ich damit umgehen sollte.

Gefühle und dieser ganze Kram – igitt!

Ich stand auf, klopfte mir den Schmutz von meinem halb nassen Po und schickte mich an, zu meinem Fenster zu gehen.

»Warte! Wo zum Teufel willst du hin? Wir sind doch gerade erst gekommen.«

»Ich muss noch Hausaufgaben machen.«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Aber … ich habe dir gerade gesagt, dass ich morgen wegfliege.«

»Ja, ich hab dich gehört.«

»Willst du nicht noch ein bisschen zusammen abhängen? Vor meinem großen Abschied morgen früh?«

Morgen früh?

Ich hatte nicht mal mehr bis zum Nachmittag?

Tränen. Sie schrien förmlich danach, freigelassen zu werden.

»Schon okay, Aiden. Ich wünsche dir einen guten Flug. Wir sehen uns in einem Jahr.«

»Hailee, warte …«

Ich wartete nicht. Ich ging in mein Zimmer, schloss erst das Fenster, ließ dann auch das Rollo runter und weinte. Aiden klopfte noch eine Weile an meine Scheibe und schrieb mir mehrere Nachrichten, doch ich antwortete nicht.

Aiden: Ich fahre morgen früh um sieben. Wehe, du bist nicht da, um mir Tschüss zu sagen, Hails. Bis morgen.

Am nächsten Morgen war ich noch immer nicht bereit, mich von ihm zu verabschieden. Mama saß auf meiner Bettkante, und Dad lehnte im Türrahmen.

»Du solltest rübergehen, Hailee. Sie werden jeden Augenblick losfahren«, sagte Mama.

Dad nickte. »Ich habe gesehen, wie sie ins Auto gestiegen sind.«

»Ist schon okay«, sagte ich und schlang die Arme um mein Kissen. »Ich sehe ihn ja, wenn er zurückkommt.«

»Hailee …« Mama seufzte. »Du wirst es bereuen, ihn nicht noch einmal in den Arm genommen zu haben. Er ist dein bester Freund.«

Wusste sie nicht, dass ich das wusste? Und ich wusste auch, dass eine Umarmung sich jetzt wie ein endgültiger Abschied anfühlen würde. Wenn Aiden Erfolg hatte – und er würde Erfolg haben –, würde er weitere Angebote bekommen und noch mehr Gründe haben, nicht zurückzukehren. Er ließ mich mit einem stillen Gebet und dem Wunsch zurück, dass wir wenigstens unser letztes Schuljahr gemeinsam beenden würden.

Normalerweise war ich keine große Freundin von Wünschen und Gebeten – sie passten einfach nicht in meine Tortendiagramme.

Draußen startete der Wagen, und sofort begann mein Herz wie wild zu schlagen. Dad trat ins Zimmer und setzte sich neben mich. Er sah aus wie ein riesiger Linebacker, der der schrecklichste Mensch im Universum hätte sein können, doch in Wahrheit war er einfach ein riesengroßer Teddybär. Er war der sanftmütigste Mensch, den ich kannte; alles an ihm war weich, von seinen braunen Augen bis zu seinem sanften Lächeln.

»Hailee … stell dir vor, ich würde mich nicht von deiner Mutter verabschieden, wenn ich nach Los Angeles oder sonst wo in der Welt fliegen würde, um einen Film zu drehen. Denkst du nicht, das würde ihr sehr wehtun?«

»Natürlich würde es das.«

»Und wärst du nicht sehr traurig, wenn ich dir nicht Tschüss sagen würde?«

»Doch …«

»Warum tust du das dann Aiden an?«

Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch meine Stimme zitterte so sehr, dass ich nur ein Flüstern hervorbrachte. »Ich habe Angst, dass er nie wieder zurückkommt.«

»Das verstehe ich. Ich werde nicht so tun, als wäre Aiden nicht wahnsinnig talentiert, denn das ist er. Aber trotzdem … er ist dein Lieblingsmensch. Und zu seinem Lieblingsmenschen sagt man immer Hallo und Tschüss.«

»Selbst wenn es furchtbar schwer ist?«

»Ganz besonders dann.« Dad beugte sich vor und gab mir einen Kuss auf die Stirn.

»Für die Liebe kann man viele schwierige Dinge tun, mein Schatz. Aber die Liebe ist es auch, die es ein wenig einfacher macht.«

Liebe.

War es Liebe zwischen Aiden und mir?

Ich kann schwierige Dinge tun.

Mein Herz schlug noch immer wie wild, als ich aufstand und aus dem Zimmer, zur Haustür hinaus und raus auf die Wiese lief, von wo aus ich das Auto von Aidens Familie die Straße hinunterfahren sah.

Nein.

Ich spürte, wie es geschah – mein Herz zerbrach in tausend Scherben.

Ich fing an zu rennen, mitten auf der Straße, wedelte wie eine Verrückte mit den Armen und schrie immer wieder seinen Namen. »Aiden! Aiden, warte!« Meine Lungen brannten, und mein ganzer Körper schmerzte, denn ich war alles andere als eine gute Läuferin. Doch ich lief für ihn. Ich lief so schnell ich konnte, pumpte mit den Armen und hatte Tränen in den Augen. Plötzlich sah ich die Bremslichter, machte selbst eine Vollbremsung und prallte gegen das Heck des Wagens.

Die hintere Tür wurde geöffnet. Keuchend und mit klopfendem Herzen stand ich in Jogginghose und Sweatshirt da und rang nach Atem. Schweiß rann mir über die Stirn.

Aiden stieg aus. Er sah mich an, grinste und stemmte die Hände in die Hüften. Und dann sagte er mit seiner typischen selbstgefälligen Miene: »Bist du gerade meinetwegen die Straße runtergerannt?«

Ich verdrehte die Augen, noch immer vollkommen außer Atem und mit weichen Knien. Es war kein Geheimnis, dass ich keine Knie wie Meg the Stallion hatte. Meine entsprachen eher denen einer Dreiundneunzigjährigen in einem Seniorenheim.

Ich verschränkte die schweißnassen Arme vor der Brust. »Halt die Klappe, Aiden.«

Er trat auf mich zu. »Bist du hier, um mir zu sagen, dass du mich vermissen wirst?«

»Was? Nein. Ich sagte doch schon, vermissen ist ein ziemlich großes Wort und eine schwache menschliche Regung, die …«

»… die Leute davon abhält, sich auf ihr Leben zu konzentrieren. Ja, ja, bla, bla.« Er lief zu mir und schloss mich in seine Arme. Dieser Kerl verstand es einfach, seine Gefühle zu zeigen. Ich dagegen? Eher weniger.

»Aiden, lass das. Ich bin ganz verschwitzt.«

»Gib mir all deinen Schweiß, Hails.«

»Lass mich los.«

»Nimm mich zuerst in den Arm, dann lass ich dich los.«

Ich seufzte. »Okay, aber nur, damit du mich loslässt.« Und so erwiderte ich seine Umarmung, und als er die Hände auf meinen Rücken legte, wollte ich komplett mit ihm verschmelzen und ihn nie wieder loslassen.

»IMD«, flüsterte er an meinem Ohr. Er wusste, dass ich meine Gefühle nicht gut ausdrücken konnte, deshalb sagten wir immer IMD anstatt »Ich mag dich«.

Manchmal hatte ich das Gefühl, als stimmte etwas nicht mit mir. Ich war die Tochter von zwei extrem gefühlsbetonten Menschen, und mein bester Freund war genauso. Mir dagegen fiel es aus irgendeinem Grund schwer, meine Gefühle zu zeigen.

Doch keiner von ihnen drängte mich dazu. Sie ließen mich einfach sein, wie ich war, und fanden ihren Weg um meine seltsamen Grenzen herum.

»IMD auch«, flüsterte ich und blinzelte die Tränen fort.

Aiden ließ mich los, und schon vermisste ich seine Arme um mich.

Ich vermisste ihn.

Wie konnte ich jemanden vermissen, der noch immer direkt vor mir stand?

Ich rieb mir über die feinen Nackenhaare. »Aiden.«

»Ja?«

»Was ist, wenn du da rausgehst und nicht wieder zurückkommst? Was ist, wenn du dich vollkommen veränderst? Was ist, wenn Hollywood dich zum Schlechten verändert?«, sprudelte es aus mir heraus, während ich noch immer mit den Tränen kämpfte, vollkommen überwältigt vom Anblick des mit Koffern vollgepackten Autos, das noch immer mit laufendem Motor vor mir stand. Mein bester Freund ging wirklich für ein ganzes Jahr fort – wenn nicht sogar noch länger. Mit ihm verlor ich den besten Teil meiner selbst.

Aiden lächelte. »Ich wusste, dass du mich vermissen würdest.«

»Ich meine es ernst, Aiden.« Ich kaute auf meiner Unterlippe und kämpfte gegen die Tränen. »Was ist, wenn du da rausgehst und vergisst, wer du bist?«

»Wenn ich vergesse, wer ich bin, komme ich zu dir. Ich bin mir sicher, das wird reichen.«

»Versprochen?«

»Versprochen.«

Ich warf mich in seine Arme und zog ihn ein letztes Mal an mich. Er wirkte ein wenig überrascht, weil ich es diesmal war, die diese Umarmung einforderte, doch er wehrte sich nicht dagegen. Aiden liebte körperliche Berührungen.

Aidens Dad stieg vorne vom Fahrersitz. »Tut mir leid, Hailee, aber wenn wir unseren Flug noch bekommen wollen, müssen wir jetzt los«, sagte er.

Aiden drückte mich noch ein letztes Mal an sich. »Wir beenden unsere Bucket List für die Highschool, Hailee. Ich komme wieder zurück. Versprochen.«

»Versprich nichts, was du nicht halten kannst.«

Er legte die Hände auf meine Schultern. »Ich verspreche es.«

Dann ging er zurück zum Auto und stieg ein. Und ich stand da, mitten auf der Straße, und sah ihm nach. Als ich nach Hause zurückkam, sah ich meine Eltern vorne auf der Veranda auf mich warten. Mama sah mich an und runzelte die Stirn. »Du brauchst einen Schmuser, Hailee.«

»Nein. Ich hasse Schmuser.«

»Ja, das wissen wir. Aber …« Dad rieb sich mit dem Daumen über die Nase und nickte. »Brauchst du einen?«

Tränen liefen über meine Wangen, und ich nickte langsam. »Okay. Aber nur einen.«

5

AIDEN

Siebzehn Jahre alt

Gegenwart

Samuel Walters hatte sein Leben lang davon geträumt, Schauspieler zu werden, doch leider liefen die Dinge nicht so, wie er es sich erhofft hatte.

Als junger Mann verbrachte er die meiste Zeit in Kalifornien und versuchte, sich dort einen Namen zu machen. Gemeinsam mit seinem Cousin Jake, der lieber feiern ging, als seinen Träumen nachzujagen, hielt er sich mit Couch Surfing und Ramen-Nudeln über Wasser. Jedes Mal, wenn es irgendwo Ärger gab, war Jake dabei, doch Samuel blieb durch alle Höhen und Tiefen an seiner Seite. Jedes Mal, wenn Jake Mist baute, räumte Samuel hinter ihm auf.

Eines Tages, als ihm die Ramen-Nudeln zum Hals raushingen, beschloss Samuel, eine kleine Pause von seinem Leben in Kalifornien einzulegen und in die kleine Stadt Leeks in Wisconsin zurückzukehren, um ein wenig Geld zu sparen. Eigentlich sollte es nur ein kleines Zwischenspiel werden, doch dann verliebte er sich in Laurie. Sie war eine wunderschöne, kluge, mitfühlende Frau. Das L in ihrem Namen stand für die Loyalität und Liebe, mit denen sie Samuel während ihrer gemeinsamen Zeit überhäufte. Doch sie kannte auch Verlust und Einsamkeit. Als sie eine Fehlgeburt erlitt, brauchte Laurie ihren Partner an ihrer Seite.

Als Samuel mal wieder in Kalifornien war, erfuhr er, dass Jake bei einem One-Night-Stand eine Frau geschwängert hatte. Als die Mutter den Jungen nach der Geburt zur Adoption freigab, fragte Jake, der wusste, dass er dem Kind niemals ein guter Vater hätte sein können, Samuel, ob er und Laurie den kleinen Jungen nicht adoptieren könnten.

Samuel und Laurie Walters waren die einzigen Eltern, die ich kannte. Jake war bloß der chaotische Cousin, der hin und wieder zu Besuch kam. Als ich jedoch alt genug war, um es zu verstehen, erzählten meine Eltern mir von Jake und meiner Adoption. Sie erklärten mir, dass wir alle eine Familie waren, auch wenn sie ein wenig anders war als andere Familien. Der Name und die Geschichte meiner leiblichen Mutter allerdings blieben zwei Leerstellen in meinem Leben.

Es gab sehr viel an mir, das mich an meinen Vater erinnerte. Denn auch wenn in unseren Adern nicht das gleiche Blut floss, so war ich doch ganz und gar der Sohn meines Vaters.

Ich, Aiden Walters, wollte mein ganzes Leben lang Schauspieler werden, und die Dinge liefen so, wie ich es mir erhofft hatte.

Schon als Kind hatte ich mir mit meinem Vater Filme angeschaut. Mit fünf konnte ich Casablanca auswendig mitsprechen. Mit sieben Es geschah in einer Nacht. Als ich acht war und meinem Vater verkündete, dass ich Schauspieler werden wollte, weinte er, und ich kann bis heute nicht sagen, ob vor Freude oder weil er darüber traurig war. Vielleicht ein wenig von beidem. Er sagte immer, er habe seinen Traum von der Schauspielerei aufgegeben, um mich großzuziehen, und auch wenn er es ohne eine Spur von Reue sagte, wusste ich, dass er seine eigenen Träume Wirklichkeit werden sah, als meine Karriere an Fahrt aufnahm. Das war auch der Grund, warum er sich so in diese Reise stürzte. Er war fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass sie so lief, wie er es sich immer erträumt hatte. Weshalb es ihm auch so schwerfiel, mit der Situation zurechtzukommen, mit der ich ihn gerade konfrontiert hatte.

Mein Vater schien einen Hitzschlag zu erleiden, und das, obwohl wir in einem Raum mit voll aufgedrehter Klimaanlage saßen.

»Warte, warte, warte, Auszeit. Alles auf Anfang. Du hast gerade einen Emmy gewonnen, Aiden«, sagte Dad, während er in unserer Mietwohnung in Los Angeles auf und ab marschierte. »Einen Emmy! Du bekommst jede Woche neue Angebote, hast jede Menge Möglichkeiten, die nächste Sprosse auf der Erfolgsleiter zu erklimmen. Wie kommst du nur auf die Idee, dass jetzt der richtige Moment ist, dir eine Auszeit zu gönnen? Auf keinen Fall.«

»Ehrlich gesagt halte ich es sogar für eine sehr gute Idee«, sagte Mom, die neben mir auf dem Sofa saß. »Er arbeitet jetzt seit fast zehn Jahren praktisch durch.«

Dad murrte. »Aber er hat gerade erst seinen Durchbruch, Laurie. Es besteht ein Unterschied zwischen hart arbeiten und Erfolg haben. Und er hat gerade zum ersten Mal wirklich Erfolg. Das ist genau der Moment, in dem wir richtig Gas geben müssen, um ihn noch weiter nach oben zu katapultieren.«

»Oder er könnte nach Leeks zurückkehren und gemeinsam mit seiner besten Freundin die Schule abschließen. Ich bin mir sicher, das würde ihm sehr viel bedeuten, nicht wahr, Aiden?«

Dad winkte ab. »Die Highschool kann er überall abschließen. Der Unterricht zu Hause hat dieses Jahr doch wunderbar funktioniert! Er hat überall Einsen.«

»Es geht nicht um die Noten, sondern um die Erfahrung«, widersprach meine Mutter. Wenn es darum ging, zwischen meiner Karriere und meiner geistigen Gesundheit abzuwägen, entschied sie sich immer für Letzteres. »Er kann die Highschool nicht irgendwann später nachholen, aber er kann jederzeit eine andere Filmrolle bekommen.«

»Ich werde trotzdem zu den Vorsprechterminen herfliegen, wenn ich muss«, versprach ich. »Und wenn mir eine richtig große Rolle angeboten wird, von der ich immer geträumt habe, dann werde ich sie auch annehmen, Dad. Ich …« Meine Stimme zitterte, als ich die Enttäuschung in seinen Augen sah. Augen, von denen ich so oft träumte, sie wären wie meine. »Ich … ähm … ich …«, stotterte ich, denn die Worte blieben mir im Hals stecken. Ich fuhr mir mit den Händen durch die ohnehin zerzausten braunen Haare und bemühte mich, nicht wie ein stammelnder Idiot zu klingen.

Ich hatte eine unglaubliche Angst davor, meine Eltern zu enttäuschen, und spürte, wie mir der Schweiß ausbrach, während ich versuchte, meinem Vater zu erklären, warum ich diese Auszeit brauchte. Ich wusste nicht mal, wieso ich eigentlich so nervös war. Es war einfach so, dass ich zwar ein guter Schauspieler war, aber deshalb nicht unbedingt glücklich über mein Leben. Im Gegenteil, ich war unglücklicher, als jemand mit meinem Erfolg eigentlich hätte sein sollen.

Zu oft dachte ich Dinge, die es nicht wert waren, gedacht zu werden. In meinem emotionsbasierten Hirn ergaben sie zwar einen Sinn, aber logisch betrachtet? Die meisten Dinge, über die ich mir Sorgen machte, waren wirklich albern.

Was jedoch nicht bedeutete, dass ich mir nicht trotzdem Sorgen machte.

Mir um tausend Dinge Sorgen zu machen gehörte zu meinen dominantesten Charakterzügen, und genau das vor anderen zu verbergen, kam gleich an zweiter Stelle. Nicht selten saßen Leute direkt neben mir und hatten keine Ahnung, dass ich gerade eine Eins-a-Panikattacke durchlebte.

Einmal wurde ich in einem Interview gefragt, wie es mir gelungen war, mich so tief in die geistig instabile Figur zu versetzen, die ich in einem Film verkörpert hatte.

Ein Teil von mir wollte von den Dächern brüllen, dass es einfach war, mich selbst zu spielen.

Mein Vater starrte mich an, als stünde ich kurz davor, ihm das Herz aus der Brust zu reißen. Und vielleicht war es tatsächlich so.

Seit Jahren litt ich unter der irrationalen Angst, dass meine Eltern mich nicht mehr lieben könnten, wenn ich sie enttäuschte. Es war ein aufdringlicher Gedanke, der jeglicher Grundlage entbehrte. Ich hasste es, wenn solche Gedanken die Überhand gewannen; es fühlte sich an, als würde ich von meinen schlimmsten Ängsten bezwungen und genötigt, mich ihnen zu ergeben. Mein Verstand wusste, dass meine Eltern mich niemals weniger lieben würden, selbst wenn ich sie enttäuschte. Besonders meine Mom zeigte mir sehr deutlich, dass sie mich womöglich sogar noch mehr lieben würde.

»Er möchte noch ein letztes Mal Kind sein, Samuel«, sagte sie. »Ich unterstütze das voll und ganz. Und ehrlich gesagt solltest du das auch. Er hat so hart gearbeitet und sollte mitbestimmen können, welche Richtung sein Leben als Nächstes nehmen wird. Egal, was du davon hältst, Aiden wird nach Leeks zurückkehren und dort die Schule beenden, und dann sehen wir weiter.«

Okay, vielleicht hatte zumindest eine Anwesende meine Panikattacke mitbekommen.

Nur zwei Menschen in meinem Leben konnten mich wirklich verstehen. Und zum Glück war meine Mutter eine von ihnen.

Mom war die schönste Frau der Welt. Sie war eine umwerfende Schwarze Frau mit dunkelbraunen Locken, die ihr bis zur Taille reichten. Wenn sie ihr strahlendes Lächeln auf dich richtete, musstest du einfach zurücklächeln. Moms Lächeln war wie eine Decke, die man gerade aus dem Trockner geholt hatte – tröstlich und warm. Aus ihren braunen Augen blickten Ernsthaftigkeit und Liebe. Wenn sie zu sehr lachen musste, bekam sie einen Schluckauf. Und wenn sie spürte, wie ihr Sohn sich in sich selbst zurückzog, dann ergriff sie für ihn das Wort.

»Wie wir weitermachen?«, fragte mein Vater aufgebracht. »Der Junge hat genug Talent, um der nächste Superstar zu werden, und der Weg dorthin steht ihm jetzt offen. Hast du eine Ahnung, wie viele Leute alles für eine solche Chance geben würden?«

»Was nicht bedeutet, dass es für ihn das Richtige ist«, erwiderte Mom.

Dad sah mich ernst an, doch ich sah die Enttäuschung in seinen Augen. Da wurde mir klar, dass ich nicht meinen Traum lebte – ich lebte seinen Traum. Dad und Jake hatten so viele Jahre in Kalifornien damit verbracht, ihren Träumen von einem Leben als Star hinterherzujagen, und ich wusste, dass mein Vater diesen Traum aufgegeben hatte, als meine Eltern mich adoptierten.

Manchmal fragte ich mich, ob er stolz oder neidisch auf mich war. Ich fragte mich, ob Stolz und Neid überhaupt gemeinsam in derselben Seele wohnen konnten, so wie zwei Mitbewohner, die sich jeden Tag stritten und eigentlich gar nicht gemeinsam in ein und dieselbe Wohnung gehörten.

Dad verschränkte die Arme vor der Brust. »Willst du denn nicht Schauspieler werden? Nach all der Zeit? Nach all den Opfern, die wir gebracht haben?«

Da war er – der überwältigende Drang, mich in einer Ecke zu verkriechen und in Schweiß gebadet hin und her zu wiegen.

»Jetzt versuch bloß nicht, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen«, befahl Mom. Ja, sag es ihm Mom! Wenigstens eine, die keine Angst hatte, ihre Meinung kundzutun.

»Ich will ihm kein schlechtes Gewissen machen, ich frage ihn bloß. Aiden …« Er trat zu mir. »Sei ehrlich zu mir. Möchtest du Schauspieler werden?«

Der Blick in seinen Augen sagte mir, dass es nur eine richtige Antwort gab. Nur eine Antwort, die die Schuldgefühle und die Panik in meiner Brust vertreiben würden. Nur eine Antwort, die mich in den Augen meines Vaters nicht zu einer Enttäuschung machen würde. Sein Traum, nicht meiner. »Ja, natürlich will ich das.«

Dad seufzte erleichtert. »Siehst du? Er will es.«

Mom wandte sich mir zu, legte den Kopf schief und musterte mich. Doch sie sagte nichts. Sie wusste, dass ich log, aber sie würde mir nicht widersprechen.

»Ich möchte einfach, wenigstens für eine Weile, das Senior Year miterleben. Wenn ein Angebot kommt, fliege ich wieder zurück. Dad, ich schaffe beides, die Schauspielerei und die Schule. Wir kriegen das schon hin.«

Dad senkte die Brauen und zog die Nase kraus, bevor er schließlich nachgab. »Sobald die Schule deiner Karriere im Weg steht, melde ich dich ab.«

Das war eine seltsame Aussage für einen Vater, aber ich würde ihm nicht widersprechen. »Einverstanden.«

Sobald dieses Gespräch mit meinen Eltern beendet war, ging ich in mein Zimmer, ließ mich aufs Bett fallen und griff nach meinem Handy.

Aiden: Rate mal, was passiert ist!

Hailee: Du hast Timothée Chalamet getroffen und ihm meine Nummer gegeben?

Aiden: Nein.

Hailee: Oh. Dann ist die Chance ziemlich groß, dass es mich nicht interessiert.

Das klang ziemlich wahrscheinlich. Ich ignorierte ihre bissige Bemerkung einfach.

Aiden: Ich komme für das Senior Year nach Hause. Wir können unsere Bucket List gemeinsam beenden.

Am Anfang unseres ersten Jahrs in der Highschool hatten Hailee und ich eine Liste mit all den Dingen zusammengestellt, die wir bis zu unserem Schulabschluss machen wollten. Leider hatten wir bisher nur wenige davon abgehakt, da ich ein ganzes Jahr mit ihr verpasst hatte. Es gab also so einiges aufzuholen. Je länger ich daran dachte, dass ich wieder nach Hause zurückkehren und gemeinsam mit meiner besten Freundin ein ganz normaler Teenager sein würde, desto mehr freute ich mich darauf.

Hailee: Ernsthaft?

Aiden: Ja. Nicht mehr lange, und ich bin wieder nebenan und geh dir auf die Nerven.

Die drei Pünktchen erschienen, verschwanden wieder und tauchten erneut auf, bevor sie wieder verschwanden, und das wieder und wieder. Hailee überlegte, was sie schreiben sollte. Meine beste Freundin war eine Meisterin darin, Nachrichten zu tippen und wieder zu löschen. Vermutlich konnte sie sich nicht entscheiden, ob sie lieb oder frech sein sollte. Mein süßsaures Mädchen.

Aiden: Keine Antwort? Ist dir nichts eingefallen, womit du mich aufziehen könntest?

Hailee: Beeil dich, du Loser.

Ein bisschen Zucker und ein wenig Säure. So, wie ich sie am liebsten mochte.

6

HAILEE

Heute kommt er nach Hause! Heute kommt er nach Hause!

Heute war der große Tag, an dem ich meinen besten Freund wiederbekam. Er musste jeden Augenblick ankommen, und ich war schier wahnsinnig vor Freude, auch wenn ich mir alle Mühe gab, mich zusammenzureißen.

Ich starrte auf die Uhr in meinem Zimmer, als könnte ich auf diese Weise die Zeit schneller vergehen lassen. Doch leider gelang es mir nicht, die Superkräfte in mir zu wecken, denn der Zeiger folgte seinem eigenen Rhythmus.

Noch fünfzehn Minuten.

In fünfzehn Minuten wäre er wieder zu Hause.

Dass er erst einen Tag vor Beginn des neuen Schuljahrs wieder nach Hause kam, machte mich echt verrückt. Aber zumindest wäre er in fünfzehn – nein, in vierzehn Minuten endlich da.

Ich hatte ihn sogar genötigt, mir einen Link mit seiner aktuellen Position zu schicken, damit ich die Rückfahrt vom Flughafen aus live verfolgen konnte.

Als ein Timer losdudelte, rannte ich aus meinem Zimmer in die Küche, wo ich extra für ihn doppelte Schokoladenkekse gebacken hatte. Daneben standen noch ein Zitronenkuchen, ein Dutzend Brownies und jede Menge Haferkekse auf der Küchenplatte. Ich hatte alle Lieblingskuchen und -kekse von Aiden gebacken, sozusagen als »Willkommen zurück, bester Freund, und wenn du mich jemals wieder so lange alleine lässt, mach ich dir die Hölle heiß«-Geschenk. Jetzt zog ich noch den Apple Crisp aus dem Backofen und stellte ihn ebenfalls auf die Arbeitsplatte.

Hatte ich zu viel gemacht?

Ja.

War es mir egal?

Absolut.

Backen beruhigte meine Nerven. Jedes Mal, wenn ich besonders nervös oder aufgeregt war, fand ich den Weg in die Küche, wo ich irgendetwas zusammenrührte. Das hatte ich von Mama. Sie war die beste Kuchenbäckerin der Stadt, von Hochzeiten über Taufen bis hin zu Hundegeburtstagen. Jedes Mal, wenn es etwas zu feiern gab, war Mom für den süßen Teil zuständig. Sie stand sogar kurz davor, gemeinsam mit Dad ihre eigene Bäckerei zu eröffnen. Er war sozusagen der Kopf hinter der ganzen Idee, und Mama war die Seele. Die beiden funktionierten zusammen wie Kaffee und Milch – genau die richtige Mischung, nicht zu süß und nicht zu bitter.

Wir hatten sogar schon einen Laden entdeckt, direkt am Marktplatz, und ich war mir sicher, dass ich dort in Zukunft die meisten meiner Nachmittage verbringen würde, um meiner Familie unter die Arme zu greifen – aber das ist eine andere Geschichte.

Rasch zog ich die Ofenhandschuhe wieder aus und sah auf die Uhr an der Mikrowelle.

Zwölf Minuten.

Ich war schweißgebadet vor Aufregung.

Warum war ich eigentlich so nervös? Es gab überhaupt keinen Grund. Meine Achseln waren klitschnass und mein T-Shirt ebenso. Ich rannte zurück in mein Zimmer, riss mir das T-Shirt vom Leib, lief ins Bad, tränkte meine Achseln mit Deo und zog mir ein frisches Shirt an, in der Hoffnung, dass ich nicht auch dieses durchschwitzen würde. Als ich in den Spiegel schaute, sah ich unendlich viel von meiner Mutter in meinem Gesicht, von ihren braunen Augen bis zu ihrer kleinen Stupsnase. Unsere Haut war goldbraun – Mama sagte immer, sie ließ uns leuchten wie Göttinnen in der Sonne –, und unsere Haare … nun, unsere unterschieden sich ein wenig voneinander. Mamas waren immer bestens mit Feuchtigkeit und Pflege versorgt. Sie fielen in perfekten Locken bis hinunter zu ihren BH-Trägern, jede einzelne gesund und klar definiert. Meine Haare dagegen bildeten immer einen riesigen spröden Afro Puff, weil ich es vorzog, an den Wochenenden vor dem Fernseher zu hängen, statt meine Haare zu pflegen.

Diesmal aber hatte ich mir mit meinen Haaren Mühe gegeben und sie zu zwei Afro Puffs hochgebunden. Ich musste wohl ziemlich übermütig gewesen sein.

Ich tätschelte meine Puffs und zuckte mit den Schultern. Gut genug.

Die Minuten krochen dahin. Ich lag auf meinem Bett, hielt mir das Handy vors Gesicht und verfolgte, wie Aiden immer näher und näher kam. Als er in unsere Straße einbog, schrie ich vor Aufregung und schoss wie eine Rakete von meinem Bett hoch und aus dem Haus. »Er ist da! Er ist da!«, brüllte ich, damit das ganze Haus – also meine Eltern – es auch wussten.

In dem Augenblick, in dem ich auf unserer Veranda hinaustrat, lenkte Aidens Dad den Wagen in ihre Einfahrt. Ich war keine besonders gute Läuferin, doch ihr würdet nicht glauben, wie schnell ich neben dem Auto stand. Aiden öffnete die Tür und strahlte mich mit seinem typischen breiten Goofy-Lächeln an. Ich hatte nicht mal die Zeit, ihn mir genauer anzusehen, denn ich warf mich sofort in seine Arme und zog ihn fest an mich.

Erst als auch er seine Arme um mich legte und mich an sich zog, merkte ich, dass seine Umarmung sich irgendwie anders anfühlte. Meine Hände wanderten zu seiner Brust.

War das …? Hatte er …?

Ist das ein Sixpack?

Ich trat einen Schritt zurück und musterte ihn verblüfft. Meinen Aiden! Meinen besten Freund! Mit sanfter Sonnenbräune auf seiner sonst so blassen Haut. Kontaktlinsen in den meerblauen Augen. Und mit Armen so dick wie die eines Marvel-Superhelden.

Ach. Du. Liebes. Bisschen.

Unmöglich.

Er sieht echt heiß aus!

Meine Aufregung verwandelte sich in unerklärliche Wut. Ich schlug mit der Hand gegen seine Brust. »Was zur Hölle?«, fuhr ich ihn an. Versteht mich nicht falsch, ich wusste, dass er angefangen hatte, regelmäßig zu trainieren. Wir hatten über Video telefoniert, und ich hatte ihn im Fernsehen gesehen, aber ihn jetzt vor mir stehen zu sehen? Ihn zu spüren? Er war ein komplett anderer Mensch als noch vor einem Jahr.

Aiden lachte.

Ich nicht.

»Ich freue mich auch, dich zu sehen, Hailee«, sagte er. »Es ist schön, wieder zu Hause zu sein.«

War … war seine Stimme tiefer als am Telefon? Wer war dieser Mann, der da vor mir stand? Wo war mein bester Freund?

Mit zusammengebissenen Zähnen und einem tiefen Knurren legte ich die Hände um seinen gigantischen Bizeps. »Was hast du getan?«

Ich blieb den ganzen Abend über wütend und redete kein Wort mit ihm.

Wie konnte er mir so etwas nur antun?

Wie konnte er es wagen, nach Hause zu kommen und so auszusehen?

»Du könntest dir kaum noch mehr Mühe geben, so zu tun, als würde es dich nicht stören«, bemerkte Aiden spöttisch, als er am nächsten Morgen zur Bushaltestelle kam. Wir hatten nicht mehr miteinander gesprochen, seit er mich auf diese grausame Art hintergangen hatte.

Mein bester Freund sah echt heiß aus.

Heiß-heiß.

Keine Ahnung, wie es passiert war, doch im Laufe des vergangenen Jahres hatte Aiden sich von dem etwas pummeligen Jungen, der er unser Leben lang gewesen war, in eine Art Superheld verwandelt. Er war braun gebrannt und besaß Muskeln, die jeden davon überzeugt hätten, dass er das ganze Jahr nur Hühnchenbrust gegessen und zum Spaß SUVs gestemmt hatte.

Aiden war vor einem Jahr nach Kalifornien gezogen, um dort für eine Fernsehserie zu arbeiten, und nun unglaublich fit und attraktiv wieder zurückgekehrt, was mich vor Wut fast platzen ließ. Sicher, schon bevor er fortgegangen war, hatte er ein paar echt gute Aufträge bekommen, aber wenn er zurückgekommen war, hatte er immer so ausgesehen wie vorher – ein bisschen belämmert und an den richtigen Stellen ein wenig pummelig. Er und ich waren uns in dieser Hinsicht so ähnlich gewesen – beide belämmert und beide pummelig. Das war unser Ding! Dorky Chub #1 und Dorky Chub #2.

Wir hatten eine Abmachung, und er hatte sie an dem Tag gebrochen, als er beschlossen hatte, nach einem Jahr in Hollywood wieder nach Hause zu kommen und so auszusehen. Unsere Abmachung lautete – ganz simpel und unausgesprochen: Wir blieben beide während der Highschool unattraktiv, damit keiner von uns allein unattraktiv sein musste. Und mit zwanzig würden wir dann gemeinsam aufblühen. Aiden hasste es, wenn ich »aufblühen« sagte, was exakt der Grund war, warum ich das Wort ständig benutzte.