Blade Runner - Philip K. Dick - E-Book

Blade Runner E-Book

Philip K. Dick

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Beschreibung

›Blade Runner‹, der Film von Ridley Scott, beruht auf dem Roman von Philip K. Dick aus dem Jahr 1968, in dem Androiden von elektrischen Schafen träumen. Denn in der postapokalyptischen Gesellschaft definiert der Besitz von Tieren den Status und eine Person im Fernseher wird beinahe göttlich verehrt. Vom Mars zurückgekehrte Androide bedrohen aber die radioaktive Idylle, und ein Kopfgeldjäger – im Film Harrison Ford – macht Jagd auf sie. Mit höhnischem Scharfsinn und schwarzem Humor erkundet Dick die Grenze, die den Menschen von den Androiden, die er geschaffen hat, unterscheidet. Eine Lektion in Sachen Ethik der Technik. »Philip K. Dick ist für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, was Franz Kafka für die erste war.« Art Spiegelman

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Seitenzahl: 318

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Philip K. Dick

Blade Runner

Roman

Aus dem Amerikanischen von Norbert Wölfl

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungMottoAucklandEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzig

Gewidmet Maren Augusta Bergrud,

10. August 1923–14. Juni 1967

And still I dream he treads the lawn

Walking ghostly in the dew

Pierced my glad singing through

 

William Butler Yeats

Auckland

 

Gestern starb die Schildkröte, die der Entdecker Captain Cook im Jahre 1777 dem König von Tonga zum Geschenk gemacht hatte. Sie war fast 200 Jahre alt.

Das Tu’Imalila genannte Tier starb auf dem Gelände des königlichen Palastes in Nuku’alofa, der Hauptstadt von Tonga.

Die Einwohner von Tonga betrachteten die Schildkröte als eine Führerfigur, und zu ihrer Betreuung wurden spezielle Wärter ernannt. Vor einigen Jahren erblindete sie infolge eines Buschfeuers.

Radio Tonga meldete, dass die Überreste von Tu’Imalila ins Auckland Museum auf Neuseeland überbracht würden.

Reuters, 1966

Eins

Die automatische Weckvorrichtung der Stimmungsorgel neben seinem Bett weckte Rick Deckard mit einem fröhlichen kleinen Stromstoß. Überrascht – er war immer überrascht, wenn er sich so schlagartig wach fand – setzte er sich im Bett auf, stellte sich in seinem bunten Pyjama hin und streckte sich. Drüben in ihrem Bett schlug jetzt auch seine Frau Iran ihre grauen, lustlosen Augen auf, blinzelte und schloss sie seufzend wieder.

»Du hast deine Penfield zu schwach eingestellt«, sagte er zu ihr. »Ich stelle sie dir neu ein, dann wachst du auf und …«

»Lass die Finger von meiner Einstellung!«, fuhr sie ihn an. »Ich will gar nicht wach werden.«

Er setzte sich auf ihre Bettkante, beugte sich über sie und erklärte sanft: »Wenn du die Spannung hoch genug einstellst, freust du dich, wach zu sein. Das ist das ganze Geheimnis. Bei Einstellung C überwindet sie, wie bei mir, die Schwelle, die das Bewusstsein aussperrt.« Er tätschelte freundlich ihre nackte, blasse Schulter, weil er sich gegenüber der ganzen Welt aufgeschlossen fühlte – sein Gerät war auf D eingestellt.

»Fass mich nicht mit deinen groben Polizistenhänden an!«, sagte Iran.

»Ich bin doch kein Polizist.« Er fühlte sich jetzt gereizt, obgleich er diese Stimmung nicht gewählt hatte.

»Du bist noch schlimmer als ein Polizist«, sagte seine Frau mit immer noch geschlossenen Augen. »Du bist ein von den Bullen angeheuerter Mörder!«

»Ich habe in meinem ganzen Leben noch kein menschliches Wesen getötet.« Seine gereizte Stimmung breitete sich nun aus und wurde ausgesprochen feindselig.

»Nur die armen Andys.«

»Mir ist jedenfalls aufgefallen, dass du keine Skrupel dabei empfindest, wenn du die dafür bezahlten Prämien für irgendwelche Dinge ausgibst, die dir im Augenblick gerade gefallen.« Er stand auf und trat ans Schaltpult seiner Stimmungsorgel. »Statt das Geld zu sparen, damit wir uns endlich ein richtiges Schaf kaufen könnten und nicht so einen elektrischen Schwindel, wie wir ihn oben auf dem Dach stehen haben. Bloß ein elektrisches Tier, das ist alles, was ich mir im Laufe all dieser Jahre hart verdient habe.« Vor dem Pult zögerte er und überlegte, ob er einen Thalamus-Hemmer wählen sollte, der seine wütende Stimmung ausgleichen würde, oder lieber ein Thalamus-Stimulans, das ihn genügend aufkratzen würde, um aus diesem Streit als Sieger hervorzugehen.

Iran hatte die Augen geöffnet und beobachtete ihn. »Wenn du jetzt eine giftigere Laune wählst, dann wähle ich dasselbe. Ich wähle die höchste Einstellung, und du wirst einen Streit erleben, der alles Bisherige in den Schatten stellt.« Rasch stand sie auf, sprang ans Schaltpult ihrer eigenen Stimmungsorgel, blitzte ihn herausfordernd an und wartete.

Ihre Drohung ernüchterte ihn. Seufzend sagte er: »Ich werde nur die für heute eingeplante Einstellung wählen.« Er sah nach, was für den 3. Januar 1992 auf seinem Plan stand: Eine sachlich-nüchterne Haltung war vorgeschrieben. Bekümmert fragte er: »Wenn ich die Planeinstellung wähle, wirst du es dann auch tun?« Er wartete ab, schlau genug, sich nicht festzulegen, bevor seine Frau einwilligte, seinem Beispiel zu folgen.

»Auf meinem Plan stehen für heute sechs Stunden selbstanklagende Depression«, sagte Iran.

»Was? Warum hast du so etwas eingeplant?« Das widersprach vollkommen dem Zweck der Stimmungsorgel. Düster fügte er hinzu: »Ich habe gar nicht gewusst, dass man so etwas einstellen kann.«

Iran erklärte: »Eines Nachmittags saß ich hier und hatte selbstverständlich die Sendung mit Buster Friendly und seinen freundlichen Freunden eingeschaltet. Er redete gerade von einer wichtigen Meldung, da wurde diese schreckliche Werbung eingeblendet, die ich so hasse. Du weißt schon, für Mountibanks Bleischutzteile. Ich schaltete deshalb für eine Minute den Ton aus. Da hörte ich das Haus, dieses Haus hier, ich hörte die …« Sie machte eine Handbewegung.

»Die leeren Wohnungen«, sagte Rick. Manchmal hörte auch er sie, nachts, wenn er eigentlich schlafen sollte. Dabei rangierte ein intakt gebliebenes, zur Hälfte bewohntes Gebäude in diesen Zeiten in der Skala der Bevölkerungsdichte schon sehr weit oben; draußen in den Bezirken, die vor dem Krieg die Vororte darstellten, konnte man vollkommen leerstehende Wohnblocks finden. Das hatte er jedenfalls gehört. Aber er hatte es als Wissen aus zweiter Hand belassen, wie die meisten wollte er es nicht unmittelbar kennenlernen.

Iran fuhr fort: »In diesem Augenblick, als ich den Fernsehton abgeschaltet hatte, befand ich mich in einer 382er-Stimmung. Ich hatte sie kurz zuvor gewählt. Daher nahm ich die Leere zwar geistig wahr, aber ich fühlte sie nicht. Meine erste Reaktion bestand darin, dankbar zu sein, dass wir uns eine Penfield-Stimmungsorgel leisten konnten. Doch dann wurde mir klar, wie ungesund es ist, das Fehlen von Leben zu spüren, nicht nur in diesem Gebäude, sondern überall, und nicht darauf zu reagieren – verstehst du? Ich glaube, das tust du nicht. Aber früher betrachtete man das als Anzeichen für eine bestimmte Geisteskrankheit, man bezeichnete sie als ›Fehlen des angemessenen Affekts‹. Ich ließ den TV-Ton also abgeschaltet, setzte mich an meine Stimmungsorgel und begann zu probieren. Schließlich fand ich die Einstellung für Verzweiflung heraus.« Ihr dunkles, keckes Gesicht drückte Zufriedenheit aus, als habe sie damit eine wirklich wertvolle Leistung vollbracht. »Also habe ich diese Stimmung zweimal monatlich auf meinen Plan gesetzt. Ich erachte diesen Zeitaufwand als durchaus angemessen für ein Gefühl der allgemeinen Hoffnungslosigkeit und dafür, dass wir hier auf der Erde geblieben sind, während die Schlaueren alle längst ausgewandert sind. Meinst du nicht auch?«

»Aber bei einer solchen Stimmung besteht doch die Gefahr, dass du darin verharrst«, sagte Rick, »dass du nicht mehr den Ausweg daraus wählst. Diese Art von Verzweiflung über die Wirklichkeit setzt sich ewig fort.«

»Ich programmiere für drei Stunden später eine automatische Umstellung«, sagte seine Frau überlegen. »A481. Bewusstsein der vielfältigen Möglichkeiten, die mir die Zukunft bietet, neue Hoffnung, dass …«

»Ich kenne 481«, unterbrach er sie. Er hatte diese Kombination selbst schon oft gewählt; er war sehr auf sie angewiesen.

Rick setzte sich auf die Bettkante, nahm ihre Hände und zog sie zu sich herunter. »Hör mal«, sagte er, »selbst mit einer automatischen Neueinstellung ist es immer gefährlich, sich irgendeiner Depression auszusetzen. Verzichte auf deine Einstellung, und ich verzichte auf meine. Wir wählen gemeinsam 104, genießen es miteinander, dann behältst du es bei, und ich programmiere meine normale sachlich-nüchterne Haltung. In mir wird dann der Wunsch entstehen, für einen Sprung hinauf aufs Dach zu gehen, nach dem Schaf zu sehen und nachher ins Büro zu fahren, und du sitzt nicht hier herum und brütest ohne Fernsehen vor dich hin.«

Er ließ ihre langen, schlanken Finger los und ging durch die geräumige Wohnung hinüber ins Wohnzimmer, wo es noch ein wenig nach Zigaretten von gestern Abend roch. Er bückte sich und schaltete den Fernseher ein.

Aus dem Schlafzimmer erklang Irans Stimme: »Ich vertrage vor dem Frühstück kein Fernsehen!«

»Dann wähle 888«, gab Rick zurück und wartete auf das Warmwerden des Geräts, »den Wunsch fernzusehen, egal was läuft.«

»Ich habe im Augenblick überhaupt keine Lust, irgendetwas einzustellen.«

»Dann wähle 3.«

»Ich kann doch nicht eine Einstellung wählen, die in meiner Großhirnrinde den Wunsch zum Wählen wachruft! Wenn ich nicht wählen will, dann will ich schon gar nicht das wählen, weil ich dann nämlich wählen will, und das Wählenwollen erscheint mir im Augenblick als der denkbar abwegigste Drang. Ich will nichts weiter als hier auf der Bettkante sitzen und zu Boden starren.« Ihre scharfe Stimme durchdrangen düstere Obertöne in dem Maße, wie ihr Gerät gefror, und ihre Aufregung legte sich, nachdem sich eine unwillkürliche, allgegenwärtige große Schwere, eine fast vollkommene Trägheit wie ein Film auf sie niederließ.

Er drehte den Fernseher laut. Die dröhnende Stimme von Buster Friendly füllte den Raum.

»Hallo, Freunde! Jetzt wird es Zeit für einen kurzen Blick auf unser heutiges Wetter. Der Satellit Mungo meldet, dass der radioaktive Niederschlag gegen Mittag besonders stark sein wird, um dann später etwas abzuflauen. Wer von den Zuschauern sich also ins Freie wagen will …«

Iran tauchte in ihrem langen, dünnen Nachthemd neben ihm auf und schaltete den Fernseher aus. »Schon gut, ich gebe es auf. Ich wähle, was du willst, selbst äußerste sexuelle Verzückung – mir ist so hundeelend, dass ich selbst das über mich ergehen lasse. Zum Teufel auch, was macht es schon für einen Unterschied?«

»Ich stelle die Orgeln für uns beide ein«, sagte Rick und führte sie ins Schlafzimmer zurück. Dann trat er an ihr Pult und programmierte 594: freudige Anerkennung der geistigen Überlegenheit des Ehemannes in allen Dingen. An seinem eigenen Pult wählte er eine frische und schöpferische Einstellung zur eigenen Arbeit, obgleich er sie kaum nötig hatte. Es war seine gewöhnliche, angeborene Einstellung, unabhängig von Penfields künstlichem Gehirnstimulans.

 

Nach einem hastigen Frühstück – er hatte durch den Wortwechsel mit seiner Frau viel Zeit verloren – stieg er in seinem Ausgehanzug, zu dem auch sein Mountibank-Bleischutzstück, Modell Ajax, gehörte, hinauf zur Weide auf dem Flachdach, wo sein elektrisches Schaf »graste«. Hier mampfte dieses Meisterwerk der Technik scheinbar zufrieden vor sich hin und führte alle anderen Hausgenossen an der Nase herum.

Natürlich bestanden sicher auch einige ihrer Tiere aus elektronischen Schaltungen unter einem geschickt geformten Äußeren. Er hatte sich selbstverständlich nie in diese Dinge eingemischt, wie auch die Nachbarn sich nie um das Innenleben seines Schafes kümmerten. Nichts wäre unhöflicher gewesen. Die Frage »Ist Ihr Schaf echt?« hätte mehr gegen die Regeln des Anstands verstoßen als die Erkundigung nach der Echtheit der Zähne, Haare oder inneren Organe eines Mitbürgers.

Die mit radioaktiven Partikeln gesättigte Morgenluft umgab ihn grau, vernebelte die Sonne und stach ihm in die Nase. Unwillkürlich glaubte er den Tod zu riechen. Aber das ist wohl übertrieben, sagte er sich, als er auf das Rasenstück zuging, das ihm zusammen mit der viel zu großen Wohnung darunter gehörte. Das Erbe des Letzten Weltkriegs ließ in der Wirkung nach. Wer den Staub nicht vertragen hatte, war schon vor Jahren in Vergessenheit geraten. Die Strahlung war jetzt schwächer und traf die kräftigen Überlebenden; sie verwirrte nur noch den Geist und schädigte die Fortpflanzungsfähigkeit. Trotz seines Bleischutzes drang der Staub zweifellos auch in ihn ein und durchsetzte ihn täglich – solange er sich nicht zur Auswanderung entschloss – mit einer kleinen Ladung verderblichen Gifts. Bisher hatten die monatlichen Untersuchungen ihn als normal bestätigt: Er war in der Lage, sich innerhalb der gesetzlichen Grenzen fortzupflanzen. Aber schon im nächsten Monat konnten die Ärzte der Polizeidienststelle von San Francisco etwas anderes finden. Ständig tauchten neue »Sonderfälle« auf, die der allgegenwärtige Staub aus Normalen hervorgebracht hatte. Zurzeit verbreiteten Plakate, Fernsehwerbung und Postwurfsendungen der Regierung das Motto: »Emigrieren oder degenerieren! Wählen Sie selbst!« Sehr wahr, dachte Rick, als er das Tor zu seiner Miniaturweide öffnete und auf sein elektrisches Schaf zuging. Aber ich kann nicht emigrieren, sagte er sich. Mein Job hält mich hier.

Der Besitzer der Weide nebenan, sein Wohnnachbar Bill Barbour, rief ihm einen Gruß zu. Auch er trug schon, wie Rick, seine Arbeitskleidung und wollte noch nach seinem Tier sehen, bevor er sich auf den Weg machte.

»Mein Pferd ist trächtig«, verkündete Barbour strahlend. Er deutete auf seinen mächtigen Percheron, der ausdruckslos ins Leere starrte. »Was sagen Sie dazu?«

»Was soll ich sagen? Dann werden Sie bald zwei Pferde besitzen«, antwortete Rick. Er stand jetzt vor seinem Schaf. Es lag wiederkäuend da und hielt seinen Blick wachsam auf ihn gerichtet, ob er nicht vielleicht einen Leckerbissen mitgebracht hatte. Das nachgemachte Schaf enthielt nämlich eine auf Hafer ansprechende Schaltung. Beim Anblick solcher Getreideflocken rappelte es sich in recht überzeugender Weise auf und kam zu seinem Besitzer. »Wovon soll es denn trächtig sein?«, fragte er Barbour. »Vom Wind?«

»Ich habe von dem besten Samenplasma gekauft, das in ganz Kalifornien zu haben ist«, sagte Barbour. »Durch gewisse Beziehungen, die ich zum Staatlichen Zuchtamt habe. Erinnern Sie sich nicht mehr, dass letzte Woche der Veterinärinspektor hier war und Judy untersucht hat? Sie sind ganz scharf auf das Fohlen, weil Judy so ein unvergleichliches Tier ist.« Barbour tätschelte seinem Pferd liebevoll den Hals, und es neigte den Kopf zu ihm.

»Haben Sie schon mal daran gedacht, Ihr Pferd zu verkaufen?«, fragte Rick. Er hätte zu gern ein Pferd gehabt oder sonst irgendein Tier. Einen solchen Schwindel zu besitzen und zu unterhalten demoralisierte ihn allmählich. Und doch musste es aus gesellschaftlichen Gründen sein, wenn man schon nichts Echtes besaß. Also hatte er keine andere Wahl, als weiterzumachen. Selbst wenn ihm nichts daran gelegen hätte – da war noch seine Frau, und Iran war es nicht gleichgültig, überhaupt nicht.

Barbour sagte entrüstet: »Es wäre unmoralisch von mir, mein Pferd zu verkaufen.«

»Dann verkaufen Sie doch das Fohlen. Zwei Tiere zu besitzen ist noch unmoralischer, als gar keins zu haben.«

Verwundert entgegnete Barbour: »Wie meinen Sie das? Viele Leute haben doch zwei Tiere oder gar drei oder vier. Fred Washborne, dem die Algenaufbereitung gehört, in der mein Bruder arbeitet, besitzt sogar fünf Tiere. Haben Sie im gestrigen Chronicle den Artikel über seine Ente gelesen? Angeblich soll es die größte und schwerste Moscovy an der ganzen Westküste sein.« Beim Gedanken an einen derartigen Besitz bekam Barbour ganz glasige Augen, und er glitt langsam in einen tranceähnlichen Zustand.

Rick suchte in seinen Rocktaschen und fand schließlich das abgegriffene, zerlesene Januarheft von Sidneys Tier- und Geflügel-Katalog. Er schlug im Register nach, fand unter »Fohlen« den Hinweis »siehe Pferde, Jgt.« und hatte sogleich den allgemeinen Richtpreis zur Hand. »Bei Sidney könnte ich ein Percheron-Fohlen für fünftausend Dollar kaufen«, sagte er.

»Können Sie nicht«, erwiderte Barbour. »Sehen Sie sich die Liste noch einmal genauer an. Der Preis ist kursiv gedruckt. Das bedeutet, dass keine Fohlen vorrätig sind, es wäre nur der Preis, falls sie welche hätten.«

»Und wenn ich Ihnen zehn Monate lang monatlich fünfhundert Dollar zahle? Den vollen Katalogpreis?«

Mitleidig sagte Barbour: »Deckard, Sie verstehen eben doch nichts von Pferden. Es hat seinen guten Grund, warum Sidney keine Percheron-Fohlen anbieten kann. Sie werden nicht verkauft – nicht mal zum Katalogpreis. Sie sind zu selten, sogar die verhältnismäßig minderwertigen.« Er lehnte sich gestikulierend über ihren gemeinsamen Zaun. »Ich habe Judy jetzt seit drei Jahren. In dieser Zeit ist mir nicht ein einziges Mal eine ähnlich gute Percheron-Stute über den Weg gelaufen. Als ich sie kaufte, musste ich extra nach Kanada fliegen, und ich habe sie persönlich hergefahren, damit sie mir unterwegs nicht abhandenkam. Denn kaum sind Sie mit so einem Tier in der Nähe von Colorado oder Wyoming, werden Sie niedergeschlagen und bestohlen. Wissen Sie, weshalb? Weil es vor dem Letzten Weltkrieg noch Hunderte davon gab …«

Rick unterbrach ihn: »Aber wenn Sie zwei Pferde haben und ich keins, so verstößt das doch gegen sämtliche theologischen und moralischen Grundsätze des Mercerismus.«

»Sie haben Ihr Schaf. Sie können doch den Aufstieg in Ihrem privaten Leben vollziehen, und wenn Sie die beiden Hebel des psychologischen Einfühlungsvermögens in die Hand bekommen, können Sie ehrenhaft weiterkommen. Nun, ohne dieses Schaf da fände ich eine gewisse Logik in Ihren Überlegungen. Wenn ich zwei Tiere hätte und Sie gar keins, würde ich wohl dazu beitragen, Sie der wahren Einswerdung mit Mercer zu berauben. Aber jede Familie in diesem Haus – warten Sie mal, jedes dritte Apartment ist bewohnt, also müssen es fünfzig sein –, jede Familie besitzt irgendein Tier. Graveson gehört das Huhn da drüben.« Er deutete nach Norden. »Oakes und seine Frau haben den großen, roten Hund, der nachts immer bellt.« Er überlegte. »Ich glaube, Ed Smith hält unten in seiner Wohnung eine Katze. Jedenfalls behauptet er es, gesehen hat sie noch niemand. Möglich, dass er nur damit angibt.«

Rick ging hinüber zu seinem Schaf, bückte sich und tastete in der dicken weißen Wolle – immerhin war diese echt – nach dem versteckten Kontrollmechanismus. Vor Barbours Augen klappte er den Deckel auf und enthüllte das Schaltbrett.

»Sehen Sie?«, sagte er zu Barbour. »Jetzt verstehen Sie vielleicht, warum ich das Fohlen so dringend haben möchte.«

Nach einer langen Pause sagte Barbour: »Armer Kerl. War es schon immer so?«

»Nein.« Rick klappte den Deckel an seinem elektrischen Schaf zu, richtete sich auf und sah seinen Nachbarn an. »Zuerst hatte ich ein richtiges Schaf. Mein Schwiegervater hat es uns geschenkt, als er auswanderte. Dann, vor ungefähr einem Jahr, kam das Unglück. Vielleicht erinnern Sie sich noch, wie ich es zum Tierarzt brachte. Sie waren doch an dem Morgen hier oben, als ich es auf der Seite liegend vorfand.«

»Sie haben es auf die Beine gestellt«, erinnerte sich Barbour und nickte. »Ja, Sie haben es noch einmal hochgebracht, aber nach ein paar Schritten ist es wieder umgefallen.«

Rick sagte: »Schafe bekommen die seltsamsten Krankheiten. Oder mit anderen Worten: Schafe kriegen die verschiedensten Krankheiten, aber die Symptome bleiben immer gleich. Sie können nicht mehr aufstehen, und man kann nie feststellen, wie ernst die Sache ist, ob es sich nur um ein verstauchtes Bein oder um Tetanus handelt. Daran ist mein Schaf eingegangen: an Tetanus.«

»Hier oben?«, fragte Barbour. »Hier auf dem Dach?«

»Das Heu war schuld. Einmal habe ich nicht den ganzen Draht von dem Ballen abbekommen. Ein Stückchen Draht blieb dran, und Groucho – so hieß das Schaf – verletzte sich daran und zog sich Tetanus zu. Ich brachte Groucho zum Tierarzt. Dort ging er ein. Ich überlegte eine Weile, dann rief ich eine der Firmen an, die künstliche Tiere herstellen, zeigte den Leuten ein Foto von Groucho, und sie haben mir das hier geliefert.« Rick deutete auf das im Gras liegende Ersatztier, das immer noch wiederkäute und ihn aufmerksam beobachtete, ob er nicht vielleicht doch Hafer in der Tasche hatte. »Eine ausgezeichnete Arbeit. Ich beschäftige mich genauso viel und gründlich damit wie mit dem echten Tier. Aber …« Er zuckte die Achseln.

»Es ist eben nicht dasselbe«, beendete Barbour den angefangenen Satz.

»Aber fast. Man fühlt sich gleich dabei, denn es muss immer im Auge behalten werden, als wäre es tatsächlich lebendig. Manchmal gehen diese Dinger kaputt, und dann weiß jeder im ganzen Haus Bescheid. Ich habe es schon sechsmal in der Reparatur gehabt. Meist handelte es sich bloß um kleine Funktionsstörungen, aber wenn sie jemand bemerkt hätte … Einmal ging zum Beispiel das Stimmband kaputt, und das Schaf hörte nicht auf zu blöken. Jeder hätte merken können, dass es ein mechanisches Versagen war.« Er fügte hinzu: »Auf dem Wagen der Reparaturfirma steht natürlich ›Tierklinik Sowieso‹, und der Fahrer trägt einen weißen Kittel wie ein richtiger Tierarzt.« Plötzlich warf er einen Blick auf seine Uhr und merkte, wie spät es geworden war. »Ich muss zur Arbeit«, sagte er. »Bis heute Abend.«

Als er auf seinen Wagen zuging, rief ihm Barbour eilig nach: »Ich werde natürlich zu keinem hier im Haus etwas sagen.«

Rick hielt inne und wollte sich bedanken, aber dann überkam ihn etwas von der Verzweiflung, über die Iran gesprochen hatte, und er sagte: »Ich weiß nicht recht, vielleicht ist es ganz gleichgültig.«

»Aber man wird Sie schräg ansehen. Nicht alle, aber einige. Sie wissen doch, wie die Leute sind, wenn man sich um kein Tier kümmert. In ihren Augen ist das unmoralisch und gefühllos. Ich meine, rein technisch gesehen ist es kein Verbrechen mehr wie nach dem Letzten Weltkrieg, aber der Nachgeschmack bleibt.«

»Mein Gott!«, rief Rick verzagt. »Ich möchte doch ein Tier haben. Ich versuche schon so lange, eins zu kaufen. Aber bei meinem Gehalt als städtischer Angestellter …«

Ja, wenn ich wieder einmal Glück hätte bei der Arbeit, dachte er. Wie damals vor zwei Jahren, wo ich vier Andys innerhalb eines Monats erwischt habe. Wenn ich damals gewusst hätte, dass Groucho eingehen würde … aber das war noch vor dem Tetanusanfall. Vor dem kleinen Stückchen Ballendraht unter der Haut.

»Sie könnten sich doch eine Katze kaufen«, schlug Barbour vor. »Katzen sind billig – schauen Sie doch in Sidneys Katalog nach.«

Rick sagte ruhig: »Ich will kein Schoßtier. Wie gesagt, möchte ich ein großes Tier haben. Ein Schaf oder, wenn ich das Geld dafür zusammenbringe, eine Kuh, einen Stier, oder – wie Sie – ein Pferd.« Die Prämie für fünf erledigte Andys würde dafür schon reichen, fiel ihm ein. Tausend Dollar pro Stück, zusätzlich zum Gehalt. Dann könnte ich sicher irgendjemandem das abkaufen, was ich gern haben möchte. Selbst wenn der Preis in Sidneys Tier- und Geflügel-Katalog kursiv gedruckt ist. Fünftausend Dollar – aber zuerst müssen diese fünf Androiden von einem der kolonisierten Planeten auf die Erde gelangen, überlegte er.

Das kann ich nicht beeinflussen. Ich kann nicht fünf davon herholen. Und selbst wenn ich es könnte, so gibt es noch andere Prämienjäger für andere Polizeiorganisationen weltweit. Es müsste schon so sein, dass diese Andys sich im Bereich Nordkalifornien niederlassen, und dann müsste noch Dave Holden, der erste Prämienjäger hier, sterben oder pensioniert werden.

»Kaufen Sie sich doch eine Grille«, schlug Barbour witzig vor. »Oder eine Maus. Mann, für fünfundzwanzig Dollar bekommen Sie doch schon eine ausgewachsene Maus!«

Rick sagte nur: »Ihr Pferd könnte genauso eingehen wie Groucho, ohne Vorankündigung. Wenn Sie heute Abend von der Arbeit zurückkommen, kann es schon auf dem Rücken liegen und alle Viere in die Luft strecken wie ein Käfer. Oder, wenn Ihnen das lieber ist, wie eine Grille.« Mit dem Autoschlüssel in der Hand ging er weg.

»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie gekränkt habe«, sagte Barbour unsicher.

Schweigend schloss Rick die Tür seines Schwebewagens auf. Für seinen Nachbarn hatte er kein einziges Wort mehr übrig. Er dachte bereits an seine Arbeit, an den Tag, der vor ihm lag.

Zwei

In einem gigantischen, leeren, verfallenen Gebäude, das einst Tausenden Unterkunft bot, lief in einem der unbewohnten Räume noch ein einsamer Fernsehapparat.

Diese herrenlose Ruine war vor dem Letzten Weltkrieg gepflegt und ordentlich gehalten. Hier in dieser Gegend befanden sich damals die Vororte von San Francisco und konnten mit dem schnellen Monorail von der City aus erreicht werden. Die ganze Halbinsel glich einem gewaltigen lebendigen Baum voller Vögel, die ihre Meinung zum Besten gaben oder sich beklagten. Inzwischen jedoch waren die wachsamen Hauseigentümer entweder gestorben oder in eine der Kolonialwelten ausgewandert. Die meisten waren gestorben – es war ein sehr kostspieliger Krieg geworden, trotz aller zuversichtlichen Voraussagen des Pentagons und seines selbstgefälligen wissenschaftlichen Organs, der Rand Corporation – die sich übrigens ganz in der Nähe niedergelassen hatte. Wie die Besitzer der Wohnungen war dann auch diese Vereinigung weggezogen, offensichtlich für immer. Niemand vermisste sie.

Es erinnerte sich auch niemand mehr daran, warum der Krieg ausgebrochen war oder wer – falls überhaupt – ihn gewonnen hatte. Der tödliche Staub, der den größten Teil des Globus verseucht hatte, kam aus dem Niemandsland, und keiner, nicht mal der Kriegsfeind, hatte mit ihm gerechnet.

Zuerst waren seltsamerweise die Eulen gestorben. Damals war es den meisten Leuten fast komisch vorgekommen, wie die dicken, plusterigen weißen Vögel da und dort auf Höfen und Straßen herumlagen. Da die Eulen sich auch zu Lebzeiten nie vor der Dämmerung hervorwagten, waren sie niemandem aufgefallen. Im Mittelalter hatten sich Seuchen auf ähnliche Weise manifestiert – in der Form vieler toter Ratten. Diese Seuche aber kam von oben.

Den Eulen folgten natürlich die meisten anderen Vögel, aber inzwischen hatte man das Geheimnis bereits enträtselt und analysiert. Schon vor dem Krieg war ein bescheidenes Kolonisationsprogramm angelaufen, aber jetzt, wo die Sonne nicht mehr über der Erde schien, trat die Kolonisation in eine völlig neue Phase. Der Synthetische Freiheitskämpfer, ursprünglich eine Kriegswaffe, war in Verbindung mit diesem Programm abgewandelt worden. Der humanoide Roboter funktionierte auch in jeder fremden Welt – streng genommen handelte es sich um einen organischen Androiden – und wurde nun der Packesel des Kolonisationsprogramms. Nach einem UNO-Gesetz erhielt jeder Auswanderer automatisch einen Androiden des Typs, den er sich wünschte. Um 1990 war die Zahl der verschiedenen Typen ebenso unübersichtlich geworden wie bei den amerikanischen Autos der sechziger Jahre.

Der Androide wurde zum besten Lockmittel. Um bei einem alten Vergleich zu bleiben: Er war das Zuckerbrot und der radioaktive Niederschlag die Peitsche. Die UNO machte die Auswanderung einfach, das Bleiben schwierig, wenn nicht unmöglich. Wer auf der Erde blieb, musste damit rechnen, von heute auf morgen als biologisch untauglich eingestuft zu werden, als eine Bedrohung des unverdorbenen Erbes der Rasse. Wenn ein Bürger erst einmal zu einem Sonderfall wurde, schied er aus der Geschichte aus, selbst wenn er sich zur Sterilisation bereit erklärte. Er hörte praktisch auf, Bestandteil der Menschheit zu sein.

Dennoch weigerten sich hier und da die Leute zu emigrieren, was selbst für die Betroffenen absolut vernunftwidrig war. Logischerweise hätten längst alle Normalen ausgewandert sein müssen. Aber vielleicht erschien ihnen die Erde, so entstellt sie auch sein mochte, doch als vertraute Heimat, an der man hängt. Vielleicht hofften die Zurückgebliebenen auch, dass die Staubschicht über der Erde eines Tages wieder verschwinden würde. Jedenfalls blieben Tausende da, zumeist in den Stadtgebieten, wo man einander sehen und sich gegenseitig durch das bloße Vorhandensein Mut machen konnte. Sie schienen verhältnismäßig normal zu sein. Und als dubiose Ergänzung zu ihnen blieben in den praktisch verlassenen Vororten ein paar seltsame Wesen zurück.

Zu ihnen gehörte auch John Isidore. Er rasierte sich im Bad und ließ sich dabei von dem im Wohnzimmer stehenden Fernseher bequasseln.

In den ersten Tagen nach dem Krieg war er einfach hierhergekommen und geblieben. In jener schrecklichen Zeit hatte keiner so recht gewusst, was er tun sollte. Ganze Volksgruppen zogen, vom Krieg entwurzelt, umher, ließen sich zunächst hier, dann dort nieder. Damals war der radioaktive Niederschlag sporadisch und regional unterschiedlich stark. Einige amerikanische Bundesstaaten waren nahezu niederschlagsfrei, während andere völlig verseucht waren. Die vertriebenen Menschen flohen vor dem Staub. Die Halbinsel südlich von San Francisco war erst noch staubfrei, und so ließen sich große Menschenmassen hier nieder. Als der Staub dann doch kam, starben einige, die anderen wanderten aus. J.R. Isidore blieb.

Der Fernseher plärrte: »… kommen die herrlichen Zeiten der Südstaaten vor dem Bürgerkrieg wieder! Ob Leibdiener oder unermüdliche Feldarbeiter – der maßgeschneiderte humanoide Roboter wird durch und durch Ihren ureigensten Wünschen angepasst! Sie erhalten ihn bei Ihrer Ankunft kostenlos als Geschenk, reichlich ausgestattet, genau nach den Angaben gebaut, die Sie vor Ihrer Abreise von der Erde machen. Dieser treue und wartungsfreie Begleiter des Menschen ist die größte und kühnste Errungenschaft der neueren Zeit. Er wird Ihnen …« So ging es weiter und weiter.

Hoffentlich komme ich nicht zu spät zur Arbeit, dachte Isidore beim Rasieren. Er besaß keine richtiggehende Uhr. Normalerweise verließ er sich auf die Zeitansage im Fernsehen, aber heute war offenbar der Interplanetarische Feiertag. Jedenfalls behauptete das Fernsehen, es handle sich um den fünften – oder sechsten? – Jahrestag der Gründung von Neu-Amerika, der wichtigsten amerikanischen Siedlung auf dem Mars. Mit seinem beschädigten Fernsehgerät empfing er nur den einen Sender, der seit dem Krieg vom Staat betrieben wurde. Die Regierung in Washington stellte mit ihrem Auswanderungsprogramm den einzigen Sponsor dar, und Isidore war gezwungen, das alles mit anzuhören.

»Fragen wir einmal Mrs. Maggie Klugmann«, schlug der Ansager John Isidore vor, der viel lieber die Zeit vernommen hätte. »Als neue Auswanderin zum Mars hatte Mrs. Klugmann bei einem Interview in New New York Folgendes zu sagen – Mrs. Klugmann, wenn Sie Ihr Leben auf der verseuchten Erde mit dem herrlichen Dasein hier vergleichen, wo Ihnen jede erdenkliche Möglichkeit offensteht, was würden Sie dann sagen?« Eine Pause, dann antwortete eine müde, trockene, ältliche Frauenstimme: »Was mir und meiner dreiköpfigen Familie am meisten auffiel, war die Würde.«

»Die Würde, Mrs. Klugmann?«

»Ja«, antwortete Mrs. Klugmann, Neubürgerin von New New York auf dem Mars. »Das ist schwer zu erklären. Einen Dienstboten zu besitzen, auf den man sich in diesen schweren Zeiten verlassen kann – das finde ich einfach beruhigend.«

»Sagen Sie, Mrs. Klugmann, machten Sie sich früher, als Sie noch auf der Erde waren, auch Sorgen darum, als – hm – Sonderfall eingestuft zu werden?«

»Ach, mein Mann und ich haben uns halb zu Tode geängstigt. Nach der Auswanderung ist diese Sorge natürlich von uns gewichen, glücklicherweise für immer.«

Für mich auch, dachte John Isidore bissig. Auch ich habe diese Sorge nicht mehr, ohne ausgewandert zu sein. Er war nun schon seit mehr als einem Jahr ein Sonderfall, was nicht nur seine missgebildeten Gene betraf. Schlimmer war, dass er beim Test zur Feststellung eines Minimums an Geistesgaben durchgefallen war. Damit galt er im Volksmund als Spatzenhirn. Auf ihn fiel die Verachtung dreier Planeten. Trotzdem existierte er. Er fuhr für eine Reparaturfirma für nachgemachte Tiere einen Lieferwagen. Der düstere, wortkarge Hannibal Sloat, Chef der Van-Ness-Tierklinik, behandelte ihn als Menschen, und dafür war er ihm dankbar. Mors certa, vita incerta, pflegte Sloat gelegentlich zu sagen. Obwohl Isidore den Spruch schon mehr als einmal mitbekommen hatte, war ihm sein Inhalt nur andeutungsweise bekannt. Ein Spatzenhirn, das Latein ergründete, wäre schließlich kein Spatzenhirn. Als er dies Sloat erklärte, wurde es ihm bestätigt. Außerdem gab es noch unendlich viel dümmere Spatzenhirne, die gar keiner Arbeit nachgehen konnten und in Anstalten verwahrt wurden, denen man den kuriosen Namen »Amerikanisches Institut für besondere Fachkenntnisse« gab. »Sonder« musste irgendwie darin vorkommen, wie üblich.

»Und Ihr Gatte, Mrs. Klugmann, fühlte sich auch nicht sicher«, fuhr der Sprecher fort, »obgleich er eine teure, unbequeme bleierne Strahlungsschutzkleidung besaß und auch ständig trug?«

»Mein Mann …«, sagte Mrs. Klugmann, aber in diesem Augenblick war Isidore mit Rasieren fertig, rannte hinüber ins Wohnzimmer und schaltete ärgerlich den Fernseher aus.

Schweigen. Es schlug ihm von jedem Möbel und von den Wänden entgegen und traf ihn mit so schrecklicher Gewalt wie ein übermächtiger Stromstoß. Es stieg vom Fußboden auf, von dem zerschlissenen grauen Spannteppich. Es entstieg auch den kaputten oder beschädigten Küchengeräten, den toten Maschinen, die schon nicht mehr funktioniert hatten, als Isidore hier einzog. Es strömte aus der nutzlosen Stehlampe im Wohnzimmer und verschmolz mit dem inhaltlosen Schweigen, das sich von der fliegenbefleckten Zimmerdecke herabsenkte. Dieses Schweigen ging tatsächlich von jedem Gegenstand in seinem Blickfeld aus, als ob es an die Stelle der greifbaren Dinge treten wollte. Daher schmerzte es nicht nur in seinen Ohren, sondern auch in seinen Augen. Wie er so neben dem stummen Fernseher stand, empfand er das Schweigen als sichtbar und in gewisser Weise als lebendig. Lebendig! Schon öfters hatte er sein unerbittliches Nahen zu spüren bekommen. Wenn es kam, dann platzte es herein, plump und offensichtlich unfähig zu warten. Das Schweigen der Welt konnte seine Gier nicht im Zaum halten. Nicht mehr. Nicht, wenn es praktisch gewonnen hatte.

Isidore fragte sich, ob die anderen, die auf der Erde geblieben waren, die Leere auch so empfanden. Oder lag das nur an seiner biologischen Eigenart, seinem gestörten Empfindungsvermögen? Eine interessante Frage, dachte Isidore. Aber mit wem sollte er darüber reden? Er lebte allein in diesem zerfallenden blinden Gebäude mit seinen tausend menschenleeren Wohnungen, das, wie alle anderen Bauwerke auch, Tag für Tag mehr seinem unwiderruflichen Ende als Ruinenhaufen entgegenging. Irgendwann würde alles im Gebäudeinnern verschmelzen, die Formen verlieren, sich angleichen, eine nicht identifizierbare Masse werden, die bis zur Decke jeder Wohnung reicht. Und dann würde das vernachlässigte Gebäude selbst in Formlosigkeit zerfließen und unter dem allgegenwärtigen Staub begraben werden. Bis dahin würde er natürlich längst tot sein – auch ein interessantes Ereignis, an das er denken musste, als er mitten in seinem gespenstischen Wohnzimmer stand, allein mit der atemlosen, alles durchdringenden, gebieterischen Weltstille.

Vielleicht sollte er besser den Fernseher wieder einschalten. Doch die Werbung, auf die zurückgebliebenen Normalen ausgerichtet, erschreckte ihn. Auf unzählige Arten wurde ihm klargemacht, dass er ein Sonderfall und unerwünscht war. Und unbrauchbar. Dass er nicht mal auswandern konnte, selbst wenn er es wollte. Wozu also sollte er sich das anhören, dachte er gereizt. Die mit ihrer Kolonialisierung; ich wünsche ihnen einen Krieg – das wäre doch theoretisch möglich –, dann erginge es ihnen wie auf der Erde. Und jeder, der ausgewandert ist, würde zum Sonderfall.

Na schön, dachte er, gehen wir, gehen wir wieder an die Arbeit.

Er streckte schon die Hand nach dem Türknopf aus; die Tür öffnete ihm den Weg hinaus auf den unbeleuchteten Korridor; er schreckte vor der gähnenden Leere des riesigen Gebäudes zurück. Da draußen lauerte sie ihm auf, diese Leere, die vorhin schon gierig züngelnd in seine Wohnung eingedrungen war.

Gott im Himmel!, dachte er und schloss die Tür wieder. Er war noch nicht bereit für den Weg über hallende Treppen hinauf zum leeren Dach, wo er kein Tier hatte, für das Echo seines Aufstiegs, das Echo des Nichts.

Es wird Zeit, die Griffe zu packen, sagte er sich und ging hinüber ins Wohnzimmer zu seiner schwarzen Einswerdungsbox.

Als er das Gerät einschaltete, rief der elektrische Strom den gewohnten schwachen Geruch nach negativen Ionen hervor. Er atmete ihn gierig ein und fühlte sofort den inneren Auftrieb. Dann glomm die Kathodenröhre wie die matte Imitation eines Fernsehbildes. Eine Collage erschien, ein Gewirr von scheinbar zufälligen Farben, Streifen und Formen, die nichts Konkretes ergaben, bis die Griffe gepackt wurden. Er holte tief Luft, sammelte sich und nahm die beiden Griffe fest in die Hände.

Ein Bild formte sich. Plötzlich sah er die berühmt gewordene Landschaft und den alten, braunen, kahlen Hang, von dem vereinzelte Stauden von Unkraut wie verdorrte Knochen schräg in einen trüben sonnenlosen Himmel aufragten. Eine mehr oder weniger menschliche Gestalt quälte sich den Hügel hinan – ein alter Mann in einem stumpffarbenen, weiten Umhang, der so ärmlich wirkte, als wäre er aus der feindseligen Leere des Himmels gegriffen. Dieser Mann, es war Wilbur Mercer, kämpfte sich voran; John Isidore umklammerte die beiden Griffe und merkte, wie das Wohnzimmer um ihn allmählich verschwand. Die klapprigen Möbel und die Wände lösten sich auf, er nahm sie überhaupt nicht mehr wahr. Stattdessen betrat er, wie schon so oft, eine düstere Landschaft unter einem düsteren Himmel. Gleichzeitig beobachtete er nicht mehr als Zuschauer den Aufstieg des alten Mannes. Seine eigenen Füße suchten jetzt Halt zwischen den vertrauten losen Steinen, er spürte unter seinen Sohlen den gewohnten harten Druck des Gerölls, und wieder roch er den ätzenden Dunst des Himmels; es war kein irdischer Himmel, sondern der Himmel einer fremden, fernen Gegend, in die ihn die Einswerdungsbox versetzt hatte.

Der Wandel hatte sich auf die gewohnte verblüffende Art und Weise vollzogen. Er wurde physisch eins mit Wilbur Mercer und identifizierte sich auch geistig und seelisch mit ihm. Genau dasselbe Wunder erlebte im gleichen Augenblick jeder, der hier auf der Erde oder auf einem der Kolonialplaneten in dieser Sekunde die beiden Griffe packte. Er nahm sie wahr, diese anderen, verspürte den Wirrwarr ihrer Gedanken, hörte in seinem Gehirn den Lärm ihrer vielfältigen Existenzen. Ihnen wie auch ihm war nur eines wichtig: Dieses Einswerden ihrer Seelen konzentrierte ihre Aufmerksamkeit auf den Berg, das Klettern, die Notwendigkeit des Aufstiegs. Er vollzog ihn Schritt um Schritt, langsam und beinahe unmerklich. Aber es war ein Aufstieg. Höher!, dachte er, als unter seinen Füßen Steine abwärts wegrollten. Heute sind wir höher als gestern, und morgen … Er, diese Sammelgestalt des Wilbur Mercer, blickte hinauf und taxierte den noch bevorstehenden Aufstieg. Kein Ende abzusehen. Zu weit entfernt. Aber irgendwo lockte der Gipfel.

Ein Stein flog auf ihn zu und traf ihn am Arm. Er fühlte den Schmerz. Er drehte sich halb um, da sauste ein zweiter Stein dicht an ihm vorbei und prallte auf den Boden. Bei diesem Geräusch schreckte er zusammen. Wer?, dachte er und suchte nach seinem Peiniger. Es waren die alten Widersacher, die sich am äußersten Rande seines Blickfeldes bemerkbar machten. Sie waren ihm auf dem ganzen Weg gefolgt und würden bis zum Gipfel bei ihm bleiben. Sie – oder es?

Dieser Gipfel fiel ihm wieder ein, wo der Boden plötzlich flacher wurde, der Aufstieg endete und der andere Teil begann. Wie oft hatte er das schon hinter sich gebracht? Die verschiedenen Male verschwammen, Zukunft und Vergangenheit flossen ineinander, das schon Erlebte und das noch zu Erlebende wurden eins, und übrig blieb nur der Augenblick, die kurze Rastpause, wo er sich mit der Hand über den Schnitt am Arm fuhr, den der Stein hinterlassen hatte. Gott, dachte er müde, das soll Gerechtigkeit sein? Warum muss ich allein hier oben stehen und mich von etwas quälen lassen, das ich nicht einmal sehen kann? Dann wurden in ihm die verworrenen Stimmen aller anderen, die mit ihm eins waren, laut, und das Gefühl der Einsamkeit verschwand.

Ihr habt es auch gespürt, dachte er. Ja, antworteten die Stimmen. Der Stein hat uns getroffen, am linken Arm, und es tut scheußlich weh. Gut, sagte er, dann machen wir uns besser wieder auf den Weg. Er ging weiter, und alle anderen begleiteten ihn auf der Stelle.

Einmal war es anders gewesen, erinnerte er sich. Bevor der Fluch über ihn gekommen war, in einem früheren, glücklicheren Leben. Seine Pflegeeltern, Frank und Cora Mercer, hatten ihn entdeckt, wie er in einem Gummischlauchboot, dem Rettungsboot eines Flugzeugs, vor der Küste von Neuengland trieb – oder war es Mexiko, nahe dem Hafen von Tampico? An Einzelheiten erinnerte er sich nicht mehr genau. Er verlebte eine frohe Kindheit. Er liebte alles Lebendige, insbesondere die Tiere, und für eine Weile besaß er sogar die Gabe, tote Tiere wieder zum Leben zu erwecken. Er lebte zusammen mit Kaninchen und Käfern entweder auf der Erde oder in einer Kolonialwelt, auch das hatte er inzwischen vergessen. Aber er erinnerte sich noch an die Mörder. Sie hatten ihn als abartig verhaftet, weil er ein ganz besonderer Sonderfall war. Und danach war alles ganz anders geworden.