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»Träumen Androiden von elektrischen Schafen?« – diese Frage stellte sich Philip K. Dick im Titel seines 1968 erschienenen Romans. Ridley Scott hat danach den Film »Blade Runner« gedreht, der 1982 in die Kinos kam. Roman wie Film erzählen die Geschichte des Kopfgeldjägers Rick Deckard, der Jagd auf künstliche Menschen macht. Im Buch geht es allerdings um weit mehr: Auf einer von einem Atomkrieg verwüsteten Welt sind künstliche Tiere zu Statussymbolen geworden, eine »Mercertum« genannte Fernsehreligion treibt ihr Unwesen, und sogenannte »Stimmungsorgeln« manipulieren die Gefühle der Menschen. Und nicht nur Androiden werden auf Empathie getestet ... Die vollständige Neuübersetzung macht deutschen Lesern den Roman erstmals in seiner ganzen sprachlichen Differenziertheit zugänglich – ein Meisterwerk nicht nur der Science-Fiction-Literatur.
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Seitenzahl: 328
Philip K. Dick
Blade Runner
Träumen Androiden von elektrischen Schafen?
Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié
FISCHER E-Books
Für Maren Augusta Bergrud
10. August 1923 – 14. Juni 1967
Und immer noch seh ich im Traum
Ihn geisterhaft durchs Taugras springen,
Erfüllt von meinem heitren Singen.
Yeats
Eine Schildkröte, die der Entdecker Kapitän Cook im Jahr 1777 dem König von Tonga zum Geschenk machte, ist gestern gestorben. Sie war fast 200 Jahre alt.
Das Tier, das den Namen Tu’imalila trug, starb auf dem Gelände des königlichen Palasts der tongaischen Hauptstadt Nuku’alofa.
Die Tongaer sahen das Tier als Ältesten an, und eigene Wärter wurden berufen, um es zu versorgen. Vor ein paar Jahren verlor es bei einem Buschfeuer sein Augenlicht.
In einer Meldung von Radio Tonga heißt es, die sterblichen Überreste von Tu’imalila sollen dem Auckland-Museum in Neuseeland übergeben werden.
Reuters, 1966
Ein munterer kleiner Stromstoß, der automatische Weckruf, den die Stimmungsorgel an seinem Bett ihm schickte, ließ Rick Deckard erwachen. Überrascht – es überraschte ihn jedes Mal neu, wenn er plötzlich ohne Vorwarnung merkte, dass er wach war – erhob er sich vom Bett, stand da in seinem bunten Schlafanzug und streckte sich. Nun schlug, in ihrem eigenen Bett, auch seine Frau Iran die grauen, unmunteren Augen auf; sie blinzelte, seufzte, dann schloss sie die Lider wieder.
»Du hast deine Penfield zu niedrig eingestellt«, sagte er zu ihr. »Ich stelle sie dir neu ein, dann bist du gleich wach und –«
»Lass deine Finger von meinen Einstellungen.« Ihre Stimme klang bitter, schneidend. »Ich will nicht wach sein.«
Er setzte sich zu ihr, beugte sich über sie und sprach mit sanfter Stimme. »Wenn du den Stoß hoch genug einstellst, dann bist du froh, dass du wach wirst; darum geht es doch. Auf Stufe C überwindet er die Bewusstseinsschwelle, so wie gerade bei mir.« Freundlich, denn er war der Welt gegenüber wohlwollend eingestellt – seine Einstellung war Stufe D –, strich er ihr über die bleiche, nackte Schulter.
»Nimm deine brutale Bullenhand da weg«, sagte Iran.
»Ich bin kein Bulle.« Jetzt war er ärgerlich, obwohl er das überhaupt nicht gewählt hatte.
»Du bist schlimmer als ein Bulle«, sagte seine Frau, die Augen immer noch geschlossen. »Du bist ein Mörder, ein Auftragskiller für die Bullen.«
»In meinem ganzen Leben habe ich noch keinen Menschen umgebracht.« Sein Reizpegel stieg; jetzt war es schon geradezu Feindseligkeit.
Iran sagte: »Nur diese armen Andys.«
»Soweit ich weiß, hattest du nie Hemmungen, die Fangprämien, die ich nach Hause bringe, für alles auszugeben, was dir in dem Augenblick zufällig in den Sinn kommt.« Er stand auf und ging zum Bedienpult seiner Stimmungsorgel. »Statt dass du sparst«, sagte er, »damit wir uns irgendwann ein echtes Schaf leisten können und nicht nur das falsche elektrische da oben. Immer noch nur ein elektrisches Tier, bei all dem Einkommen, zu dem ich mich über die Jahre hochgearbeitet habe.« Er stand an seinem Bedienpult und zögerte, ob er einen Triebunterdrücker einstellen sollte (der seine Wut verfliegen ließe) oder einen Triebverstärker (der ihn so wütend machen würde, dass er aus diesem Streit als Sieger hervorginge).
»Wenn du da mehr Wut einstellst«, sagte Iran, die ihn jetzt mit offenen Augen beobachtete, »dann mache ich das auch. Ich drehe bis zum Anschlag auf, und dann erlebst du einen Streit, im Vergleich dazu war alles, was wir bisher gehabt haben, Kinderkram. Dreh nur auf; fordere mich heraus.« Sie sprang aus dem Bett, war mit einem Satz am Pult ihrer eigenen Stimmungsorgel, stand wartend da und sah ihn finster an.
Er seufzte, gab der Drohung nach. »Ich stelle ein, was auf meinem Plan für heute steht.« Er blickte in den Plan für den 3. Januar 1992 und sah, dass eine nüchtern-professionelle Einstellung vorgesehen war. »Wenn ich es bei mir plangemäß einstelle«, sagte er misstrauisch, »machst du das dann bei dir auch?« Er wartete, gut genug auf der Hut, sich nicht festzulegen, solange seine Frau nicht zugestimmt hatte, ebenso vorzugehen.
»Mein Plan sieht für heute sechs Stunden selbstquälerische Depression vor«, sagte Iran.
»Was? Wieso hast du das denn auf den Plan gesetzt?« Das unterlief doch den ganzen Sinn und Zweck der Stimmungsorgel. »Ich wusste nicht mal, dass man so was überhaupt wählen kann«, sagte er finster.
»Eines Nachmittags saß ich hier«, erklärte Iran, »und natürlich hatte ich Buster Freundlich und seine freundlichen Freunde eingeschaltet, und er redete davon, dass er demnächst irgendeine großartige Enthüllung verkünden will, und dann kam wieder dieser grässliche Werbespot, der, den ich nicht ausstehen kann; du weißt schon, Scharlitans bleierne Schamkapseln. Deshalb habe ich mal einen Moment lang den Ton ausgeschaltet. Und da habe ich das Haus gehört. Dieses Gebäude hier. Ich habe die …« Sie breitete die Arme.
»Die leeren Wohnungen gehört«, sagte Rick. Manchmal hörte er sie nachts, wenn er eigentlich schlafen sollte. Und doch konnte dieser Tage ein zur Hälfte bewohntes Apartmenthaus als schon geradezu dicht bevölkert gelten; draußen, dort, wo vor dem Krieg die Vorstädte gewesen waren, fand man Gebäude, die ganz leer standen … das hatte er jedenfalls gehört. Er hatte es gern bei dieser Information aus zweiter Hand belassen; wie die meisten legte er keinen Wert darauf, sich persönlich zu vergewissern.
»Als ich den Fernsehton aus hatte«, sagte Iran, »war ich in einer 382er Stimmung; hatte ich gerade erst eingestellt. Ich konnte diese Leere also mit dem Verstand wahrnehmen, aber ich spürte nichts dabei. Mein erster Gedanke war Dankbarkeit – dafür, dass wir uns eine Penfield-Stimmungsorgel leisten können. Aber dann ging mir auf, wie krank so was war, zu spüren, dass kein Leben existierte, nicht nur hier in diesem Haus, sondern überall, und nicht darauf zu reagieren – verstehst du? Na, wahrscheinlich nicht. Aber früher galt so etwas als Zeichen einer psychischen Erkrankung; ›Affektstörung‹ nannte man es. Also ließ ich den Fernsehton ausgeschaltet, setzte mich an meine Stimmungsorgel und experimentierte. Und so fand ich die Einstellung für Verzweiflung.« Ihr dunkles, forsches Gesicht zeigte Zufriedenheit, als hätte sie etwas von Wert entdeckt. »Und habe sie zweimal monatlich auf meinen Plan gesetzt; ich finde, das ist eine angemessene Menge Zeit, die man sich einmal ganz ohne Hoffnung fühlen sollte, ohne Glauben daran, dass es einen Sinn hat, hier auf der Erde zu bleiben, wo alle, die halbwegs bei Verstand sind, längst ausgewandert sind. Findest du nicht auch?«
»Aber in so einer Stimmung bleibst du«, sagte Rick, »da stellst du nicht mehr den Weg nach draußen ein. So eine Verzweiflung an der schieren Realität, die ist von Dauer.«
»Ich programmiere eine automatische Rückstellung vier Stunden später«, antwortete seine Frau ungerührt. »Eine 481. Bewusstsein der vielfältigen Möglichkeiten, die die Zukunft für mich bereithält; neue Hoffnung, dass –«
»Ich weiß, was 481 ist«, unterbrach er sie. Er hatte diese Kombination schon oft genug eingestellt; sie war geradezu lebenswichtig für ihn. »Hör mal«, sagte er, setzte sich auf sein Bett, fasste sie bei den Händen und zog sie zu sich herab, »auch mit automatischer Rückschaltung ist es gefährlich, wenn man sich auf eine Depression einlässt, gleich welcher Art. Vergiss, was du da programmiert hast, dann stelle ich es bei mir auch um; wir wählen beide 104 und genießen es ein Weilchen, und dann bleibst du dabei, und ich kehre zu meiner üblichen Arbeitseinstellung zurück. Ich mache mich automatisch auf den Weg, sehe oben noch nach dem Schaf und fliege von da ins Büro; aber ich weiß dann, dass du nicht hier sitzt und ohne Fernsehen Trübsal bläst.« Er ließ ihre schlanken, langen Finger los und ging durch die weitläufige Wohnung zum Wohnzimmer, das noch ein wenig nach dem Zigarettenqualm vom Vorabend roch. Er beugte sich zum Fernseher hinunter und schaltete ihn ein.
Aus dem Schlafzimmer kam Irans Stimme. »Fernsehen vor dem Frühstück ertrage ich nicht.«
»Stell 888 ein«, sagte Rick, während er wartete, dass die Röhren warm wurden. »Den Wunsch fernzusehen, egal was gesendet wird.«
»Mir ist gerade überhaupt nicht danach, etwas einzustellen«, sagte Iran.
»Dann nimm die 3«, sagte er.
»Ich will nicht etwas einstellen, das meine Hirnrinde dazu anregt, mich dazu zu bringen, etwas einzustellen! Wenn ich nichts einstellen will, dann will ich das am allerwenigsten, denn danach will ich ja etwas einstellen, und etwas einstellen zu wollen ist derzeit der abwegigste Gedanke, den ich mir überhaupt ausmalen kann; ich möchte einfach hier auf dem Bett sitzen und den Fußboden anstarren.« Ihre Stimme klang nun angespannt, mit einer leblosen Färbung, während ihre Seele bereits gefror und ihr Körper sich nicht mehr rührte; während die instinktive, alles erdrückende Schwere, die fast vollkommene Teilnahmslosigkeit sich wie ein Film über sie breitete.
Er stellte den Fernsehton lauter, und die dröhnende Stimme von Buster Freundlich erfüllte den Raum. »– hoho, Freunde. Zeit für einen kurzen Blick auf das heutige Wetter. Der Satellit Mungo meldet, dass der Fallout gegen Mittag besonders stark sein wird, aber dann nachlässt; diejenigen unter euch, die es wagen, einen Fuß nach draußen zu setzen, sollten also –«
Iran tauchte neben Rick auf, ihr langes Nachthemd fließend wie ein Schleier, und schaltete den Fernseher ab. »Okay, ich geb’s auf. Ich stelle etwas ein. Alles, was du von mir willst; sogar sexuelle Ekstase – mir ist so elend, dass ich selbst das über mich ergehen ließe. Ist doch egal. Was spielt es schon für eine Rolle?«
»Ich stelle die Geräte für uns beide ein«, sagte Rick und führte sie zurück ins Schlafzimmer. Dort, an ihrem Bedienpult, drehte er die Rädchen auf 594: freudige Anerkennung der höheren Einsicht des Ehegatten in allen Bereichen. An seiner eigenen Konsole wählte er eine kreative, aufgeschlossene Einstellung zu seiner Arbeit, obwohl er so etwas kaum brauchte; dies war seine übliche, natürliche Verfassung, auch ohne Penfields künstliche Hirnstimulation.
Nach einem hastigen Frühstück – er hatte durch die Diskussion mit seiner Frau Zeit verloren – fuhr er, zum Ausgehen ausgerüstet mit einem bleiernen Scharlitan-Unterleibsprotektor, Modell Ajax, hinauf zur überdachten Dachwiese, auf der sein elektrisches Schaf »weidete«. Dort mampfte es, ausgeklügeltes Stück Technik, das es war, in simulierter Zufriedenheit vor sich hin und machte damit allen anderen Hausbewohnern etwas vor.
Natürlich waren zweifellos auch manche Tiere der anderen in Wirklichkeit Fälschungen mit elektronischen Schaltkreisen; natürlich hatte Rick nie seine Nase in diese Angelegenheiten gesteckt, genauso wenig wie die anderen, seine Nachbarn, sein Schaf genauer unter die Lupe genommen hatten. Nichts hätte unhöflicher sein können. Zu fragen »Ist Ihr Schaf echt?« wäre eine gröbere Taktlosigkeit gewesen, als wenn man jemanden gefragt hätte, ob seine Zähne, Haare oder inneren Organe einer Echtheitsprüfung standgehalten hätten.
Die Morgenluft, gesättigt mit radioaktiven Staubkörnchen, so grau, dass sie die Sonne trübte, waberte um ihn her und brannte ihm in der Nase; unwillkürlich atmete er den Hauch des Todes ein. Na, das war übertrieben, sagte er sich auf dem Weg zu dem Stück Grasnabe, das ihm zusammen mit der unverhältnismäßig großen Wohnung unten gehörte. Die Hinterlassenschaft des letzten Weltkriegs war nicht mehr so gefährlich, wie es einmal der Fall gewesen war; diejenigen, die dem Staub nicht gewachsen gewesen waren, waren schon vor Jahren ausgelöscht worden; und der Staub, schwächer geworden und mit den resistenteren Überlebenden konfrontiert, schädigte nun nur noch Verstand und Erbgut. Selbst mit seinem Bleischutz für die Genitalien drang der Staub zweifellos in ihn ein, fraß, solange er es nicht fertigbrachte auszuwandern, gewiss jeden Tag ein kleines Stück weiter an ihm. Bisher hatten die monatlichen Medizintests ihm jedes Mal bestätigt, dass er ein Normaler war: ein Mann, der innerhalb der gesetzlich festgesetzten Grenzen Nachwuchs zeugen konnte. Aber jeden Monat könnte diese Untersuchung durch die Ärzte der San Franciscoer Polizeibehörden auch zu einem anderen Ergebnis kommen. Ständig kamen neue Speziale hinzu, Abweichler, umgewandelt aus Normalen durch den allgegenwärtigen Staub. Die Parole, die einem von Plakaten, in Fernsehspots und amtlichen Postwurfsendungen um die Ohren geschlagen wurde, lautete: »Emigrieren oder degenerieren! Sie haben die Wahl!« Nur zu wahr, dachte Rick, als er das Tor zu seiner kleinen Weide öffnete und zu seinem elektrischen Schaf ging. Aber ich kann nicht auswandern. Meine Arbeit ist hier.
Der Besitzer des Weidestücks nebenan, sein Nachbar Bill Barbour, grüßte ihn; genau wie Rick hatte er sich für die Arbeit angezogen, und auch er sah auf dem Weg noch einmal bei seinem Tier vorbei.
»Meine Stute«, verkündete Barbour strahlend, »ist trächtig.« Er wies auf das große Percheron-Pferd, das dort stand und teilnahmslos ins Leere starrte. »Was sagen Sie dazu?«
»Da sage ich: Bald haben Sie zwei Pferde«, antwortete Rick. Er war jetzt bei seinem Schaf angekommen; es lag und käute wieder, seine aufmerksamen Augen auf ihn fixiert, für den Fall, dass er Haferkekse mitgebracht hatte. Das Pseudoschaf besaß einen Schaltkreis, der auf Hafer ansprach; wenn ein solches Getreide in Sicht kam, stand es überzeugend auf und kam zu ihm herübergetrottet. »Wer hat sie denn geschwängert?«, fragte er Barbour. »Der Wind?«
»Ich habe Samen für die künstliche Befruchtung gekauft, den besten, den Sie in Kalifornien bekommen«, erklärte sein Nachbar. »Ich habe Beziehungen zur Kommission für Tierzucht und -pflege. Wissen Sie noch, letzte Woche war der Inspektor hier und hat Judy untersucht. Sie sind ganz versessen auf das Fohlen; Prachtexemplare wie die Mutter gibt es nicht oft.« Barbour tätschelte seine Stute zärtlich am Hals, und sie neigte den Kopf zu ihm.
»Haben Sie je daran gedacht, Ihr Pferd zu verkaufen?«, fragte Rick. Er hätte furchtbar gern ein Pferd gehabt, oder überhaupt ein Tier. Besitz und Pflege seiner Fälschung zermürbten ihn allmählich. Aber gesellschaftlich gesehen musste es sein, wenn man kein echtes hatte. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als weiterzumachen. Selbst wenn es ihm nichts bedeutet hätte, wäre da immer noch seine Frau, und Iran bedeutete es etwas. Viel sogar.
Barbour sagte: »Es wäre unmoralisch, mein Pferd zu verkaufen.«
»Dann verkaufen Sie das Fohlen. Zwei Tiere zu haben ist noch unmoralischer, als wenn man gar keins hat.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Barbour verblüfft. »Viele Leute haben zwei Tiere, sogar drei oder vier, fünf sogar im Falle von Fred Washborne, dem die Algenfarm gehört, in der mein Bruder arbeitet. Haben Sie nicht den Artikel über seine Ente gesehen, gestern im Chronicle? Es soll die größte und schwerste Moschusente an der ganzen Westküste sein.« Der Mann bekam glasige Augen beim Gedanken an einen solchen Besitz; es fehlte nicht viel, und er würde in Trance verfallen.
Rick befühlte seine Jackentaschen und zog das eselsohrige, schon ganz zerlesene Januar-Supplement zu Sidneys Tier- und Geflügelkatalog hervor, fand im Register den Eintrag für Fohlen (siehe Pferd, Jungtier) und hatte sogleich den landesweiten Durchschnittsverkaufspreis. »Bei Sidney kann ich ein Percheron-Fohlen für fünftausend Dollar kaufen«, sagte er laut.
»Nein, können Sie nicht«, antwortete Barbour. »Schauen Sie genau hin; der Preis ist kursiv gedruckt. Das heißt, es sind keine verfügbar – so viel würde es kosten, wenn sie eines hätten.«
»Wie wäre es«, schlug Rick vor, »wenn ich Ihnen zehn Monate lang fünfhundert Dollar pro Monat zahlte? Den vollen Katalogpreis.«
»Deckard, Sie haben keinen Pferdeverstand«, meinte Barbour mitleidig. »Es gibt einen Grund dafür, dass Sidney keine Percheron-Fohlen im Angebot hat. Percheron-Fohlen verkauft man nicht – nicht mal zum Katalogpreis. Sie sind zu selten, selbst die eher minderwertigen.« Er beugte sich über den Zaun zwischen ihnen und fuchtelte mit den Händen. »Ich habe Judy jetzt seit drei Jahren, und in all der Zeit habe ich keine Percheron-Stute von vergleichbarer Qualität gesehen. Um sie zu bekommen, musste ich nach Kanada fliegen, und dann habe ich sie persönlich hergefahren, damit sie mir nicht gestohlen wird. Kommen Sie mit so einem Tier nach Colorado oder Wyoming, die bringen Sie um, damit sie das kriegen. Wissen Sie warum? Vor dem letzten Krieg, da gab es wortwörtlich Hunderte –«
»Aber«, unterbrach ihn Rick, »dass Sie zwei Pferde haben und ich keins, das verstößt gegen die grundlegendsten theologischen und moralischen Lehren des Mercertums.«
»Sie haben Ihr Schaf; verdammt, Sie können doch in Ihrem eigenen Leben den Aufstieg machen, und wenn Sie die Empathie bei den beiden Griffen packen, ist das der richtige Weg. Wenn Sie das alte Schaf da nicht hätten, dann könnte ich Ihre Haltung verstehen. Sicher, wenn ich zwei Tiere hätte und Sie hätten keines, dann wäre ich mit schuld daran, dass Ihnen die wahre Verschmelzung mit Mercer vorenthalten bleibt. Aber jede Familie in diesem Haus – lassen Sie mich überlegen; an die fünfzig, wenn ich richtig rechne, ungefähr ein Drittel bewohnt –, jede von uns hat irgendein Tier. Graveson gehört das Huhn da drüben.« Er wies Richtung Norden. »Oakes und seine Frau haben den großen roten Hund, der nachts immer bellt.« Er dachte nach. »Ich glaube, Ed Smith hat eine Katze unten in seiner Wohnung; jedenfalls behauptet er das, obwohl sie nie einer gesehen hat. Vielleicht tut er nur so.«
Rick ging zu seinem Schaf, beugte sich darüber und tastete in der dicken weißen Wolle herum – das Fell war immerhin echt –, bis er fand, wonach er suchte: das verborgene Steuerkästchen für den Mechanismus. Er klappte den Deckel auf, zeigte ihn Barbour. »Sehen Sie?«, sagte er zu ihm. »Verstehen Sie nun, warum ich so gern Ihr Fohlen hätte?«
Barbour brauchte eine Weile. »Das tut mir leid«, sagte er dann. »Ist es schon immer so gewesen?«
»Nein«, antwortete Rick und schloss den Deckel seines elektrischen Schafes wieder; er richtete sich auf, drehte sich um und sah seinen Nachbarn an. »Ursprünglich hatte ich ein echtes Schaf. Der Vater meiner Frau hat es uns geschenkt, als er auswanderte. Dann, vor ungefähr einem Jahr – wissen Sie noch, wie ich es zum Tierarzt brachte? Sie waren hier oben, an dem Morgen, an dem ich heraufkam und es auf der Seite liegend fand, und es kam nicht mehr hoch.«
»Sie haben es auf die Beine gestellt.« Barbour nickte. Er konnte sich erinnern. »Sie haben es auf die Beine gestellt, ein oder zwei Minuten lang ist es herumgelaufen, dann fiel es wieder um.«
»Schafe bekommen seltsame Krankheiten«, sagte Rick. »Oder anders ausgesdrückt, Schafe bekommen viele verschiedene Krankheiten, aber die Symptome sind immer dieselben; das Schaf kann nicht mehr aufstehen, und man weiß nicht, wie schlecht es ihm geht – ob es sich nur das Bein verstaucht hat oder ob das Tier an Tetanus stirbt. Daran ist meines gestorben: an Tetanus.«
»Hier oben?«, fragte Barbour. »Auf dem Dach?«
»Das Heu«, erklärte Rick. »Einmal hatte ich den Draht von einem Ballen nicht gut genug entfernt. Ein Stückchen blieb dran, Groucho – so hieß er – holte sich einen Kratzer, und so hat er sich mit Tetanus infiziert. Ich habe ihn zum Tierarzt gebracht, aber er ist gestorben. Ich habe überlegt, was ich machen soll, und schließlich habe ich bei einem dieser Läden angerufen, die künstliche Tiere herstellen, und habe ihnen ein Foto von Groucho gezeigt. Die haben dann dieses hier gebaut.« Er wies auf das falsche Schaf, das noch immer dort lag und aufmerksam kaute und weiterhin Ausschau hielt, für den Fall, dass irgendwo Hafer auftauchte. »Erstklassige Arbeit. Und ich wende ebenso viel Zeit und Aufmerksamkeit für seine Pflege auf wie früher, als es noch echt war. Aber …« Er zuckte mit den Schultern.
»Es ist nicht dasselbe«, sprach Barbour den Satz für ihn zu Ende.
»Und doch beinahe. Wenn man es versorgt, spürt man das Gleiche; man muss es genauso im Auge behalten wie früher, als es noch lebendig war. Es kann einen Aussetzer haben, und dann wissen es alle im Haus. Sechsmal habe ich es in der Werkstatt gehabt, meist kleine Funktionsstörungen, aber wenn das jemand mitbekommen hätte – einmal war etwas mit dem Tonbandgerät für seine Stimme, und es hörte nicht mehr auf zu blöken – das hätten die Leute als mechanischen Fehler erkannt. Auf dem Lastwagen vom Reparaturbetrieb steht natürlich etwas wie ›Tierklinik Soundso‹«, fügte er hinzu. »Der Fahrer ist wie ein Tierarzt angezogen, ganz in Weiß.« Sein Blick fiel auf seine Uhr. »Ich muss zur Arbeit«, sagte er zu Barbour. »Wir sehen uns heute Abend.«
Als Rick schon zu seinem Wagen ging, rief Barbour ihm noch hastig nach: »Ich – äh – ich sage zu keinem hier im Haus etwas davon.«
Rick blieb noch einmal stehen und wollte etwas zum Dank sagen. Aber dann ergriff ihn ein klein wenig von der Verzweiflung, von der Iran gesprochen hatte, und er sagte: »Ich weiß nicht, vielleicht ist auch alles egal.«
»Die Leute verachten Sie deswegen. Nicht alle, aber manche. Sie wissen doch, was für ein Geschrei es gibt, wenn jemand nicht für ein Tier sorgt; das gilt als amoralisch und antiempathisch. Ich meine, juristisch gesprochen ist es heute kein Verbrechen mehr, so wie kurz nach dem Krieg, aber die Leute empfinden es noch so.«
»Himmel!«, rief Rick verzweifelt, breitete die leeren Hände aus. »Ich will doch ein Tier; immer wieder versuche ich, eins zu kaufen. Aber mit meinem Einkommen, mit dem, was ein Angestellter bei der Stadt verdient –« Wenn ich doch nur bei der Arbeit wieder mal Glück hätte, dachte er. Wie vor zwei Jahren, als ich vier Andys in einem einzigen Monat erwischt habe. Wenn ich damals gewusst hätte, ging ihm durch den Kopf, dass Groucho bald stirbt … Aber das war vor dem Tetanus gewesen, vor den zwei Zoll abgebrochenem Heuballendraht, spitz wie eine Nadel.
»Sie könnten eine Katze kaufen«, schlug Barbour vor. »Katzen kosten nicht viel; schauen Sie in der Preisliste von Sidney nach.«
Rick antwortete nüchtern. »Ich will kein Haustier. Ich will das wiederhaben, was ich vorher hatte, ein großes Tier. Ein Schaf oder, wenn ich das Geld zusammenbekomme, eine Kuh oder einen Stier, oder das, was Sie hier haben: ein Pferd.« Wenn er fünf Andys erledigte, überlegte er – die Prämie würde reichen. Tausend Dollar pro Stück, über den Monatslohn hinaus. Irgendwo, von irgendwem würde ich dann bekommen, was ich will. Selbst wenn der Preis in Sidneys Tier- und Geflügelkatalog kursiv ist. Fünftausend Dollar – aber, überlegte er weiter, die fünf Andys müssten es erst einmal schaffen, von einer der Planetenkolonien auf die Erde zu kommen; darauf habe ich keinen Einfluss, ich kann nicht fünf von ihnen herlocken, und selbst wenn ich könnte, gibt es andere Kopfgeldjäger bei anderen Polizeibehörden überall auf der Welt. Die Andys müssten sich schon hier in Nordkalifornien niederlassen, und dann müsste noch Dave Holden, der dienstälteste Kopfgeldjäger in diesem Bezirk, sterben oder sich zur Ruhe setzen.
»Kaufen Sie ein Heimchen«, meinte Barbour witzelnd. »Oder eine Maus. Hey, für fünfundzwanzig Dollar bekommen Sie eine ausgewachsene Maus.«
»Ihre Stute könnte genauso sterben, wie Groucho gestorben ist, ohne Vorwarnung«, sagte Rick. »Sie kommen heute Abend von der Arbeit zurück, und da liegt sie, auf dem Rücken, Füße in die Luft gestreckt, wie ein Käfer. Sie sagen es selbst – wie ein Heimchen.« Er ging weiter, Autoschlüssel gezückt.
»Entschuldigen Sie«, rief Barbour ihm erschrocken nach. »Ich wollte Sie nicht kränken.«
Schweigend schloss Rick Deckard die Tür seines Schwebewagens auf. Er achtete nicht mehr auf seinen Nachbarn; in Gedanken war er schon bei seiner Arbeit, bei dem Tag, der vor ihm lag.
In einem riesigen, leeren, verfallenden Gebäude, das einmal Tausende beherbergt hatte, bot ein Fernsehgerät in einem leeren Zimmer noch immer Waren feil.
Diese aufgelassene Ruine war vor dem letzten Weltkrieg ein gepflegtes, gut in Schuss gehaltenes Haus gewesen. Es hatte in der Vorstadt von San Francisco gelegen, nur eine kurze Einschienenbahnfahrt von der Innenstadt entfernt. Die gesamte Halbinsel hatte wie ein Baum voller Vögel gezwitschert, vor Leben, Ansichten, Klagen, doch nun waren die, denen diese Gegend einmal teuer gewesen war, entweder tot oder ausgewandert zu einer Kolonie auf einem anderen Planeten. Für die meisten traf Ersteres zu; der Krieg hatte viele Leben gefordert, trotz der so zuversichtlichen Prognosen des Pentagon samt seines großspurigen akademischen Ablegers, der Rand Corporation – deren Sitz sich übrigens gar nicht weit von diesem Ort befunden hatte. Genau wie die Besitzer der Wohnungen war auch die Firma fort, offenbar für immer. Sie fehlte niemandem.
Und ebenso wenig erinnerte sich heute noch jemand daran, wie es zu dem Krieg gekommen war und wer, wenn überhaupt jemand, ihn gewonnen hatte. Der Staub, der fast die gesamte Oberfläche des Planeten verseucht hatte, war nicht aus einem bestimmten Land gekommen, und keiner, auch nicht der damalige Feind, hatte damit gerechnet. Seltsamerweise waren als Erste die Eulen gestorben. Damals hatte es fast lustig ausgesehen, wie die dicken, aufgeplusterten weißen Vögel überall in den Gärten und auf den Straßen lagen; doch da sie wie zu Lebzeiten erst im Dämmerlicht aktiv wurden, hatten sie kein großes Aufsehen erregt. Die Epidemien des Mittelalters hatten sich auf ähnliche Weise angekündigt, mit einer großen Zahl toter Ratten. Diese Pest allerdings war vom Himmel gefallen.
Den Eulen waren natürlich die anderen Vögel gefolgt, aber bis dahin hatte die Menschheit begriffen, was vorging. Schon vor dem Krieg hatte es ein kleineres Kolonisierungsprogramm gegeben, aber jetzt, wo die Sonne die Erde nicht mehr anstrahlte, nahm die Auswanderungsrate vollkommen andere Dimensionen an. Im Zuge dessen hatte man eine Kriegswaffe, den synthetischen Freiheitskämpfer, modifiziert; dieser humanoide Roboter – genau genommen ein organischer Androide – funktionierte auch auf fremden Welten und war zum wichtigsten Helfer des ganzen Kolonisierungsprogramms geworden. Nach einem Gesetz der Vereinten Nationen erhielt jeder Auswanderer automatisch einen Androiden, wobei er den Typ frei auswählen konnte, und als das Jahr 1990 kam, gab es bereits dermaßen viele verschiedene Modelle, dass keiner mehr den Überblick hatte, ganz in der Art amerikanischer Automobile der 1960er.
Das war das wichtigste Lockmittel der Emigration gewesen: der künstliche Hausdiener als Mohrrübe, der radioaktive Fallout als Stock. Die UNO hatte das Auswandern leicht gemacht, das Bleiben schwierig, ja beinahe unmöglich. Wer auf der Erde blieb, konnte sich plötzlich als biologisch inakzeptabel eingestuft finden, als Bedrohung für das intakte Erbgut des Menschengeschlechts. War ein Bürger erst einmal zum »Spezialen« erklärt worden, hörte er, selbst wenn er sich sterilisieren ließ, praktisch auf zu existieren. Man nahm ihn nicht mehr als Menschen wahr. Und doch gab es hie und da einige, die nicht auswandern wollten; das war eine Unvernunft, über die man nur staunen konnte, und selbst die Betroffenen staunten. Logisch gesehen hätte jeder Normale bereits ausgewandert sein sollen. Vielleicht erschien ihnen die Erde, so entstellt sie auch war, doch als das Vertraute, und sie klammerten sich daran. Oder vielleicht waren die Nicht-Auswanderer zuversichtlich, dass eines Tages das Zelt aus Staub verflogen sein würde. Jedenfalls waren Tausende geblieben, die meisten davon konzentriert in den Städten, wo sie einander begegnen konnten und die Gegenwart eines anderen ihnen Mut machte. Dies waren die vergleichsweise Vernünftigen. Aber als dubiose Zugabe dazu fand man dann und wann auch die verschrobenen Typen, die in den fast ganz verlassenen Vorstädten blieben.
John Isidore, den sein Fernseher anbrüllte, während er im Bad war und sich rasierte, war einer davon.
Er war in den ersten Nachkriegstagen unversehens hier gelandet. In den grässlichen Zeiten damals hatte im Grunde niemand gewusst, was er gerade tat. Gruppen von Menschen, die der Krieg isoliert hatte, waren durchs Land gezogen, hatten sich vorübergehend in einer Ecke, dann in einer anderen niedergelassen. Damals kam der Fallout sporadisch und war vollkommen unberechenbar; manche Bundesstaaten waren fast frei davon gewesen, andere komplett davon gesättigt. Die heimatlosen Horden zogen, wie der Staub zog. Die Halbinsel südlich von San Francisco war anfangs staubfrei gewesen, und eine große Anzahl von Menschen hatte sich dort niedergelassen; als der Staub kam, waren ein paar gestorben, die anderen waren fortgezogen. J.R. Isidore war geblieben.
Der Fernseher brüllte: »– ganz wie in den guten alten Zeiten, wie in den Südstaaten vor dem Bürgerkrieg! Ob als Leibdiener oder als unermüdlicher Feldarbeiter, Sie bekommen Ihren maßgeschneiderten humanoiden Roboter – SPEZIELLFÜRSIEGEBAUT, nach Ihren Bedürfnissen, FÜRSIEUNDNURFÜRSIEALLEIN; bei Ihrer Ankunft wartet er schon auf Sie, Ihr Begrüßungsgeschenk, absolut ohne alle Unkosten und mit allem ausgestattet, was Sie vor Ihrem Aufbruch von der Erde bestellt haben. Dieser treue und verlässliche Gefährte wird an Ihrer Seite sein, in diesem größten, unglaublichsten Abenteuer, das die Menschheit in unseren modernen Zeiten unternomm-« Und immer so weiter.
Ob ich zu spät zur Arbeit komme?, überlegte Isidore, während er schabte. Er besaß keine funktionsfähige Uhr mehr; normalerweise verließ er sich bei Zeitangaben auf das Fernsehen, aber heute war anscheinend der Tag der Neuen Horizonte. Jedenfalls behauptete das Fernsehen, dass es der fünfte (oder sechste?) Jahrestag der Gründung von Neu-Amerika sei, der größten amerikanischen Siedlung auf dem Mars. Das Gerät hatte einen Defekt und empfing nur den einen Sender, der im Krieg verstaatlicht worden und staatlich geblieben war. Die Regierung in Washington mit ihrem Kolonisierungsprogramm war der einzige Geldgeber, und Isidore war gezwungen, sich deren Verlautbarungen anzuhören.
»Hören wir mal, was Mrs Maggie Klugman dazu sagt«, meinte der Moderator zu John Isidore, der doch nur die Uhrzeit wissen wollte. »Mrs Klugman ist erst kürzlich auf dem Mars eingetroffen, und das folgende Interview wurde live in New New York aufgenommen. Mrs Klugman, wie würden Sie den Unterschied zwischen Ihrem früheren Leben auf der verseuchten Erde und Ihrem Leben hier, auf einer Welt, die überquillt von allen nur erdenklichen Möglichkeiten, beschreiben?« Eine Pause, dann sagte eine müde, trockene, schon ältere Frauenstimme: »Ich glaube, was mir und meiner dreiköpfigen Familie am meisten aufgefallen ist, ist die Würde.« »Die Würde, Mrs Klugman?«, fragte der Ansager. »Ja«, bestätigte Mrs Klugman, jetzt Bürgerin von New New York, Mars. »Ich weiß nicht, wie ich es am besten in Worte fasse. In diesen unruhigen Zeiten einen Hausdiener zu haben, auf den man sich verlassen kann … das macht mir Mut.«
»Als Sie noch auf der Erde waren, Mrs Klugman, in den alten Zeiten, haben Sie sich da Sorgen gemacht, dass man Sie als – ähm – als Speziale einstufen könnte?«
»Oh, mein Mann und ich sind beinahe vor Angst deswegen gestorben. Als wir erst einmal ausgewandert waren, war diese Angst natürlich fort, und das zum Glück für immer.«
Und meine ist auch fort, dachte John Isidore ärgerlich, auch ohne dass ich auswandern musste. Schon über ein Jahr lebte er nun als Spezialer, und das galt nicht nur für die verdrehten Gene, die er in sich trug. Noch schlimmer war, dass er beim Intelligenzminimumtest durchgefallen war, wodurch er nun als, wie die Leute zu sagen pflegten, Spatzenhirn galt. Drei Planeten verachteten ihn dafür. Und doch war er immer noch am Leben. Er hatte seine Arbeit, er fuhr einen Lieferwagen für eine Firma, die künstliche Tiere reparierte; die Van-Ness-Tierklinik und der düstere, kauzige Chef Hannibal Sloat akzeptierten ihn als Menschen, und das rechnete er ihnen hoch an. Mors certa, vita incerta, verkündete Mr Sloat immer wieder gern. Isidore hatte diese Formel schon viele Male gehört, aber er hatte nur eine vage Vorstellung davon, was sie bedeutete. Schließlich wäre ein Spatzenhirn, das Latein versteht, kein Spatzenhirn mehr. Das konnte auch Mr Sloat nur bestätigen, als man ihn darauf hinwies. Und es gab Spatzenhirne, die unendlich viel dümmer als Isidore waren – die überhaupt keine Arbeit verrichten konnten und die in Institutionen verwahrt wurden, die auf den seltsamen Namen »Amerikanisches Institut für Spezialbegabungen« hörten – das »Spezial« durfte in so etwas ja nie fehlen.
»– Ihr Mann fühlte sich nicht sicher, Mrs Klugman«, sagte der Ansager gerade, »obwohl er einen kostspieligen und unbequemen strahlensicheren Protektor aus Blei besaß und ihn ständig trug?«
»Mein Mann«, hob Mrs Klugman an, doch Isidore, mit dem Rasieren fertig, kam ins Zimmer und schaltete das Fernsehgerät ab.
Stille. Sie sprang ihn von Möbeln und Wänden an; sie packte ihn mit ihrer ganzen grässlichen Macht, als sende ein gewaltiger Generator sie aus. Sie stieg vom Fußboden auf, von dem fadenscheinigen grauen Teppich. Die zerbrochenen oder halbzerbrochenen Gerätschaften in der Küche setzten sie frei, die toten Maschinen, die schon bei seinem Einzug nicht mehr funktioniert hatten. Aus der Stehlampe im Wohnzimmer, die nicht mehr leuchtete, quoll sie hervor, verband sich mit dem, was leer und lautlos von der fleckigen Decke herabsank. Ja, diese Stille schien tatsächlich von jedem Objekt, das er vor Augen hatte, auszugehen, als wolle sie jedes greifbare Ding verdrängen. Sie drang also nicht nur in seine Ohren, sondern auch in seine Augen; so wie er jetzt neben dem leblosen Fernsehgerät stand, empfand er diese Stille als sichtbar, als etwas auf ihre Weise Lebendiges. Lebendig! Schon oft hatte er gespürt, wie kompromisslos die Stille war; ohne jede Zurückhaltung machte sie sich breit, anscheinend außerstande, zu warten. Die Stille der Welt konnte ihre Gier nicht im Griff halten. Jetzt nicht mehr. Nicht jetzt, wo sie praktisch schon Siegerin war.
In solchen Fällen fragte er sich, ob die anderen, die auf der Erde geblieben waren, die Stille wohl genauso empfanden. Oder war das eine Eigenheit, die nur ihn allein betraf, eine Schrulligkeit, verursacht durch sein ungenügendes Wahrnehmungsvermögen? Interessante Frage, dachte Isidore. Aber mit wem hätte er sie besprechen können? Er lebte allein in diesem blinden, zerfallenden Haus mit den tausend verlassenen Wohnungen, das, wie alle anderen seiner Art, in tagtäglicher Entropie seinem Ende entgegenging. Alles in diesem Gebäude würde nach und nach miteinander verschmelzen, würde gesichtlos und gleich werden, eine Art Pudding aus Kippel, der sich in jeder dieser Wohnungen bis an die Decke türmte. Und danach würde auch das vernachlässigte Gebäude selbst seine Form verlieren, begraben unter dem allgegenwärtigen Staub. Bis dahin wäre natürlich er selbst ebenfalls tot, auch ein interessantes Ereignis, dem er mit Spannung entgegensehen konnte, so wie er nun allein in seiner Wohnzimmerruine stand, mit der atemlosen, alles durchdringenden, gebieterischen Stille der Welt.
Vielleicht besser, wenn er den Fernseher wieder einschaltete. Doch die Werbung, die sich an die verbliebenen Normalen richtete, machte ihm Angst. Sie gab ihm auf immer wieder neue Weise zu verstehen, dass er, der Speziale, nicht erwünscht war. Dass man keine Verwendung für ihn hatte. Er nicht auswandern konnte, selbst wenn er es gewollt hätte. Warum sollte er sich so etwas anhören?, sagte er sich ärgerlich. Scheiß auf die und ihre Kolonisierung; ich hoffe, die zetteln selber einen Krieg an – wäre doch immerhin denkbar –, und dann stehen sie genauso da wie die Erde. Und jeder, der ausgewandert ist, ist ein Spezialer.
Also, sagte er sich: Ich fahre dann mal zur Arbeit. Er wollte die Tür zu dem düsteren Gang öffnen, blieb aber doch, wo er war, als er die Leere in dem ganzen Gebäude spürte. Sie wartete dort draußen, die Kraft, deren Versuch, sich auch in dieser Wohnung breitzumachen, er schon lange fühlte. Meine Güte, dachte er und machte die Tür wieder zu. Er war nicht bereit für die Schritte über diese hallenden Treppenstufen, hinauf auf das leere Dach, wo er kein Tier hatte. Das Echo seiner eigenen Schritte: das Echo von nichts. Zeit, die Griffe zu packen, sagte er sich und durchquerte das Zimmer zu dem schwarzen Empathor.
Als er das Gerät einschaltete, stieg infolge des fließenden Stroms der übliche schwache Geruch nach negativen Ionen auf; er atmete ihn gierig ein, und schon das beflügelte ihn. Dann glomm die Bildröhre auf wie ein kleines, schwaches Fernsehbild; eine Collage setzte sich zusammen, aus anscheinend zufällig erscheinenden Farben, Schlieren und Formen, aus denen sich, solange man die Griffe nicht berührte, nichts Erkennbares ergab. Er atmete tief durch, um sich zu sammeln, dann packte er die beiden Griffe.
Das Bild nahm Gestalt an; sofort sah er die allseits bekannte Landschaft, den alten, braunen, wüsten Hang, die Büschel vertrockneten Unkrauts, die wie Gebeine kreuz und quer in den düsteren, sonnenlosen Himmel ragten. Eine einzelne Gestalt, vage als Mensch zu erkennen, mühte sich den Hügel hinauf: ein älterer Mann in einem langen, sackartigen Gewand von unbestimmbarer Farbe, ein Kleidungsstück so dürftig, als habe er es geradewegs der feindseligen Leere des Himmels entrissen. Der Mann, Wilbur Mercer, stapfte voran, und John Isidore, die Griffe umklammert, spürte, wie das Wohnzimmer allmählich um ihn her verschwand; die heruntergekommenen Möbel und Wände lösten sich auf, und bald nahm er sie überhaupt nicht mehr wahr. Stattdessen merkte er, wie jedes Mal, dass er in eine Landschaft aus tristem Hügel, trübem Himmel kam. Und zugleich verfolgte er den Aufstieg des alten Mannes nicht mehr als Zuschauer. Er selbst schlurfte voran, seine eigenen Füße suchten Halt zwischen den vertrauten lockeren Steinen; er spürte den alten, ewiggleichen, schmerzlich unwegsamen Boden unter den Füßen, roch von neuem den beißenden Dunst des Himmels – nicht des Erdenhimmels, sondern den eines fremden Ortes, fern und doch, durch den Empathor, direkt erlebbar.
Er war in diese andere Welt gewechselt, und es war unbegreiflich wie eh und je; wieder einmal war er eins geworden, identifizierte sich in Verstand und Seele mit Wilbur Mercer. Genauso war es bei jedem, der in diesem Augenblick die Griffe packte, ob hier auf der Erde oder auf einem der Kolonialplaneten. Er spürte diese anderen, hatte Teil am Gemurmel ihrer Gedanken, vernahm in seinem eigenen Hirn den Lärm all ihrer einzelnen Existenzen. Ihnen – und ihm – ging es nur um ein Einziges; diese Verschmelzung ihrer Persönlichkeiten ließ sie all ihre Aufmerksamkeit auf den Hügel, den Weg, die Notwendigkeit des Aufstiegs richten. Schritt für Schritt ging es voran, so langsam, dass der Fortschritt kaum wahrzunehmen war. Aber den Fortschritt gab es. Es geht nach oben, dachte er, auch wenn unter seinen Füßen die Steine bergab rollten. Heute sind wir weiter oben als gestern, und morgen – er, die gemeinschaftliche Gestalt von Wilbur Mercer, schaute hinauf, betrachtete den Weg, der noch vor ihnen lag. Unmöglich, das Ziel zu erkennen. Zu weit entfernt. Aber es würde kommen.
Ein Stein wurde geworfen, streifte ihn am Arm. Er spürte den Schmerz. Er drehte sich halb um, und ein weiterer Stein kam geflogen, doch diesmal verfehlte er ihn; er hörte, wie er auf dem Boden aufschlug, und das Krachen erschreckte ihn. Wer?, überlegte er und schaute sich nach dem Angreifer um. Die alten Widersacher, an den äußersten Rändern seines Blickfelds zeigten sie sich; sie waren ihm während des Aufstiegs gefolgt, und sie würden bei ihm bleiben, bis er oben …
Er rief sich das Ziel vor Augen, und wie es oben auf dem Hügel plötzlich flach wurde, wie der Aufstieg zu Ende war und der andere Teil begann. Wie oft hatte er das schon gemacht? Mehrere Male, aber die Erinnerungen verschwommen ineinander; Zukunft und Vergangenheit verschwommen; was er bereits erfahren hatte und was er noch erfahren würde, vermischte sich in einem solchen Maße, dass nichts blieb als der Augenblick, das Stillstehen, die Pause, in der er sich den Arm rieb, da, wo der Stein ihn verletzt hatte. Gott, dachte er in seiner Erschöpfung. Und das soll fair sein? Warum bin ich allein hier oben, gepeinigt von etwas, das ich nicht einmal sehen kann? Und dann hörte er in seinem Inneren wieder das Gemurmel all der anderen, die gerade eins waren, und das fälschlich eingebildete Gefühl der Einsamkeit verflog.
Ihr habt es auch gespürt, dachte er. Ja, antworteten die Stimmen. Wir wurden getroffen, am linken Arm; es tut verflucht weh. Na gut, sagte er. Dann wollen wir sehen, dass wir weiterkommen. Er schritt wieder voran, und alle anderen kamen sofort mit.
Früher, daran erinnerte er sich, war es anders gewesen. Bevor der Fluch über ihn gekommen war, in einem früheren, glücklicheren Abschnitt seines Lebens. Sie, seine Pflegeeltern, Frank und Cora Mercer, hatten ihn gefunden, wie er im Rettungsfloß eines Flugzeugs vor der Küste von Neuengland trieb … oder war es Mexiko gewesen, nicht weit vom Hafen von Tampico? Die Einzelheiten wusste er jetzt nicht mehr. Es war eine schöne Kindheit gewesen; er hatte alles Lebendige geliebt, ganz besonders die Tiere, hatte sogar eine Zeitlang tote Tiere wieder zurückholen können, wie sie gewesen waren. Er hatte mit Kaninchen und Käfern gelebt, wo immer sie waren, auf der Erde oder in einer der Kolonialwelten; auch das wusste er jetzt nicht mehr. Aber er erinnerte sich an die Mörder, denn sie hatten ihn als Abweichler gefangen genommen, spezieller als jeder andere Speziale. Und dadurch war alles anders geworden.