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Wahre Liebe schaut nur auf das Innere, findet Lisa. Komisch, dass sie trotzdem noch nicht den Richtigen gefunden hat. Deshalb meldet Freundin Mareike sie bei der Webseite "The Voice of Love - Stimme der Liebe" zu einem Online-Date an. Die Regeln dort: Die Kamera bleibt aus, und es gibt keine Infos über Aussehen, Beruf oder finanziellen Status. Stattdessen nur zwei Stimmen, die über das reden, was im Leben wirklich zählt. Jonas ist wegen einer Wette dort, um seinen Freunden zu beweisen, dass das Aussehen bei einem Date nicht wichtig ist. Lisa und Jonas sind laut Computer das perfekte Match, und schon bald knistert es gewaltig. Doch dann begegnen sie sich, ohne es zu ahnen, leibhaftig ...
Die idyllische Lübecker Altstadt, das Seebad Travemünde und das Naturparadies auf dem Priwall bieten die Kulisse für diese warmherzige und humorvolle Liebesgeschichte.
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Seitenzahl: 443
Wahre Liebe schaut nur auf das Innere, findet Lisa. Komisch, dass sie trotzdem noch nicht den Richtigen gefunden hat. Deshalb meldet Freundin Mareike sie bei der Webseite »The Voice of Love - Stimme der Liebe« zu einem Online-Date an. Die Regeln dort: Die Kamera bleibt aus, und es gibt keine Infos über Aussehen, Beruf oder finanziellen Status. Stattdessen nur zwei Stimmen, die über das reden, was im Leben wirklich zählt. Jonas ist wegen einer Wette dort, um seinen Freunden zu beweisen, dass das Aussehen bei einem Date nicht wichtig ist. Lisa und Jonas sind laut Computer das perfekte Match, und schon bald knistert es gewaltig. Doch dann begegnen sie sich, ohne es zu ahnen, leibhaftig … Die idyllische Lübecker Altstadt, das Seebad Travemünde und das Naturparadies auf dem Priwall bieten die Kulisse für diese warmherzige und humorvolle Liebesgeschichte.
Yvonne Struck, geboren und aufgewachsen in Lübeck, schrieb schon in der Grundschule die ersten Geschichten und Gedichte. Nach dem Abitur studierte sie zunächst Biologie und arbeitete nach dem Diplom in verschiedenen Berufen, bevor sie hauptberuflich Autorin wurde. Sie schreibt Jugendbücher und Romane für Erwachsene und lebt nach Stationen in Hamburg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Schweden heute in Kleve am Niederrhein.
Y V O N N E S T R U C K
Blind Date mit Möwe
ROMAN
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch dieLiterarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Copyright © 2024 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- undData-Mining bleiben vorbehalten.
Umschlaggestaltung: © SO YEAH DESIGN, Gabi Braun
Einband-/Umschlagmotiv: © shutterstock.com: Tancha | amesto | Angelina Bambina
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-5605-1
luebbe.de
lesejury.de
Antonios Eiscafé an der Travemünder Vorderreihe ist der perfekte Ort für ein erstes Date. Eisessen wird im Internet empfohlen, weil es nicht so lange dauert wie ein Restaurantbesuch, und das Spaghettieis schmeckt hier wirklich göttlich. Außerdem ist es an der Vorderreihe wunderschön: Kleine Geschäfte und Restaurants reihen sich in schmalen Häusern aneinander, Menschen bummeln durch die Fußgängerzone, und man kann über die Trave mit ihren vielen Segelbooten bis hinüber zur Halbinsel Priwall blicken. Wenn ich hier bin, fühle ich mich immer ein bisschen wie im Urlaub.
Normalerweise jedenfalls. Heute hingegen eile ich im Slalom durch die entspannt schlendernden Menschen, rufe alle zwei Sekunden laut »Entschuldigung!« und bleibe schließlich keuchend vor den ersten weißen Sonnenschirmen mit der Aufschrift »Antonio’s« stehen. Trotz des Gerennes bin ich eine Viertelstunde zu spät. Hastig zupfe ich das gelbe Sommerkleid zurecht und bewege die verschwitzten Zehen, die leider nicht wie geplant von schicken Riemchensandalen umrahmt werden, sondern in klobigen gelben Gummistiefeln stecken. Na ja, wenigstens farblich passt mein Outfit super zusammen … Das ist aber auch schon das einzige Gute, das man darüber sagen kann! Aber hätte ich deswegen absagen sollen? So kurzfristig wäre das ja alles andere als nett gewesen. Apropos: Eigentlich müsste mein Date schon hier sein, oder?
Ich lasse den Blick über die kleinen Bistrotischchen schweifen. Familien mit Sand im Haar und Touristen in Lübeck-T-Shirts (Modell »Holstentor«), zwei Frauen, die die Köpfe zusammenstecken, mehrere Rentnerpaare … und ein einzelner Typ im hellgrauen Anzug. Das muss er sein.
»Tarzan93?«, frage ich, als ich an seinem Tisch ankomme.
»Möwe197?«, fragt er zurück.
»Genau.« Ich lasse mich auf den Stuhl ihm gegenüber sinken und lächele ihn an. »Sorry, dass ich zu spät bin.«
»Macht ja nichts.«
Er lächelt zurück und nimmt sich dann die Eiskarte.
»Weißt du schon, was du bestellen willst?«, fragt er.
Ich nicke, und er fängt an zu blättern. »Ich schau mal schnell, okay?«
Doch in dem Moment steht schon Antonio neben unserem Tisch.
»Ciao, Lisa! Spaghettieis wie immer?«
»Na klar!« Ein Eis ist genau das, was ich jetzt brauche.
»Und für den Signore?«
Tarzan guckt noch einmal in die Karte und sagt dann: »Ein Bier bitte.«
Bier im Eiscafé? Ernsthaft?
»Una birra, prego.« Antonio lässt sich nichts anmerken, aber der Blick, den er Tarzan93 im Fortgehen zuwirft …
Der nimmt sich noch einmal die Karte, und ich nutze die Gelegenheit, um ihn ausgiebig zu mustern. Dunkle Haare, vorne gegelt, blaue Augen und ein markantes Kinn mit leichten Bartstoppeln … Eigentlich sieht er ziemlich gut aus. Und auch der Anzug steht ihm. Wäre zwar nicht gerade das Outfit, das ich für ein Eiscafé gewählt hätte, aber vielleicht ist er ja direkt von der Arbeit gekommen, genau wie ich.
Tarzan93 klappt die Karte wieder zu.
»Nimmst du doch noch ein Eis?«, frage ich.
»Nein, wieso?« Er sieht mich verwirrt an.
»Na ja, ich dachte … Weil du die Karte noch mal … Aber ist auch egal.«
Er reibt sich das Kinn. »Ehrlich gesagt, stehe ich nicht so auf Eis.«
»Echt nicht?«, platzt es aus mir heraus. »Ich liebe Spaghettieis!«
»Okay …« Er zieht kurz die Augenbrauen hoch und fischt dann sein Handy aus der Tasche. Er wird doch nicht … Nein, er tippt nur kurz irgendwas und legt es dann auf den Tisch.
Und jetzt? Am besten, wir beginnen noch mal von vorne. Wie war das mit den zehn besten Gesprächseinstiegen für erste Dates? Die habe ich heute Morgen extra gegoogelt, aber irgendwie ist mein Kopf im Moment komplett leergefegt.
Tarzan93 sagt auch nichts, er schiebt sein Handy auf der Tischplatte hin und her. Doch Rettung naht, und zwar in Gestalt von Antonio, der genau in diesem Moment eine riesige Eisschale vor mir abstellt.
»Prego, Signora! Ich habe extra noch ein paar frische Erdbeeren draufgetan.« Er zwinkert mir zu. »Weil du es bist.«
Ich strahle ihn an. »Danke schön!«
Während Antonio das Bier serviert, tauche ich den Löffel in meine Eisspaghetti. Luftiges Vanilleeis mit fruchtiger Erdbeersoße … Und dazu frische Erdbeeren! Mmh! Ich nehme gleich noch einen zweiten Löffel.
Tarzan trinkt währenddessen von seinem Bier. Drei große Schlucke.
»Übrigens, entschuldige noch mal die Verspätung«, sage ich dann, bevor sich wieder so ein peinliches Schweigen ausbreiten kann, und strecke die Beine unter dem winzigen Tischchen aus. »Du glaubst nicht, was mir vorhin passiert ist. Ich war nämlich gerade …«
»Sind das etwa Gummistiefel?« Tarzan93 starrt auf meine Fußbekleidung, die selbst hier im Schatten fröhlich vor sich hin leuchtet.
»Ja. Sind es.« Mist, warum klang das so verlegen? Ich wollte doch selbstbewusst und witzig auftreten!
Ich atme tief ein. »Jedenfalls, das mit den Gummistiefeln. Ich komme nämlich direkt von der Arbeit, und da …«
»Was arbeitest du denn? Bauarbeiterin?« Er lacht meckernd. Ist ja auch ein echter Brüller, der Spruch!
Ich kann es mir nicht verkneifen. »Und wenn?«, frage ich zurück.
»Ehrlich?« Schlagartig wird er ernst. »Klar. Natürlich. Ich wollte damit auch nicht sagen …«
»Schon gut«, antworte ich. Was für ein Typ!
In dem Moment klingelt das Handy neben seinem halbvollen Bierglas. Tarzan93 – wie heißt er eigentlich in echt? – greift danach.
»Oh, sorry, wichtiger Termin. Ich muss. Sorry, sorry, sorry!« Er leert sein Glas in einem Zug, wirft einen Fünfeuroschein auf den Tisch und springt auf. »Ciao!«
Ich starre ihm fassungslos hinterher. Das darf ja wohl nicht wahr sein! Der haut einfach ab und lässt mich tatsächlich mit der ältesten Ausrede der Welt hier sitzen! Dabei wollte ich ihm doch gerade erklären, warum ich hier in Gummistiefeln zum Sommerkleid sitze.
Ich arbeite nämlich in der Naturstation auf dem Priwall, und wir sind heute mit unserem Exkursionskutter »Albatros« rausgefahren, um Jungfische für das neue Aquarium zu fangen. Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel, der Ostseewind blies mir ins Gesicht, und der Bug des Kutters hob sich mit jeder Welle an und klatschte dann wieder zurück aufs Wasser. Es war himmlisch!
Ein Stück vor dem Strand setzte unser Ehrenamtler Heinz den Anker, und ich schnappte mir den Kescher und fing an, nach den Fischen Ausschau zu halten. Tatsächlich entdeckte ich bald einen ganzen Schwarm. Ich sah zwar im Augenwinkel schon die Nils Holgersson näher kommen, dachte aber, ich wäre schneller. Doch genau in dem Moment, als ich mich mit ausgestrecktem Arm weit über die Reling lehnte, passierte es. Heinz rief noch: »Achtung, Lisa!«, doch da erreichte uns die Riesenwelle der Ostseefähre schon. Der Kutter schwankte, ich auch, und – platsch – fiel ich in die Ostsee. Das Wasser war trotz der Sommerhitze eiskalt, und ich wusste einen Moment lang nicht, wo oben und unten war. Dann tauchte ich prustend wieder auf, Hose und Shirt klebten an meinem Körper, und wo war mein Kescher? Schwimmend drehte ich mich im Kreis, bis ich ihn ein Stück weit entfernt treiben sah. Ich schaffte es mehr schlecht als recht, mit dem Teil in der Hand zum Kutter zurückzuschwimmen, und als ich ihn zu Heinz nach oben schob, zuckte sein Schnurrbart verdächtig.
»Na, das war ja ’n schöner Platscher.«
»Sehr witzig«, brummelte ich.
Er hielt mir die Hand hin und zog mich zurück aufs Boot. »Mensch, ich hab dich doch noch gewarnt!«
»Ja, ich weiß.«
Zum Glück hatte ich Wechselkleidung in der Naturstation, aber als ich dann später zum Date aufbrechen wollte, stellte ich fest, dass ich meine Riemchensandalen zu Hause vergessen hatte. Und die Chucks waren immer noch klatschnass. Damit standen zur Auswahl: klobige Arbeitsschuhe oder eben die Gummistiefel. Deshalb klopfte ich die verkrusteten Matschreste von den Stiefeln, polierte sie auf Hochglanz und rannte los.
An dieser Stelle der Story hätte Tarzan93 zum Beispiel fragen können, welche Arbeit ich eigentlich in der Naturstation mache, wenn ich nicht gerade ins Wasser falle (oder so.) Schon wären wir im Gespräch gewesen. Doch stattdessen … Ich starre den Geldschein neben dem leeren Bierglas an. Ich meine, klar, es war nicht das tollste Date der Welt. Die Wahrscheinlichkeit, dass aus uns was geworden wäre, liegt vermutlich im Minusbereich. Aber trotzdem! Ich habe noch nicht mal mein Eis aufgegessen.
Die Dame mit dem weißen Kurzhaarschnitt am Nebentisch wirft mir einen mitleidigen Blick zu, wahrscheinlich hat sie alles mitbekommen. Ich zwinge mich zu einem Lächeln und tauche den Löffel in das halb geschmolzene Spaghettieis. Von so einem arroganten Typen lasse ich mir doch mein Eis nicht verderben! Aber egal, wie sehr ich mich auch bemühe, es zu genießen: Irgendwie schmeckt es heute anders als sonst. Ich bezahle bei Antonio und mache mich seufzend auf den Weg nach Hause.
Zehn Minuten Fußweg und neunzehn Minuten Zugfahrt später komme ich in Lübeck an. Vor dem Bahnhof steht eine riesige Menge an Fahrrädern, aber meines leuchtet mir schon fröhlich türkis-schwarz geringelt entgegen. Mit dreizehn Jahren hatte ich nämlich die Nase voll von dem pinken Fahrrad, das ich mir ein Jahr vorher noch voller Überzeugung ausgesucht hatte, und habe es türkis gestrichen. Doch vermutlich hätte ich die alte Farbe vorher abschleifen müssen, denn das Türkis wurde total fleckig und sah alles andere als hübsch aus. Nachdem ich eine Woche lang kreuzunglücklich damit zur Schule gefahren war, besorgte ich mir schwarzes Klebeband, und seitdem ist mein Fahrrad geringelt. Obwohl das inzwischen schon fünfzehn Jahre her ist, liebe ich es noch immer! Außerdem finde ich es in jedem Fahrradständer sofort wieder, egal, wie voll er ist, und bei gutem Wetter sind die in Lübeck immer voll.
Ich schwinge mich auf den Sattel und radele im Rekordtempo in Richtung Holstentor. Zum Glück ist hier abends nur wenig Verkehr, aber es sind immer noch deutlich über zwanzig Grad, und meine Füße in den Gummistiefeln üben inzwischen schon für das Seepferdchen-Abzeichen. An der Obertrave, wo Tische und Stühle der kleinen Restaurants jeden freien Zentimeter Fußweg bedecken, bremse ich ein wenig ab. Pizzaduft, Stimmen und Gelächter. Ich weiche einem Kellner aus, der ein mit Gläsern voll beladenes Tablett über die Straße balanciert. Ein paar hundert Meter weiter wird es ruhiger, ich biege nach links ab, strampele ein Stück bergauf und schiebe das Fahrrad durch einen niedrigen Tunnel, der direkt durch die Fassade eines der Häuser hindurchführt. Und dann komme ich auf der anderen Seite wieder heraus – in einem von Lübecks typischen »Gängen«, einem Innenhof mit schmalen, von Kletterrosen bewachsenen Häuschen, die sich eng aneinanderschmiegen und deren Fassaden in der sanften Abendsonne pastellfarben leuchten. Von meiner Mitbewohnerin Mareike, die bei der Touristeninformation arbeitet, weiß ich, dass die kleinen Ganghäuser im Mittelalter gebaut wurden, um in den Hinterhöfen Wohnraum für die arme Bevölkerung und Bedienstete zu schaffen. Heute hingegen sind sie sehr beliebt und begehrt.
»Hallo, Lisa.« Erika, die gleich im ersten Häuschen vorne links wohnt, gießt wie jeden Abend mit einer grünen Plastikkanne ihre Kletterrosen.
Ich lächele ihr zu. »Hallo, Erika!«
Sie stellt die Gießkanne ab. »Na, wie geht es dir?«
»Gut.« Ich kann Erika ja wohl kaum von meinem missglückten Date erzählen! Abgesehen davon, dass ich das Ganze am liebsten schnell vergessen würde: So gut kennen wir uns nun auch wieder nicht. Außerdem ist Erika über siebzig, und ich habe keine Ahnung, wie sie zu dem Thema »Daten« steht. Ich weiß nur, dass sie mal verheiratet war, aber ihr Mann ist wohl schon vor einer Ewigkeit gestorben.
Erika legt den Kopf schief und mustert mich. Meine Antwort war anscheinend nicht sehr glaubwürdig. Hoffentlich fragt sie nicht weiter nach …
»Magst du Erdbeeren?«, fragt sie stattdessen.
»Was?«
»Erd-bee-ren«, wiederholt sie langsam und laut, als wäre ich schwerhörig.
»Ähm … Ja, klar mag ich die.«
»Warte mal kurz.«
Damit wackelt sie in ihr Häuschen. Oben auf dem Giebel sitzt eine Amsel und pfeift immer wieder dieselbe Melodie. Während ich lausche, entspannen sich langsam die Muskeln in meinem Kiefer. Anscheinend habe ich die ganze Zeit die Zähne zusammengebissen, ohne es zu merken.
»Das ist Emil«, ertönt plötzlich Erikas Stimme neben mir. »Die Amsel. Ich habe ihn Emil getauft. Er singt hier jeden Abend.«
»Schöner Name«, sage ich. »Amseln klingen einfach toll, findest du nicht?«
»Das muss er ja auch. Sonst hören die Frauen nicht auf ihn. Der ruft doch: »Alle Frauen zu mi-i-ir!«
»Stimmt.« Ich grinse hinauf zu der Amsel mit ihrer (seiner) stolzgeschwellten Federbrust.
»Typisch Mann«, verkündet Erika, und ich sehe sie überrascht an. Aber mehr scheint sie zu dem Thema nicht sagen zu wollen. Stattdessen drückt sie mir eine Papiertüte in die Hand. »Hier, die Erdbeeren.«
Die Tüte ist randvoll und ziemlich schwer.
»Danke! Woher hast du denn so viele?«
»Ach.« Erika seufzt. »Eine Freundin von mir ist gestorben.«
»Oh, das tut mir leid«, sage ich betroffen, obwohl ich nicht verstehe, was das mit den Erdbeeren zu tun hat.
»Ja. Danke.« Sie seufzt noch einmal. »Meine Freundin hatte einen Garten mit einem riesigen Erdbeerbeet. Die sind jetzt alle reif, einige sind sogar schon abgefallen und verrotten. Es ist ein Jammer! Da dachte ich mir, ich pflücke mal ordentlich welche, aber so viele kann ich alleine ja gar nicht essen. Also nimm ruhig. Und wenn du noch mehr möchtest, sag Bescheid, es hängen immer noch Unmengen an den Pflanzen. Mareike natürlich auch, die mag sie doch so gerne.«
Mareike ist ein absoluter Erdbeerfan, ich wusste allerdings nicht, dass sich das schon bis zu Erika rumgesprochen hat.
»Ich sag’s ihr, danke.« Ich stelle die Tüte mit den Erdbeeren zu meinem Rucksack in den türkisen Fahrradkorb, und Erika greift wieder nach ihrer Gießkanne.
»Dann wünsche ich dir noch einen schönen Abend«, sage ich. Und erschrecke mich im selben Moment – das war jetzt echt unpassend. »Ich meine, trotz … also, obwohl …«
»Schon gut«, sagt Erika. »Es muss ja weitergehen, nä?«
»Ähm … ja.«
»Na, dann grüß mal Mareike schön von mir.« Dabei klingt ihre Stimme schon fast wieder fröhlich.
»Mach ich!«
Im nächsten Moment plätschert es wieder aus der Gießkanne, und ich schiebe mein Fahrrad weiter, vorbei an Stockrosen und Wäscheleinen. Von irgendwoher ertönt die Titelmelodie der Tagesschau, einige Häuser weiter hört man Stimmen und Geschirrklappern, nur im leer stehenden Haus gegenüber von unserem ist alles still. Ich schließe mein Fahrrad an und stelle die Tüte mit den Erdbeeren auf den wackeligen Holztisch vor unserem Küchenfenster. Wegen des ungleichmäßigen Kopfsteinpflasters ist es unmöglich, ihn stabil hinzustellen, dabei klemmen unter allen vier Beinen schon diverse Bierdeckel. Erschöpft lasse ich mich auf einen der ebenso schief stehenden Stühle fallen und kicke die Gummistiefel von den Füßen. Jetzt noch die feuchten Socken ausziehen … Schon viel besser! Ich strecke die Beine aus und wackele mit den nackten Zehen.
»Da bist du ja. Das ging ganz schön schnell!« In der Tür steht Mareike, in der Hand zwei Gläser mit sprudelndem Eiswasser. Sie stellt eines davon vor mich auf den Holztisch und deutet auf meine türkis lackierten Zehennägel. »Hübsch.«
»Danke«, sage ich – zu dem Kompliment und dem Eiswasser. Das ist jetzt genau das Richtige! Ich trinke das Glas in einem Zug halb leer.
Mareike setzt sich auf den freien Stuhl mir gegenüber und sieht mich erwartungsvoll an.
»Und?«
»Wir haben Erdbeeren geschenkt bekommen. Von Erika.« Ich deute auf die Papiertüte.
»Lecker«, antwortet Mareike. »Aber jetzt sag schon! Wie ist es gelaufen?«
»Frag nicht.«
»So schlimm?«
»Schlimmer! Am liebsten würde ich es einfach nur vergessen.« Ich trinke noch einen Schluck Eiswasser, und dann erzähle ich Mareike natürlich doch das Desaster mit Tarzan93. An der Stelle mit den Gummistiefeln fängt sie an zu grinsen.
»Warum hast du nicht behauptet, Gummistiefel sind auf den Laufstegen in Paris der letzte Schrei?«
Ich verziehe das Gesicht, aber Mareike grinst noch breiter. »Man muss das nur selbstbewusst rüberbringen!«
»Und du glaubst, dann hätte er mich nicht nach zehn Minuten sitzen gelassen?«
Mareike hört schlagartig auf zu grinsen. »Das hat er gemacht? Warum denn?«
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich wegen der Gummistiefel.«
»Aber hast du ihm denn nicht erklärt …?«
»Ich hab’s versucht, aber er hat mir gar nicht zugehört.«
»Was für ein Arsch«, verkündet Mareike.
»Ja, oder?« Ich fühle mich gleich ein bisschen besser. »Dabei hatte der ein Foto vom Outdoor-Klettern in seinem Profil! Ich dachte, das ist voll der relaxte Typ, aber von wegen.«
»Der Klassiker.« Mareike klimpert mit ihren Eiswürfeln. »Wahrscheinlich ist er in Wahrheit Finanzbeamter oder so was. Und in seiner Freizeit macht er dann einen auf cooler Tarzan.«
»Tarzan im Dschungel des Finanzwesens?«, frage ich und muss nun doch lächeln.
»Genau! Übrigens: Du hast da was.« Sie beugt sich vor und zieht mir etwas aus dem Haar. Es leuchtet fast so grün wie die Blätter der Stockrose hinter ihr. Eine eingetrocknete Alge! Wo kommt die denn her? Dabei habe ich doch extra mein Aussehen im winzigen Badspiegel der Naturstation gecheckt, bevor ich vorhin losgerannt bin.
»Tarzan und Jane!«, ruft Mareike, aber ich finde das plötzlich gar nicht mehr witzig. Erschöpft starre ich auf die Alge zwischen ihren Fingern. Das Gehetze nach der Arbeit, die ganze Aufregung … und wofür? Damit so ein Idiot mich sitzen lässt?!
»Lisa? Alles klar?«
Ich zucke mit den Schultern. »Ich hab mich einfach so blöd gefühlt, als er abgehauen ist. Verstehst du?«
»Ja, klar! Du Arme.« Mareike streichelt mir tröstend über den Rücken. »Aber denk nicht mehr drüber nach. Wenn sich einer schlecht fühlen muss, dann der! Nächstes Mal läuft es bestimmt besser.«
»Meinst du?«, frage ich.
»Natürlich!«, ruft Mareike. »Gib mir mal dein Handy.«
Mit fragendem Blick gebe ich es ihr, und Mareike öffnet sofort die Dating-App. Der erste Typ sieht verdammt gut aus, fast wie ein Model, er lehnt mit nacktem Oberkörper und Schlafzimmerblick an einer Mauer. Das ist eindeutig too much.
»Links oder rechts?«, fragt Mareike.
»Links.«
Sie wischt den Typen beiseite.
»Und der?«
Der nächste hat so viele Weichzeichner-Filter benutzt, dass man sein Gesicht gar nicht mehr richtig erkennen kann.
»Auch links«, brummele ich widerwillig. Das Ganze kommt mir auf einmal total bescheuert vor. Menschen nur nach ihrem Aussehen beurteilen? So bin ich doch eigentlich gar nicht. Und außerdem: Was dabei rauskommt, hat man heute ja gesehen.
Obwohl: Ich selbst habe ja auch solche Fotos. Nachdem ich beschlossen hatte, wieder zu daten, wollte ich alles richtig machen und habe in einem Fotostudio das »Tinder-Angebot« gebucht. Inklusive Styling und professionellem Make-up. Mein Gesicht fühlte sich mit der dicken Schminkschicht zwar an wie unter einer Maske, und von den straff hochgesteckten Haaren bekam ich schon nach fünf Minuten Kopfschmerzen, aber die Fotos sehen super aus. Und sie passen perfekt zu Tinder. Nur eben überhaupt nicht zu mir … Aber ob ein Gummistiefel-Foto besser wäre? Wahrscheinlich bekäme ich dann nur Angebote von den Typen, die ich selbst immer sofort wegwische, weil sie fettige Haare haben oder bei ihnen im Hintergrund ungemachte Betten und halb leere Fastfoodkartons zu sehen sind.
»Lisa? Links oder rechts?« Mareike deutet auf den nächsten Mr. Perfect.
Ich zucke mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Das ist doch alles der totale Fake.«
»Ach, Lisa.« Mareike schließt die App und nimmt mich tröstend in den Arm. »Gib nicht gleich wieder auf. Heute ist es blöd gelaufen, aber das war doch erst der erste Versuch.«
»Ich weiß.« Der erste Versuch nach Ryan, und dann geht es gleich so schief! Ryan hätte mit mir über die Gummistiefel gelacht …
»Das nervt bloß alles so!«, platzt es aus mir heraus. »Warum muss ich überhaupt einen Mann finden? Vielleicht sollte ich lieber erst mal Single bleiben.«
»Ja, klar, warum nicht? Wir machen uns auch ohne Männer eine schöne Zeit!« Mareike lässt mich los und steht auf. »Sollen wir die Erdbeeren essen und dabei eine Runde netflixen?«
»Endlich mal eine gute Idee!«
Die Sonne ist inzwischen sowieso hinter dem Giebel des Nachbarhauses verschwunden. Wir schnappen uns unsere Gläser und gehen hinein.
Unser Ganghaus ist zwar superschmal, hat aber drei Stockwerke: Unten befindet sich die Küche mit dem großen Esstisch aus Holz und unser kleines Bad, im ersten Stock wohnt Mareike, und ganz oben unter dem Dach ist mein Zimmer. Das erreicht man, indem man gegenüber von Mareikes Bett eine schmale Leitertreppe hochsteigt. Wenn ich mal meine Ruhe haben will, muss ich darüber eine Falltür schließen. Die schrägen Wände meines Zimmers habe ich hellblau gestrichen, und wenn man im Bett liegt, ist es ein bisschen so, als würde man direkt in den Himmel gucken. Es ist gerade mal genug Platz für besagtes Bett, zwei Kleiderstangen mit Klamotten und den Schreibtisch vor dem Fenster, der über und über mit Muscheln, Steinen und Bastelmaterialien bedeckt ist, weil ich hier neue Projekte für unsere Kinder- und Jugendgruppe ausprobiere. Dass dabei auch viel Deko für mein Zimmer (und das gesamte Haus) herausspringt, ist ein angenehmer Nebeneffekt. Am meisten liebe ich meine muschelverzierte Truhe (für Accessoires wie Tücher, Schals und Mützen), die gleichzeitig als Nachttisch dient, und den Fisch aus Treibholz, den ich gegenüber von meinem Bett aufgehängt habe.
Aber so schön mein Zimmer auch ist: Bei Mareike unten ist eindeutig mehr Platz, deswegen sind wir eigentlich immer bei ihr.
»E-Mail für dich?«, fragt Mareike, nachdem wir es uns auf ihrem großen Bett mit der bunt bestickten Decke gemütlich gemacht haben.
»Auf jeden Fall«, antworte ich, denn das ist unser absoluter Lieblingsfilm. Weil es sooo schön ist, wie Meg Ryan und Tom Hanks sich ineinander verlieben, ohne auch nur zu ahnen, wer die andere Person ist.
»Das wär’s doch«, sage ich anderthalb Stunden später, als der Abspann läuft. »Sich einfach nur Nachrichten schreiben, ohne dass man weiß, wer der andere ist. Ohne Aufbrezeln, ohne Ach-so-tolles-Angeber-Profil … Einfach den richtigen Menschen kennenlernen.« Ich angele mir eine Erdbeere aus der Schale.
Mareike kichert. »Und am Ende bekommst du Tom Hanks. Mit seiner Knollennase und der albernen Frisur.«
»Darum geht es doch gerade«, entgegne ich. »Das Äußere ist egal! Außerdem ist er in dem Film wirklich süß zu ihr.« Ich beiße in die saftige Erdbeere.
»Am Schluss schon«, gibt Mareike zu. »Aber wo willst du jemanden finden, mit dem du dir anonyme E-Mails schreiben kannst? Oder WhatsApps?«
»Nee, keine WhatsApps. Die sind zu kurz.«
»Aber Mails schreibt doch keiner mehr«, gibt Mareike zu bedenken und greift ebenfalls in die Erdbeerschüssel.
»Stimmt auch wieder …«
Ich seufze. Denn da fängt das Problem ja erst an!
Im Zeitalter der sozialen Netzwerke ist so ein anonymes Flirten natürlich nicht mehr möglich, das ist mir klar. Aber träumen wird man ja wohl dürfen …
»Herzlich willkommen bei ›The Voice of Love – Stimme der Liebe‹« steht in der Mail. Darunter das Bild eines Pärchens, Hand in Hand. Allerdings ohne Gesichter, die liegen im Schatten. »Hier zählen nur die inneren Werte. Schön, dass Sie sich bei uns angemeldet haben.«
Angemeldet?
»Timo!«, brülle ich ins Nachbarbüro. »Hast du mich bei so ’nem Ding angemeldet?«
»Was für ein Ding?« Mein Kumpel und Chef Timo erscheint in der Tür. Sein Hemd ist wie immer einen Knopf zu weit aufgeknöpft.
»Irgendwas über die Stimme der Liebe.« Ich deute auf meinen Monitor. Timo kommt näher und beginnt zu grinsen.
»Also ja«, sage ich. »Was soll der Scheiß?«
Timo setzt sich auf den Rand meines Schreibtischs. »Ganz einfach: Jetzt kannst du’s beweisen.«
»Kapier ich nicht.«
»Gestern Abend? In Norberts Kneipe?«
Ich stöhne. »Du meinst doch nicht etwa unser besoffenes Gelaber?«
Als Antwort grinst Timo bloß noch breiter.
Timo war gestern auf einem Date, einem sehr kurzen allerdings. Denn schon eine halbe Stunde später bekam ich eine Nachricht von ihm. »Bock auf ein Bier?«
Noch eine halbe Stunde später saßen wir in unserer Stammkneipe »Bei Norbert« vor dem ersten Glas. Oder in Timos Fall auch vor dem zweiten oder dritten, so glasig, wie sein Blick schon war. »Bei Norbert« ist klein, verwinkelt und das, was man wohl urig nennen würde. Und auch wenn sich ab und zu ein paar Touristen zu ihm verirren, hat Norbert noch kein Craft Beer und keine handgemachten Burger im Angebot. Zum Glück! Sobald er das Bier nicht mehr mit »ie« schreibt, würden sich vermutlich die Preise verdoppeln. Und wir nicht mehr dort abhängen.
Ich nahm einen kräftigen Schluck. »Und? Wie war das Date?«
»Wonach sieht’s denn aus?«, brummelte Timo.
»Ist nicht gut gelaufen?«
»Das kannst du laut sagen! Nach zehn Minuten hab ich gemacht, dass ich wegkam.«
Die arme Frau, nach zehn Minuten sitzen gelassen zu werden war bestimmt nicht schön. Und auch überhaupt nicht typisch für Timo. Wenn er seinen Charme-Modus anknipst, wickelt er normalerweise jede Frau um den Finger. Oder wenigstens fast jede. Im Gegensatz zu mir übrigens. Okay, er war schon den ganzen Tag mies drauf gewesen, weil es nicht gut lief mit dem Großprojekt in Hamburg. Der Lieferant hatte Verzögerungen angekündigt. Aber Timo hatte seine schlechte Laune ja wohl hoffentlich nicht an der Frau ausgelassen! Oder?
»Und warum hast du sie so schnell sitzen gelassen?«, fragte ich vorsichtig.
Er ließ sich Zeit mit der Antwort. Trank erst mal einen großen Schluck Bier und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund. Machte Norbert ein Zeichen, ihm schon mal ein neues zu zapfen. Sah zu, wie Norbert ein Glas unter den Zapfhahn schob, der erste Schaum hochstieg und goldene Flüssigkeit über den Rand lief.
Als ich schon dachte, da kommt nichts mehr, sagte er: »Wenn klar ist, dass es nicht passt, wozu soll ich dann meine Zeit verschwenden?«
»Was passte denn nicht?«
»Alles!« Timo leerte sein Glas, dann lehnte er sich ein Stück zu mir vor.
Alles. Hm. Das musste ja ein Horrordate gewesen sein … Was jetzt wohl kam? Hatte sie irgendwelche radikalen Theorien aufgestellt? Oder ihren Hund mitgebracht und ihn mit Timos Essen gefüttert? Oder die ganze Zeit gerülpst oder gefurzt oder so was? Gespannt lehnte ich mich ebenfalls ein Stück vor.
Dann sagte Timo: »Was die schon für Klamotten anhatte!«
Das war jetzt nicht sein Ernst, oder? Klar, er stand auf gestylte Frauen, aber trotzdem …
»Was hatte sie denn an? Einen Müllsack?«, fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen.
»So ähnlich.« Er drehte das leere Glas zwischen den Händen. »Aber es waren nicht bloß die Klamotten. An der war einfach alles komisch. Das wusste ich nach drei Sekunden. Das hatte ich im Urin.«
Damit lieferte er mir natürlich eine Steilvorlage.
»Also war das nur so ein Gefühl?«, fragte ich grinsend.
Wie erwartet sprang Timo sofort darauf an.
»Quatsch! Das war Instinkt, und der stimmt immer. Das ist wissenschaftlich bewiesen!«
Er zog sein Handy aus der Hosentasche und tippte und wischte darauf herum. Hoffentlich versuchte er jetzt nicht, mich zu verarschen! Er dachte sich gerne mal irgendwelche Studienergebnisse aus, allerdings hauptsächlich, wenn er eine Frau beeindrucken wollte. So nach dem Motto: 93 Prozent aller Architekten sind gute Küsser, wusstest du das? Das klappte erstaunlich oft … Aber mir brauchte er mit so was nicht zu kommen.
»Da!« Timo hielt das Handy viel zu dicht vor mein Gesicht. Ich nahm es ihm aus der Hand und erwartete das Schlimmste, aber wenigstens war es keine dieser Seiten mit einer wilden Mischung aus Promi-News, Wetter und Wissenschaft, sondern ein richtiger Zeitungsartikel. Da stand was von Instinkten und dass man sich innerhalb weniger Sekunden eine Meinung bildet, wenn man einen Menschen neu kennenlernt. Und diese Meinung ist angeblich meistens richtig.
Ich legte das Handy zurück auf den Tisch. »Ich weiß nicht. Erstens steht da meistens …«
»Ja, ja. Ausnahmen bestätigen die Regel«, unterbrach mich Timo, die Augen fest auf Norbert gerichtet. Der steuerte gerade mit dem frischen Bier auf uns zu.
»Du auch noch eins, Jonas?«, fragte er, nachdem er das Glas vor Timo abgestellt hatte. Ich nickte.
Als Norbert wieder weg war, versuchte ich es noch einmal: »Und außerdem kann der erste Eindruck doch nur nach Äußerlichkeiten gehen. Und das …«
»Das nennt man Instinkt«, behauptete Timo.
»Aber oft sind Menschen doch ganz anders, als man am Anfang denkt.«
»Ach ja? Wer denn zum Beispiel?«
»Ähm …« Dummerweise fiel mir in dem Moment kein einziges Beispiel ein. Um Zeit zu gewinnen, trank ich den letzten Schluck Bier aus meinem Glas, aber immer noch nichts.
»Na?«, fragte Timo.
»Fällt mir gerade nicht ein, aber auf jeden Fall gibt es sie! Und überhaupt: Was ist denn mit den inneren Werten?«
»Innere Werte? Meinst du die Leber und den Darm und so was?« Er lachte schallend.
»Genau. Du hast es erfasst.«
»Ja, ja, alles klar! Du bist der Typ für die inneren Werte, und ich bin ein oberflächlicher Arsch, oder was?« Seine Stimme hatte plötzlich einen scharfen Unterton. Vermutlich erwartete er jetzt energischen Widerspruch, aber den Gefallen würde ich ihm nicht tun. Stattdessen zuckte ich bloß neutral mit den Schultern.
»Jonas, du bist so ein Idealist!« Timo klatschte mir mit der flachen Hand auf den Rücken. »Aber das Aussehen ist wichtig, das ist nun mal Fakt. Ich kann mich nicht zwingen, jemanden scharf zu finden! Das passiert einfach, und zwar in dem Moment, wo ich die Frau zum ersten Mal sehe.«
»Ja, logisch«, entgegnete ich. »Aber langfristig gesehen sind die inneren Werte doch viel wichtiger.«
Hätte ich mal lieber die Klappe gehalten!
»Jonas, unser Idealist!« Jetzt springt Timo von meinem Schreibtisch und winkt in die Richtung meines Monitors mit dem Logo von »The Voice of Love«. »Damit kannst du es beweisen: Ein Date, ohne die Frau zu sehen! Nur die inneren Werte zählen. Und du hast keine Ahnung, ob sie vergammelte Zähne hat oder nach altem Schweiß riecht. Das wolltest du doch!«
»Na ja, wollen …«, murmele ich.
»Hast du gestern Abend gesagt! Dass die inneren Werte das Wichtigste sind.«
»Ja. Nein! Also schon, aber deshalb hättest du mich doch nicht gleich da anmelden müssen.«
Warum habe ich das mit den inneren Werten nur gesagt? Timo hasst es, Diskussionen zu verlieren. Das weiß ich doch.
»Na ja, Frauen ohne Zähne können ja auch nett sein«, füge ich schwach hinzu.
Timo hält mir die Hand hin. »Ein Kasten Bier. Schlag ein!«
»Was?«
»Ein Kasten Bier, wenn du auf die Art mit einer Frau zusammenkommst.«
»Definiere zusammenkommen«, sage ich.
Er stützt sich auf meinen Schreibtisch.
»Okay. Sagen wir eine, mit der du danach länger als einen Monat zusammen bist.«
»Einen Monat? Höchstens eine, mit der ich ein zweites Date will!«
»Okay, ein weiteres Date im Real Life. Also machst du mit? Ich wusste es!«
»Das habe ich nicht gesagt!«
Timo lehnt sich vor und boxt mich in den Oberarm. »Na klar machst du mit!«
Ich verdrehe die Augen und scrolle dann in der E-Mail nach unten. Finden Sie Ihre:n Seelenpartner:in, bla, bla, bla …
»Was muss man da überhaupt machen?«
Timo richtet sich auf. »Ganz einfach: Du wirst durch einen Fragebogen mit einer Frau gematcht. Und dann habt ihr ein Online-Date, aber ohne euch zu sehen.« Er plinkert albern mit den Augen. »Oh Jonas, deine inneren Werte sind so sexy!«
»Sehr witzig.«
»Die Seite hat übrigens ein Kumpel von mir aufgezogen. Noch so ein Trottel, der an die romantische Liebe glaubt.«
»Na, danke auch! Und der andere Trottel braucht jetzt ein Versuchskaninchen, oder was?«
»Quatsch! Da sind schon ganz viele Frauen angemeldet, die alle deine inneren Werte kennenlernen wollen. Und die sind ja am wichtigsten.«
»Ja, schon …«
Timo stützt sich erneut auf meinen Schreibtisch und beugt sich nach vorne, sodass sein Gesicht plötzlich dicht vor meinem ist. »Also, bist du dabei? Oder kneifst du mal wieder? Mann, Jonas, du hattest so lange kein Date mehr, dein Ding ist bestimmt schon ganz verschrumpelt!«
Ich hatte echt lange kein Date mehr, von Sex mal ganz zu schweigen. Aber das werde ich jetzt nicht kommentieren.
»Was soll das heißen, mal wieder?«, protestiere ich stattdessen. »Ich kneife nie!«
»Dann schlag ein.« Timo hält mir erneut die Hand hin. »Ein Kasten Bier. Na los!«
Ich kann da doch nicht ernsthaft mitmachen!
Andererseits: Was habe ich schon zu verlieren? Wenigstens hätte ich mal wieder ein Date. Wenn es blöd ist, so what? Wäre nicht das erste Mal. Aber vielleicht klappt es ja auch. Vielleicht lerne ich wirklich eine Frau kennen, die anders ist als alle anderen … Außerdem würde ich zu gerne Timo das dreckige Grinsen aus dem Gesicht wischen.
»Na los, Jonas.« Timos Hand wackelt vor mir hin und her. »Schlag ein!«
»Okay, ich bin dabei.« Ich schlage ein.
»Geil!« ruft Timo. In der Tür dreht er sich noch mal zu mir um. »Cool, dass du das machst. Ich bin echt gespannt, wie es läuft.«
»Ich auch …« Ich bekomme jetzt schon Zweifel. Ob das eine gute Idee war?
Aber darüber kann ich jetzt nicht weiter nachdenken, weil sich auf meinem Schreibtisch die Arbeit stapelt.
Ich bin Architekt und arbeite seit acht Monaten im renommierten Architekturbüro »Hansen und Sohn«, das Timos Vater gegründet hat. Mein absoluter Traumjob: endlich eigene Häuser entwerfen! Meine eigenen Ideen verwirklichen! Davon träume ich schon, seit ich als kleiner Junge angefangen habe, aus Lego die tollsten Gebäude zu konstruieren. Meine Mutter hat immer geflucht, weil sie überall über die Dinger gestolpert ist.
Timos Vater hat viele zahlungskräftige Kunden an Land gezogen, die sich individuell geplante Häuser auch leisten können. Und Timo ist genau der richtige Typ für die Nachfolge. Auf Empfängen und bei Networking-Events ist er voll in seinem Element. Deswegen war es für mich wie ein Sechser im Lotto, als er gefragt hat, ob ich hier anfangen will.
Ich öffne die Datei für das Youtuber-Haus, wie wir es intern nennen, weil der Auftraggeber Youtube-Millionär ist. Interiio (mit zwei i), der eigentlich Max Krüger heißt, ist mit Interior-Design-Videos bekannt (und reich) geworden. Und deshalb denkt er, er wüsste auch alles übers Bauen. Was der zum Teil für Ideen hat! Und ganz genau null Ahnung von Statik oder Baurecht. Kein Wunder, dass Timo lieber den Großauftrag in Hamburg betreut. Aber egal, was zählt, ist: Der Youtuber will ein Haus, und ich darf es bauen.
Dafür muss ich aber endlich mal anfangen, mich mit dem Entwurf zu beschäftigen.
Als ich abends aus unserem Büro in der Lübecker Innenstadt auf die Straße trete, dröhnt mir der Schädel. Ich habe vorhin fast eine Stunde lang mit Interiio telefoniert. Wenn es nach ihm ginge, dürfte ich mit dem Entwurf noch mal von vorne anfangen. (»Nein, Jonas, so geht das nicht! Das ist alles so 2019 …«) Aber was er stattdessen will, konnte er mir leider nicht sagen.
»Da muss schon was von dir kommen. Creativity, verstehst du?«
Der einzige Trost: Er bezahlt für die Extra-Arbeit.
Ich schließe mein Fahrrad auf, das wie jeden Tag am Fahrradständer Wahmstraße / Ecke Sandstraße auf mich wartet. Ich liebe es, die steile Holstenstraße hinabzusausen (einunddreißig km/h laut Fahrradcomputer), bis die Ampel unten mich ausbremst. Nur wenn es in Strömen regnet, fahre ich manchmal Bus. Oder wenn es schneit, was in Lübeck aber nur sehr selten vorkommt.
Die Ampel wird grün, und ich trete in die Pedale, um die anderen Radler abzuhängen. Der Radweg führt vorbei am Holstentor mit seinem Rasenvorplatz voller Touristen – und hört dann abrupt auf. Fahrradfahren in Lübeck hat immer ein bisschen was von Kamikaze, besonders auf der Puppenbrücke mit den lebensgroßen Götterstatuen und ungefähr zehn Zentimeter Platz für die Radfahrer neben den Autos. Oder am Lindenteller, dem Kreisverkehr mit der absurdesten Verkehrsführung in ganz Deutschland. Auswärtige Autofahrer fluchen regelmäßig, wenn sie auf der äußersten Spur nicht weiter um den Kreisverkehr herumfahren können, sondern sich plötzlich in einer stadtauswärts führenden Straße wiederfinden. Na ja, wenigstens haben sie diesen Sommer schöne Blumen in die Mitte gepflanzt.
Zehn Minuten später biege ich in »meine« Straße ein. Wenn Kunden von außerhalb hören, dass ich in Lübeck wohne, schwärmen sie immer vom Holstentor und den romantischen Gängevierteln. Ich nicke dann brav und sage: »Lübeck ist wirklich wunderschön.« Was ich nicht erwähne: Dass ich in einem grau verputzten Mehrfamilienkasten in St. Lorenz wohne, stadtnah, aber alles andere als romantisch. Ist ja nicht gerade Werbung für mich als Architekt. Und ehrlich gesagt auch kein schöner Anblick, wenn ich nach Hause komme. Aber was soll ich machen, bei den Immobilienpreisen und Mieten im Moment? Ich meine, klar hätte ich lieber ein Altstadthaus oder eine Villa in St. Gertrud! Aber das muss man pragmatisch sehen: Die Villa ist unbezahlbar, und im Vergleich zum Altstadthaus ist meine Wohnung besser gedämmt, besser geschnitten und doppelt so groß. Außerdem sehe ich sie ja eh meistens von innen.
In der Küche scheint die Abendsonne durchs Fenster.
»Siri, Ofen vorheizen, Umluft hundertachtzig Grad.«
»Ofen wird vorgeheizt«, antwortet die etwas zu weiche Frauenstimme aus dem smarten Lautsprecher auf der Fensterbank.
Anschließend hole ich eine Tiefkühlpizza aus dem Gefrierfach. Beim Anblick der knusprigen Pizza mit verlaufenem Käse auf dem Bild der Verpackung knurrt mein Magen. Kein Wunder, ich hatte heute Mittag nur ein belegtes Brötchen vom Bäcker. Und nachmittags war ich so in meine Entwürfe versunken, dass ich ans Essen überhaupt nicht mehr gedacht habe. Ich pule die Plastikverpackung von der eiskalten Pizza. Schade, dass Siri das Backen nicht auch für mich erledigen kann! Vom Geruch heißer Pizza empfangen zu werden, wenn man hungrig nach Hause kommt, das wär’s doch.
Obwohl … Eigentlich müsste das gehen, oder? Per Handy-App automatisch den Ofen starten lassen, wenn ich gerade am Holstentor vorbeiradele oder so. Die Standortbestimmung weiß ja, wo ich mich befinde. Aber wie kommt die Pizza aus dem Gefrierfach in den Ofen? Morgens schon reinlegen geht nicht, dann wird die ja komplett wabbelig. Hm … Als Erstes müsste die Tür des Gefrierschranks aufgehen. Dann wird das Fach ausgefahren und irgendwie schräg gekippt, und anschließend gleitet die Pizza über eine Rutsche direkt in den Ofen. Selbstschließende Ofentüren gibt es schon, das weiß ich … Oder zur Not ein paar Gewichte anhängen, die dann runterfallen … Und am Schluss startet Siri automatisch den Backprozess.
Ich muss grinsen. So eine Maschine würde natürlich die Hälfte meiner nicht gerade großen Küche einnehmen, aber das wäre es wert. Das echte Wallace-und-Gromit-Feeling! Die Filme habe ich als Kind geliebt, und irgendwie finde ich sie immer noch cool.
»Der Ofen ist vorgeheizt.« Siris Stimme holt mich in die Realität zurück. Und weil ich kein Erfinder aus Knete bin wie Wallace, schiebe ich die Pizza ganz oldschool mit der Hand in den Ofen.
Dann hole ich einen Teller, eine Gabel, ein Messer und ein Glas aus dem Schrank, fülle Letzteres mit Wasser aus der Leitung und setze mich auf einen meiner drei Küchenstühle, um zu warten.
Sieht ziemlich einsam aus, der eine Teller auf dem großen Tisch. Und dann auch noch Tiefkühlpizza … Was für ein Klischee! Mit einer Freundin würde ich jetzt vielleicht was Leckeres essen gehen. Bei einem der kleinen Italiener in der Innenstadt oder so. Und ihr dort von meiner coolen Pizzamaschine erzählen. Sie würde sagen: »Du immer mit deinen verrückten Ideen«, und mich dabei liebevoll ansehen … Unsere Blicke versinken ineinander … Die Luft zwischen uns fängt an zu flirren … Unsere Lippen nähern sich …
»Backvorgang in zwei Minuten beendet«, verkündet Siri.
Ich schüttele kurz, aber heftig den Kopf. Fange ich jetzt etwa schon an mit Tagträumen? Zum Glück hat das keiner mitgekriegt!
Aber endlich mal wieder eine Freundin zu haben wäre wirklich schön. Eine Zeitlang habe ich sehr intensiv gesucht, Blind Dates gehabt mit einer Freundin meiner Schwester, einer Freundin der Freundin meines Kumpels Steffen und der Tochter eines Nachbarn meiner Eltern. Speeddating in einem Szenelokal. Und natürlich Onlinedating. Aber das war alles so extrem verkrampft! Man trifft sich und checkt die ganze Zeit ab, ob die da gegenüber die Frau fürs Leben ist. Deshalb habe ich das erst mal auf Eis gelegt.
Stattdessen bin ich jetzt bei einer Seite angemeldet, bei der es um die »inneren Werte« geht. Das wird bestimmt total unverkrampft. (Nicht!) Danke, Timo.
Aber zurück kann ich auch nicht mehr, sonst kriege ich noch jahrelang von Timo zu hören, dass ich gekniffen habe. Vielleicht sollte ich es einfach sportlich sehen? Schließlich geht es um eine Wette, und die zu gewinnen sollte nicht allzu schwer sein. Dafür brauche ich nur ein zweites Date. Machbar! Falls die Frau nicht völlig furchtbar ist, jedenfalls. Außerdem kann ich ja ein paar von Timos Flirttechniken kopieren. Im Real Life habe ich das nur ein einziges Mal versucht, mit dem Ergebnis, dass die Frau einen Lachanfall gekriegt hat. Weil ich angeblich »so komisch geguckt« habe. Aber hier kann die Frau mein Gesicht ja nicht sehen.
»Backvorgang beendet«, verkündet Siri.
Ich hole die aufgebackene Pizza aus dem Ofen, schneide sie in handliche Stück und gehe dann mit dem Teller ins Wohnzimmer. Dort setze ich mich aufs Sofa und fahre den Laptop hoch. Mal sehen, worauf ich mich da eingelassen habe.
»The Voice of Love« steht in großen Buchstaben oben auf der Seite. Und darunter »Die Stimme der Liebe«.
Ich beiße in die Pizza und klicke auf »Weitere Infos«. »Lernen Sie den echten Menschen kennen, ohne Ablenkung durch Aussehen und Status.« Ja, ja. Und wie soll das funktionieren? Ah, da steht es. Wie Timo gesagt hat: Man muss einen Fragebogen ausfüllen, und der Computer findet dann angeblich das perfekte Match. Wie er das macht, aufgrund welcher Kriterien, wird nicht erklärt. War ja klar.
Mit dieser Frau soll ich mich dann online treffen und unterhalten – aber ohne Video, logisch. Und Infos zu Beruf und finanziellen Verhältnissen sind ebenfalls verboten.
»Reden Sie über das, was Sie lieben oder hassen, was Sie langweilt und wofür Sie brennen.«
Ähm … Wie soll das denn gehen? Meine Arbeit ist doch das, wofür ich brenne! Und die darf ich ja nicht erwähnen.
Okay, und dann ist da noch das Lübeck-Panorama aus Lego, das ich gerade baue. Ich sehe zu dem Modell hinüber, das auf einem IKEA-Tisch an der Wand steht. Es ist fast fertig, nur die Jakobikirche mit dem Koberg fehlt. Das Panorama ist mein erstes Großprojekt, aber auf dem Regal darüber befinden sich schon mehrere Altstadthäuser. Die habe ich erst im Real Life fotografiert und dann nachgebaut. Und natürlich die beiden Holstentorlöwen, die inzwischen auf der Fensterbank stehen. Die runden Köpfe und die wallenden Mähnen waren richtig schwer, aber am Schluss hab ich es gut hingekriegt. Für die Mähnen habe ich kleine, runde Einersteine benutzt, die ich in einem Spezialladen (eine echte Fundgrube!) aufgestöbert habe. Inzwischen besitze ich Unmengen von verschiedenen Steinen, einsortiert in durchsichtige Plastikschubladen. Die dazugehörigen Regale bedecken die gesamte seitliche Wohnzimmerwand. (Wenn ich gerade nicht baue, verschwinden sie hinter einem Vorhang.) Es ist einfach praktisch, eine große Auswahl zu haben. Und wenn ich ein neues Modell am Computer plane und dann in stundenlanger Tüftelarbeit ein Bauwerk entsteht … Dabei vergesse ich alles andere.
Ich nehme mir ein zweites Pizzastück und beiße hinein.
Der Grund, warum ich vor einigen Jahren meine Legosteine wieder hervorgekramt habe, ist meine Tochter Leonie, die jede zweite Woche bei mir wohnt. Also, sie war der Grund, denn vor ein paar Monaten hat sie plötzlich beschlossen, dass Lego uncool ist. Teenager halt … Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass ich sie noch mal dafür begeistern kann.
Aber ich lasse mich gerade ablenken, merke ich. Ich brauche ja immer noch ein Thema für das erste Date! Und dafür ist weder eine Teenager-Tochter noch meine Lego-Begeisterung das Richtige.
Natürlich würde ich Leonie nicht verheimlichen, wenn ich danach gefragt werde. Aber ich würde sie auch nicht sofort erwähnen. Es soll ja Frauen geben, die eine pubertierende Tochter nicht so furchtbar romantisch finden … Zumal in meinem Alter niemand damit rechnet. Leonie war das Ergebnis eines geplatzten Kondoms, als ich achtzehn war – noch so eine Story, die sich definitiv nicht für ein erstes Date eignet.
Und Lego? Ein einziges Mal habe ich einer Frau davon erzählt, aber da hätte ich auch sagen können: »Ich bin übrigens Massenmörder« oder »Ich wohne noch bei meiner Mutter«. Vermutlich wäre sie genauso schnell weg gewesen.
Ich muss dringend ein paar Themen googeln! Oder … Ah, anscheinend gibt es auch vorgegebene Fragen, die man beim Date als Gesprächsimpuls verwenden kann. Gesprächsimpuls! Was für ein Wort!
Ich greife nach einem weiteren Pizzastück und scrolle. Äh … Moment mal, da steht, wir müssen fünf Online-Dates machen. Wieso denn fünf? Timo hat doch gesagt … Oh shit! Timo, der Sack! Er hat gesagt »ein weiteres Date im Real Life«. Fünf Dates und danach noch ein weiteres? Wie soll ich das denn schaffen?
Okay, eins nach dem anderen, Jonas. Ich scrolle ganz nach unten zu dem Fragebogen, den ich beantworten muss. Fast fünfzig Fragen! Als ob ich bei der Arbeit nicht schon genug Formulare fürs Bauamt ausfüllen müsste! Nur dass da dann so was steht wie »Quadratmeterzahl« und nicht »Was würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?«. Fragen nach der Quadratmeterzahl sind mir eindeutig lieber, die kann man ausrechnen.
Ich werfe einen sehnsüchtigen Blick auf mein Lübeck-Panorama. Wie viel lieber würde ich daran weiterbauen …
Nein, Konzentration jetzt! Der Fragebogen. Als Erstes brauche ich einen Nickname. Wie soll ich mich nennen? Bloß nicht lange überlegen. Ich tippe »Brick« ein, also Legostein auf Englisch, aber der Name ist schon vergeben.
Geburtsjahr dazu? Ja, »Brick93« akzeptiert er.
Nur noch 49 Fragen to go …
Seufzend wende ich mich der nächsten Frage zu.
Am nächsten Morgen stehe ich am Anleger in Travemünde und warte auf die kleine Autofähre, die von hier aus zum Priwall übersetzt. Die Sonne scheint strahlend vom blauen Himmel, aber trotzdem flattern meine Haare im Wind, wie fast immer an der Ostsee. Die Luft riecht nach Salz und Algen, und noch ist es so kühl, dass ich meinen Kapuzenpulli anhabe, aber den werde ich spätestens heute Mittag ausziehen.
Ich ziehe das Handy aus der Tasche. Noch ein paar Minuten, bis die Fähre kommt … Und bei den Nachrichten: nichts. Anzug-Tarzan hat sich nicht mehr gemeldet. Dabei haben Mareike und ich uns gestern Abend noch so schöne Sprüche überlegt, die ich ihm schreiben könnte! Zum Beispiel, ob er eine Gummiallergie hat (wegen der Stiefel). Und das war noch der harmloseste. Wir sind vor Lachen fast erstickt. Was aber auch an der Flasche Sekt liegen könnte, die Mareike nach dem Film noch im Kühlschrank gefunden hat. Zum Glück war es nur eine, sonst hätten wir die Nachricht womöglich abgeschickt!
Dabei bin ich heute Morgen eigentlich nur froh, wenn ich mit dem Typen nie wieder was zu tun habe.
Ich seufze. Früher war das alles irgendwie einfacher mit dem Dating. Im Studium, bei den Studentenpartys … Als Ryan und ich die ganze Nacht vor der Tür durchgequatscht haben, um uns dann bei Sonnenaufgang das erste Mal zu küssen … Ich seufze noch einmal. Nicht daran denken, Lisa!
Es klingelt schrill, und die Schranke geht hoch. Die Fähre hat angelegt. Alles an ihr ist eckig: die weißen Seitenwände mit den Dachvorsprüngen, die ein bisschen aussehen wie Wartehäuschen, der Turm mit der Steuerkabine, auf dem die Deutschland- und die EU-Fahne flattern, und natürlich die dunkelgraue Fläche, auf der die Autos stehen. Einige wenige Fußgänger kommen von Bord, und ich trete einen Schritt zur Seite, um den Weg freizumachen, genauso wie die Leute vor und hinter mir. Nur eine Touristin ist so in das Gespräch mit ihrem Mann vertieft, dass sie nichts mitkriegt. Ein Mann mit Arbeitshose brummelt einen unverständlichen Fluch, während er sich an ihr vorbeischiebt, und sie sieht ihm irritiert hinterher.
Dann setzen sich die Wartenden in Bewegung. Es sind hauptsächlich ältere Paare und ein paar Familien mit Kindern. Klar, die meisten Touristen sitzen um diese Uhrzeit gerade mal beim Frühstück, oder sie räkeln sich noch in ihren Betten … Die haben es gut.
Auch einige Fahrradfahrer und ein paar Autos fahren auf die Fähre. Eine schon ziemlich verblasste rot-weiße Kette, gehalten von niedrigen Pfosten, trennt den Fußweg von den drei Fahrspuren für die Autos ab. Von denen wird im Moment zwar nur eine benötigt, aber später am Tag wird es hier brechend voll sein. Wie immer in den Sommerferien.
»Moin, Lisa.« Eine tiefe Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Ewald, der Fährmann, dirigiert breitbeinig und in neongelber Arbeitsjacke die Autos und Fahrräder auf die richtige Spur.
»Moin, Ewald«, grüße ich zurück.
»Wo geit die dat, min Deern?«, ruft er und winkt gleichzeitig einen weißen Opel Corsa energisch auf die mittlere Spur. Beim ersten Mal habe ich den Fehler gemacht, während unserer Unterhaltung stehen zu bleiben, und hatte prompt einen Rollator in den Hacken, also trotte ich langsam weiter und antworte dabei laut: »Gut, Ewald! Mir geht’s gut! Und dir?«
»Watt mutt, datt mutt, nä?«, sagt er über die Schulter.
»Klar!«
Ich gehe weiter nach hinten durch – oder vielmehr nach vorne, wenn man in Fahrtrichtung denkt. Inzwischen hat sich der Anleger geleert, und Ewald drückt auf einen Knopf an der Konsole, die sich am Rand der Fähre befindet. Es klingelt erneut, die Schranke am Ufer senkt sich, die Klappe der Fähre fährt hoch, und dann legen wir ab. Ich schiebe mich an den anderen Passagieren vorbei bis nach vorne zur Reling. Der Wind zerrt hier noch stärker an meinen Haaren, und ich fummele ein Haargummi aus der Hosentasche und binde sie zu einem Zopf zusammen. Dann atme ich tief die salzige Luft ein. Links von mir liegt die Vorderreihe mit ihren aneinandergeschmiegten Häuschen. Mein Blick schweift weiter übers Wasser bis zu der Stelle, wo die Trave in die Ostsee mündet und die weiße Silhouette des Maritim-Hochhauses mit dem blauen Himmel um die Wette strahlt. Und noch weiter, ans gegenüberliegende Priwallufer, wo hinter dunkelgrünen Bäumen die Masten des Museumsschiffes »Passat« hervorluschern.
»Na, warst gestern aufm Swutsch?«
Ich zucke zusammen. Ewald steht neben mir. Klar, er muss gleich das Anlegemanöver durchführen, aber dass er mich nach dem morgendlichen Grüßen noch mal anspricht, ist noch nie vorgekommen.
»Wie kommst du darauf?«, frage ich vorsichtig.
Ewald grinst. »Renate hett di sehn, an de Vorderreihe. Mit so ’nem schmucken Jung.«
Oh Mann, Travemünde ist wirklich ein Dorf! Renate arbeitet auch als Fährfrau, und wenn die mich gestern mit Tarzan93 in der Eisdiele gesehen hat, dann weiß es heute Morgen natürlich schon die ganze Besatzung.
»Ja, stimmt«, sage ich. Und weil Ewald so erwartungsvoll guckt, füge ich entschieden hinzu: »Aber das war nix.«
»Nee? Na, hol man liekers de Ohren stief, nä?«
»Na klar«, antworte ich.
Was bleibt mir auch anderes übrig, als die Ohren steif zu halten?
Auf dem Weg durch die Mecklenburger Landstraße komme ich wie jeden Tag am Haus von Ryans Mutter Elisabeth vorbei, und wie jeden Tag werde ich automatisch langsamer. Roter Backstein mit Holzbalken dazwischen, weiße Fenster und Türen … Das alte Kapitänshaus ist wunderschön. Auch von innen: Elisabeth hat viele alte Möbel selbst aufgearbeitet, und genau wie in unserem Ganghäuschen ziehen sich freiliegende Holzbalken unter der Decke entlang. Sie hat mich einmal herumgeführt, eine warmherzige Frau mit langen, grauen Haaren, die mich gleich umarmt hat wie eine alte Freundin.
Also, nicht, dass ich oft hier gewesen wäre. Ehrlich gesagt, war es nur ein einziges Mal, nach einem Strandtag mit Ryan. In den Semesterferien sind wir oft zum Priwallstrand gefahren, er zum Surfen und ich zum Schwimmen, und danach lagen wir stundenlang im warmen Sand, Haut an Haut, Ryans Hand auf meinem Bauch, seine Lippen auf meinen …
Irgendwo kläfft ein Hund, und ich merke plötzlich, wie langsam ich geworden bin. Ich muss doch zur Arbeit, und stattdessen starre ich das Elternhaus von meinem Ex an!
Dabei bin ich mir gar nicht sicher, ob Ryans Mutter noch hier wohnt. Seit einigen Wochen schon wirkt das Haus verlassen, die Vorhänge sind mitten am Tag zugezogen und die Blumenkübel vor der Tür leer …
Aber egal! Ich beschleunige meine Schritte und richte den Blick wieder nach vorne. Das geht mich schließlich nichts mehr an.