Blinde Liebe (Vollständige Ausgabe) - Wilkie Collins - E-Book

Blinde Liebe (Vollständige Ausgabe) E-Book

Wilkie Collins

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  • Herausgeber: FV Éditions
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Verschwörungen, Komplotte, Intrigen...und eine verwirrende Liebe zwischen Iris und Lord Harry. Wilkie Collins war ein britischer Schriftsteller und Verfasser der ersten Mystery Thriller.

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Table of Contents

Copyright

WILKIE COLLINS

Blinde Liebe - Band 1

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel.

Dreizehntes Kapitel.

Vierzehntes Kapitel.

Fünfzehntes Kapitel.

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Achtundzwanzigstes Kapitel.

Neunundzwanzigstes Kapitel.

Dreißigstes Kapitel.

Einunddreißigstes Kapitel.

Zweiunddreißigstes Kapitel.

Dreiunddreißigstes Kapitel.

Vierunddreißigstes Kapitel.

Fünfunddreißigstes Kapitel.

Sechsunddreißigstes Kapitel.

Siebenunddreißigstes Kapitel.

Achtunddreißigstes Kapitel.

Blinde Liebe - Band 2

Vierzigstes Kapitel

Einundvierzigstes Kapitel

Zweiundvierzigstes Kapitel

Dreiundvierzigstes Kapitel

Vierundvierzigstes Kapitel

Fünfundvierzigstes Kapitel

Sechsundvierzigstes Kapitel

Siebenundvierzigstes Kapitel

Achtundvierzigstes Kapitel

Neunundvierzigstes Kapitel

Fünfzigstes Kapitel

Einundfünfzigstes Kapitel

Zweiundfünfzigstes Kapitel

Dreiundfünfzigstes Kapitel

Vierundfünfzigstes Kapitel

Fünfundfünfzigstes Kapitel

Sechsundfünfzigstes Kapitel

Siebenundfünfzigstes Kapitel

Achtundfünfzigstes Kapitel

Neunundfünfzigstes Kapitel

Sechzigstes Kapitel

Einundsechzigstes Kapitel

Zweiundsechzigstes Kapitel

Dreiundsechzigstes Kapitel

Vierundsechzigstes Kapitel

Fünfundsechzigstes Kapitel

Sechsundsechzigstes Kapitel

Siebenundsechzigstes Kapitel

Achtundsechzigstes Kapitel

Neunundsechzigstes Kapitel

Siebenzigstes Kapitel

Einundsiebenzigstes Kapitel

Zweiundsiebenzigstes Kapitel

Dreiundsiebenzigstes Kapitel

Letztes Kapitel

Copyright

Copyright © 2014 / FV Éditions

Bild : Kriss Szkurlatowski@http://www.12frames.eu/

ISBN 978-2-36668-913-6

Alle Rechte Vorbehalten

WILKIE COLLINS

(1824-1889)

Blinde Liebe - Band 1

Blinde Liebe - Band 2

Blinde Liebe - Band 1Erstes Kapitel

An einem trüben Morgen des Jahres 1881 störte bald nach Sonnenaufgang eine besondere Botschaft die Ruhe Dennis Howmores in seiner Wohnung, die in dem freundlichen irischen Städtchen Ardoon gelegen war.

Augenscheinlich wohlbekannt mit den Räumlichkeiten stieg der Überbringer die Treppe hinauf, klopfte an die Tür von Howmores Schlafzimmer und richtete, ohne zu öffnen, mit lauter Stimme seinen Auftrag aus:

„Der Herr will Sie sprechen; Sie sollen ihn nicht zu lange warten lassen!” Der, welcher diesen gemessenen Befehl schickte, war Sir Giles Mountjoy von Ardoon, Baronet und Bankier, und der Empfänger sein erster Kommis. Schleunigst kleidete sich Dennis Howmore an und eilte in die Privatwohnung seines Chefs, welche in der Vorstadt von Ardoon lag.

Er fand Sir Giles in einem aufgeregten und beunruhigten Gemütszustand. Ein Brief lag geöffnet auf des Bankiers Bett; die Nachtmütze saß verschoben und zerdrückt auf seinem Kopf; er war in so großer Erregung, dass er den Guten-Morgen-Gruß Howmores gar nicht beachtete.

„Dennis, ich habe einen Auftrag für Sie; die Sache muss aber ganz geheim gehalten werden und erlaubt keinen Aufschub.”

„Hängt sie in irgendeiner Weise mit dem Geschäft zusammen, Sir?” Der Bankier fuhr ungeduldig auf.

„Wie können Sie solch ein höllischer Narr sein, Dennis, und glauben, dass es sich in dieser frühen Morgenstunde um eine Geschäftsangelegenheit handelt? Wissen Sie den ersten Meilenstein auf dem Weg nach Garvan?”

„Ja, Sir.”

„Gut. Dann gehen Sie sogleich dorthin und tragen Sorge, dass Sie niemand dort erblickt. Sehen Sie hinter dem Stein nach, und wenn Sie da auf dem Boden einen Gegenstand entdecken, welcher hingelegt zu sein scheint, so bringen Sie ihn mir. Vergessen Sie aber dabei nicht, dass der ungeduldigste Mann in ganz Irland auf Sie wartet.”

Nicht ein einziges erklärendes Wort folgte diesem sonderbaren Auftrage.

Dennis Howmore machte sich sogleich auf den Weg, während ihm als echtem Irländer allerlei Verschwörungs- und Mordgeschichten im Kopf herumgingen. Sein Chef war keine beliebte Persönlichkeit. Sir Giles hatte stets seine Steuern gezahlt, wenn sie fällig waren, und war mit Freuden bereit, - und das war noch schlimmer - anzuerkennen, was England im Laufe der letzten fünfzig Jahre für Irland getan hatte. Wenn irgendetwas Verdächtiges an dem geheimnisvollen Gegenstand, den er zu suchen ausgesandt war, sein Misstrauen rechtfertigen sollte, so beschloss Dennis, vorsichtig Umschau zu halten nach einem etwaigen Flintenlauf, wenn er auf seinem Heimweg nach der Stadt an einer Hecke vorüber musste.

Bei dem Meilenstein angekommen, entdeckte er hinter demselben auf dem Boden nur einen einzigen Gegenstand - ein Stück von einer zerbrochenen Tasse.

Ganz natürlich zögerte Dennis, dies mitzunehmen, denn es schien ihm einfach ganz unmöglich, dass die ernsten und genauen Verhaltungsmaßregeln, die er erhalten hatte, mit solch einer Scherbe in Beziehung stehen könnten. Doch lautete sein Auftrag so bestimmt, wie ihn Ton, Ausdruck und Sprache nur irgend geben konnten. Die einfache Befolgung der empfangenen Befehle schien das richtigste zu sein, selbst auf die Gefahr hin, dass er von seinem Herrn, wenn er mit einer zerbrochenen Tasse in der Hand zurückkam, in einer Weise empfangen würde, die seiner Selbstachtung zu nahe trat.

Der Erfolg jedoch rechtfertigte diese seine Bedenken durchaus nicht. Es konnte ihm gar kein Zweifel bleiben, dass Sir Giles auf dem anscheinend ganz wertlosen Fund hinter dem Meilenstein großes Gewicht legte. Nachdem er die Scherbe mehrere Male genau untersucht hatte, sprach er die Absicht aus, Dennis auf einen zweiten Botengang zu schicken, ohne sich auch jetzt zu einer näheren Erklärung seiner unverständlichen Aufträge herbeizulassen.

„Wenn ich mich nicht irre”, begann er, „sind die Lesezimmer unserer Staatsbibliothek von morgens neun Uhr an geöffnet. - Nicht wahr? - Gut! Dann gehen Sie mit dem Schlag neun dorthin.” Er hielt im Reden inne und zog den Brief zu Rate, der geöffnet auf seinem Bett lag. „Lassen Sie sich”, fuhr er nach einer Weile fort, „von dem Bibliothekar den dritten Band von Gibbons „Niedergang und Fall des römischen Kaiserreiches” geben. Darin schlagen Sie die Seiten achtundsiebenzig und neunundsiebenzig auf. Finden Sie zwischen diesen beiden Blättern ein Stück Papier, so nehmen Sie es an sich, aber ohne dass es jemand sieht, und bringen Sie es mir. Das ist alles, Dennis, und vergessen Sie dabei nicht, dass ich nicht eher meine Ruhe finden kann, bis ich Sie wiedersehe.”

Für gewöhnlich war Dennis durchaus nicht der Mann darnach, auf dem zu bestehen, was er seiner Würde schuldig sein zu müssen glaubte. Doch war er andererseits wieder ein sehr empfindliches menschliches Wesen, das sich wohlbewusst war der Bedeutung, welche ihm seine verantwortliche Stellung im Geschäft verlieh. Die sonderbare und geradezu beleidigende Zurückhaltung Sir Giles', für die er nicht einmal ein Wort der Entschuldigung hatte, erreichte jetzt die Grenze der Geduld Howmores.

„Ich sehe mit Bedauern”, sagte er, „dass ich meinen Platz in der Achtung meines Chefs verloren habe. Der Mann, dem Sie die Oberaufsicht über Ihre Angestellten und über Ihre Geschäfte anvertrauen, hat nach meiner unmaßgeblichen Meinung auch eine gewisse Berechtigung,- unter den gegenwärtigen Verhältnissen - ins Vertrauen gezogen zu werden.”

Jetzt war der Bankier seinerseits beleidigt.

„Ich gestehe Ihnen gern diese Berechtigung zu”, antwortete er, „so lange Sie an Ihrem Pult in meinem Geschäft sitzen. Aber gerade in diesen unruhigen Zeiten der Arbeitseinstellungen und anderer schlimmen Dinge ist dem Chef ein Vorrecht geblieben - er hat nicht aufgehört, ein Mensch zu sein, und hat daher auch nicht das Recht des Menschen verwirkt, Geheimnisse für sich zu haben. Ich kann in meinem Verhalten Ihnen gegenüber durchaus nichts finden, was Ihnen irgendeinen stichhaltigen Grund gewähren könnte, sich zu beklagen.”

Auf diese Abfertigung hin verbeugte sich Dennis stillschweigend und ging weg.

Bedeutete diese stumme Ergebung in sein Schicksal, dass er befriedigt war? Durchaus nicht, sie bedeutete gerade das Gegenteil. Dennis hatte sich überlegt, dass diese Geheimnisse des Sir Giles Mountjoy früher oder später aufhören würden, Geheimnisse für den ersten Kommis Sir Giles Mountjoys zu sein.

Zweites Kapitel

Den erhaltenen Befehlen getreulich nachkommend, ließ sich Dennis den dritten Band von Gibbons großem Geschichtswerk geben und fand zwischen der achtundsiebenzigsten und neunundsiebenzigsten Seite diesmal, was ihm der Beachtung mehr wert erschien.

Es war ein Blatt sehr feinen Papiers, von einer Anzahl kleiner Löcher durchbohrt, die ganz verschieden an Größe und mit der peinlichsten Sorgfalt ausgeführt waren. Nachdem er sich, sobald der Bibliothekar ihm den Rücken zugewendet, in den Besitz dieses merkwürdigen Gegenstandes gesetzt hatte, dachte Dennis Howmore über seinen Fund nach.

Ein Blatt Papier, zu irgendeinem bestimmten, unbekannten Zweck mit Löchern versehen, deren Bedeutung er nicht erraten konnte, war an sich schon ein höchst verdächtiges Ding. Und was flüsterte dieser Verdacht dem nachgrübelnden Geist des argwöhnischen Mannes in Südwest-Irland vor der Unterdrückung der Landliga zu? Ganz ohne Frage das Wort - Polizei.

Auf dem Rückweg zu seinem Herrn machte Dennis einen Besuch bei einem alten Freund, der als Zeitungsschreiber mancherlei Kenntnisse und große Erfahrung besaß. Aufgefordert, das merkwürdige Stück Papier zu betrachten und den Gegenstand zu bestimmen, womit diese Löcher gemacht worden seien, zeigte sich die zu Rate gezogene Autorität des in sie gesetzten Zutrauens würdig. Dennis verließ das Zeitungsbüro als ein erleuchteter Mann; er kannte jetzt die Geheimnisse Sir Giles', und das Gefühl der Erleichterung, das ihn bei diesen Gedanken überkam, machte sich höchst unehrerbietig in den Worten Luft: „Jetzt hab' ich ihn.”

Der Bankier blickte ratlos von dem Papier auf seinen ersten Kommis und von diesem wieder auf das Papier zurück und sagte endlich:

„Das verstehe ich nicht. Verstehen Sie es vielleicht?”

Dennis bewahrte immer noch den Schein der Unterwürfigkeit und bat um die Erlaubnis, eine Vermutung äußern zu dürfen. Dieser durchlöcherte Papierbogen sah nach seiner Meinung wie ein Rätsel aus.

„Wenn wir noch einen oder zwei Tage warten”, riet er seinem Herrn, „werden wir den Schlüssel dazu schon bekommen.”

Am nächsten Tag ereignete sich nichts. Am zweiten Tag aber stellte ein zweiter Brief eine kühne Anforderung an den nicht sehr geduldigen Sir Giles Mountjoy.

Schon das Kuvert war ein Rätsel in diesem Fall; das Postzeichen war „Ardoon”. Mit anderen Worten, der Schreiber hatte den Postmann als Boten benützt; während er oder sein Helfershelfer wirklich in der Stadt sich aufhielt, hatte er doch den Brief auf der Post aufgegeben, die nur ein paar Schritte von dem Bankhause entfernt lag. Der Inhalt bot ein undurchdringliches Rätsel; die Schrift machte den Eindruck, als ob sie von einem Verrückten herrührte; die Sätze befanden sich in einem unglaublichen Zustand der Verwirrung, und die Worte waren so verstümmelt, dass man sie gar nicht verstehen konnte. Diesmal lagen die Verhältnisse so, dass Sir Giles nicht anders konnte, als seinen ersten Kommis in das Geheimnis einzuweihen.

„Wir wollen mit dem Anfang beginnen”, sagte er. „Hier ist der Brief, den Sie auf meinem Bette liegen sahen, als ich Sie das erste Mal holen ließ. Ich fand ihn auf meinem Tisch, als ich an jenem Morgen erwachte. Wie er dorthin gekommen ist, das weiß ich nicht. Lesen Sie ihn.”

Dennis las wie folgt:

„Sir Giles Mountjoy! Ich habe Ihnen eine Eröffnung zu machen, welche ein Glied Ihrer Familie nahe berührt. Bevor ich wagen kann, mich zu erklären, muss ich versichert sein, dass ich Ihnen trauen darf, und als Beweis hiefür fordere ich von Ihnen, dass Sie die folgenden zwei Bedingungen erfüllen und zwar ohne den geringsten Zeitverlust. Ich darf Ihnen nicht meinen Namen und meine Adresse nennen. Die geringste Unvorsichtigkeit meinerseits könnte sehr verhängnisvoll werden für den wahren Freund, der diese Zeilen schreibt. Wenn Sie meine Warnung nicht beherzigen, werden Sie es bis an Ihr Lebensende bedauern.”

Die beiden in dem Briefe genannten Bedingungen brauchen wir nicht noch einmal mitzuteilen. Von ihnen ist schon berichtet worden bei Gelegenheit der Funde, die hinter dem Meilenstein und zwischen den Seiten von Gibbons Geschichte gemacht wurden. Sir Giles war schon zu dem Schluss gekommen, dass ein Anschlag auf sein Leben und vielleicht auf Beraubung des Bankhauses im Entstehen begriffen sei. Der vernünftigere Dennis wies auf das durchlöcherte Papier und das unverständliche Schreiben hin, welches der Bankier heute morgen erhalten hatte, und sagte:

„Wenn wir herausbekommen können, was dies bedeutet, dann werden Sie besser imstande sein, sich eine richtige Meinung zu bilden.”

„Und wer wird das können?” fragte der Bankier.

„Ich kann es nur versuchen, Sir”, lautete die bescheidene Entgegnung, „wenn Sie in einem Versuche meinerseits nicht etwa eine Anmaßung sehen.”

Sie Giles gab seine Zustimmung zu dem vorgeschlagenen Versuche durch stummes und spöttisches Nicken mit dem Kopfe zu erkennen.

Aber Dennis war ein vorsichtiger Mann und machte deshalb auch nicht gleich vollständigen Gebrauch von der ihm privatim gewordenen Belehrung; das hätte seinem Chef doch verdächtig vorkommen können. Er trug vielmehr Sorge, dass der erste Versuch ein erfolgloser war. Dann fragte er bescheiden, ob er noch einen zweiten Versuch machen dürfe, und diesen zweiten Versuch ließ er zu einem glücklichen Ende kommen. Er hob das durchlöcherte Papier in die Höhe und legte es sorgfältig auf den Brief, der das unverständliche Geschreibsel enthielt. Worte und Sätze erschienen jetzt durch die Löcher in der richtigen Anordnung und Folge. Der Inhalt war an Sir Giles gerichtet und lautete folgendermaßen:

„Ich spreche Ihnen meinen Dank aus für die pünktliche Erfüllung der gestellten Bedingungen. Sie haben zu Ihrem eigenen Besten mich zufriedengestellt. Gleichwohl ist es leicht möglich, dass Sie noch Bedenken tragen, einem Menschen zu trauen, der noch nicht imstande ist, Sie mit seiner Person bekannt zu machen. Aber die gefährliche Lage, in der ich mich befinde, zwingt mich, Sie noch um zwei oder drei Tage Frist zu bitten, bevor ich ohne Gefahr für mich eine Begegnung mit Ihnen herbeiführen und mich so Ihnen zu erkennen geben kann. Fassen Sie sich daher, bitte, in Geduld und wenden Sie sich um keinen Preis um Rat oder Schutz an die Polizei.”

„Diese letzten Worte”, erklärte Sir Giles, „sind entscheidend! Je eher ich unter dem Schutz des Gesetzes stehe, um so besser ist es für mich. Tragen Sie meine Karte auf das Polizeiamt.”

„Darf ich mir erst ein paar Worte erlauben, Sir?”

„Soll das heißen, dass Sie mit mir nicht übereinstimmen?”

„Ja, Sir.”

„Sie sind Ihr Lebtag eigensinnig gewesen, Dennis, und das nimmt zu, je älter Sie werden. Nun, das tut nichts; sprechen Sie sich nur deutlich aus. Wer ist denn nach Ihrer Ansicht die Person, auf welche es in diesen verwünschten Briefen abgesehen ist?”

Dennis Howmore nahm den ersten der beiden Briefe in die Hand und zeigte auf die Anfangsworte: „Sir Giles Mountjoy, ich habe Ihnen eine Eröffnung zu machen, welche ein Glied Ihrer Familie nahe berührt.” Dennis wiederholte noch einmal nachdrücklich die Worte: „ein Glied Ihrer Familie.”

Sein Chef sah ihn erstaunt und fragend an.

„Ein Glied meiner Familie?” wiederholte nun Sir Giles seinerseits. „Nun, mein Freund, was denken Sie darüber? Ich bin ein alter Junggeselle und habe keine Familie.”

„Ihr Bruder ist auch noch da, Sir.”

„Mein Bruder lebt in Frankreich - ganz außer dem Bereiche jener Schurken, die mich bedrohen. Ich wollte, ich wäre bei ihm.”

„Ihr Bruder hat auch zwei Söhne, Sir Giles.”

„Gewiss; was ist da aber zu befürchten? Mein Neffe Hugh ist in London und hält sich von allen politischen Dingen fern. Ich hoffe über kurz oder lang von ihm zu hören, dass er sich verheiraten wird, wenn das beste und niedlichste Mädchen in England ihn haben will. Was ist jetzt dabei Schlimmes?”

Dennis erklärte:

„Ich will nur sagen, Sir, dass ich bei meinen Worten an Ihren andern Neffen gedacht habe.” Sir Giles lachte.

„Arthur in Gefahr?” rief er aus. „Der harmloseste junge Mann, der jemals gelebt hat? Das Schlimmste, was man von ihm sagen kann, ist, dass er sein Geld zum Fenster hinauswirft infolge seiner verrückten Idee, in Kerry ein Gut zu pachten.”

„Entschuldigen Sie, Sir Giles, dort, wo er sich jetzt befindet, ist aber nicht viel Gelegenheit, sein Geld wegzuwerfen. Niemand wird wagen, sein Geld zu nehmen. Ich traf gestern auf dem Markt einen von Herrn Arthurs Nachbarn. Ihr Neffe ist boykottiert.”

„Um so besser!” erklärte der hartnäckige Bankier. „Dann wird er wenigstens bald von der Verrücktheit, den Pächter zu spielen, geheilt werden und an den Platz zurückkehren, den ich für ihn in meinem Geschäft offen halte.”

„Gott gebe es!” sagte Dennis ernst und bewegt.

Einen Augenblick schwieg Sir Giles betroffen still. Dann frage er: „Haben Sie irgendetwas gehört, was Sie mir bis jetzt noch nicht gesagt haben?” „Nein, Sir. Ich habe nur an etwas gedacht, was Sie - verzeihen Sie den Ausdruck - vergessen zu haben scheinen. Der letzte Pächter dieses Gutes in Kerry weigerte sich, den Pachtzins zu entrichten. Herr Arthur hat also ein Gut gepachtet, das man ein weggenommenes Gut nennt. Es ist meine feste Überzeugung”, sagte der Buchhalter, indem er sich erhob und mit ernster Stimme sprach, „dass die Person, welche jene Briefe an Sie gerichtet hat, Herrn Arthur kennt und weiß, dass er sich in Gefahr befindet; sie versucht, durch Sie Ihren Neffen zu retten, und setzt dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel.” Sir Giles schüttelte den Kopf.

„Das nenne ich aber eine weit hergeholte Erklärung, Dennis. Wenn das, was Sie sagen, wahr ist, warum wandte sich denn der Schreiber dieser anonymen Briefe nicht geradenwegs an Arthur, anstatt an mich?”

„Ich habe soeben meine Ansicht darüber geäußert, Sir, dass nämlich der Schreiber des Briefes Herrn Arthur kennt.” „Ja, das haben Sie. Aber was besagt das?”

Dennis erklärte seine Worte.

„Jeder, der mit Herrn Arthur bekannt ist, weiß, dass der junge Mann neben allen möglichen guten Eigenschaften starrköpfig und tollkühn ist. Wenn ein Freund ihm sagen würde, er befände sich auf seinem Pachthof in Gefahr, das würde an sich genügen, ihn dort, wo er sich befindet, festzuhalten und der Gefahr Trotz zu bieten. Sie dagegen, Sir, sind bekannt als vorsichtig, bedachtsam und besonnen.” Er hätte hinzufügen können: feig und eigensinnig, engherzig und von maßlosem Eigendünkel besessen; aber der Respekt vor seinem Chef hatte seine Beobachtungsgabe schon seit einer langen Reihe von Jahren in dieser Hinsicht getrübt. Wenn manche mit einem Löwenherzen geboren sind, so hat die Natur anderen den Mut eines Esels verliehen. Dennis' Herz gehörte zu den anderen.

„Sehr hübsch gegeben”, entgegnete Sir Giles befriedigt. „Die Zeit wird lehren, ob man wegen einer so durchaus unbedeutenden Person, wie mein Neffe Arthur ist, sich einen Mord auf das Gewissen ladet. Die Anspielung auf ihn ist eine einfache Zweideutigkeit, welche nur bezwecken soll, dass ich weniger auf meiner Hut bin. Meine Stellung, mein Geld, mein Einfluss in der Gesellschaft machen mich zu einer öffentlichen Persönlichkeit. Gehen Sie jetzt gleich auf das Polizeiamt, und bringen Sie den ersten besten Beamten, den Sie dort im Dienst treffen, mit hieher.”

Der gute Dennis Howmore näherte sich nur sehr widerwillig der Türe. Bevor er jedoch das Ende des Zimmers, an dem sich der Ausgang befand, erreicht hatte, wurde die Tür von außen geöffnet. Einer der Markthelfer der Bank meldete einen Besuch.

„Miss Henley, Sir, wünscht zu wissen, ob Sie zu sprechen sind.” Sir Giles blickte angenehm überrascht auf. Lebhaft erhob er sich, um die Dame zu empfangen.

Drittes Kapitel

Wenn Iris Henley einmal stirbt, so wird sie aller Wahrscheinlichkeit nach Freunde hinterlassen, welche ihrer gedenken und über sie sprechen, und bei diesem Gespräch mögen zufällig Fremde anwesend sein (in den meisten Fällen natürlich Frauen), deren Neugierde die Fragen stellen lässt, die sich auf die äußere Erscheinung und den Charakter der Verstorbenen beziehen. Keine Antworten werden jedoch den Fragenden eine wahrheitsgetreue Beschreibung geben. Miss Henleys hauptsächlichster Vorzug bestand in einer wunderbaren Beweglichkeit des Ausdrucks, welche jeden Wechsel in ihrem Denken und Fühlen widerspiegelte, besonders für zarte und empfindliche Frauennaturen. Wahrscheinlich aus diesem Grunde wird auch keine Schilderung ihrer Persönlichkeit mit der andern übereinstimmen. Keine Vergleiche werden eine richtige Anschauung von ihr geben. Das einzige Bild, welches von Iris gemalt worden ist, wird nur von parteiischen Freunden des Künstlers als getroffen bezeichnet. In und außerhalb Londons wurden photographische Aufnahmen von ihr gemacht. Sie haben die Ehre, in dieser einen Hinsicht den Porträts von Shakespeare zu gleiche - nebeneinander gesehen ist es nicht möglich, zu entdecken, dass sie ein und dieselbe Person darstellen. Was das Zeugnis anbetrifft, das das liebende Gedächtnis ihrer Freund gibt, so ist es sicherlich in letztem Grunde auch widersprechend. Sie hat ein angenehmes Gesicht, ein gewöhnliches Gesicht, ein kluges Gesicht - eine hässliche Gesichtsfarbe, eine zarte Gesichtsfarbe, überhaupt gar keine Farbe - Augen, die eine heftige Gemütsart, einen glänzenden Geist, einen festen Charakter, einen leidenschaftlichen Sinn, eine ehrliche Natur, hysterische Empfindlichkeit, unbezwingbaren Eigensinn verraten. Ihre Gestalt ist zu klein; nein, sie hat gerade die rechte Größe; nein, sie ist weder das eine noch das andere. Sie trägt sich elegant, oder ihr Anzug ist schäbig, ganz, wie man will; o gewiss nicht, ihr Anzug ist gediegen und einfach; nein, etwas mehr als das, herausfordernd, theatralisch einfach, getragen mit der deutlich ausgesprochenen Absicht, nicht so gekleidet zu sein wie die anderen. War denn diese Menge von Widersprüchen auch schon da, als Iris noch lebte? Ja und nein; ja - unter den Leuten; nein - nicht ohne Beschränkung. Der Mann, der sie von allen anderen am meisten hätte lieb haben sollen, war gerade derjenige, der sie am übelsten behandelte - ihr eigener Vater. Und als das arme Mädchen heiratete (wenn sie überhaupt geheiratet hat), wie viele von Ihnen haben denn der Hochzeit beigewohnt? - Keine von uns. Und als sie gestorben war, wer von Ihnen hat sie betrauert und beweint? Wir alle - was? Bei dieser besonderen traurigen Veranlassung gab es keine Meinungsverschiedenheit - wir stimmten damals, Gott sei Dank, alle überein.

Lassen wir die Jahre zurückrollen und Iris selbst sprechen in der denkwürdigen Zeit, da sie in der ersten Blüte der Jugend stand und ein bewegtes Leben noch vor ihr lag.

Viertes Kapitel

Als Miss Henleys Pate genoss Sir Giles gewisse Vorrechte. Er legte seine dicht behaarte Hand auf ihre Schulter und küsste sie auf beide Wangen. Nach dieser zärtlichen Begrüßung begann er sie auszufragen. Welches außerordentliche Zusammentreffen von Ereignissen hatte Iris bestimmt, London zu verlassen, und sie in sein Bankhaus nach Ardoon geführt?

„Ich wollte von Hause fort”, antwortete sei, „und da ich niemand habe als meinen Paten, zu dem ich gehen könnte, so bin ich hieher gekommen zu Ihnen.”

„Allein?” rief Sir Giles.

„Nein, ich habe mein Mädchen als Begleiterin mitgenommen.” „Nur Ihr Mädchen, Iris? Sie haben doch sicherlich unter den jungen Damen, die mit Ihnen gleichalterig sind, Bekannte!” „Bekannte - ja! Freundinnen - nein!”

„Hat denn Ihr Vater zu Ihrem Unternehmen seine Zustimmung gegeben?” „Wollen Sie mir einen Gefallen erweisen?”

„Wenn ich kann - ja.”

„Verlangen Sie von mir keine Antwort auf Ihre letzte Frage.” Die bleiche Farbe, welche ihr Gesicht bedeckt hatte, als sie das Zimmer betrat, war verschwunden. Ebenso änderte sich der Ausdruck um ihren Mund. Die Lippen schlossen sich krampfhaft und verrieten einen unabänderlichen Entschluss, hervorgerufen durch das bestimmte Gefühl erlittenen Unrechts. Sie sah älter aus, als sie in Wirklichkeit war; wie sie einmal in zehn Jahren sein mochte, so war sie jetzt. Sir Giles verstand sie. Er stand auf und wanderte im Zimmer umher. Eine alte Gewohnheit, die er mit unendlicher Schwierigkeit, als er Baronet geworden war, unterdrückt hatte, kam von neuem zum Vorschein; er steckte seine Hände in die Taschen.

„Sie und Ihr Vater haben sich wieder einmal veruneinigt”, sagte er, vor Iris stehen bleibend.

„Ich leugne es nicht”, antwortete sie.

„Wer ist daran schuld?”

Sie lachte bitter.

„Die Frau ist immer der schuldige Teil.”

„Hat das Ihnen Ihr Vater gesagt?”

„Mein Vater erinnerte mich daran, dass ich an meinem letzten Geburtstag einundzwanzig Jahre alt geworden sei, und sagte mir, ich könnte tun, was mir beliebte. Ich verstand ihn und verließ das Haus.”

„Sie werden doch wohl zurückkehren?”

„Ich weiß nicht.”

Sir Giles begann wiederum das Zimmer zu durchschreiten. Seine markierten Züge, die von Unglück und Kampf im früheren Leben erzählten, zeigten Spuren von Missvergnügen und Trauer.

„Hugh versprach mir”, sagte er, „zu schreiben, hat es aber nicht getan. Ich weiß, was das bedeutet, und weiß auch, wodurch Sie Ihren Vater erzürnt haben. Mein Neffe hat Sie schon zum zweitenmale gebeten, seine Frau zu werden. Und zum zweiten Male haben Sie ihm eine abschlägige Antwort gegeben.”

Ihr Gesicht erhellte sich und erhielt seinen besseren und jüngeren Ausdruck wieder.

„Ja”, sagte sie traurig und niedergeschlagen, „ich habe ihn zum zweiten Male abgewiesen.” Sir Giles verlor seine Ruhe.

„Was in aller Welt haben Sie denn an Hugh auszusetzen?” brach er los.

„Mein Vater sagte dasselbe zu mir”, entgegnete sie, „fast mit den nämlichen Worten. Ich erzürnte ihn, als ich versuchte, ihm meine Gründe auseinanderzusetzen. Ich habe keine Lust, Sie auch noch böse zu machen.”

Er nahm keine Notiz von diesen letzten Worten.

„Ist Hugh nicht ein guter Junge?” fuhr er zu fragen fort. „Ist er nicht freundlich und gutherzig und ehrenhaft? Ist er nicht ein hübscher Mensch, wenn wir auch darauf kommen wollen?”

„Hugh ist alles das, was Sie sagen. Ich habe ihn gern, ich bewundere ihn, ich verdanke seiner Güte einige der glücklichsten Tage meines traurigen Lebens und bin ihm dankbar - o, von ganzem Herzen bin ich Hugh dankbar!”

„Wenn das wahr ist, Iris -”

„Jedes Wort davon ist wahr.”

„Wenn das wahr ist, sage ich - dann gibt es für Sie keine Entschuldigung, Iris. Ich hasse bei einem jungen Mädchen Eigensinn. Warum heiraten Sie ihn dann nicht?”

„Versuchen Sie es, wie ich zu fühlen”, antwortete sie sanft; „ich kann ihn nicht lieben.” Der Ton ihrer Stimme sagte dem Bankier mehr, als ihre Worte hätten ausdrücken können. Den geheimen Kummer ihres Lebens, der ihrem Vater bekannt war, kannte auch Sir Giles.

„Jetzt sind wir endlich auf das Richtige gekommen”, sagte er. „Sie können also meinen Neffen Hugh nicht lieben. Und Sie wollen mir den Grund dafür nicht sagen, weil Ihr empfindliches, zartes Gemüt davor zurückschreckt, mich zu erzürnen. Soll ich Ihnen den Grund nennen, mein Kind? Ich kann es mit zwei Worten - Lord Harry.”

Sie antwortete darauf nicht und gab überhaupt durch kein Zeichen zu erkennen, dass sie seine Worte verstanden hatte. Sie neigte den Kopf ein wenig und faltete die Hände auf ihrem Schoß; das hartnäckige Stillschweigen, das alles ertragen kann, machte ihr Gesicht hart und ihre Gestalt steif - das war aber auch alles.

Der Bankier war entschlossen, ihr nichts zu ersparen.

„Es ist leicht ersichtlich”, fuhr er fort, „dass Sie in Ihrer törichten Verblendung für diesen Lump noch immer befangen sind. Er mag gehen, wohin er will, an die verrufensten Orte und unter die gemeinsten, schlechtesten Menschen, er zieht Ihr Herz stets mit sich. Ich bin erstaunt, dass Sie sich nicht einer solchen Neigung schämen.”

Diese Worte trafen sie doch. Sie erhob sich lebhaft und antwortete ihm.

„Harry hat ein wildes Leben geführt”, sagte sie; „er hat sich schwere Vergehen zu schulden kommen lassen, und er mag es auch jetzt noch toller treiben, als er bisher getan hat. Zu welcher Erniedrigung, in welche schlechte Gesellschaft und Schulde dies ihn bringen mag, das sich auszumalen überlasse ich seinen Feinden. Ich sage Ihnen aber dies eine: er besitzt Eigenschaften, die das alles vergessen machen, die Sie und Leute Ihrer Art indessen niemals entdecken werden, weil Sie dazu viel zu wenig gute Christen sind. Er hat Freunde, die ihn noch würdigen können. - Ihr Neffe Arthur Mountjoy ist unter ihnen. O, ich weiß es durch Arthurs Briefe an mich! Verdammen Sie Lord Harry, so viel Sie wollen, er hat noch die Fähigkeit zu bereuen, sage ich Ihnen, und eines Tages - wenn auch wahrscheinlich zu spät, wie ich leider hinzusetzen muss - wird er es beweisen. Ich kann niemals seine Frau werden. Wir sind getrennt für immer; niemals wird es für uns wieder einen Anknüpfungspunkt geben. Aber er ist der einzige Mann, den ich jemals geliebt habe, und er wird auch der einzige sein, den ich in Zukunft lieben werde. Wenn Sie glauben, dass diese Liebe den Beweis liefert, dass ich ebenso schlecht bin wie er, ich werde Ihnen nicht widersprechen. Weiß denn überhaupt einer von uns, wie schlecht er ist? Haben Sie neuerdings etwas von Harry gehört?”

Der plötzliche Übergang von der so ernsten und warmen Verteidigung des Mannes zu einer so gewöhnlichen, bedeutungslosen Frage nach ihm überraschte Sir Giles.

Er wusste im Augenblick nichts darauf zu erwidern; Iris hatte ihm zu denken gegeben. Sie hatte bewiesen, dass sie ihre heftigsten Gefühle zu beherrschen verstand gerade in dem Moment, wo sie sie zu überwältigen drohten, und das findet man selten bei jungen Mädchen. Wie man sie beeinflussen und leiten könnte, das war eine Aufgabe, deren Lösung ruhiger Überlegung bedurfte. Sein Eigensinn mehr noch als seine Überzeugung hatten den Bankier immer noch an der Hoffnung einer schließlichen Heirat seines Neffen mit Iris festhalten lassen, selbst dann noch, als Hughs Werbung zum zweiten Male einen abschlägigen Bescheid erhalten hatte. Sein ebenso starrköpfiges Patenkind war gekommen aus eigenem Antrieb, ihn zu besuchen. Sie hatte die Tage ihrer Kindheit nicht vergessen, in denen er einigen Einfluss auf sie gehabt und sich ihr liebevoller gezeigt hatte, als ihr Vater jemals gewesen war. Sir Giles erkannte, dass er gegen Iris einen falschen Ton angeschlagen. Sein Ärger hatte sie nicht beunruhigt, seine Meinung nicht beeinflusst. In Hughs Interesse beschloss er, zu versuche, was Überlegung und Nachsicht tun könnten, um sein Ansehen bei ihr zu vergrößern. Nachdem er gehört, dass ihr Mädchen und ihr Gepäck im Gasthof zurückgeblieben waren, bestand er darauf, dass sie in seinem Hause Wohnung nehme, und ließ das Mädchen samt den Sachen holen.

„So lange Sie in Ardoon bleiben, Iris, sind Sie mein Gast”, sagte er.

Sie machte ihm die Freude, seine Einladung bereitwillig anzunehmen, ärgerte ihn aber gleich nachher durch die nochmalige Frage, ob er nichts von Lord Harry gehört habe.

Er antwortete kurz und scharf:

„Ich habe nichts gehört. Was sind denn Ihre letzten Nachrichten über ihn?” „Nachrichten”, sagte sie, „die, wie ich zuversichtlich hoffe, sich als unwahr erweisen werden. Eine irische Zeitung wurde mir zugesandt, welche meldete, er sei der geheimen Gesellschaft beigetreten, die, wie ich fürchte, nichts Besseres ist als eine Mörderbande. Sie ist bekannt unter dem Namen der ,Unüberwindlichen'.” Gerade als sie diese furchtbare Verbindung erwähnte, kehrte Dennis Howmore von dem Polizeiamt zurück. Er brachte die Meldung, dass ein Sergeant da sei, um die Befehle Sir Giles' zu empfangen.

Fünftes Kapitel

Iris erhob sich, um zu gehen. Ihr Pate aber hielt sie höflich zurück.

„Warten Sie, bitte, hier so lange”, sagte er, „bis ich mit dem Sergeanten gesprochen habe. Ich werde Sie dann selbst in mein Haus bringen. Mein Kommis wird alles Nötige in mein Haus bringen. Sie sehen nicht sehr befriedigt aus. Gefällt Ihnen das von mir vorgeschlagene Arrangement nicht?”

Iris versicherte ihn, dass sie vollständig damit einverstanden sei. Zugleich aber gestand sie, dass sie die Entdeckung seines Verkehrs mit der Polizei etwas überrascht habe.

„Ich erinnere mich aber jetzt, dass wir in Irland sind”, fuhr sie fort, „und ich bin töricht genug, zu fürchten, Sie könnten in irgendwelcher Gefahr schweben. Ich hoffe jedoch, dass es sich nur um einen schlechten Scherz handelt.”

Nur ein schlechter Scherz! Außer anderen, zarteren Gefühlen, die Iris' herber Natur fehlten, hatte Sir Giles auch noch bemerkt, dass das junge Mädchen nur sehr unvollkommen seine angesehene soziale Stellung zu würdigen verstand. Das war ein neuer Beweis dafür. Der Versuchung zu widerstehen, seinem einsichtslosen Patenkind Gefühle der Angst - untermischt mit Bewunderung - zu erwecken dadurch, dass er sich als eine durch eine Verschwörung öffentliche Persönlichkeit hinstellte, das war mehr, als der Eitelkeit des Bankiers möglich war. Bevor er das Zimmer verließ, trug er Dennis auf, Miss Henley zu erzählen, was vorgefallen war, und sie selbst entscheiden zu lassen, ob er sich unnötigerweise durch das, was sie einen „schlechten Scherz” zu nennen beliebte, beunruhigen lasse.

Dennis Howmore müsste kein Mensch gewesen sein, wenn er eine Erzählung von den Ereignissen hätte geben können, die ganz unbeeinflusst von seiner eigenen Ansicht über die Lage der Dinge geblieben wäre. Bei der ersten Erwähnung von Arthur Mountjoys Namen zeigte Iris ein plötzlich so reges Interesse für die eigentümliche Geschichte, dass Dennis überrascht seinen Bericht durch die Frage unterbrach:

„Kennen Sie Herrn Arthur?”

„Ihn kennen?” wiederholte sie. „Er war mein Spielkamerad, als wir beide noch Kinder waren. Er ist mir so lieb, als wenn er mein Bruder wäre. Sagen Sie mir's nur gleich ganz offen - schwebt er wirklich in Gefahr?”

Dennis wiederholte getreulich das, was er schon Sir Giles hierüber gesagt hatte. Miss Henley stimmte mit ihm in allen Punkten überein und fühlte das lebhafteste Verlangen, Arthur über seine Lage aufzuklären und zu warnen. Aber es gab keine telegraphische Verbindung mit der Ortschaft, in deren Nähe sein Gut lag. Sie konnte ihm nur schreiben, und das tat sie auch und schickte den Brief noch am gleichen Tag ab, ohne ihn Dennis zu zeigen, aus Gründen, die sie nur persönlich angingen. Wohl bekannt mit der innigen Freundschaft, welche Lord Harry und Arthur Mountjoy verband, und in Erinnerung an den Zeitungsbericht über den tollkühnen Anschluss des irischen Lords an die „Unüberwindlichen”, identifizierten ihre Befürchtungen den vornehmen Vagabunden mit dem Schreiber der anonymen Briefe, welche so ernstliche Bedenken für feine Sicherheit in ihrem Paten geweckt hatten.

Als Sir Giles zurückkam und sie mit sich in feine Wohnung nahm, sprach er über seine Unterredung mit dem Sergeanten in Ausdrücken, die ihre Furcht betreffs dessen, was sich in Zukunft ereignen wurde, nur vergrößerte. Sie war ein trauriger und stiller Gast während der Zeit, die vergehen musste, ehe sie eine Antwort Arthurs auf ihren Brief erhalten konnte. Der Tag kam; aber die Post brachte ihr keine Erlösung aus ihrer Angst. Auch der nächste ging vorbei, ohne dass der heiß ersehnte Brief gekommen war. Am Morgen des vierten Tages stand Sir Giles später als gewöhnlich auf. Die Korrespondenz wurde ihm vom Geschäft gerade, während er am Frühstückstische saß, zugesandt. Nachdem er einen der Briefe geöffnet und durchgelesen hatte, schickte er sofort in größter Eile einen Boten auf das Polizeiamt.

„Sehen Sie hier!” sagte er zu Iris und reichte ihr den Brief. „Hält mich denn der Mordgeselle für einen Narren?” Sie las folgende Zeilen:

„Unvorhergesehene Ereignisse zwingen mich, Sir Giles, ein gefährliches Wagnis auszuführen. Ich muss Sie sprechen. Das kann aber nicht am Tage sein; meine einzige Hoffnung auf Sicherheit beruht in der Dunkelheit. Wir wollen uns am ersten Meilenstein auf der Straße nach Garvan, wenn der Mond um zehn Uhr abends untergeht, treffen. Ihren Namen zu nennen ist nicht nötig. Die Parole lautet: ,Treue'”

„Und wollen Sie gehen?” fragte Iris.

„Ob ich ermordet werden will?” fuhr Sir Giles auf.   „Mein liebes Kind, versuchen Sie doch erst, es sich zu überlegen, bevor Sie sprechen. Der Sergeant wird natürlich an meiner Stelle hingehen.”

„Und den Mann arretieren?” fügte Iris hinzu.

„Gewiss!”

Mit dieser wenig tröstlichen Antwort eilte der Bankier hinaus, um den Polizeimann in dem andern Zimmer zu empfangen. Iris sank in den nächsten Stuhl. Die Wendung, welche die Sache jetzt genommen hatte, erfüllte sie mit unaussprechlicher Angst.

Sir Giles kam nach nicht sehr langer Zeit zurück, beruhigt lächelnd; die ganze Angelegenheit hatte einen ihn vollständig befriedigenden Verlauf genommen.

Der Sergeant sollte sich zu der verabredeten Zeit an den Meilenstein begeben und so in der Dunkelheit den Bankier vorstellen und die Parole nennen. Zwei seiner Leute sollten ihm folgen und in Ruhe warten, bis sein Pfiff ihnen sagte, dass ihre Hilfe erforderlich sei.

„Ich will den Schurken sehen, wenn er sicher gefesselt ist, und habe es daher so eingerichtet, dass ich um Mitternacht die Polizei in meinem Comptoir erwarte.”

Es blieb nur ein verzweifelter Weg offen, den Iris jetzt noch einschlagen konnte, um den Mann zu retten, der sein Vertrauen auf ihres Paten Ehre gesetzt hatte und dessen guter Glaube schon so schmählich betrogen worden war. Niemals hatte sie den geächteten irischen Lord - den Mann, den zu heiraten ihr versagt war, und zwar aus guten Gründen versagt - so geliebt wie in diesem Augenblick.  Mochte das Wagnis noch so gefährlich sein, dem entschlossenen jungen Mädchen war eines klar, der Sergeant durfte und sollte nicht der einzige sein, der an den Meilenstein ging und dort die Parole nannte. Dafür war ein dem Lord Harry mit Leib und Seele ergebener Freund da, auf den sie immer bauen konnte - und dieser Freund war sie selbst.

Sir Giles begab sich wieder in das Bankhaus, um nach den Geschäften zu sehen. Iris wartete, bis die Uhr die Stunde anzeigte, zu der die Dienerschaft zu essen pflegte. Dann stieg sie leise die Treppe hinunter, die zu dem Ankleidezimmer ihres Paten führte. Sie öffnete die Garderobenkammer und entdeckte in der einen Ecke einen großen und weiten spanischen Mantel und in der andern Ecke einen breitkrempigen Filzhut, den der Bankier bei Ausflügen aufs Land zu tragen pflegte. Damit konnte sie sich in Anbetracht der Dunkelheit für ihren Zweck genügend verkleiden.

Als sie das Ankleidezimmer wieder verließ, fiel ihr eine Vorsichtsmaßregel ein, die sie auch sofort befolgte. Sie sagte ihrem Mädchen, sie habe mehrere Besorgungen in der Stadt zu machen, und ging weg. Auf der Straße fragte sie den ersten anständig aussehenden Fremden, der ihr begegnete, nach der Straße von Garvan. Ihre Absicht war, noch bei Tage bis zu dem ersten Meilenstein zu gehen, damit sie sicher sein könnte, dass sie ihn auch bei Nacht finden würde. Sie merkte sich genau die verschiedenen Gegenstände am Wege, als sie zum Hause des Bankiers zurückkehrte.

Als die verabredete Zeit der Begegnung näher rückte, wurde Sir Giles zu ungeduldig, zu unruhig, um zu Hause warten zu können. Er begab sich auf das Polizeiamt, begierig zu hören, ob den Behörden wieder eine neue geheime Verschwörung bekannt geworden sei.

In dieser Jahreszeit wurde es schon bald nach acht Uhr dunkel. Um neun Uhr versammelten sich die Dienstboten zum Abendessen. Sie waren zu diesem Zweck alle im Untergeschoss und erwarteten unter lebhaften Gesprächen das Essen.

Als die Glocke neun Uhr schlug, hüllte sich Iris in ihre Verkleidung, um zur rechten Zeit an den verabredeten Ort zu kommen, ohne auf dem Wege dem Sergeanten zu begegnen. Sie verließ, von niemand bemerkt, das Haus. Wolken bedeckten den Himmel. Der abnehmende Mond war nur zuweilen sichtbar, als sie auf der Straße nach Garvan dem Meilenstein zueilte.

Sechstes Kapitel

Der Wind erhob sich ein wenig, und die Spalten in den Wolken begannen breiter zu werden, als Iris die Landstraße erreichte.

Eine Zeit lang erhellte der Schimmer des trüben Mondlichts den Weg vor ihr. Soviel sie erkennen konnte, bevor sich der Himmel wieder verfinsterte, hatte sie schon mehr als die Hälfte der Entfernung zwischen der Stadt und dem Meilenstein zurückgelegt. Die Gegenstände zu beiden Seiten des Weges lagen im Dunkeln und waren daher nur schwer zu unterscheiden. Ein leichter Sprühregen begann niederzufallen. Der Meilenstein befand sich, wie sie von dem Spaziergang, den sie am hellen Tag hieher gemacht hatte, noch wusste, auf der rechten Seite der Straße. Der Stein war aber wegen seiner stumpfen grauen Farbe in der herrschenden Finsternis nicht leicht zu entdecken.

Der Gedanke beunruhigte sie, sie könnte schon an dem Meilenstein vorübergegangen sein. Sie blieb stehen und betrachtete den Himmel.

Der Regen hatte wieder aufgehört, und es war begründete Aussicht vorhanden, dass die Wolken sich von neuem zerteilen und so das Mondlicht durchscheinen lassen würden. Sie wartete. Schwach und trübe fielen die letzten Strahlen des untergehenden Mondes auf die dunkle Erde. Vor ihr war nichts zu sehen als der Weg. Iris blickte zurück und entdeckte den Meilenstein.

Eine roh zusammengefügte Steinmauer schützte den Weg auf jeder Seite. Ungefähr hinter dem Meilenstein befand sich ein Loch in dieser Mauer, zum Teil von einem Gestrüpp verdeckt. Eine halb zerstörte Schleuse überwölbte einen ausgetrockneten Graben und bildete eine Brücke, die von der Straße auf das Feld führte. Hatte sich die Polizei nun das Feld ausgesucht, um sich zu verstecken? Nichts war zu erkennen als ein Fußpfad und darüber hinaus ein nur undeutlich wahrnehmbarer Strich angebauten Landes. Während sie diese Entdeckungen machte, begann der Regen wieder zu fallen. Die Wolken zogen sich von neuem zusammen; das Mondlicht verschwand.

In demselben Augenblick stieg vor ihrem Geist ein Hindernis auf, das Iris bis jetzt nicht im entferntesten in Betracht gezogen.

Lord Harry konnte sich nämlich von drei verschiedenen Seiten dem Meilenstein nähern, das heißt, entweder auf dem Weg, der von der Stadt herkam, oder auf dem Weg, der aus dem offenen Land zu dem Meilenstein führte, oder endlich drittens auf dem Fußpfad über das Feld und die halb verfallene Grabenüberbrückung. Wie konnte sie sich nun so aufstellen, dass sie imstande sein würde, ihn zu warnen, bevor er in die Hände der Polizei fiel? Alle drei Annäherungswege in der Dunkelheit der Nacht und zu ein und derselben Zeit zu überwachen, war einfach unmöglich.

Ein Mann in dieser Lage würde, geleitet von der Vernunft, aller Wahrscheinlichkeit nach die kostbare Zeit mit vergeblichen Versuchen, die richtige Entscheidung zu treffen, vergeudet haben. Ein Weib aber, von Liebe beherrscht, überwindet die Schwierigkeit in dem Augenblick, da sie sich ihr entgegenstellt.

Iris beschloss, zu dem Meilenstein zurückzukehren und dort zu warten, bis die Polizei sie bemerken und verhaften würde. Wenn dann Lord Harry pünktlich zur verabredeten Stunde kommen würde, so würde er als notwendige Folge der Verhaftung Stimmen und Geräusch vernehmen und noch zur rechten Zeit entfliehen können. Im Fall er aber zu spät käme, so würde die Polizei mit ihrem Fang schon wieder auf dem Rückweg nach der Stadt sein; er würde niemand mehr am Meilenstein finden und denselben ungefährdet wieder verlassen können.

Sie stand eben im Begriff, sich umzudrehen und auf die Straße zurückzugehen, als etwas auf der dunklen Fläche des Feldes undeutlich sichtbar wurde, was wie ein tieferer Schatten aussah. Im nächsten Moment hatte es den Anschein, als ob es ein Schatten wäre, der sich bewegte. Sie eilte darauf zu. Als sie näher kam, sah der Schatten aus wie ein Mann. Der Mann blieb stehen.

„Die Parole?” fragte er mit vorsichtig gedämpfter Stimme.

„Treue!” antwortete sie flüsternd.

Es war zu dunkel, um die Gesichtszüge des Mannes erkennen zu können; Iris jedoch erkannte ihn an seiner hohen Gestalt und an dem Tonfall der Stimme, in dem er nach dem Losungswort gefragt hatte. Da er sie seinerseits irrigerweise für einen Mann hielt, trat er einen Schritt wieder zurück. Sir Giles Mountjoy war ungefähr von mittlerer Größe; der Fremde dagegen in dem Überrock, der ihm die Worte zugeflüstert hatte, war untersetzter.

„Sie sind nicht die Person, welche ich hier anzutreffen erwartet hatte,” sagte er. „Wer sind Sie?” Ihr Aufrichtigkeit liebendes Herz verlangte darnach, ihm die Wahrheit zu gestehen. Die Versuchung, sich zu entdecken und ihrer Freude darüber Ausdruck zu geben, dass es ihr möglich gewesen sei, ihn zu retten, würde ihre Zurückhaltung überwunden haben, wenn nicht ein Geräusch auf dem Wege hinter ihnen an ihr Ohr gedrungen wäre. In der ringsum herrschenden Stille war aber ein Irrtum unmöglich. Es war das Geräusch von Fußtritten.

Sie fand gerade noch Zeit, ihm zuzuflüstern: „Sir Giles hat Sie verraten. Retten Sie sich!” „Ich danke Ihnen, wer Sie auch sein mögen.” Mit diesen Worten verschwand er plötzlich und schnell in der Finsternis. Iris erinnerte sich der Brücke über den Graben und ging nach ihr hin. Dort unter dem Bogen fand sie einen passenden Platz, sich zu verbergen, wenn sie noch zur rechten Zeit in den ausgetrockneten Graben gelangen konnte.  Sie stand eben im Begriff, sich mit den Füßen bis an den Rand desselben vorwärts zu tasten, als eine feste Hand ihren Arm ergriff und eine Stimme in gebietendem Ton sagte:

„Sie sind mein Gefangener.”

Sie wurde auf den Weg zurückgeführt. Der Mann, der sie fest gefasst hielt, ließ einen lauten Pfiff ertönen. Sofort tauchten noch zwei andere Männer aus dem Dunkel auf.

„Machen Sie Licht,” befahl der erstere, „damit wir sehen, wer der Kerl ist.” Der Schieber an der Blendlaterne wurde zur Seite geschoben; das Licht fiel voll auf das Gesicht des Gefangenen. Die beiden Begleiter des Polizeisergeanten waren vor Staunen ganz starr. Dieser selbst, ein frommer Katholik, brach in den Ruf aus: „Heilige Maria! Das ist ja eine Frau!”

Nahmen denn die geheimen Gesellschaften Irlands auch Frauen auf? War das eine moderne Judith, welche anonyme Briefe schrieb und sich verpflichtet hatte, einen Finanz-Holofernes, der eine Bank hielt, zu töten? Was hatte sie über sich selbst auszusagen? Wie kam sie dazu, auf einem öden Feld in regnerischer Nacht sich allein aufzuhalten? Anstatt aber auf diese Fragen zu antworten, zog die rätselhafte Fremde eine kühle und kurze Entgegnung vor.

„Bringen Sie mich zu Sir Giles!” Das war alles, was sie zu den Polizeibeamten sagte.

Der Sergeant hatte die Handfesseln bereit, ließ sie aber, nachdem er beim Schein der Laterne die feinen Handgelenke der Gefangenen gesehen hatte, gleich wieder in seiner Tasche verschwinden.

„Eine Lady, da gibt's gar keinen Zweifel,” sagte er zu dem einen seiner Begleiter.

Seine beiden Untergebenen warteten mit boshaftem Interesse, um zu sehen, was er wohl zunächst anfangen würde. Die Liste der rühmlichen Eigenschaften ihres frommen Vorgesetzten enthielt auch Parteilichkeit für die Frauen, welche immer die gnadenreiche Seite der Gerechtigkeit walten ließ, wenn der Übeltäter einen Unterrock trug.

„Wir werden Sie zu Sir Giles bringen, Miss,” sagte er und bot ihr anstatt der Handfesseln seinen Arm. Iris verstand ihn und nahm das Anerbieten an.

Sie verhielt sich schweigsam - ganz unverantwortlich schweigsam, wie die Männer dachten - auf dem Weg nach der Stadt. Einige Male hörten sie sie seufzen, und einmal klang der Seufzer mehr wie ein Schluchzen; sie ahnten nichts von dem, was in der Seele des jungen Mädchens während der Zeit vorging.

Der eine Gegenstand, welcher die Gedanken von Iris ganz in Anspruch genommen hatte, war die Rettung Lord Harrys. Nachdem diese gelungen, hatten ihre nun von der Sorge darum befreiten Gedanken sie jetzt an Arthur Mountjoy erinnert.

Es war schlechterdings unmöglich, daran zu zweifeln,  dass die vorgeschlagene Zusammenkunft an dem Meilenstein den Zweck haben sollte, Sicherheitsmaßregeln für das Leben des jungen Mannes zu ergreifen. Ein Feigling ist immer mehr oder minder grausam. Die Handlungsweise von Sir Giles, ebenso hinterlistig wie unmenschlich, durch die er für die Sicherheit seines eigenen Lebens sorgen zu müssen glaubte, hatte Lord Harrys edles Vorhaben aufgeschoben, vielleicht sogar gänzlich vereitelt. Die Möglichkeit lag nahe, furchtbar nahe, dass es nur durch eine geschickte und pünktliche Benützung der Zeit möglich gewesen wäre, Arthur vor dem Tode durch Mörderhand zu bewahren. In der Gemütserregung, welche sie ergriffen hatte, trieb sie die Polizeibeamten ordentlich zur Eile an bei der Rückkehr in die Stadt.

Siebentes Kapitel

Sir Giles hatte es so eingerichtet, dass er auf den Bericht über den Verlauf der Sache in seinem Privatzimmer in dem Bankhause harrte, und so befand er sich denn dort in Gesellschaft von Dennis Howmore in gespannter Erwartung der kommenden Dinge.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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