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Timbuktu 2012: Islamische Rebellen fallen in Timbuktu ein und etablieren in der westafrikanischen Stadt die Scharia. Der Hirtenjunge Ali ist einer von ihnen; er verabscheut Musik, Tanzen und alles, was das Leben lebenswert macht. Kadija lebt in Timbuktu. Sie hütet die kostbaren Handschriften ihrer Familie und pfeift auf die Gesetze der Dschihadisten. Als Ali und seine Kampfgenossen einen berühmten Musikclub der Stadt in die Luft sprengen, kreuzen sich ihre Wege...
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Für Debbie und Sven, in Liebe.
Die Zitate aus dem Koran stammen aus:Der Koran Arabisch-Deutsch. Übersetzung und wissenschaftlicher Kommentar von Adel Theodor Khoury, 12 Bde. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn 1990–2001.
Wenn ich ein Buch lese, überspringe ich in der Regel das Vorwort. Falls ihr schon mal in Timbuktu gewesen seid, tut bitte genau das. Falls nicht, findet ihr die folgenden Informationen sicher nützlich.
In der Geschichte kommen drei Gruppen von Leuten vor: die Bewohner von Timbuktu, die Tuareg-Rebellen und die Verteidiger des Glaubens.
Die Bewohner von Timbuktu
Wie ihr vielleicht bereits wisst, gibt es die Stadt Timbuktu wirklich. Auf einer Karte findet ihr sie am südlichen Rand der Sahara. Ihre Bewohner sind – Achtung, jetzt kommen zwei pauschale Verallgemeinerungen – arm, aber friedliebend. Sie sind Anhänger des Sufismus, einer Strömung des Islam. Die Menschen in Timbuktu sind stolz auf ihre riesige Handschriftensammlung, ihre wunderbare Musik und die viel besuchten Mausoleen (die Grabmäler von Timbuktus Gelehrten und Heiligen).
Die Tuareg-Rebellen
Die Tuareg sind eine ethnische Gruppe in Westafrika. Die Männer werden manchmal ›Herren der Sahara‹ genannt. Sie tragen indigoblaue Turbane und treiben Handel mit Salz, wozu sie auf Kamelen die Wüste durchqueren. Die Tuareg leben in Mali und anderen westafrikanischen Ländern, aber sie streben schon immer nach einem eigenen Staat mitten in der Sahara. Dieses imaginäre Land, Azawad, soll mindestens so groß sein wie Spanien, und die drei Hauptstädte werden Kidal, Gao und Timbuktu sein.
Die Verteidiger des Glaubens
Es gibt viele militante Islamistengruppen in der Sahara. Eine heißt AQIM (al-Qaida im Islamischen Maghreb), eine andere Verteidiger des Glaubens (auf Arabisch: Ansar Dine). Diese Gruppen verabscheuen den Westen und seine Verbündeten, wozu sie auch die malische Regierung zählen, und wollen eine strenge Form des islamischen Rechts in Westafrika einführen.
Im März 2012 gab es einen Militärputsch in Mali. Der Präsident floh aus seinem Palast, das Land stürzte ins Chaos. Und Chaos bedeutet Verletzlichkeit.
Die Tuareg-Rebellen sahen darin eine Gelegenheit, den Norden Malis zu erobern, um ihr glorreiches Land Azawad zu errichten.
Die Verteidiger des Glaubens witterten die Chance, den Islamischen Staat zu errichten, von dem sie immer geträumt hatten.
Beide Gruppen beschlossen zusammenzuarbeiten, um ihre jeweiligen Ziele zu erreichen.
Am 30. März nahmen sie Kidal ein.
Am 31. März überfielen sie Gao.
Am 1. April sammelten sich ihre Kämpfer in der Wüste nördlich von Timbuktu und machten sich zum Angriff bereit …
Ich liege bäuchlings auf der Dünenkuppe. Der Sand unter meiner Brust ist heiß, der Rucksack aus Ziegenleder sitzt straff auf meinen Schultern. Ich atme tief durch und ziehe ein Stück meines Turbans nach oben über Mund und Nase. Der frisch gewaschene Stoff riecht gut. Er riecht nach Sieg.
»Filmst du schon?«
Umar hält mein Handy hoch. »Jetzt.«
Meine Mission ist einfach. Lauf die Düne hinunter. Durchquer das Wadi. Klettere die Mauer hoch. Schlag den Feind.
»Geh mit Gott, Ali«, flüstert Umar mir ins Ohr. »Denk an deinen Namenspatron in der Schlacht von Badr.«
Ich stehe auf und renne die Düne hinab. Der Sand rutscht unter mir weg. Löwe Gottes mit Gottes Stärke. Es gibt niemanden wie Ali und kein Schwert wie Zulfikar. Schnell und leichtfüßig husche ich seitlich den Abhang hinunter. Vor mir liegt das ausgetrocknete Flussbett wie eine breite Narbe, die die Wüste durchtrennt. Ich nehme Anlauf, mache ein paar kleinere Schritte und springe.
Arme ausstrecken, mit den Beinen rudern, in einer Rolle vorwärts landen.
Perfekt.
Die nächste Herausforderung ist die Mauer. Ich gehe in die Hocke und greife über die Schulter in den Ziegenlederrucksack. Seil in der linken Hand. Wurfhaken in der rechten. Augen auf die Brüstung gerichtet.
Fünf Jahre als Hirte in der Wüste ist ein gutes Training für einen Gotteskrieger. Wer seine Schafe beschützen kann, kann auch seine Brüder beschützen. Wer sich selbst überwinden kann, kann auch den Feind überwinden. Wer den Löwen töten kann, der die Herde bedroht, kann auch einen Ungläubigen töten. Wer seinen Stock hoch und gerade werfen kann, um damit eine Frucht vom Affenbrotbaum zu holen, kann auch einen Metallhaken hoch und gerade werfen.
Ich atme tief durch und spüre das Gewicht des Hakens in meiner rechten Hand. Dann hole ich aus, schwinge den Arm – und lasse den Wurfanker los. Er segelt aufwärts und krallt sich an der Oberkante der Mauer fest, genau wie ich es geplant habe. Alhamdulillah!
Die Hände am Seil, die nackten Füße dicht an den heißen Betonziegeln klettere ich los. Ein Mudschahed ist schwerelos, der reine Geist. Mit Gottes Hilfe kann er in Sekundenschnelle eine hohe Mauer emporklettern.
Oben greife ich über die Schulter und hole ein zweites Tau aus dem Rucksack. Ich binde es an den Haken und seile mich auf der anderen Seite der Mauer ab.
Ich habe den Verteidigungswall des Lagers durchbrochen. Rechts von mir stehen zwei große Termitenhügel Wache. Links schlafen tief und fest zwei Säcke Bambara-Erdnüsse. Ich greife ein letztes Mal über meine Schulter und hole eine Pistole und eine Handgranate hervor.
Ruf Ali, der das Außergewöhnliche zu vollbringen vermag. O Ali! O Ali! O Ali!
Ich richte das Visier der Pistole aus und feuere zwei Kugeln in die Erdnusssäcke. Dann ziehe ich mit den Zähnen den Splint aus der Granate und werfe die tödliche Frucht in hohem Bogen auf die Termitenhügel.
Bumm.
Der Fels bebt unter meinen Füßen. Einzelteile des Termitenhügels prasseln nieder wie Regen. Die Feinde Gottes sind bezwungen.
»Gott ist groß!«, ruft Rotbart, der jetzt um die Mauer herumkommt. Er klatscht in die ledrigen Hände und grinst über das ganze wüstengegerbte Gesicht. Hinter ihm kommen Umar, Rashid, Hilal, Hamza und die übrigen Brüder. Umars Augen hinter den dicken Brillengläsern wirken größer denn je. Er filmt immer noch.
»Fünfundvierzig Sekunden!«, sagt Rotbart und zeigt auf seine Armbanduhr. »Du bist mein Spitzen-Eroberer, Ali.«
»Danke, Herr.«
»Sehet die Ungläubigen«, sagt Rotbart grinsend. Er beugt sich über den Bambara-Erdnusssack und bohrt einen Finger in eins der Einschusslöcher. »Der hier wird wohl nie wieder Schweinefleisch essen.«
Wir lachen gehorsam.
Als Rotbart sich wieder aufrichtet, ist das Lächeln aus seinem Gesicht verschwunden. »Sag, Ali Konana, würdest du das auch schaffen, wenn die Mauer etwas höher wäre? Kämst du dann auch mit deinem Haken da hoch?«
»Inschallah, Herr. So Gott will.«
»Auch bei Nacht, wenn nur Halbmond ist?«
»Ja, Herr. Mit Gottes Hilfe würde ich es schaffen.«
Nach der Eroberung folgen die Schießübungen.
Die Fischerjungen Hilal und Hamza klettern am Seil auf die Mauer hinauf, schieben sich vorsichtig über den Rand und stellen in gleichmäßigem Abstand leere Tomatendosen auf. Wir anderen holen unsere Waffen aus einem Eselskarren. Meine AK-47 habe ich mit dem gleichen krummen Kreuz gekennzeichnet wie früher meine Kühe. Wir hängen uns die Gewehre um und folgen Rotbart über den flimmernden Sand zu einer fernen Düne. Wir sind nicht länger irgendeine lärmende Gruppe Jugendlicher, sondern ein stolzes, unbesiegbares Bataillon.
»Wer kann mir sagen, warum die AK-47 das großartigste Gewehr der Welt ist?«, fragt Rotbart.
»Ich weiß es, Herr«, sagt Umar atemlos. Seine Fingerspitzen recken sich aufgeregt nach der Sonne. »Ich weiß es, ich weiß es.«
»Schieß los.«
»Leicht auseinanderzunehmen, leicht zu reinigen, leicht abzufeuern«, zählt Umar auf. »Spuckt siebenhundert Schuss pro Minute aus. Überhitzt oder klemmt nie, nicht mal in einem Sandsturm. Selbst ein Kind kann damit umgehen.«
»Sogar mein kleiner Bruder kann das«, flüstert Hilal, »dabei ist er nicht viel größer als sein Gewehr!«
Hamza starrt geradeaus und tut so, als hätte er das nicht gehört, aber seine Nasenlöcher zucken, wie immer, wenn er wütend ist. Die Fischerjungen sind Zwillinge, aber keine eineiigen. Sie ähneln sich eigentlich überhaupt nicht. Hilal ist groß und Hamza klein. Hilal ist der Clown der Gruppe, Hamza der Miesepeter.
Wir marschieren die Düne hinauf und stellen uns nebeneinander auf die Kuppe.
»Jeder dreißig Schuss vollautomatisch im Dauerfeuer«, bellt Rotbart. »Los.«
Wir legen die Gewehre an, dann feuern wir einer nach dem anderen unsere Ladungen ab. Hamza ist der beste Schütze von allen – fünf Dosen in vier ohrenbetäubenden Sekunden.
Als ich dran bin, sind keine Dosen mehr auf der Mauer übrig, deshalb soll ich mir stattdessen einen Ziegelstein aussuchen. Ich streife meine Sandalen ab, lege den Finger an den Abzug und feuere. In vier freudigen, markerschütternden Sekunden zerfallen mein ausgewählter Ziegelstein und mehrere seiner Nachbarn zu Staub.
Dann sind die übrigen Jungen dran. Wir haben diese Mauer erst gestern gebaut. Jetzt sieht sie aus wie eins von Hamzas Fischernetzen.
Als Letzter ist Rotbart an der Reihe. Mit seinen dreißig Schuss zielt er auf die instabilen Stellen der Mauer und verwandelt den ganzen Bau endgültig in einen Haufen Schutt. Einige der Jungen jubeln und klopfen sich gegenseitig auf die Schultern.
»Unglaublich«, stoße ich hervor.
»Ich weiß«, flüstert Umar. »Es heißt, er hat mit diesem Gewehr mal einen algerischen Hubschrauber abgeschossen.«
Die Hurrarufe und der Beifall verstummen und jetzt ist ein anderes Geräusch zu hören – ein unheimliches Grollen, das zu einem Dröhnen und Donnern anschwillt. Es klingt wie die Stimme Gottes selbst.
Rotbart nimmt sein Gewehr runter und streckt die Arme aus. »Die Wüste singt!«, ruft er. »Wer kann mir sagen, warum die Wüste singt?«
»Unsere Schüsse haben die Dünen gestört«, quasselt Umar drauflos, der vergessen hat, sich zu melden. »Milliarden Sandkörner rutschen vom Kamm der Düne hinab, dabei reibt jede Lage Sand über die darunterliegende wie ein Bogen über eine Geige. Man kann das Rutschen des Sandes nicht sehen, aber man hört …«
»Unsinn!«, ruft Rotbart. »Die Wüste singt vor Freude. Sie hört das Gewehrfeuer der Mudschahedin und weiß, dass ein neuer Tag voller Glauben und Gerechtigkeit angebrochen ist.« Er sieht mit funkelnden Augen in die Runde, als wollte er uns herausfordern, ihm zu widersprechen.
Niemand tut es.
Das Mittagessen besteht wie üblich aus Reis und Bambara-Erdnüssen. Wir sitzen im Schatten, immer fünf Jungen um eine Schüssel. Dem Lauf der Sonne folgend nehmen wir nacheinander jeweils eine Handvoll Reis und Erdnüsse und führen sie zum Mund.
Hilal sagt, die Erdnüsse seien aus dem Sack, den ich am Morgen erschossen habe. Nach jedem Bissen packt er sich an die Kehle und verdreht die Augen, als würde er an einer Patrone ersticken. Die anderen Jungen lachen schrill wie Hyänen, was ihn nur noch weiter anstachelt.
»Friede sei mit dir«, sagt plötzlich eine Stimme hinter uns. Es ist Hamza.
»Bruder, komm zu uns!«, sagt Hilal. »Setz dich, wenn du das nicht bereits getan hast. Das weiß ich bei dir nie so genau.«
Alle lachen.
»Ich habe eine Nachricht für dich«, murmelt Hamza.
»Raus damit«, sagt Hilal. »Ich liebe Nachrichten.«
Da packt der stämmige Fischerjunge seinen Bruder an den Haaren und rammt ihm das Knie ins Gesicht. »Hör auf, dich über mich lustig zu machen!«
Nach dem Zwei-Uhr-Gebet rezitieren wir gemeinsam den Koran. Das heutige Kapitel heißt al-Anfal. Nicht ihr habt sie getötet, sondern Gott hat sie getötet. Und nicht du hast geworfen, als du geworfen hast, sondern Gott hat geworfen. Und er wollte die Gläubigen einer schönen Prüfung unterziehen.
Umar und ich haben unser Arabisch bei einem Marabout zu Hause in Goundam gelernt. An Winterabenden drängten wir uns in seinem Hof ums Feuer zusammen, zwölf kleine Jungen mit gerunzelter Stirn und flatternder Zunge, die bis spät in die Nacht schrieben und rezitierten. Das Feuerholz reichte nie sehr lange. In den frühen Morgenstunden glomm die Glut nur noch schwach und die Brise, die vom Niger herüberwehte, ließ uns frösteln. Dem Marabout war natürlich nie kalt. In eine dicke Baumwolldecke gehüllt tauchte er nur auf, um unsere Aussprache zu korrigieren oder mit uns zu schimpfen, weil unsere Tinte zu wässrig war. Er sprach nie über den Koran selbst oder erklärte uns, was diese merkwürdigen arabischen Verse für unser Leben bedeuten konnten. Wie viele Stunden wir auch lernten – unsere Herzen blieben genauso kalt und taub wie die Finger, die unsere Schreibtafeln umklammerten.
Dieses Ausbildungslager ist völlig anders. Hier wärmt die sengende Sonne unsere Körper und die Worte aus dem Heiligen Buch wärmen unsere Herzen. Wir erfahren von den Propheten, Friede sei mit ihnen, die Hirten waren, genau wie wir. Der Prophet Ibrahim, Vater vieler Völker, liebte den Anblick von Schafen und Ziegen. Der Prophet Musa begleitete vierzig Jahre lang eine Herde, bevor Gott ihn aussandte, dem Pharao entgegenzutreten. Und der Prophet Dawud pries Gott mit einem Schäferstab in der einen Hand und einer Steinschleuder in der anderen.
Der letzte der Propheten war der Prophet Mohammed – Friede sei mit ihm –, der Hirte, der zum Krieger wurde. Wir erfahren von den Nächten, die er in Einsamkeit und im Gebet auf dem Berg Hira verbrachte, wie er vom Engel Dschibril besucht wurde, von seiner Entschlossenheit, der Welt zu beweisen, dass es keinen Gott gibt außer Allah. Wir erfahren von seinen Freunden – Umar, Bilal, Jabir, Hilal, Rashid, Iyas, Hamza –, die sich mutig für die Sache Gottes einsetzten und ihrem Anführer treu ergeben waren. Und wir hören von Ali, dem Tapfersten der Gruppe, dem Löwen Gottes mit Gottes Stärke. Mit seinem glänzenden Krummschwert Zulfikar beschützte er seinen Herrn im dichtesten Kampfgetümmel.
Als wir vor drei Monaten im Lager angekommen sind, hat uns Rotbart neue Namen gegeben. Er hat uns nach den Gefährten des Propheten benannt, in der Hoffnung, dass wir auch ihre Tapferkeit und Ergebenheit annehmen würden.
In unserem Lager gibt es kein Auswendiglernen ohne Verständnis, keine Rezitation ohne Überzeugung. Rotbart führt unsere Diskussionen an, und jeder Junge darf etwas sagen. Wir sprechen über Gott und Satan, Engel und Dschinnen, Anführer und Arme, Helden und Bösewichte. Wir sprechen über Schlachten, die gegen den Unglauben, gegen fleischliche Gelüste und gegen die malische Armee gewonnen werden wollen.
Und als diejenigen, die ungläubig sind, gegen dich Ränke schmiedeten, um dich festzunehmen oder zu töten oder zu vertreiben. Sie schmiedeten Ränke, und Gott schmiedete Ränke. Gott ist der Beste derer, die Ränke schmieden.
Als wir diese heiligen Worte rezitieren, merke ich, dass ich schaudere – aber nicht vor Kälte, sondern vor Aufregung.
Nach der Rezitation macht Rotbart eine Ankündigung. »Ich habe gerade einen Anruf erhalten, Jungs. Gao ist gefallen! Die Tuareg haben die Stadt heute Morgen zusammen mit einem unserer Al-Qaida-Bataillone eingenommen und bereits vollständig unter ihre Kontrolle gebracht.«
Jubel brandet auf. Hilal reißt seinen Turban ab und wirft ihn in die Luft.
»Kidal und Gao gehören uns«, ruft Rotbart. »Als Nächstes ist Timbuktu dran. Wenn Timbuktu fällt, herrschen wir über die gesamte Sahara. Wir werden die Völker der Wüste wieder dazu bringen, den einen wahren Gott anzubeten, und nach der Wüste die ganze Welt! Von dort, wo die Sonne aufgeht, bis dahin, wo sie untergeht!«
Ich bin plötzlich bester Laune. Jemand hinter mir klopft mir auf den Rücken. Es ist ein wunderbarer Moment.
»Aber seid gewarnt«, sagt Rotbart. »Timbuktu ist nicht wie die anderen Städte. Die Armee ist hier stark vertreten und sie rechnen mit unserem Überfall. Wir müssen gerissen sein wie Schlangen.«
Ein aufgeregtes Gemurmel geht durch die Reihen. Wenn unser Herr Gerissenheit braucht, soll er sie bekommen! Wir geben ihm alles, was er verlangt, und sogar noch mehr.
»Sobald es dunkel wird«, sagt Rotbart, »wird Alhassan Litni mit hundertfünfzig seiner besten Kämpfer herkommen. Wie ihr wisst, ist Litni ein Tuareg-Führer und ein tapferer Krieger. In den letzten Jahren hat er viele Schlachten gegen die malische Armee geschlagen und dieser schwere Verluste zugefügt. Daher erweise ich ihm die Ehre, ihn den Einsatz leiten zu lassen.«
Ich bin enttäuscht. Ich hatte gedacht, Rotbart selbst würde uns in die Schlacht führen – und nicht dieser hinterhältige Kameltreiber Alhassan Litni.
»Litni wird euch gut führen«, fährt Rotbart fort, »aber es gibt etwas, das ihm und seinen Männern fehlt.«
»Seife«, murmele ich.
»Nein!« Rotbart funkelt mich an und einen aufgeregten Moment lang glaube ich, er wird mich schlagen. »Was Litnis Bataillon fehlt, ist Diskretion. Wenn wir das Überraschungsmoment nutzen wollen, brauche ich zehn von euch, die als Vorhut lautlos in die Stadt eindringen. Die Jungen, die ich auswähle, müssen unsichtbar, unhörbar und tödlich sein. Wie Dschinnen.«
Schon gehen die ersten Hände in die Luft, flehende Hände, die so hoch gereckt werden, dass jede Sehne zum Zerreißen gespannt ist. Meine Hand schießt ebenfalls nach oben, angetrieben von Gott selbst.
»Sie müssen kräftig gebaut sein, schnell zu Fuß, Gott und unserer Sache treu ergeben. Sie müssen bereit sein zu töten – und getötet zu werden.«
Auch Umar reckt die Hand. Es gibt keinen einzigen Jungen hier, der sich nicht nach dem Ruhm des Märtyrertods sehnt.
»Wie gesagt, zehn von euch genügen. Ich nehme …« Sein Zeigefinger fährt durch die Luft. »Hilal, Hamza, Rashid, Malik, Bilal, Usman, Zayd, Jabir, Umar und Ali Konana.«
Am liebsten würde ich aufspringen und einen Freudenschrei ausstoßen, aber das wäre unrühmlich. Stattdessen nicke ich nur.
»Ali, du wirst heute Nacht nun wirklich das tun, was du vorhin geübt hast. Du wirst dich mitten in der Nacht in die Stadt schleichen, die Mauer zur Sidi-al-Baqqai-Kaserne hinaufklettern und den Angriff auf das Lager des Feindes anführen.«
Heute Nacht. Ja, natürlich. Ich habe es in meinen Träumen gesehen.
»Es wird Wachen geben«, warnt mich Rotbart. »Keine Termitenhügel und Erdnusssäcke, sondern lebendige, atmende, Bier saufende Ungläubige mit Sturmgewehren. Geh kein Risiko ein, Ali. Wenn ein Wachmann dich sieht, eröffne das Feuer. Ansonsten warte, bis der Rest deiner Kameraden zu dir hochgeklettert ist. Wartet so lange wie möglich, bevor ihr den Feind angreift. Bleibt ruhig. Die Überraschung ist auf eurer Seite. Ali, Hilal, Hamza, Rashid und Jabir, ihr seilt euch zum Boden ab, kämpft euch den Weg durch die Kaserne frei und öffnet Litni und seinen Männern das Tor. Malik, Bilal, Usman, Zayd und Umar, ihr bleibt oben auf der Mauer und gebt ihnen Feuerschutz.
Sobald die Kaserne eingenommen ist, teilt ihr euch auf und geht mit Litnis Männern zum Radiosender, zum Hauptquartier der Polizei und zum Flughafen. Dort erwarte ich wenig bis gar keinen Widerstand. Morgen Mittag wird Timbuktu uns gehören.
Geht mit Gott, Jungs. Haltet euren Brüdern den Rücken frei und zeigt keine Gnade mit dem Feind. Friede sei mit euch.«
Sidi Ahmed ben Amar war einer der Heiligen von Timbuktu. Er war Lehrer an der Sankoré-Moschee und bekannt für seine Liebe zu Gott und seine freundliche Art. Er hatte viele Schüler, die ihn alle verehrten.
Eines Tages nahm ben Amar von einem einäugigen Händler der Berabisch einen Kredit und versprach, das Geld binnen vierzig Tagen zurückzuzahlen, sobald seine Salzkarawane aus der Wüste eingetroffen sei. Die vierzig Tage verstrichen, aber ben Amars Salzkarawane war immer noch nicht angekommen. Der Händler kam zu ben Amar und drohte ihm mit der Faust. »Zahl mir, was du mir schuldest!«, rief er.
»Hab Geduld, mein Freund«, sagte der Heilige. »Ein Mensch schmiedet Pläne in seinem Herzen, aber sein Schicksal liegt in Gottes Hand. Gib mir noch drei Tage, um meine Schulden zu begleichen.«
»Vierundzwanzig Stunden«, sagte der Berabisch und ging davon.
Sidi Ahmed ben Amar lief auf direktem Weg zum Stadtoberhaupt von Timbuktu und verkündete, dass in dieser Nacht Gottes Gewalt über Timbuktu hereinbrechen werde. Das Stadtoberhaupt gab es an den Ausrufer weiter und der Ausrufer ging mit einer großen Trommel durch die Stadt. Er rief alle dazu auf, in ihren Häusern zu bleiben, da ein Wunder zu erwarten sei.
In jener Nacht ging Sidi Ahmed ben Amar hinaus in den Hof und breitete seinen Gebetsteppich unter den Sternen aus. Er schloss die Augen, beugte sich vor und begann zu beten. Was dann geschah, wird bis heute in allen Nomadenlagern der Sahara besungen.
Eine riesige Salzplatte fiel vom Himmel. Sie landete direkt neben der Stelle, an der ben Amar betete. Eine riesige Platte. Und dann noch eine.
Richtig, Salzplatten fielen vom Himmel.
Ben Amar betete viele Stunden lang. Um ihn herum fiel Salz herab und ein starker Wind rüttelte an Timbuktus Dächern. Die Menschen kauerten sich in ihren Häusern zusammen, knirschten mit den Zähnen und baten Allah um Gnade.
Die Salzplatten fielen so hart und schnell, dass sich ein tiefer Krater im Hof auftat, doch ben Amar betete weiter. Um drei Uhr morgens zog sich Halimatu, die dritte Frau des Heiligen, aus und rannte nach draußen. Sie kletterte über die Salzplatten zu ihrem knienden Ehemann und riss ihm die Gebetskette aus der Hand. »Hör auf!«, rief Halimatu. »Du wirst uns alle umbringen! Hör auf!«
Der Anblick seiner nackten Frau lenkte ben Amar von seinen Gebeten ab und das Salz hörte auf zu fallen.
Noch Monate nach dem Wunder bezahlte niemand in Timbuktu Geld für Koch- oder Viehsalz. Die Menschen holten es sich kostenlos aus Sidi Ahmed ben Amars Hof. Selbst der einäugige Händler kam, um den Heiligen um Vergebung zu bitten – und um etwas Salz.
Heute gibt es hinter der Sankoré-Moschee, wo das Salz gelandet ist, einen Krater. Er heißt Takaboundou-Krater. Ben Amars Grab befindet sich auf dem Friedhof der drei Heiligen im Südwesten Timbuktus, und aus ganz Afrika kommen Menschen, die das Mausoleum besuchen und um Dinge bitten, die sie brauchen. Sie führen einen speziellen Wirbeltanz auf und singen diese Worte:
Wir erbitten deinen Segen, Sidi Ahmed ben Amar,
Sohn von Sidi el Wafi, Sohn von Sidi el Moctar,
Wir bitten dich um unser täglich Salz, Sidi Ahmed ben Amar,
Lass den Himmel auf uns regnen.
Die Nachmittagshitze ist unerträglich und die Stimmung im Club langsam gereizt.
»Ach, komm, Kadija, wir bereiten uns auf eine Hochzeit vor, nicht auf eine Kundgebung«, sagt Alpha und zeigt mit einem Balafonschlägel auf mich. »Die Politsongs lassen wir besser weg.«
Ich bin mit der Band im Club La Détente in Timbuktu und wir proben für die Hochzeitsfeier meiner Freundin Tondi, die in zwei Wochen stattfinden soll. Wir sitzen auf Hockern auf der ehrwürdigen Bühne, wo so viele Musikergrößen Malis sich zum Ruhm gezupft, gespielt und gesungen haben: Der König des Blues Ali Farka Touré, Salif »Die goldene Stimme« Keita, Kandia »La Dangereuse« Kouyaté. Eines Tages werden unsere Namen vielleicht im selben Atemzug mit ihren genannt werden und unsere Fotos neben ihren an den Wänden des La Détente hängen. Aber nur, wenn wir uns nicht vorher gegenseitig umbringen.
»›Alla La Ke‹ ist kein Politsong«, erkläre ich. »Es ist ein Lied für den Frieden, ein Ruf des Herzens für unser Land.«
Unser Land. In den letzten Jahren hat sich ein schrecklicher Schatten über uns gelegt. Im Radio ist die Rede von Entführungen, Aufständen und Morden, von dunklen Kräften, die sich in der Wüste sammeln, auf einen Angriff vorbereiten. Und seit dem Staatsstreich letzte Woche ist die Angst unser ständiger Begleiter. Mein Vater sagt, dass al-Qaida und die Tuareg jetzt zusammenarbeiten. Sie haben Kidal unter ihre Kontrolle gebracht, aber damit werden sie sich nicht zufriedengeben. Sie werden auch Gao angreifen. Und dann Timbuktu.
»Wir singen keine Politsongs«, wiederholt Alpha und starrt mich mit seinen blicklosen Augen an.
»Das ist nicht politisch!« Ich fuchtele mit dem Finger, auch wenn der blinde Alpha es nicht sehen kann. »Wenn ein Vogel einen Holzfäller entdeckt, der den Baum fällen will, auf dem sich sein Nest befindet, und daraufhin piept, um seine Familie zu warnen, nennst du das etwa politisch?«
»Allerdings«, sagt er.
»Du willst nur nicht zugeben, dass du falschliegst«, fahre ich ihn an. »Was sagst du dazu, Yusuf? Wenn wir beide nackt im großen Fluss schwimmen und ein Krokodil packt mich und du rufst um Hilfe, ist das dann politisch?«
Yusufs Pupillen weiten sich und seine Fingerspitzen auf den Saiten der Ngoni verkrampfen. »Das haben wir noch nie gemacht«, murmelt er und die anderen brechen in Gelächter aus.
»Wir singen das Lied«, erkläre ich kategorisch. »Ich bin die Bandleaderin und ich sage, wir singen das Lied.«
Nach der Probe gehe ich mit Aisha nach Hause. Die Hirsestampfer überall um uns herum liefern den Rhythmus zu unseren Schritten. Tock-tock, tock-tock, tock-tock-tock. Wippend laufen wir nebeneinanderher durch den rot getönten Nachmittag.
»Es ist grausam, wenn du so mit Yusuf flirtest«, sagt Aisha und nimmt meine Hand. »Du weißt doch, dass er verrückt nach dir ist.«
»Das ist kein Flirten«, sage ich. »Wenn du ein Fulbe-Mädchen wärst, würdest du das verstehen. Es ist normal für Fulbe-Mädchen, ihre Cousins zu necken.«
»Und sie zu heiraten«, entgegnet sie. »Liebst du Yusuf?«
»Nur, wenn er Ngoni spielt. Sobald er aufhört zu spielen, höre ich auf, ihn zu lieben.«
»Na, dann«, sagt sie, »hör auch auf, ihm falsche Hoffnungen zu machen.«
Wir kommen am Brunnen der alten Buktu vorbei und nehmen die Abkürzung über den Markt. Die Sonne ist um diese Jahreszeit so sengend, dass sie einem das Hirn verbrennt. Als ich die Augen schließe, sehe ich die blauen und rosa Umrisse der Marktstände auf den Innenseiten meiner Augenlider.
»Ich mache ihm gern falsche Hoffnungen«, sage ich. »Das gibt mir ein Gefühl der Macht.«
Aisha wirft mir einen bösen Blick zu, und es gelingt mir ganze zwei Sekunden ernst zu bleiben, bevor ich in Gelächter ausbreche.
»Kommt mal her, Mädchen!«, ruft eine Frau. »Ich habe was für euch.« Es ist Mamas Freundin, Halimatu Tal, die kleine Hirsepfannkuchen über einem Feuer brät. Sie steckt vier Pfannkuchen in eine Plastiktüte und gibt sie mir.
»Danke, Tante Halimatu«, sage ich und mache einen Knicks.
Am Ausgang des Marktes feilscht eine alte Frau mit einem Händler um einen Sack Reis.
»Vierzigtausend Francs«, sagt der Händler.
»Sie bringen mich um«, sagt die Frau. »Letzte Woche waren es noch dreißig.«
»Und jetzt sind es vierzig«, sagt der Händler ungerührt.
»Verrückt«, murmele ich im Vorbeigehen. »Nur die Frau des Bürgermeisters kann es sich leisten, Reis für vierzigtausend den Sack zu essen.«
»Wenn du einen Sack Reis willst, solltest du vor dem Tor des Bürgermeisters ›Alla La Ke‹ singen«, sagt Aisha. »Ich habe gehört, er mag Politsongs.«
Ich schubse sie gegen einen Esel hinter ihr und sie quiekt lachend auf.
Wir verlassen den Markt durch das westliche Tor und schlendern den Toumani-Boulevard entlang auf den Unabhängigkeitsplatz zu. Als wir gerade an der Sidi-Yahya-Moschee vorbeikommen, ruft mein Vater an.
»Komm schnell nach Hause«, sagt er. »Die Rebellen haben Gao eingenommen.«
Timbuktu ist eine behäbige Stadt, vor allem in der heißen Jahreszeit. Die Leute bummeln. Wenn sie spät dran sind, schlendern sie. Aber nachdem sich diese Nachricht auf dem Unabhängigkeitsplatz wie ein Lauffeuer verbreitet hat, wird zügig geschritten und teilweise sogar gerannt. Wenn Gao gefallen ist, trifft es als Nächstes Timbuktu.
Unglaublich, dass Gao so schnell erobert wurde. Mein Vater hatte angenommen, es würde Wochen dauern, aber es waren nur zwei Tage.
Ich verabschiede mich von Aisha und überquere den Platz allein, vorbei an der Statue von Al Farouk, dem großen Dschinn, unter dessen Schutz Timbuktu steht. »Viel Glück, Al Farouk«, murmele ich im Vorbeigehen. »Du hast einiges zu tun.«
Ich biege nach rechts in den Askia-Boulevard ab, dann ducke ich mich und betrete durch einen Torbogen aus Lehmziegeln unseren Hof.
Marimba, der Hengst meines Vaters, leckt an einer Salzplatte in seinem Trog. Als er das Knarren des Tors zu seinem Pferch hört, sieht er auf und wiehert mir zu.
»Halt dich von mir fern«, sage ich. »Ich habe dir immer noch nicht vergeben.«
Es ist über zehn Jahre her, dass Marimba mich getreten hat, aber seitdem bin ich nie wieder geritten. Wenn etwas gefährlich ist, gib dich besser nicht damit ab, ist meine Devise.
Ohne Marimbas glänzenden Blick zu beachten, gehe ich am äußeren Rand des Pferchs entlang und husche in eine schmale Lücke hinter den Heuballen. Im Dunkeln taste ich mich an der Wand entlang, bis ich finde, wonach ich suche: eine alte Holztür mit Silberbeschlägen. Nur acht Lebewesen wissen von dieser Tür – sieben Menschen und ein Pferd.
Ich ziehe die Tür leise auf und steige auf Zehenspitzen die Lehmziegeltreppe hinab. Seit ich klein bin, liebe ich den erdigen, papiernen Geruch dieses geheimen Magazins. Den Geruch nach Weisheit, wie Baba dazu sagt.
Eine Petroleumlampe auf dem Tisch taucht die Wände der unterirdischen Kammer in ein unheimliches orangefarbenes Licht. Möbliert ist der Raum mit einem Tisch, einem Stuhl und einem riesigen Bücherschrank. Der einzige Schmuck ist eine Moukhala, eine Muskete aus dem siebzehnten Jahrhundert, die an der Wand über der Treppe hängt. Ihr hölzerner Kolben ist mit kunstvollen, verschnörkelten Intarsien aus Elfenbein versehen und das versilberte Schloss glänzt.
Mein Vater nimmt Manuskripte von Schrankbrettern und packt sie in Metallkisten. Er hat mir den Rücken zugekehrt und zuckt zusammen, als er meine Hand auf der Schulter spürt.
»Kadija, schleich dich nicht so an mich ran.«
»Schon wieder Stromausfall, Baba?«
»Ich fürchte, ja.« Im Schein der Petroleumlampe wirkt sein Gesicht fahl und hohlwangig.
»Schaffst du die Handschriften aus dem Magazin weg, Baba?«
»Nein, ich mache sie nur transportfähig. Ich glaube nicht, dass die Rebellen Timbuktu einnehmen werden. Der hiesige Armeestützpunkt ist zu stark für sie.«
»Dasselbe hast du über Kidal und Gao auch gesagt.«
»Das ist doch der Beweis«, entgegnet er lächelnd. »Ich irre mich nie dreimal hintereinander. Jetzt hör auf zu quasseln, Mädchen, und mach dich an die Arbeit. Ich möchte, dass du ein Verzeichnis dieser Handschriften für mich anlegst.«
Ich setze mich an den Tisch und ziehe Notizbuch und Bleistift zu mir. ›April 2012‹ steht in arabischer Schrift auf dem Deckblatt. ›Neue Aufbewahrungsorte der Manuskripte‹.
»Heiligengeschichten«, sagt Baba und nimmt ein Manuskript aus dem Schrank. »Tarikh von Sidi Ahmed ben Amar.« Er legt es in die Kiste.
»Sidi Ahmed ben Amar«, wiederhole ich, während ich den Namen in das Buch schreibe. »Kiste zweiunddreißig.«
Er nimmt ein anderes Manuskript in die Hand. »Tarikh von Sidi Yahya.«
»Sidi Yahya.«
»Tarikh von Mohammed Fodiri al-Wangari.«
»Al-Wangari.«
»Tarikh von Sidi al-Baqqai.«
»Al-Baqqai.«
Das einzige Geräusch im Magazin ist das Rascheln von Handschriften, das Kratzen des Bleistifts auf Papier und der Singsang der Manuskripttitel. Die heiligen Namen unterdrücken unsere Ängste und kühlen unser Blut. Sie führen uns vierhundert Jahre zurück ins goldene Timbuktu, ein Zeitalter der Edelleute, Heiligen und Gelehrten. Sie bringen unseren Herzen Frieden.
Stunden später, mitten in Kiste fünfundsechzig, reißt uns der Ruf zum Abendgebet aus unserer Entrückung und trägt uns zurück in die Menschenwelt dort oben.
Mein Vater gähnt und rekelt sich. »Wir werden noch mehr Kisten brauchen«, sagt er. »Nach dem Abendgebet werde ich beim Schmied noch zwanzig bestellen.« Er holt sein Telefon hervor und geht auf die Treppe zu.
»Baba, warte«, sage ich. »Wie behandeln die Rebellen die Leute in Gao und Kidal?«
»Mach dir nicht so viele Gedanken.« Er dreht sich zu mir um. »Der Aufstand der Rebellen richtet sich gegen die Regierung und die malische Armee, nicht gegen einfache Leute wie uns.«
»Was ist mit den Frauen?«, frage ich. »Werden sie … werden sie bedroht?«