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Blut ist dicker als Wasser. Zumindest bei den Brüdern Marko und Ian, trotz ihres vollkommen verschiedenen Temperamentes. Was die beiden jedoch teilen, ist der optimistische Traum einer gemeinsamen, erfolgreichen Zukunft. Die Brüder werden auf eine harte Probe gestellt, die in dem Moment beginnt, als Blut aus einem Bahnhofsschließfach quillt. Einem Schließfach, dessen Überwachung Marko obliegt, und zwar nicht nur im offiziellen Rahmen, sondern auch unter der Hand durch seinen Auftraggeber Karl Frank. In einer plötzlichen Eingebung nimmt Marko die Koffer an sich und unterschätzt die Gefahr, in die er sich damit begibt. So wird auch Ian in die dunklen Machenschaften Karl Franks hineingezogen. Die Brüder versuchen, der Gewaltspirale zu entfliehen, die sich um sie herum auftut. Schon bald sieht Marko seinen verhängnisvollen Fehler ein und muss alles tun, damit er und Ian nicht selbst den Preis dafür bezahlen. Denn Frank schreckt vor nichts zurück. Er zieht nicht nur die Drähte in der ganzen Stadt, sondern auch seine Mitarbeiter wie an Marionettenfäden. Davon ist nicht nur Marko betroffen, sondern auch Stefan, Karl Franks Handlanger, der ebenso gefühlskalt wie sein Auftraggeber ist. Es sei denn, wenn es um Elena geht… Kann einer von ihnen der Gefahr entkommen, oder endet das Abenteuer so blutig, wie es angefangen hat?
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Seitenzahl: 252
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David Bilkei
Blut
Impressum
Schliessfach 17
Der Fremde mit dem Aktenkoffer
Theo Niedermeier
Inhalt Schliessfach 17
Gregory und die Wasserleiche
Der Ramschladen
Die Stadt
Das Haus im Baugerüst
Der verborgene Lastenaufzug
Der dritte Mann
Zu Hause bei Elena Tanner
Die Leiche im Fluss
Rückzug
Die Demonstration
Der Inhalt der Koffer
Im Spital
Gott spielen
Die Entspannung
Die Übergabe
Ein Teil der Wahrheit
Das kleine Segelboot
Der Soldat mit den Stiefeln
Der Brunnen im Keller
Elena verlässt Stefan
Eine frische Blutlieferung
Parabiose
Der Mord
Heimweg
© 2024 Münster Verlag, Zürich
1. Auflage
Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften oder Zeitungen, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen oder in anderen elektronischen Formaten. Dies gilt auch für einzelne Bilder oder Textteile.
Autor: David Bilkei
Gestaltung und Satz: Cedric Gruber
Lektorat: Pablo Klemann, Sibylle Kappel (Unterwegs Verlag, Singen)
Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm
ISBN 978-3-907301-66-1
Printed in Germany
www.muensterverlag.ch
„Blut fliesst aus Schliessfach 17“, sagte Marko in sein Smartphone, zuckte dabei unsicher mit den Schultern und schaute nach links und rechts, um zu sehen, ob ihn jemand auf dem Perron beobachtete. Er hielt sein Smartphone ans Ohr. Am anderen Ende war sein Arbeitgeber, welcher wegen diesem Vorfall aufgebracht war. Marko war sein Laufbursche an diesem kleinen Bahnhof am Rande der Stadt.
Vor sich sah er eine Wand mit Schliessfächern. Der Bahnhof mit drei Gleisen hatte ein Perron zwischen den Gleisen zwei und drei. Beim Gleis eins parallel zum Perron stand eben diese Wand mit 40 Schliessfächern. Links daneben war das kleine, heruntergekommene Bahnhofsgebäude, in dem Marko nachlässig wie immer den Morgen an sich vorbeiziehen liess. Marko sass jeweils tief in den Stuhl versunken da und sehnte sich das Schichtende herbei. Dies rächte sich jetzt. Denn hätte er seinen regelmässigen Kontrollgang gemacht, hätte ihm Schliessfach 17 ins Auge fallen müssen.
Die Sonne schien durch eine Wolkenschicht hinter Marko und warf einen krummen Schatten seines grossgewachsenen, schlanken Körpers auf die Schliessfächer. Er schaute auf das Fach 17, aus dem dieses Rinnsal Blut floss. Nervös und irritiert zupfte Marko an seiner Dienstbekleidung, auf der in schwarzen Lettern „Sicherheit“ stand. Doch dies war nur ein Teil seiner Tätigkeit hier. Marko bezog noch einen zweiten Lohn in doppelter Höhe von dem Mann, mit dem er gerade am Telefon sprach. Seine Aufgabe bestand darin, dafür zu sorgen, dass es an diesem Bahnhof ruhig blieb. Mehr wusste er auch nicht über seinen Job. Das zusätzliche Gehalt war reizvoll genug, um keine weiteren Fragen zu stellen. Wie konnte er doch nur so kurzsichtig denken und glauben, dass das für immer gut gehen würde. Blut, das aus einem Schliessfach floss, das war nicht gut, und das traf ihn nun mit aller Wucht.
Markoräusperte sich. „Nun“, fuhr er fort. „Ich konnte leider nichts tun. Der Sicherheitsdienst auf der Zentrale hat bereits davon Wind gekriegt, dass hier etwas nicht in Ordnung ist.“
„Bring das gefälligst in Ordnung“, wies ihn die nasal klingende Stimme aus dem Telefon zurecht. „Ich zahle dir nicht noch zusätzlich zu deinem Lohn als Bahnhofswärter das Doppelte, damit bei der Zentrale ungewünschte Telefonanrufe eingehen. Wie konnte es passieren, dass du das nicht gesehen hast und dass deine Vorgesetzten auf der Zentrale davon wissen und du erst von ihnen davon erfahren hast? Wir haben nicht diesen Standort für die Übergabe gewählt, damit uns die Idioten aus der Zentrale auf die Pelle rücken.“ Die Stimme von Markos Arbeitgeber klang bedrohlich. Dann folgte eine kurze Atempause. Marko hörte dann dieses Atmen durch den Hörer. Seine Nackenhaare stellten sich auf.
“Ich bezahle dich dafür, dass alles ruhig bleibt, dass eben solche Sachen nicht passieren, dass wir unbehelligt bleiben, du Vollidiot. Willst du als Treibholz enden?“
„Sehr geehrter Herr Karl Frank“, sagte Marko nun äusserst vorsichtig, denn er wusste, was es mit dem Treibholz auf sich hatte. Ein Teil der Macht Karl Franks bestand darin, dass er die Leichen seiner Widersacher den Fluss runtertreiben liess. Ein Pranger mit der unmissverständlichen Botschaft, wer in dieser Stadt letztlich das Sagen hatte.
„Seien Sie versichert“, fuhr Marko fort“, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um die Sache zu regeln. Ich konnte wirklich nichts tun. Offenbar hat eine ältere Dame sich direkt bei der Zentrale des Sicherheitsdienstes gemeldet, anstatt bei mir. Ich wäre ja gleich nebenan im Bahnhofsgebäude gewesen und habe erst davon erfahren, als sich die Sicherheitsbeamten der Zentrale telefonisch bei mir gemeldet haben“, versicherte Marko noch einmal.
Er unterliess es natürlich zu erwähnen, dass er es sich in seinem Bürostuhl gemütlich gemacht hatte, als dies alles geschehen war. Die letzten Monate war immer alles so ruhig an diesem kleinen Bahnhof, dass er sich zunehmend sicher fühlte und somit unvorsichtig wurde, beziehungsweise seine Pflichten schleifen liess. Wer rechnete schon damit, dass Blut aus einem Schliessfach fliessen würde?
„Die alte Dame ist auch schon wieder weg. Es ist ein fürchterlicher Zufall, der sich hier ereignet hat.“
Durch den Telefonhörer hörte Marko wieder flaches Atmen. Dann folgte eine kurze Pause – ein kurzer Moment unheimlicher Ruhe, bevor Karl Frank sagte: „Keine Ausreden. Bring das in Ordnung. Es ist deine Verantwortung, dass es an diesem Bahnhof reibungslos läuft.“
Marko hörte ein Klicken. Karl Frank hatte aufgelegt. „Diese eigenartige Stimme“, dachte sich Marko. Wie ein Schwarm Insekten hatte sie seine Haut befallen. Diese Sache sah nicht gut ausfürMarko.
Konsterniert stand er nun da. „Verfluchte 17“, murmelte er vor sich hin. Er nahm vier Taschentücher, mehr hatte er nicht bei sich, aus seiner Hosentasche und wischte das Blut ab, das nun bereits quer über die Türe des darunterliegenden Schliessfaches geflossen war und auf den Boden tropfte.
Markohörte das Läuten der Bahnhofsanlage, die einen heranfahrenden Zug ankündigte. Die Zeit drängte.Während Marko Richtung Bahnhofsgebäude lief, faltete er die Taschentücher, mit denen er das Blut aufgewischt hatte, vorsichtig, damit kein Blut auf seinen Handflächen zurückblieb. Dann warf er sie in einen Abfalleimer, an dem er vorbeikam.
„Was sich wohl in Schliessfach 17 befindet?“, fragte er sich.
Als er beim kleinen Bahnhofsgebäude ankam, bremste der einfahrende Zug quietschend ab, bis er zum Stillstand kam. Um unbekümmert zu wirken, zündete Marko sich eine Zigarette an und begann daran zu ziehen. Doch sein Herz pochte wie verrückt. Das kurze Telefongespräch mit Karl Frank ging ihm nochmals durch den Kopf. Er dachte an den Pranger, diese Leiche im Fluss.
Die Türen des Zuges öffneten sich. Zwei Herren in Uniform stiegen aus. „Nun gilt es, den Sicherheitsdienst davon zu überzeugen, dass an diesem kleinen Aussenbahnhof wieder Ruhe und somit Routine einkehren kann“, dachte er sich. Sollte ihm das nicht gelingen und es würde eine Untersuchung seitens der Beamten eingeleitet – das würde ihn wohl teuer zu stehen kommen. Karl Frank verzieh niemals. Marko zog nochmals nervös an der Zigarette.
Der kleinere der beiden Herren, der voranging, stolperte auf der letzten Treppenstufe des Zuges und fiel beinahe hin. Die Passagiere auf dem Perron schmunzelten, was seinem Vorgesetzten nicht entging. „Passen Sie doch auf, Wenzel“, fauchte ihn der Vorgesetzte an. Wenzel rückte beleidigt seine Uniform zurecht. „Bitte um Entschuldigung, Herr Färber“.
„Schon besser“, entgegnete Färber, welcher Wenzel nun musterte. „Wir sind von der Zentrale und die Visitenkarte des Unternehmens.“
Ihre Blicke schweiften von links nach rechts und blieben dann bei Marko stehen. Die Sicherheitsbeamten Färber und Wenzel aus der Zentrale gingen auf Marko zu. Marko nahm einen letzten kräftigen Zug der Zigarette, warf sie auf den Boden und zerrieb sie unter seinen Schuhsohlen. „Ruhig Blut“, dachte er sich. „Die haben nur ihre Anweisungen. Einfach ruhig bleiben und kooperieren.“
„Wo brennt‘s denn?“, sagte der kleine Wenzel, um in Bezug auf das Ausdrücken der Zigarette witzig zu wirken.
„Nun ja, Sie haben ja den Anruf direkt in die Zentrale bekommen. Schade, dass man Sie hierherbemüht hat. Hier ist alles ruhig und nimmt wie immer alles seinen gewohnten Lauf“, antwortete Marko.
„Richtig, bitte führen Sie uns zum Schliessfach“, sagte der Vorgesetzte Färber. „Es ist eigentlich keine Sache, welche die Präsenz der Zentrale erfordert, schon gar nicht die Anwesenheit einer Person in meiner Funktion. Doch ich dachte, es sei eine gute Gelegenheit, wieder einmal diesen Provinzbahnhof in Augenschein zu nehmen“, sagte Färber stolz.
„So kann ich gleich meinen jährlichen Bericht über den Gesamtzustand machen und diesen an die Zentrale rapportieren“, fuhr Färber fort. Er klatschte in die Hände, um die Aufmerksamkeit Wenzels auf sich zu ziehen, wie man es bei einem ungehorsamen Hund tun würde.
„Nun, um welches Schliessfach handelt es sich denn?“, wollte Färber wissen.
„Sieben, sieben, sieben“, runzelte Wenzel die Stirn und rieb sich dabei bedächtig am Kinn. Er hatte vergessen, dass es sich um Schliessfach 17 handelte – das hatte er beim Telefonat mit der alten Dame geistesabwesend auf die Gratiszeitung gekritzelt. Nur dass es etwas mit Sieben war, daran mochte er sich erinnern.
„Schliessfach 37!“, warf Marko ein, weil er die Verunsicherung Herrn Wenzels bemerkt hatte. Marko nahm die Sache gleich selber in die Hand. Schliesslich konnte er es nicht riskieren, dass das Schliessfach 17 geöffnet werden würde.
Herr Färber wandte sich an Wenzel.
„Nun? Stimmt das überein mit dem Anruf, den Sie geführt haben mit der älteren Dame?“
Um sich keine Blösse zu geben und der berechtigten Befürchtung, wohl wieder von seinem Vorgesetzten Färber zurechtgewiesen zu werden, nickte Wenzel und sagte: “Jawohl, 37, genau 37“, und ergänzte, um überzeugend zu wirken, „Ganz gewiss Schliessfach 37.“ Wenzel grinste zufrieden. Er hatte erfolgreich eine weitere Schelte seines Chefs abgewendet.
„Nun gut“, sagte Färber und ergänzte mit einer nickenden Kopfbewegung in Richtung Marko, „worauf warten Sie, die Zentrale wartet auf den Rapport. Führen Sie uns hin.“
„Selbstverständlich, hier entlang bitte. Gleich dort drüben ist die 37.“
Marko deutete in Richtung der Schliessfächer und ging voraus. Die beiden Herren folgten ihm. Als sie etwa 15 Meter davon entfernt waren, war das Rinnsal Blut, welches aus Schliessfach 17 tropfte, deutlich zu erkennen. Doch es blieb in diesem Augenblick von den beiden Beamten unbemerkt, was Marko zu seinem Vorteil nutzte.
Um die Aufmerksamkeit der beiden Herren auf sich zu ziehen, machte Marko eine beiläufige Bemerkung über den Zustand der Gleise und hoffte, dass sich dies im Bericht auf der Zentrale wohl gut machen würde. Die beiden Herren nickten zustimmend.
„Notieren“, sagte Färber zu Wenzel. „Ich diktiere!“
„Jawohl“, erwiderte Wenzel und kritzelte eifrig in sein Notizbuch. So blieb das Schliessfach 17 von den beiden Beamten unbemerkt.
Der Rest warfürMarko einfach zu handhaben. Er brauchte das Schliessfach 37 auch gar nicht erst zu öffnen, denn es war leer und dessen Türe stand weit offen, was die beiden Beamten der Zentrale mit Erstaunen zur Kenntnis nahmen.
„Das ist aber sonderbar“, sagte Wenzel. „Die Dame am Telefon klang so überzeugend.“ Färber regte sich auf: „Nun sind wir wegen eines leeren Schliessfachs extra hergekommen?“
Er griff nach dem blauen, gebogenen Türgriff von Schliessfach 37 und riss es auf, um die Türe fluchend wieder zuzuschlagen. Sie krachte mit einem lauten Knall zu, um dann sogleich wieder aufzuschwingen, als wollte sie sich über den Vorgesetzten Färber lustig machen. Zumindest empfand dieser es so.
Färber drehte sich zu Wenzel um, der nun einen Schritt nach hinten gewichen war. „Was meinen Sie eigentlich damit, dass die Dame am Telefon überzeugend klang?“, wollte er nun von Wenzel wissen.
„Nun ja“, versuchte dieser sich rauszuwinden, „sie hat sich klar geäussert, die Uhrzeit genannt, dass sie sich hier befindet und dass Blut aus Schliessfach 37 läuft. Sie war ziemlich aufgelöst. Ich habe ihr zugehört und versucht, sie zu beruhigen.“
„Haben Sie eigentlich den Verstand verloren? Blut, das aus einem Schliessfach läuft an einem unserer Bahnhöfe. Ich bin bereits seit über 30 Jahren im Dienst und mir ist noch nie, gar nie, etwas Derartiges untergekommen. Und Sie schleifen mich deswegen hierhin?“, sagte Färber ausser sich.
Er deutete auf das leere, offene Schliessfach Nummer 37. „Blut, sehen Sie Blut oder was?“ Weil Färber merkte, dass er gleich die Fassung verlieren würde, wandte er sich von Wenzel ab und Marko zu.
„Sehen Sie Blut?“
„Nein.“
„Und ist dies Schliessfach 37?“, doppelte Färber nach.
Um dem „Nein“ Nachdruck zu verleihen, griff Marko nach dem Türgriff von Schliessfach 37, sodass er die Nummer gut lesen konnte. Er drehte die Türe dann so, dass die beiden Herren die Nummer gut erkennen konnten.
„Tatsächlich, 37“, sagte Marko und zuckte mit den Schultern.
„Tatsächlich, 37“, wiederholte Wenzel erstaunt, der nun gar nicht mehr wusste, wo er hinschauen sollte. Noch eine verbale Attacke seitens seines Chefs wollte er tunlichst vermeiden. Eine weitere Bemerkung konnte er sich aber dann doch nicht verkneifen, zu sehr fühlte er sich in seinem Stolz verletzt.
„Doch die Dame sagte mir ganz gewiss, dass etwas aus Schliessfach 37 läuft.“
„Etwas?“, fuhr ihm Färber wieder ins Wort. „Wegen etwas sind wir hergekommen, um dann noch weniger als etwas vorzufinden, nämlich nichts? Wie ist denn der Name dieser Dame?“
Wenzel schaute beschämt zu Boden, denn durch den ganzen Stress war ihm auch der Name der Dame entfallen.
Färber zog die Augenbrauen hoch. „Sagen Sie mir jetzt bitte nicht, dass Sie es nicht wissen!“
„Es ging alles so schnell“, versuchte sich Wenzel rauszureden. „Zudem hatte sie eine etwas heisere Stimme. Sie war schwierig zu verstehen.“ Er räusperte sich: „Irgendwas wie Kauner, Fauner, Launer, Maurer ...“
Das war zu viel des Guten für Färber. „Mir reichts, ich habe genug gesehen und von Ihnen, Wenzel, genug gehört. Damit alles nicht ganz umsonst war, protokollieren Sie den Gesamtzustand des Bahnhofs“, sagte er forsch zu Wenzel. „Und“, ergänzte er, „keine Fehler mehr, haben Sie mich verstanden?“
Obwohl Wenzel noch einiges hätte berichtigen können und auch wollen, da er ja ein längeres Gespräch mit der älteren Dame geführt hatte, liess er es nun bleiben. Er sah ein, dass nur ein Schweigen seinerseits weiteren Ärger verhindern konnte. Also griff er nach seinem Notizbuch und eilte dem Gleis entlang, um alles zu protokollieren.
Färber sah ihm nach und schüttelte den Kopf: „Gibt es denn sowas. Immer muss man selber an alles denken. Was für ein Idiot.“
Marko hatte diese Szene ruhig mitverfolgt. Offenbar hatte er vorübergehend verhindert, dass das Schliessfach 17 entdeckt würde. Er brauchte nun keine weiteren Pläne zu schmieden.
Es war schon immer eine seiner herausragenden Eigenschaften gewesen, glasklar zu denken und in der Not gut zu improvisieren, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
Marko stellte sich zwischen Färber und Schliessfach 17, aus dem immer noch langsam das Rinnsal Blut tropfte. Allmählich bildete sich erneut eine kleine Pfütze am Boden. Marko wollte die Beamten nun schnell loswerden.
„Die Arbeit auf der Zentrale ist sicher anspruchsvoll. Sie haben sicher viel zu tun und viel Verantwortung“, lenkte er Färbers Aufmerksamkeit auf sich.
„Was verstehen Sie schon davon?“, erwiderte dieser, ohne Marko anzusehen. Färber schaute immer noch verdutzt Wenzel nach, wie dieser entlang der Gleise lief und fleissig in sein Notizbuch schrieb.
„Nun, ich selber verstehe nichts davon. Ich habe einfach gehört, dass bei Ihnen auf der Zentrale...“ Doch er konnte den Satz nicht beenden.
„Dann reden Sie lieber nicht über Dinge, die Ihre Vorstellungskraft übersteigen“, sagte Färber überheblichund schaute auf die Uhr.
„Schon zu viel Zeit hier verschwendet.“ Er rief quer über den Bahnhof, bis Wenzel auf ihn aufmerksam wurde. Färber fuchtelte heftig mit den Armen, um anzudeuten, dass es Zeit war, aufzubrechen. Dann klopfte er mit den Fingern auf seine Uhr am Handgelenk. Er rief: „Wenzel, beeilen Sie sich.“
Ohne ein weiteres Wort an Marko zu richten, nickte er nur kurz, um sich zu verabschieden. Dann ging er auf Wenzel zu, vorbei an Marko und Schliessfach 17.
Es ertönte das Signal des einfahrenden Zuges. Einige Minuten später fuhr der Zug auf Gleis Eins ein. Die beiden Männer der Zentrale stiegen ein. Marko sah beim Wegfahren des Zuges durch das Fenster noch, wie Färber mit den Händen fuchtelnd auf Wenzel einredete.
„Schon verrückt“, dachte sich Marko. „Hätte Färber Wenzel ausreden und ihn in seiner lückenhaften Erinnerung suchen lassen, wer weiss, welche Schlüsse dieser dann daraus gezogen hätte. Das war wirklich knapp.“
Auf dem Weg zu Schliessfach 17 griff Marko in seine Hosentasche und nahm einen Schlüsselbund heraus. Er zwirbelte die Schlüssel zwischen seinen Fingern hin und her, bis er den richtigen zu fassen kriegte. Marko hielt einen Moment inne, schaute nochmals links und rechts. Niemand in Sicht. Mit einem Klick schnappte das Schloss zurück. Er griff nach dem Türgriff und öffnete das Schliessfach 17. Er schaute hinein.
Zeitgleich nur wenige Kilometer entfernt.
Ian sass im Zug und schaute aus dem Fenster. Er war kurz vor Ankunft in der Hauptstadt und freute sich sehr, seinen Bruder Marko nach all den Jahren wiederzusehen. Wie so oft hatte Ian sein Tagebuch auf seinem Schoss. Er schrieb eifrig, wie er es immer tat, musste Dinge, die er sah und hörte, immer sofort festhalten in diesem schönen Tagebuch. Er mochte die Distanz, die ihm das Schreiben und die Sprache gaben. So konnte er als Beobachter durch das Leben gehen und dokumentieren. Taten sehen, hören und riechen, ohne selber tätig zu werden – das war Ians Welt, zusammen mit einer Verträumtheit und einem romantischen Blick auf das Leben. Doch gerade jetzt war er mit seinen Gedanken fest bei seinem Bruder Marko, und Ian malte sich bereits ihre gemeinsame Zukunft aus.
Ian schrieb: „Wie grossartig das wird. Und die Zeit, die wir zusammen verbringen werden. Ich hoffe, dass wir dies auch mit dem Laden in der Altstadt langfristig durchziehen können. Dann kann ich Marko an den Wochenenden und abends im Laden aushelfen und mich unter der Woche aufs Studium konzentrieren. Am Anfang werden wir vielleicht etwas die Gürtel enger schnallen müssen, aber wenn das Geschäft dann läuft, können wir einen weiteren Laden eröffnen... Das wird fantastisch.“
Voller Vorfreude las er das Geschriebene nochmals. Es fühlte sich für ihn bereits etwas echt an. Ian legte den Bleistift auf das offene Tagebuch auf seinen Schoss und zog die Beine etwas hoch. Der Buchrücken rutschte zwischen seine Oberschenkel und der Bleistift rollte in die Mitte des Buches.
Er schaute aus dem Zugfenster in die Landschaft, fühlte das Rattern der Räder auf den Gleisen. Er sah einzelne Industriegebäude, Kamine, Parkplatzanlagen, eine Reihe Lastwagen, die an einer Entsorgungsstelle warteten. Ian war fasziniert von dieser Betriebsamkeit.
Er griff nach dem Bleistift, legte sein Tagebuch wieder auf seinen Schoss und schrieb eifrig weiter. „Das dürfte zwar zwischendurch anstrengend werden. Oh ja, und Marko arbeitet ja manchmal noch an diesem kleinen Bahnhof, um zusätzlich was zu verdienen. Er hat mir gesagt, dass er dort das Doppelte eines normalen Lohns verdient, weil er die Schliessfächer überwachen muss oder so. Er wird mir das schon noch genauer erzählen. Auch sagte er, dass er vorsichtig sein müsse, weil sein Chef irgendwie unberechenbar sei oder so und zwischendurch mal die Nerven verlieren könne. Aber so schlimm wird es wohl nicht sein.“
Während Ian dies in sein Tagebuch schrieb, öffnete sich die Türe des Zugabteils. Das Rattern der Räder auf den Gleisen wurde nun lauter. Ein Mann in einem eleganten Anzug betrat das Abteil. Seine rechte Hand umschloss verkrampft einen schwarzen Aktenkoffer, sodass die Sehnen des Handrückens hervortraten.
Der Fremde schaute nach links und rechts auf der Suche nach einem Sitzplatz. In jedem Viererabteil sass schon mindestens eine Person. Also lief er weiter den Gang entlang, wobei die Augen des Mannes bei jeder Reihe unruhig hin und her schweiften, verzweifelt auf der Suche nach einem leeren Abteil mit der damit verbundenen Hoffnung nach Ruhe, die dies mit sich brachte.
Ian bemerkte den Fremden, schaute links neben sich und sah, dass dieser Vierersitz noch frei war. Sobald der Fremde diesen sah, steuerte er unvermittelt darauf zu. Mit einem erleichterten Seufzen setzte er sich, öffnete den Knopf an seinem Jackett und lockerte die Krawatte um seinen Hals. Den Aktenkoffer klemmte er zwischen seine Fussknöchel und Waden. Der Fremde biss sich auf die Backenzähne. Er schien beunruhigt oder nervös zu sein.
Ian musterte den Mann, der nun geistesabwesend links aus dem Fenster schaute. Sein Blick war leer und losgelöst, so wie bei jemandem, der sich gedanklich in der Landschaft verlieren wollte. So wie es jemand tut, der überall sein will, einfach nicht an diesem Ort und nicht in dieser - seiner - Haut. So wie jemand, der an einen Hügel schaut und sich fragt, wie das Leben wohl dahinterfürihn sein würde.
Der Fremde trug einen eleganten, aber etwas in die Jahre gekommenen Anzug. Ein silbernes Firmenlogo zierte die schwarze, mit einzelnen silbernen Streifen durchzogene Krawatte. Seine gepflegten Hände lagen mit den Handflächen auf seinen Oberschenkeln. Sein Blick wanderte nun zwischen dem Panorama jenseits des Fensters und dem Aktenkoffer zwischen seinen Beinen.
Ian merkte, dass der Mann nervös war. Er machte den Eindruck eines Mannes, der auf der Flucht war.
Ian war fasziniert und beschrieb ihn in seinem Tagebuch mit folgenden Worten: „Soeben hat ein Mann das Zugabteil betreten. Er sieht wie ein Geschäftsmann aus. Eleganter Anzug, der etwas in die Jahre gekommen ist. Ein gutaussehender Mann, hellblaue Augen, schmale Lippen, ein ebenmässiges, symmetrisches Gesicht. Seine Haare grau-blond, Mittelscheitel. Komisch, wie er unruhig durch den Gang des Zugabteils gelaufen ist… Soeben hat ein Passagier die Wagontüre zugeknallt, da ist dieser Mann richtig aus seinem Sitz hochgefahren, wobei er den Aktenkoffer hochnahm und fest in die Arme klemmte. Eine eigenartige Erscheinung.“
Peinlich berührt stand der Fremde mit dem Aktenkoffer nun da. Zwei weitere Passagiere hatten neben Ian das Hochspringen des Fremden auch bemerkt. Der Fremde schien sich ertappt zu fühlen und rückte seine Krawatte zurecht. Er nickte, um den Anschein zu erwecken, dass er sich im Griff hatte, was ihm aber nicht gelang. Seine Augen wanderten ziellos durch das Zugabteil und blieben jeweils nur ganz kurz haften: Zuerst bei einem beleibten Mann in einem schwarzen Pullover, der von seiner Zeitung aufblickte und seinen Blick gerade wieder abwandte. Und bei dem Kind, das auf dem Schoss seiner Mutter sitzend in der Luft Spielzeugautos aufeinanderprallen liess, während die Mutter mit dem Daumennagel eine Kerbe in einem Fingernagel auszuebnen versuchte. Schliesslich trafen die Augen des Fremden auf Ians Augen und blieben dort haften.
Noch nie hatte Ian so etwas gesehen: So eine markante und eindeutig erkennbare Angst in den Augen eines Menschen, dass man nicht einmal einem Kleinkind hätte erklären müssen, was in diesem Menschen vorging. Es ist diese Klarheit eines Gefühls, wie sie nur Augen vermitteln können.
So sehr dieser Fremde nun auch versuchte, seine Angst zu verbergen, es ging einfach nicht. Man sah die Angst in seinen Augen. Der Anzug, die Krawatte und die gestellte Selbstsicherheit konnten nicht darüber hinwegtäuschen. Ians Brustkorb zog sich zusammen und fühlte sich gleich etwas schwerer an. Diese Last, die der Fremde zu tragen hatte. Ian fühlte sie.
Der Fremde fiel zurück in seinen Sitz, liess den Kopf zur Brust fallen und wirkte nun wieder geistesabwesend. Er verharrtefüreinige Minuten in dieser Position. Seine Augen waren starr. Ian schaute sich um. Alle Leute im Zugabteil nahmen keine Kenntnis mehr von dem Fremden. Ian gab sich einen Ruck und sprach den Fremden an.
„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragte Ian etwas zögerlich. Der Fremde reagierte nicht. Erst als Ian seine Frage wiederholte, schienen die Worte zum Fremden durchzudringen. Er richtete sich auf, stützte seine Arme auf die Oberschenkel, drehte den Kopf zur Seite und schaute Ian an.
Dann passierte etwas Sonderbares. Etwas, das Ian in seinem Leben noch nie gesehen hatte. Innert wenigen Sekunden änderte sich der Habitus dieses Mannes, als ob er sich rebootet hätte und nun andere Programme geladen wurden. Der Mann wirkte völlig verändert. Wo zuvor Unruhe und Angst gewesen waren, sah Ian jetzt eine gewisse Zuversicht.
Es schien Ian schon sehr bemerkenswert, wie schnell dieser Mann diesen Wandel vollzogen hatte, wie ein Chamäleon, das sich an seine Umgebung anpasste. Ein ansatzloser Wechsel von ängstlich-betrübt zu einem Nullachtfünfzehn-Typen, der in einem Zug sitzt.
Der Fremde schaute Ian an und sagte: „Junger Mann, ich danke Ihnen… Wegen dem vorher meinen Sie? Nein, nein“, beschwichtigte er. Der Fremde machte eine Wischbewegung mit der Hand, um seine neu gewonnene Souveränität zu bestärken. Er fuhr fort: „Ich brauche keine Hilfe. Ich habe mich nur etwas erschrocken. Aber man knallt auch nicht eine Türe so zu. Aber danke, dass Sie sich kümmern. Das gibt es nicht mehr alle Tage.“
„Theo Niedermeier“, sagte der Fremde und streckte Ian seine Hand aus. Sie schüttelten sich die Hände.
„Ian Bauer“, entgegnete Ian, „freut mich, Sie kennenzulernen. Ich habe mir da für einen Moment schon etwas Sorgen gemacht.“ Ian konnte den Satz nicht beenden, weil Theo Niedermeier ihm ins Wort fiel. „Ach was, nur weil ich mich etwas erschrocken habe. Da kennen Sie mich schlecht, mein Guter“, lachte er etwas verlegen. „Nein, nein. Ich bin da ganz anderes gewohnt“, ergänzte er pauschal.
Theo Niedermeier beugte sich etwas näher zu Ian. „Ich bin ein Geschäftsmann, da bin ich etwas Druck gewohnt.“ Theo Niedermeier griff mit der linken Hand den Griff des Aktenkoffers, hob diesen hoch und legte ihn auf seine Knie.
„Geschäftsmann“, wiederholte Theo Niedermeier stolz und klopfte mit der freien Hand auf den Aktenkoffer, um dem Wort „Geschäftsmann“ Nachdruck zu verleihen. So lernte Ian Theo kennen. Den sprunghaften Geschäftsmann mit dem etwas zu gross geratenen Anzug. Ein eigenartiger Mann, den Ian aber mochte.
Theo Niedermeier war jetzt in seinem Element, losgelöst, und begann tatsächlich zu plaudern. Theo Niedermeier erzählte von seinem Beruf, wie er Jahr für Jahr im internen Firmenranking den ersten Platz im Verkaufsranking belegt hatte. Diese Ausführungen wirkten auf Ian etwas gestellt und oberflächlich, und es interessierte ihn auch nicht sonderlich. Doch Ian war es sich gewohnt, dass Leute gerne von ihrem Beruf erzählten, um Eindruck zu schinden. Also hörte er aus Höflichkeit geduldig zu.
Dann zeigte sich Theo aber von einer seltsamen Seite. Er schien etwas die Kontrolle über sich zu verlieren, während er über seinen Beruf und den damit verbundenen Erfolg referierte.
Währendalso Theo Niedermeier seine Verkaufstaktik schilderte, hob er den auf seinen Knien liegenden Aktenkoffer hoch und stellte ihn auf seine Oberschenkel. Mit seinen Armen umschloss er den Aktenkoffer in einer Umarmung. Ian musste unweigerlich an eine Mutter denken, die ihr Kind fest umschlungen hielt.
Mit jeder weiteren Episode der Erzählung umschlossen seine Arme den Aktenkoffer immer fester, wobei er selbst gar nicht zu merken schien, was er da tat.
Verblüfft schaute Ian Theo Niedermeier an. Ian war wie gefangen in dieser skurrilen Situation, bei diesem Menschen, der nicht mehr ganz bei sich zu sein schien.
Theo Niedermeier ereiferte sich so sehr an seiner Erzählung, dass seine Stimme immer lauter wurde, was wiederum die Aufmerksamkeit der Zugpassagiere auf sich zog. Theo Niedermeier spürte die Blicke und dass er wieder unfreiwillig Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Der Mann im schwarzen Pullover blickte genervt über den Rand seiner Zeitung. Die Spielzeugautos in den Händen des Kindes knallten nicht mehr zusammen. Mit offenem Mund schaute das Kind Theo an. Die Mutter legte schützend die Arme um ihr Kind.
Wie aus einem Traum erwacht, suchte Theo nun verwirrt nach seinem Aktenkoffer. Er merkte zunächst nicht, dass er ihn in seinen Armen umschlungen hielt. Theo schaute automatisch nach unten, weil er den Aktenkoffer dort vermutete, hatte er ihn ja beim Hinsetzen dort hingestellt. Erst dann merkte Theo Niedermeier, dass er den Aktenkoffer fest umschlungen hielt. Was für ein Fiasko, wenn die Wahrnehmung solche Streiche mit einem spielte und wie düster es wohl in jemandem aussehen musste, dass sowas in der Verwirrung passieren konnte, dachte sich Ian.
Theos Blick wanderte zunächst hilfesuchend zu Ian und dann beschämt durch das Zugabteil. Doch er konnte nirgends seinen Blick festmachen. Er sank in seinen Sitz zurück und begann leise zu weinen. Zwischen jedem Schluchzen biss er die Backenzähne zusammen, im Versuch, sein Weinen zu unterbinden. Doch es war zu spät, der Damm war gebrochen. Theo Niedermeier hatte keine Kraft mehr, die Fassade aufrechtzuerhalten.
Ian sah das und dachte: „Was muss diesem Menschen widerfahren sein, dass so ein Verhalten möglich ist?“
Ian rückte etwas näher zu Theo Niedermeier heran, damit sich dieser nicht so alleine fühlte. So vergingen einige Minuten. Der dicke Mann las wieder in seiner Zeitung, und die zusammenprallenden Spielzeugautos des Jungen waren wieder zu hören. Für einen Moment waren Ian und Theo ganz für sich.
Bald würde Ian die Gründe für das skurrile Verhalten Theo Niedermeiers in Erfahrung bringen. Dass Theo Niedermeier mit gutem Willen beseelt die falschen Entscheidungen getroffen hatte und so in einen Strudel von Ereignissen geraten war, der ihn mitgerissen hatte, ihn zur Spielfigur anderer gemacht hatte, ihm alles genommen hatte, was ihm lieb war und ihn letztlich hierhergeführt hatte: In diesen Zug.
Theo wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen von den Augen und Wangen. Vorsichtig faltete er das Taschentuch dreimal und schob es in seine rechte Hosentasche.
Nun wandte er sich an Ian, war froh, in diesem Moment nicht ganz auf sich allein gestellt zu sein. Dann erzählte Theo Niedermeier seine Geschichte. Es war eine traurige Geschichte.
„Wissen Sie“, begann Theo Niedermeier, „alles hat so gut begonnen. Alles war so aussichtsreich. Meine Geschäftspartner und ich sind davon überzeugt gewesen, dass wir richtig viel Geld machen können. Für jemanden wie mich ist das keineswegs selbstverständlich. Ich komme aus einfachem Haus mit wenig Schulbildung. Mein Vater war, wie man so sagt, einfach, zuverlässig, ein Arbeiter.
Ich aber wollte ausbrechen, etwas anderes aus meinem Leben machen, als in die Fussstapfen meines Vaters und meines Grossvaters zu treten. Ich hatte Träume, verstehen Sie. So habe ich versucht, es in der Schule besser zu machen als meine Eltern und weiterzukommen. Aber ich habe es nie geschafft, gute Noten zu machen. Drei, Dreieinhalb, Vier. Den anderen ist die Schule immer viel leichter gefallen als mir. Ich habe nicht verstanden, was man in der Schule genau von mir wollte. Zu Hause habe ich auch keine Hilfe bekommen. Mein Vater hat auch nicht verstanden, was ich in der Schule lernen musste, wodurch auch er nicht helfen konnte. So nahm alles seinen Lauf. Die Schule ging weiter, ich hinkte hinterher, wurde schlechter, was mein Vater anhand der Zeugnisse erkennen konnte, was ihm durchaus recht war. Ein guter Arbeiter war für ihn mehr wert als eine Note im Zeugnis. Doch eigentlich ging es ihm nur darum, dass er jemanden hatte, der seine Nachfolge antreten würde.“