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Nachdem Sera sich in die Hände Kolis‘ begeben hat, musste sie zahlreiche Prüfungen über sich ergehen lassen. Die schwerste war jedoch, die Trennung von ihrem geliebten Nyktos zu ertragen. Nun sind Sera und Nyktos endlich wieder vereint, doch Kolis ist noch immer an der Macht. Wird es den beiden gelingen, das Reich der Sterblichen und das der Primare vor dem falschen König der Götter zu retten? Und wird ihre Liebe diese Zerreißprobe überstehen?
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Seitenzahl: 1680
Veröffentlichungsjahr: 2025
Da war etwas gewesen, das vollkommen unvorhersehbar gewesen war.
Etwas Unbekanntes, das nirgendwo geschrieben stand.
Die einzige Macht, die stärker war als die Schicksalsgeister …
Die wahre Liebe des Herzens und der Seele.
Nachdem Sera vom Hof des falschen Götterkönigs Kolis entkommen konnte, ist sie nun endlich wieder mit Nyktos vereint. Doch die Erinnerungen an die schreckliche Zeit in Kolis’ Gewalt lassen sie nicht los und erwecken die dunkelsten Seiten in ihr. Nyktos ist davon überzeugt, dass Sera das Zeug zur wahren Königin der Götter hat, doch kann seine unerschütterliche Liebe, Sera auch vor sich selbst retten?
Um den falschen König der Götter ein für alle Mal zu besiegen, brauchen Nyktos und Sera die Unterstützung der anderen Höfe. Als Sera nach und nach hinter die wahre Bedeutung der uralten Prophezeiung kommt, die ihr Leben bestimmte, wird ihr klar, dass in den Schatten eine noch viel größere Bedrohung lauert, als sie es je zu fürchten wagte.
Am Horizont zieht ein Krieg zwischen den Göttern herauf, der das Iliseeum und die Welt der Sterblichen in Blut und Asche zu legen droht …
Jennifer L. Armentrout ist eine der erfolgreichsten Autorinnen der USA. Immer wieder stürmt sie mit ihren Romanen – fantastische, realistische und romantische Geschichten für Erwachsene und Jugendliche – die Bestsellerlisten. Ihre Zeit verbringt sie mit Schreiben, Sport und Zombie-Filmen. In Deutschland hat sie sich mit ihrer Obsidian-Reihe und der Wicked-Saga eine riesige Fangemeinde erobert. Mit ihrer Blood and Ash-Reihe ist sie regelmäßig auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste zu finden. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Hunden in West Virginia.
JENNIFER L.
ARMENTROUT
EINE LIEBE IM SCHATTEN
ROMAN
Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Sonja Rebernik-Heidegger
WILHELMHEYNEVERLAG
MÜNCHEN
Titel der amerikanischen Originalausgabe
BORNOFBLOODANDASH
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Redaktion: Catherine Beck
Copyright © 2024 by Jennifer L. Armentrout
Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe und
der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Karte: Hang Le
Umschlaggestaltung: DASILLUSTRAT, München,
unter Verwendung des Originalentwurfs von Hang Le
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN 978-3-641-32567-1V002
www.heyne.de
Anmerkung der Autorin
Dieses Buch handelt unter anderem von Themen, die manchen Leser*innen möglicherweise sehr nahegehen. Es enthält zwar keine expliziten Schilderungen, aber es werden sexueller Missbrauch, Selbstmord, der Tod von Kindern und verbale, psychische und physische Gewalt thematisiert.
Wann immer ihr das Gefühl habt, mit jemandem über eure Erfahrungen sprechen zu müssen – es gibt Menschen, die nur darauf warten, euch zu helfen.
Für alle Lehrer*innen und Bibliothekar*innen
Ich habe keine Ahnung, wie ihr das immer schafft.
Ihr seid die wahren Held*innen.
NYKTOS, DERASCHER, DERGESEGNETE, der Wächter der Seelen, der primare Gott des einfachen Mannes und des Abschlusses und der Primar des Todes, war im Moment vor allem eines: verdammt ungeduldig.
Er hatte schlichtweg keine Lust, im Flur vor seinen Gemächern herumzustehen.
Es war tatsächlich der allerletzte Ort, wo Ash sein wollte, während seine Königin – seine Herzverwandte, seine Ehefrau, seine ganze Welt – in ihrem gemeinsamen Bett auf ihn wartete.
Er hatte sie erst vor wenigen Minuten verlassen, doch sein Körper bebte bereits vor Verlangen, zu ihr zurückzukehren. Sie anzusehen. Sie zu berühren. Sich in Erinnerung zu rufen, dass sie in Sicherheit, gesund und vor allem am Leben war. Dass ihr Aufstieg und die Stunden danach nicht nur ein wunderschöner Traum gewesen waren.
Er hatte alles getan, um keine engen Bindungen zu anderen aufzubauen, und sich am Ende sogar seine Kardia entfernen lassen, doch sie hatten sich dennoch ineinander verliebt. Sie hatten die Schilde überwunden, mit denen sie ihre Herzen geschützt hatten, und die Mauern durchbrochen, die sie aufgebaut hatten, damit niemand in ihr Inneres vordringen konnte. Die Kraft seines Willens hatte dem Schicksal getrotzt. Sie hatten dem Schicksal getrotzt.
Da war etwas gewesen, das vollkommen unvorhersehbar gewesen war.
Etwas Unbekanntes, das nirgendwo geschrieben stand.
Die einzige Macht, die stärker war als die Schicksalsgeister …
Die wahre Liebe des Herzens und der Seele.
Herzverwandte.
Doch so verzweifelt Ash sich auch wünschte, zu ihr zurückzukehren und sich zu beweisen, dass es Wirklichkeit war, das Gespräch mit Nektas war zu wichtig, um es zu verschieben.
Also würde er sich in Geduld üben.
Oder die kurze Störung zumindest tolerieren.
»Es ist alles ruhig«, berichtete Nektas mit gesenkter Stimme.
»Fürs Erste.«
»Fürs Erste.« Der Draken nickte, und die langen schwarzen, mit roten Strähnen durchzogenen Haare glitten ihm über die Schultern. »Es gab bisher keine besonderen Vorkommnisse an der Grenze zwischen der Schattenwelt und Vathi, und auch am Himmel herrscht Frieden. Attes und Kyn sind von der Bildfläche verschwunden.«
Ash machte sich keine Sorgen wegen Attes – obwohl er dem Mistkerl am liebsten bei lebendigem Leib die Haut abgezogen hätte. Er ballte die Hand zur Faust. Nein. Es war vielmehr der Bruder des Primars des Krieges und der Übereinkunft, den er langsam und schmerzhaft ausweiden wollte, um sich für jedes Wort zu rächen, das er während Ashs Gefangenschaft an Ash gerichtet hatte. Egal, ob er nun die Wahrheit gesprochen hatte oder nicht.
»Seine Majestät war so freundlich, sie mir anzubieten, sobald er ihrer überdrüssig geworden ist.« Kyns Augen leuchteten vor sadistischer Freude, und er rückte bis auf wenige Zentimeter an Ash heran, der seiner Meinung nach derart geschwächt war, dass er keine Gefahr darstellte. »Das hat ihr gar nicht gefallen.« Er lachte. »Und das Gefühl, wenn ich ihr meinen Schwanz in den Arsch schiebe, gefällt ihr am Anfang sicher auch nicht. Aber sie wird sich daran gewöhnen, und irgendwann wird sie darum betteln …« Seine Worte gingen in einem blutigen Gurgeln und keuchenden Flüchen unter.
Ash hatte sich in die Ketten aus den Knochen der Urältesten gestemmt und es geschafft, den Arm auszustrecken und sich mit den Fingern im Hals des Wichsers zu verkrallen. Er hatte zwar einiges an Haut und ein Stück Knochen dabei verloren, aber das war ihm egal gewesen. Er hätte es immer wieder und wieder getan. So unglaublich stark war sein Zorn gewesen.
So unglaublich stark war sein Zorn noch immer.
Er hielt ihn bloß im Zaum.
Nektas’ leuchtende saphirblaue Augen blickten in seine. Ash hatte sich noch immer nicht an die neue Farbe gewöhnt, aber er sah den verständnisvollen Ausdruck in ihnen. Nektas wusste, wohin seine Gedanken abgeschweift waren. Dafür brauchte es kein besonderes Band zwischen ihnen. Der älteste aller lebenden Draken war wie ein Vater und wie ein Bruder für ihn.
Nektas’ Blick ging an Ash vorbei und fiel auf die Schlafzimmertür. »Kolis versteckt sich immer noch irgendwo.«
Schatten drängten sich unter Ashs Haut an die Oberfläche, und das Licht der Wandleuchten flackerte. Allein der Name seines Onkels entfachte eine so abgrundtiefe Wut in ihm, dass selbst seine Gefühle gegenüber Kyn im Vergleich dazu unbedeutend erschienen.
Denn Ash wusste es.
Auch Kolis hatte gern geplaudert, wenn er ihn besucht hatte. Im Gegensatz zu Kyn war er allerdings schlau genug gewesen, um einen Sicherheitsabstand zu Ash zu halten, wenn er über Sera gesprochen hatte, als gehörte sie ihm. Ash biss die Zähne zusammen, und die Lichter im Flur flammten auf.
»Ash«, warnte Nektas ihn leise und trat näher an den Primar heran. Das Blau seiner Augen leuchtete genauso hell wie die Lichter an den Wänden.
»Es geht schon«, meinte Ash langsam, holte tief Luft und zwang die grausame, dunkle Energie zurück.
Nektas hob eine Augenbraue. »Sicher?«
Es musste gehen. »Klar.« Er räusperte sich, und die Lichter kehrten wieder zu ihrer ursprünglichen Intensität zurück. »Wie lange wird das deiner Meinung nach noch so bleiben?«
»Schwer zu sagen. Ein paar Tage? Eine Woche?« Nektas sah erneut zur Schlafzimmertür. »Ich nehme an, dass Sera in Ordnung ist?«
Sie war mehr als in Ordnung. Sie war reinste Perfektion. Trotzdem nickte er. »Ja, das ist sie.«
»Das freut mich.« Nektas hielt inne. »Auch wenn du mir vorhin mit dem Tod gedroht hast, als ich an eure Tür geklopft habe.«
Ash spürte, wie die Hitze in seine Wangen stieg, denn er erinnerte sich nur zu gut daran, wie er Nektas angedroht hatte, ihn umzubringen, wenn er nicht verschwand. Allerdings hatte er zu diesem Zeitpunkt gerade seine Finger aus Seras süßer Höhle gezogen. »Jaaa.« Er räusperte sich erneut. »Tut mir leid.«
Nektas lachte leise. »Das muss es nicht. Ich weiß noch, wie das war …«
Ein Schatten legte sich über das Licht, das aus den Augen des Draken drang, und – verdammt – Ash spürte Nektas’ Schmerz in seiner eigenen Brust heftiger als je zuvor. Denn auch wenn er seine Eltern und viele andere verloren hatte, die ihm etwas bedeutet hatten, war es nichts im Vergleich dazu, die andere Hälfte seiner Seele zu verlieren. Das, was einem auf dieser Welt am allermeisten bedeutete.
Und Nektas hatte genau das erlebt.
Dafür hatte Kolis gesorgt.
Ash legte dem Draken eine Hand auf die Schulter. »Der Schwur, den ich dir geleistet habe, gilt nach wie vor. Kolis wird für das, was er dir und den deinen angetan hat, bezahlen.«
Als Nektas die Luft einzog, bebten seine Nasenflügel. »Ich weiß.«
»Gut.« Ash senkte den Arm, und das goldene Zeichen der Ehe schimmerte auf dem Handrücken. »Ich weiß, dass die anderen mehr als einen kurzen Zwischenbericht von mir erwarten und dass sie Sera sehen wollen.«
»Sie müssen sie sehen.« Nektas verschränkte die Arme vor der Brust. »Mit eigenen Augen.«
Das war verständlich. Die anderen brauchten einen Beweis, dass Sera noch immer diejenige war, die sie kannten, dass sie während des Aufstiegs nicht den Verstand verloren hatte und dass sie zu dem geworden war, was alle Götter und Primare gespürt hatten.
Zur wahren Primarin des Lebens.
Trotzdem mussten sie noch ein wenig warten.
»Ich hatte selbst noch keine Gelegenheit, mich richtig mit ihr zu unterhalten.«
»Was du nicht sagst«, erwiderte Nektas trocken.
Ash grinste kaum merklich, doch er wurde sofort wieder ernst. »Ich muss mit Sera reden, bevor ich zulassen kann, dass irgendjemand an sie herantritt«, erklärte er. »Ich muss sichergehen, dass es ihr gut geht.«
Nektas nickte. »Sie hat eine Menge durchgemacht.«
»Ja, das hat sie.« Das wusste er mit Sicherheit, auch wenn Sera kaum etwas über ihre Gefangenschaft erzählt hatte.
Ash wusste trotzdem Bescheid.
Selbst wenn Kolis und Kyn nicht damit angegeben hätten, würde er nie vergessen, wie verzweifelt sie sich nach einem Beweis gesehnt hatte, dass er sie immer noch auf dieselbe Art sah wie vorher. Und Ash wusste, warum sie es wollte, auch wenn sie behauptete, ihr wäre nichts widerfahren. Er wusste genau, was dazu führte, dass man solche Ängste entwickelte. Immerhin hatte er am eigenen Leib erfahren, wie krank es auf Kolis’ Hof zuging – sowohl als Zeuge als auch als unfreiwilliger Beteiligter.
Ein Kloß aus Trauer und Wut bildete sich in seinem Hals, doch er ließ nicht zu, dass er ihm die Luft zum Atmen nahm. Wenn er es tat, dann würde auch Sera daran ersticken. »Sie wird noch einige Zeit brauchen, um sich zu fangen«, erklärte er Nektas. »Sieh bitte zu, dass sie die auch bekommt.«
»Natürlich«, stimmte Nektas, ohne zu zögern, zu. »Ich sorge dafür, dass die anderen ihr heute Abend und die Nacht über Ruhe gönnen. Und ich werde weiter die Augen offen halten, falls irgendein Idiot beschließt, dass heute ein guter Tag ist, um zu sterben.«
Ein grausames Grinsen umspielte Ashs Lippen. Der letzte Teil gefiel ihm. »Vielleicht braucht sie mehr als eine Nacht.«
»Darum kümmern wir uns dann, wenn es so weit ist.«
»Du bist …« Ash verstummte, als ihm ein plötzlicher, bitterer Geschmack im Mund verriet, dass etwas nicht stimmte. Er versteifte sich. »Ich muss zurück zu ihr.«
Nektas nickte. »Sie träumt.« Er sah Ash in die Augen. »Und es sind unruhige Träume.«
Ash erwiderte den Blick überrascht. »Das Band zwischen euch wurde bereits geschmiedet?«
»Wir Draken sind seit ihrer Geburt mit ihr verbunden.« Nektas Augen leuchteten strahlend blau. »Wir wussten es nur nicht.«
Niemand hatte irgendetwas gewusst. Nur einige wenige waren eingeweiht gewesen, dass Eythos, Ashs Vater, die Glut des Lebens in einer sterblichen Blutlinie versteckt hatte. Und zu dieser auserwählten Gruppe hatte niemand von ihnen gehört. Abgesehen davon, hätte keiner erwartet, dass eine Sterbliche den Aufstieg überleben und zu einer Primarin werden würde. So etwas hatte es noch nie gegeben.
Ash wollte sich abwenden, doch dann hielt er inne. Er musste noch etwas loswerden. »Ich danke dir.«
Nektas neigte den Kopf. »Wofür?«
Ash grinste schief und legte dem Draken eine Hand in den Nacken. »Für deine Hilfe und deine Loyalität in all den Jahren.«
Nektas erwiderte die Geste, und das Gewicht seiner Hand erdete Ash. »Unsere Loyalität dir gegenüber basiert auf den Opfern, die du erbracht hast, und auf der Stärke deines Willens, Ash. Unsere Verbindung ist verdient und nicht weniger mächtig als ein Notam.«
Ash nickte dankbar. »Und Sera?«
Nektas lächelte anerkennend. »Sie hat sich unsere Loyalität verdient, auch wenn es nicht nötig gewesen wäre.« Er drückte Ashs Schulter, dann ließ er die Hand sinken. »Kümmere dich gut um sie.«
»Immer«, schwor Ash. Es war tatsächlich ein Schwur, und er würde den Rest der Ewigkeit damit verbringen, ihn zu erfüllen.
Er ließ Nektas im Flur zurück und schlüpfte ins Schlafzimmer, um zu Sera zurückzukehren. Kaum war er durch die Tür, fiel sein Blick sofort auf sie, und die Zeit schien stillzustehen.
Sie lag auf dem Rücken, und ihre silbrig-blonden Locken bedeckten das Kissen und eine nackte Schulter. Er trat auf das Bett zu und folgte den Locken mit dem Blick bis zu der rosigen Brustwarze, die durch die Strähnen blitzte, und weiter zu der Decke, die er über sie gezogen hatte, bevor er gegangen war.
Bei ihrem Anblick zog sich sein Bauch vor Verlangen zusammen, doch er riss sich am Riemen – was er vermutlich schon in dem Moment hätte tun sollen, als sie aufgewacht war.
Stattdessen hatte er die Kontrolle verloren. Er bereute nicht, was sie in den letzten Stunden erlebt hatten, und er wusste, dass sie dasselbe empfand, aber ihm war auch klar, dass es nicht gut gewesen war.
Es war, wie Nektas gesagt hatte: Seras Psyche und ihr Körper hatten eine Menge durchgemacht, und der Beweis dafür war nun deutlich in ihrem Gesicht zu erkennen.
Ihre Augenbrauen, irgendwo zwischen Dunkelblond und Braun angesiedelt, waren zusammengezogen, sodass sich eine kleine Furche dazwischen gebildet hatte. Ihre sechsunddreißig Sommersprossen hoben sich deutlich von der Haut ab, die um einiges blasser war als sonst.
Sie träumte, und es war kein angenehmer Traum.
Die Anspannung in Ash stieg, als er die Decke zurückschlug und neben ihr ins Bett glitt. Er blickte auf sie hinunter und spürte ihr Unbehagen noch deutlicher.
Er hätte gern gewusst, wovon sie träumte, gleichzeitig hätte sich ein schwacher Teil in ihm ebenso gern davor verschlossen, denn er war sich nicht sicher, was er tun würde, wenn er es erfuhr. Vermutlich etwas, das der Vision nahe kam, die er so verdammt falsch gedeutet hatte. Vielleicht würde er in seinem Zorn die Welten in Flammen aufgehen lassen, sodass am Ende nichts übrig blieb außer Tod und Zerstörung.
Wenn er an Kolis dachte, war da genau diese Art von Zorn in ihm. Ein Zorn, verwegen und unbändig genug, um den Untergang der Welten in Kauf zu nehmen, wenn es bedeutete, Kolis sterben zu sehen. Es kümmerte ihn nicht weiter, wie viele Seelen durch seine Wut durch die Säulen der Asphodelen treten würden. Es spielte nicht die geringste Rolle. Solange Sera nie wieder Angst vor diesem Wichser haben musste.
Andererseits würde sein Zorn auch Sera verletzen. Ohne Tod gab es kein Leben. Und umgekehrt. Seine Wut würde nicht nur die Welten zerstören, sondern auch ihn und Sera.
Weshalb er sich, verdammt noch mal, zusammenreißen musste.
Ash musterte Sera und dachte, dass sie ihm vermutlich eine verpasst hätte, wenn sie gehört hätte, worüber er sich Gedanken machte. Seine Lippen verzogen sich zu einem kurzen Grinsen. Sie schien ein wenig ruhiger, aber er spürte immer noch ihr Unbehagen. Nachdem er hoffte, dass der Traum von selbst vergehen würde, zögerte er, sie aufzuwecken. Sera war eingeschlafen, nachdem sie sich geliebt hatten, und sie brauchte Schlaf.
Doch schon nach wenigen Minuten zogen sich ihre Augenbrauen erneut zusammen. Ihre Hand zuckte, und ihre Finger gruben sich ins Laken, bis die Fingerknöchel weiß hervortraten.
Ash schmeckte etwas.
Es war bitter und raubte ihm den Atem.
Angst.
Im nächsten Moment gab sie ein Geräusch von sich, das er kaum jemals von ihr gehört hatte.
Sera wimmerte.
Dann schrie sie auf.
Es war nur ein Wort.
Nein!
Ashs Inneres brach auf.
Verdammt noch mal! Es machte ihn fertig, dass er einfach nur daliegen und nichts tun konnte, selbst wenn es nur ein Albtraum war. Er hob zitternd die Hand.
Jetzt reiß dich zusammen, verflucht noch mal, befahl er sich. Sera konnte seine Wut jetzt nicht gebrauchen. Er schloss die Augen und leerte seinen Kopf. Sie brauchte das, was er sich selbst nach Kolis’ Bestrafungen und den Forderungen dieses Miststücks namens Veses versagt hatte. Sera brauchte Trost und Stabilität. Unterstützung. Das Zittern hörte auf. Seine Brust fühlte sich freier an.
Er hielt seine tödliche Wut im Zaum und berührte sanft ihr Gesicht. Sein Gesicht wurde hart, als sie im Schlaf erzitterte und ein Energiestoß durch sie hindurchschoss und auf ihn übergriff, wo er die primare Essenz in ihm weckte.
Ash küsste ihre Stirn, die sich daraufhin sofort entspannte.
»Sera«, meinte er leise und ließ etwas von seiner Macht in seine Stimme fließen. Er war sich nicht sicher, ob es funktionieren würde, denn nur der Primar des Lebens konnte einem anderen Primar seinen Willen aufzwingen, aber sie war gerade erst aufgestiegen, und ihre Macht hatte sich noch nicht vollständig entwickelt. Er hoffte jedenfalls, dass es funktionierte, auch wenn er sich dafür hasste. Ihre Angst hasste er allerdings noch mehr. »Wach auf, Liessa.«
ASHSLOCKENDESTIMMEHOLTEMICHaus dem Schlaf. Ich spürte, wie sich mein pochendes Herz beruhigte. Meine Kehle war staubtrocken, und als ich mich zwang zu schlucken, tat es beinahe weh. Es war, als hätte ich tagelang – oder vielleicht sogar jahrelang – geschrien. Dabei hatte ich seit dem Verlassen der Stadt der Götter nicht mehr geschrien. Nicht, seit ich in Dalos gewesen war.
Kühle Lippen streiften meine Wange, und ich schmiegte mich instinktiv an den groß gewachsenen, harten Körper neben mir. Ash hob den Arm, damit ich mich an seine Brust kuscheln konnte.
Die Spannung verließ meinen Körper, und ich sank in seine Arme. Diese Wirkung hatte nur er auf mich. Er beruhigte mich augenblicklich, und zwar jeden Teil meines Wesens.
Ich legte meine Hand auf seine Seite und drückte einen Kuss auf das Grübchen an seinem Hals. »Ich wollte nicht einschlafen.«
Ashs Lippen berührten meine Stirn. »Ist doch nicht schlimm, Liessa.«
Etwas Wunderschönes.
Etwas Mächtiges.
Der Name war wie eine sanfte Umarmung und ließ mein Herz anschwellen. Wenn ich ihn hörte, fühlte ich mich zu Hause, erwünscht und wertgeschätzt, und das waren Gefühle, nach denen ich mich mein ganzes Leben lang verzweifelt gesehnt hatte.
»Du hast geträumt«, sagte er leise.
Mein Magen zog sich zusammen. Hatte ich etwa doch geschrien? Fühlte sich mein Hals deshalb so wund an? »W… wirklich?«
Er schwieg einen Moment lang. »Du erinnerst dich nicht?«
»Nein«, log ich, und meine Haut kribbelte. »Habe ich … mich seltsam verhalten?«
Seine Lippen berührten erneut meine Stirn. »Nein, Liessa. Du warst bloß schrecklich unruhig.«
Den Göttern sei Dank.
Ich kuschelte mich enger an ihn und nutzte ihn als persönliche Kühldecke. »Wie lange habe ich geschlafen?«
»Nicht sehr lange.« Ash schlang den Arm um meine Mitte. »Nicht mal dreißig Minuten.«
Ich lächelte. »Warum habe ich das Gefühl, dass du mich gerade anlügst?«
»Weil es so ist.«
Mir entfuhr ein heiseres Lachen, und er drückte mich an sich. »Du willst nicht, dass ich ein schlechtes Gewissen habe, weil ich einfach eingeschlafen bin, obwohl ich mehrere Tage in der Stasis war?«
»Eine Stasis ist keine Erholung«, erklärte er so geduldig, wie ich es niemals gewesen wäre. »Der Körper durchläuft dabei unglaubliche Veränderungen.« Er hielt inne. »Und nachdem du aufgewacht bist, habe ich dir auch keine wirkliche Ruhe gegönnt.«
Süße und gleichzeitig verruchte Erinnerungen an die Stunden nach dem Aufwachen stiegen in mir hoch, und meine Zehen krümmten sich. »Darüber werde ich mich sicher nicht beschweren.«
Sein dunkles, sinnliches Lachen strich über meinen Scheitel. »Davon bin ich auch nicht ausgegangen«, erklärte er mit deutlich hörbarer männlicher Selbstgefälligkeit. »Aber der Aufstieg ist eine immense Belastung. Du musst dich ausruhen.«
»Ich habe aber nicht das Gefühl, als müsste ich das«, wehrte ich ab.
»Du solltest es trotzdem tun.« Er schob ein Knie zwischen meine und hielt mich noch enger bei sich. »Wir haben Zeit. Wir haben so viel Zeit, wie du brauchst.«
Zeit? Natürlich hatten wir die, aber wie viel? Nicht annähernd genug, das stand fest. Und wir hatten schon einen Gutteil davon im Bett verbracht, wo wir einander geküsst, geschmeckt, gefickt und geliebt hatten, ohne der Welt vor der Tür Beachtung zu schenken.
Ohne an das zu denken, was uns erwartete.
Und auch wenn ich mir sehnlichst wünschte, an diesem Ort bleiben zu können, wo uns nichts etwas anhaben konnte, erwachte langsam das Unbehagen in mir. Es gab so vieles, worum wir uns kümmern mussten, und auf den Großteil waren wir nicht einmal annähernd vorbereitet.
Angefangen damit, was aus mir geworden war.
Ash drehte den Kopf und drückte einen Kuss auf meine nackte Schulter, während seine Finger in meine Locken glitten, die mir über die Schultern gerutscht waren. »Habe ich dir schon einmal gesagt, wie wunderschön deine Haare sind?«, fragte er.
Er hatte es mir sogar schon mehrmals gesagt. Ash war genauso fasziniert von meinen Haaren wie ich von seinem Lächeln. Er liebte das blasse Blond. Aber ich atmete mit einem Mal abgestandene, schwere Luft ein. Einatmen. Ich roch den grauenhaften Geruch von verblühtem Flieder. Und ganz egal, wie sehr ich mich dagegen wehrte, sah ich den wahren Primar des Todes vor mir, dessen seltsames Lächeln langsam verblasste, während er prüfend meine Haare musterte. Ich hörte Kolis’ Stimme …
»Er hat meine Haare gehasst«, platzte ich heraus, und mein Herz donnerte wie ein Hammer gegen meine Rippen. Ich presste die Augen zu und sah weiße Blitze.
Ashs Finger erstarrten. »Wie bitte?«
»Kolis«, flüsterte ich, und mir fiel erst jetzt auf, dass ich mich an seinen Arm klammerte.
Ich war bei Ash, umhüllt von seinem Duft nach Zitrone und frischer Luft. Es waren seine Finger in meinen Haaren. Ich war in der Schattenwelt. In Sicherheit. Ich war aufgestiegen und so mächtig wie nie zuvor. Ich wurde beschützt, und – das war am allerwichtigsten – ich war fähig, mich selbst zu verteidigen.
Ich zwang mich, die Finger um seinen Arm zu lockern. »Er hasste die Farbe und hat es ständig zur Sprache gebracht.«
Ash versteifte sich, und seine Haut wurde noch kälter.
Verdammt!
Ich wollte ihm nicht den Frieden nehmen. Andererseits war es vielleicht gar nicht ich gewesen, sondern Kolis, obwohl er nicht einmal hier war.
Ashs Brust drückte sich an meine, als er einen tiefen Atemzug nahm. »Das ist bloß ein weiterer Beweis dafür, was für ein verfluchter Idiot Kolis ist.«
»Sotoria hatte rote Haare«, erklärte ich und hätte mir dafür am liebsten selbst eine verpasst. »Ich schätze, das war das Problem.«
»Mir ist scheißegal, wie ihre Haare aussahen.«
»Es ist ja nicht ihre Schuld«, erwiderte ich und verteidigte instinktiv die Seele, die dank Ashs Vater bis vor Kurzem in mir gewohnt hatte. Mittlerweile war sie – die einzige, die Kolis töten konnte – in einem Diamanten eingeschlossen, den alle Stern nannten. Aber ich hatte immer noch das Gefühl, sie beschützen zu müssen.
Und das würde sich vermutlich auch nie ändern.
»Das habe ich nicht behauptet.« Seine Hand fuhr tiefer in meine Locken, und er drehte sanft meinen Kopf in seine Richtung. »Sera?«
»Ja?«
»Sieh mich an.«
Sah ich ihn denn nicht an? Nein, das tat ich nicht. Als ich die Augen öffnete, glühten meine Wangen. Er war nur wenige Zentimeter entfernt, und ich sah praktisch nur seine langen schwarzen Wimpern und die stahlgrauen, von weißen Adern durchzogenen Augen, in denen der Äther leuchtete.
»Ich will, dass du mich ansiehst, während ich dir Folgendes verspreche.« Seine Stimme klang hart und eisiger als der dunkelste, grausamste Kerker und stand damit im starken Gegensatz zu der Art, wie er mich behandelte. »Ich weiß, dass Kolis nicht getötet werden darf. Noch nicht. Aber ich werde ihm wehtun. Sehr sogar. Ich werde dafür sorgen, dass er den Tod herbeisehnt. Er wird darum betteln.«
Ein Schaudern überlief mich. Ich zweifelte keine Sekunde an seinem Schwur. Und auch wenn ich diejenige sein wollte, die Kolis unvorstellbare Schmerzen bereitete, hatte er immerhin Ashs Vater und seine Mutter getötet. Genau wie unzählige andere. Kolis hatte Ash unbegreifliche Schmerzen zugefügt.
»Damit habe ich absolut kein Problem«, erklärte ich. »Solange ich auch ein paar Minuten mit ihm bekomme. Und mit einem sehr, sehr scharfen Gegenstand.«
»Abgemacht.« Seine Finger schlossen sich um eine Haarsträhne.
»Ich …« Ich verstummte und verlor den Faden. Ich war mittlerweile weit genug von ihm abgerückt, um sein ganzes Gesicht zu sehen, und es war, als würde ich ihn zum ersten Mal wirklich sehen. Meine wild durcheinanderwirbelnden Gedanken verstummten von einem Augenblick auf den anderen. Ich betrachtete sein Gesicht, und alles andere verschwand. Staunen ergriff von mir Besitz.
Alles schien unglaublich viel klarer, die Einzelheiten traten deutlicher und differenzierter hervor. Seine dicken, selbst im feuchten Zustand gelockten Haare glichen einem Wasserfall aus verschiedenen Brauntönen, manche dunkel, manche hell, gemischt mit kastanienbraunen Nuancen. Eine Strähne berührte seinen Mundwinkel, und mein Blick glitt zu seinen üppigen Lippen, die eine Mischung aus Rosa und Braun waren. Eine weitere Strähne ruhte auf seinem Kinn, und ich sah die zarten Bartstoppeln, die meinen sterblichen Augen sicher entgangen wären.
Bei den Göttern, warum war mir das nicht sofort nach meinem Erwachen aus der Stasis aufgefallen?
Ashs Augenbrauen, die genau dieselbe Farbe hatten wie die dunkelsten Haarsträhnen, wanderten nach oben. »Sera? Ist alles in Ordnung?«
»Jaaa.« Ich riss den Blick von ihm los, stützte mich auf dem Ellbogen ab und sah mich in der Kammer um.
Es brannte nur eine Lampe, und normalerweise wäre es zu dunkel gewesen, um Details auszumachen, aber offensichtlich war Ash nicht das Einzige, was ich deutlicher erkennen konnte. Die Tür in die Badekammer stand offen, sodass mein Blick ungehindert in den privaten Besprechungsraum wandern konnte, der sich dahinter befand und den Ash immer dann benutzte, wenn er sich nicht zu weit von seinen persönlichen Gemächern fortbewegen wollte. Ich sah die zarten, grauen Adern, die den Marmor des Waschtisches durchzogen, und auch die Bürstenstriche auf der Holztür, wo einst ein Fleck entfernt worden war. Sogar das Schimmern der Schattensteinwände in den dunkelsten Ecken blieb mir nicht verborgen.
Ich dachte daran, was mir der falsche König der Götter über den Schattenstein erzählt hatte. Es war Schlacke, die aus den Überresten der Dinge bestand, die vom Drachenfeuer geschmolzen worden waren – wobei zu diesen Dingen auch Leute gehört hatten.
Der Gedanke daran war immer noch mehr als ekelhaft.
Ashs Hand glitt von meinen Haaren zu meiner Hüfte. »Es sieht aber nicht so aus.«
»Es ist bloß wegen meiner Sehkraft. Ich kann alles viel besser erkennen. Das Zimmer. Dich.« Ich sah an ihm hinab. »Warum fällt mir das erst jetzt auf?«
Es war deutlich, wie die Spannung von ihm abfiel. »Du warst ziemlich beschäftigt, nachdem du aufgewacht bist.«
»Wirklich?«
Sein Mundwinkel zuckte. »Es kann aber auch sein, dass sich deine Sinne gerade erst entfalten. Das passiert nicht immer sofort, sondern in Etappen, zwischen denen mehrere Stunden liegen können. Oder sogar Tage.«
Ich sah mich erneut um. Schwere Vorhänge verdeckten die Balkontür. »Wie lange hat es bei dir gedauert?«
Ich spürte seine kalten Fingerspitzen auf meiner Brust, als er nach einer Locke griff und sie hinter mein Ohr steckte. »Bei mir geschah es unmittelbar.«
Ich verdrehte die Augen. »Das war ja so was von klar.«
Sein Grinsen wurde breiter. »Das Gehör veränderte sich innerhalb weniger Stunden, aber der Rest dauerte ein paar Tage.«
»Der Rest?«
»Das Erkennen der kleinsten Veränderungen in den Leuten und der Umgebung«, erklärte er, und ich hatte keine Ahnung, was genau er damit meinte. »Außerdem vergingen ein paar Tage, bis ich die Draken verstehen konnte.«
Ich sah ihn überrascht an, dann stieg wieder dieses seltsame Gefühl in mir hoch, die Antwort auf meine ungestellte Frage bereits zu wissen. Ash verstand die Draken tatsächlich. Genau wie alle anderen aufgestiegenen Primare und einige der älteren Götter.
Ich dachte, er hätte diesbezüglich einen Scherz gemacht oder konnte lediglich ihre Gefühle erspüren, aber offenbar war es beides. Er erspürte ihre Launen und Bedürfnisse und hörte ihre Gedanken.
»Es nennt sich Te’lepe«, fuhr er fort. »Es ist eine Art Band zwischen uns und den Draken. Ein Notam, das den Draken erlaubt, uns ihre Gedanken zu schicken. Es kann sich sogar zwischen einem Draken und einem Gott bilden – je nachdem, wie sicher sich der Draken in Gegenwart des Gottes fühlt.«
Notam? Ich runzelte die Stirn. Hatte Attes nicht davon gesprochen? Ich versuchte, mir vorzustellen, wie es war, die Stimmen der Draken in meinem Kopf zu hören, doch es gelang mir nicht. »Aber sie hören uns nicht, oder?«
Ash schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich glaube, mein Vater konnte über seine Gedanken mit ihnen kommunizieren, weshalb du es vermutlich auch irgendwann einmal können wirst.«
Ich zog die Unterlippe zwischen die Zähne und blieb erneut an einem Fangzahn hängen. »Verdammt«, zischte ich schmerzerfüllt. »Wenn das so weitergeht, habe ich bald keine Unterlippe mehr.«
Ash stieß ein raues Lachen aus, das kaum wahrnehmbar war. Dennoch hörte ich die Veränderung im Tonfall. Ich liebte es, wenn er lachte, denn er hatte – wie ich – lange Zeit keinen Grund dazu gehabt. Inzwischen klang es jedoch locker und frei. Es war ein Beweis, dass er nicht mehr große Teile seines Ichs vor mir verbarg.
Auch wenn meine Lippe brannte, beugte ich mich nach unten und küsste ihn. Der Kuss begann sanft und liebevoll, doch schon bald entzündete sich der Funke, und Flammen schossen durch unsere Adern. Seine Lippen verschmolzen mit meinen, und er fing die winzigen Blutstropfen auf meiner Unterlippe auf. Er teilte meine Lippen mit seiner Zunge, und er schmeckte nach dem würzigen Whiskey, den er getrunken hatte, bevor ich eingeschlafen war.
Aber mir war klar, dass wir niemals aus diesem Bett herauskommen würden, wenn ich ihn jetzt weiterküsste.
Also löste ich mich widerstrebend von ihm und ließ mich mit der Eleganz eines Wildschweines zurück aufs Kissen sinken. »Also …« Ich warf einen Blick auf Ash. Seine Lippen waren immer noch leicht geöffnet und geschwollen, und seine Augen leuchteten silbern. Er sah mich an, als wollte er mich auffressen … Bei den Göttern! Ich wandte mich eilig ab, bevor ich auch noch die letzten Hemmungen verlor, an die ich mich gerade noch klammern konnte.
Ich räusperte mich. »Wie lange wird es dauern, bis ich so gut höre wie du? Stunden? Tage? Wochen?«
»Wochen eher nicht.« Ash legte sich auf die Seite und stützte den Kopf mit der Faust ab.
»Und wenn doch?«, fragte ich und drehte meine Haare zwischen den Fingern.
»Das wird es nicht.«
»Du klingst ziemlich überzeugt.« Während sich in mir die Angstspirale drehte, auch wenn ich wusste, dass es unnötig war. Dieser verkorkste Teil von mir hatte sich trotz des Aufstiegs nicht verändert. Ich wusste, dass es keinen Grund gab, sich Sorgen zu machen, aber das bedeutete nicht, dass ich es nicht trotzdem tat. Es bedeutete normalerweise eher, dass ich mir sogar noch mehr Sorgen machte. »Dabei könnte es durchaus so sein. Ich war immerhin eine Sterbliche. Ich sollte nicht aufsteigen. Vielleicht ist etwas schiefgelaufen. Und falls dem so ist, musst du mich … ich weiß auch nicht … gegen einen Primar ohne Mängel austauschen.«
»Das könnte sein.«
Mein Mund klappte auf, und mein Blick huschte zu ihm.
Ash zwinkerte mir zu.
»Zwinkere mich nicht so süß an!«, befahl ich. »Was heißt Das könnte sein?«
Er lachte, und es klang nach wie vor unbeschwert. »Als würde ich so etwas jemals in Betracht ziehen. Selbst wenn es möglich wäre, und das ist es nicht.« Er nahm meine Hand. »Es gibt niemanden sonst für mich. Da war nie jemand«, sagte er, und mein Atem stockte, als sich unsere Blicke trafen. »Und da wird auch nie jemand sein.«
»Es wird auch nie jemanden wie dich für mich geben«, schwor ich. »Niemals.«
»Ich weiß.« Sein Gesicht wurde härter, auch wenn sein Blick immer noch sanft und warm war. »Weshalb ich immer noch ein wenig wütend auf dich bin.«
Ich runzelte die Stirn. »Weshalb?«
»Du wolltest, dass ich ohne dich weitermache«, erinnerte er mich und klang dabei, als hätten die Worte einen schlechten Geschmack in seinem Mund hinterlassen. »Du wolltest, dass ich nach einer Möglichkeit suche, die Kardia wiederherzustellen, um anschließend die große Liebe zu finden. Du hast mir das Versprechen abgenommen, obwohl du auf keinen Fall jemals damit einverstanden gewesen wärst.«
»Ich lag im Sterben.«
»Das ist keine Entschuldigung.«
»Das ist sogar eine sehr gute Entschuldigung«, erwiderte ich. »Ich wollte wirklich, dass du jemanden findest, den du lieben kannst.«
»Das ist Schwachsinn, Sera.«
»Ist es nicht.«
Er stieß ein raues Lachen aus. »Mal angenommen, ich hätte meine Kardia wiedererlangt und tatsächlich eine andere gefunden. Willst du mir wirklich weismachen, dass du nicht einen Weg gefunden hättest, um zurückzukehren und mich bis in alle Ewigkeit fertigzumachen?«
Ich verschränkte die Arme unter der Brust und reckte das Kinn. »Auf keinen Fall.«
Er hob eine Augenbraue.
Ich hielt seinem Blick stand.
Er wartete, dann fragte er: »Wirklich nicht?«
»Ja.«
Er senkte den Kopf, bis uns nur noch wenige Zentimeter trennten. »Ich kenne dich, Sera.«
»Das will ich hoffen«, erwiderte ich.
»Ich weiß, dass du um einiges liebevoller bist, als du zugeben würdest. Ich weiß, dass du zu unglaublicher Güte und zu unglaublichen Opfern bereit bist, und diese Bereitschaft wird nur durch deine Beharrlichkeit und deine Sturheit übertroffen«, sagte er, und der leuchtende Äther in seinen Augen pulsierte. »Aber du bist keine selbstlose Heilige.«
Ich spitzte die Lippen. »Na gut, dann bin ich eben nicht selbstlos.«
»Nein, das bist du nicht.« Ash legte die Hand auf meinen Unterarm. »Weil in dir – genauso wie in mir – ein Ungeheuer wohnt. Du bist zu unmittelbarer, kaltherziger Rache fähig. Und Vergebung ist dir nicht annähernd so wichtig wie Vergeltung.«
Das konnte ich nicht abstreiten, und das Ungeheuer in mir war definitiv größer als in ihm. Er versuchte nicht, sich das Blut von den Händen zu waschen, das er vergossen hatte. Meine Hände hingegen waren längst wieder sauber. Ich lebte nicht tagtäglich mit den Leben, die ich genommen hatte. Das hätte die meisten abgeschreckt.
Er zog an meinen Armen und drückte die Lippen auf meine, um sanft an meiner Unterlippe zu knabbern. »Du gibst, ohne darüber nachzudenken, und du nimmst, ohne zu zögern. Außerdem bist du sehr besitzergreifend, Liessa.«
»Als wärst du das nicht«, erwiderte ich. »Hast du vergessen, wie du gedroht hast, jeden umzubringen, dem ich zu nahe komme? Oder war das bloß …?« Ich lächelte verkniffen. »Gerede?«
»Oh nein, ich habe nichts davon vergessen. Und ich hätte dem Wichser bei lebendigem Leib die Haut abgezogen, egal, ob Freund oder Feind.« Er küsste mich und ließ die Zunge über meinen Fangzahn gleiten. Die Lust, die mich mit einem Mal durchströmte, raubte mir den Atem. »Und weißt du, was?«
»Was?«, hauchte ich.
»Mein Versprechen, jeden zu vernichten, der deine Wünsche befriedigt, hat dich …« Seine Lippen glitten über meine. »Feucht gemacht.«
Ich zog scharf die Luft ein, und meine Wangen glühten in einer Mischung aus Scham und Verlangen. Na gut, es war zum Großteil Verlangen und nur ein winziger, kaum erwähnenswerter Teil Scham, denn natürlich hatte er recht.
»Und ich weiß, dass du dasselbe tun würdest. Der Teil meiner Persönlichkeit – möge er nun gut oder schlecht sein – erkennt den Teil in dir, der genauso tickt. Du liebst so erbittert, wie du hasst.« Er hob den Kopf. »Und nur damit das klar ist: Ich glaube dir, dass du ernsthaft wolltest, dass ich glücklich werde. Dass ich lebe. Aber du hättest niemals Frieden gefunden, wenn ich mit einer anderen zusammengekommen wäre.«
Ich öffnete den Mund und schloss ihn sofort wieder. Er grinste. Ich hatte tatsächlich gemeint, was ich zu ihm gesagt hatte. Als ich dachte, ich würde bald sterben, war mein Wunsch gewesen, dass Ash endlich leben wird. Aber hätte ich Frieden gefunden? Ohne ihn? Oder wäre ich zu einer der Seelen geworden, die nicht weiterziehen wollten? Tief im Inneren kannte ich die Antwort. »Na gut, ich wäre vielleicht wirklich zurückgekehrt und hätte dich fertiggemacht.«
»Was du nicht sagst!«
Meine Augen wurden schmal. »Aber auf äußerst liebevolle Art.«
Er lachte und legte die Stirn an meine. »Du bist … bezaubernd.«
»Bezaubernd?«
»Mhm.« Seine Lippen berührten meine. »Eine bezaubernde, mangelhafte Primarin.«
Ich lehnte mich zurück, um ihm einen Schlag auf die Brust zu verpassen, doch er fing meine Hand ab, hob sie an seinen Mund und drückte einen Kuss auf die Handfläche. »Aber kehren wir zurück zu den Veränderungen in dir.« Er legte meine Hand auf meinen Bauch. »Ist dir, abgesehen von der Sehkraft, noch etwas aufgefallen?«
Ich dachte einen Moment nach. »Ich glaube nicht …« Ich brach ab, denn mir war klar geworden, dass es tatsächlich noch etwas gab. Diese Intuition, die eher ein Wissen war.
»Ich weiß nicht, ob ich es schon erwähnt habe oder nicht«, begann ich, »aber da ist dieser verblüffende Instinkt, den ich früher nicht hatte. Antworten, die plötzlich in meinem Kopf sind. Das Gefühl, etwas zu wissen. Ein wenig war auch schon vor dem Aufstieg klar …« Ich schüttelte kaum merklich den Kopf. »Es klingt albern, aber konnte dein Vater nicht in die Zukunft sehen? Und hat er diese Fähigkeit nicht auch erst nach seinem Aufstieg entwickelt?«
»Ja, das hat er«, flüsterte Ash, und seine Augen wurden groß. »Vadentia.«
»Vorhersehung.« Ich hob überrascht den Blick, als mir klar wurde, dass ich das unbekannte Wort in einer fremden Sprache instinktiv verstanden hatte, obwohl ich die Sprache selbst nie gesprochen hatte. »Siehst du? Ich habe keine Ahnung, woher ich das wusste. Das Wissen war einfach da.«
»Mein Vater hatte die Fähigkeit auch. Bevor Kolis die Glut stahl.«
Ich war neugierig, und gleichzeitig regte sich das Bedürfnis, genau zu verstehen, worum es sich bei dieser Fähigkeit handelte und welche Einschränkungen es gab. »Hat er dir einmal von dieser … Vadentia erzählt? Wie sie funktioniert, zum Beispiel?«
Er schüttelte den Kopf. »Wenn jemand darüber Bescheid weiß, dann Nektas. Du wirst ihn sicher bald wiedersehen.«
Ich nahm mir vor, den Draken bei der ersten Gelegenheit danach zu fragen, dann rollte ich mich auf die Seite und sah Ash an. »Ist er denn nicht mehr hier?«
»Ich glaube, er ist bei seiner Tochter und Reaver«, antwortete er und ließ die Finger über meine Haut gleiten.
Mein Herz zog sich zusammen. Ich hatte geglaubt, ich würde die beiden jungen Draken nie wieder sehen. »Ich würde sie gern in den Arm nehmen«, platzte ich heraus, und meine Wangen wurden rot. »Oder vielleicht auch nur Jadis. Reaver würde es vermutlich nicht gefallen.«
»Doch, das würde es.« Ash drückte einen Kuss auf meine Stirn, und ich fragte mich, ob er meinen Gefühlen nachgespürt hatte oder ob ich sie projiziert hatte. »Hast du Hunger?«
Mein Magen regte sich sofort und knurrte einigermaßen laut. Verlegen sah ich zu ihm hoch. »Ein bisschen vielleicht.«
Er lachte leise. »In der Badekammer steht frisches Wasser«, erklärte er mir. »Sobald du fertig bist, besorge ich uns etwas zu essen.«
»Du musst aber nicht auf mich warten«, erklärte ich ihm.
»Ich will aber.« Er strich über meine Wange und senkte den Blick. »Außerdem genieße ich die Aussicht.«
Die Tatsache, dass er mich nicht allein lassen wollte, machte mich nicht mehr verlegen. Stattdessen ließen seine Rücksichtnahme und seine Sorge mein Herz anschwellen. Ich beugte mich nach vorne und küsste ihn. »Es wäre mir eine Freude, wenn du sie weiterhin genießen würdest.«
»Schön, dass wir in dieser Hinsicht einer Meinung sind.«
Ich grinste und lehnte meine Stirn an seine. »Aber es gibt Dinge, die wir nicht aufschieben können.«
»Ja, die gibt es.« Seine Finger strichen über meinen Arm und hinterließen ein Schaudern.
»Wichtige Dinge«, fuhr ich fort. »Und ich habe das Gefühl, dass es immer unwahrscheinlicher wird, dass wir sie erledigen, je länger wir in diesem Bett bleiben.«
»Ich hingegen habe das Gefühl«, sagte er und berührte meine Nasenspitze mit seiner, »dass wir nicht einer Meinung sind, was die derzeitige Wichtigkeit des herrlichen Ausblicks im Vergleich zu anderen Dingen betrifft.«
Ich lachte. Ich liebte diese entspannte, neckische Seite an ihm, die ich nur während der kurzen Zeit in der sterblichen Welt erleben durfte, bevor er mich in die Schattenwelt gebracht hatte. Es schien eine Ewigkeit her, und ich hasste es, dass ich sie nicht weiter genießen konnte. »Wie kommt es, dass ich plötzlich die Vernünftige bin? Das ist doch dein Job, nicht meiner.«
Er grinste. »Ich glaube, ich will den Job nicht mehr.«
»Wenn du ihn hinwirfst, herrscht bald das reinste Chaos«, erklärte ich ihm. »Den ganzen Tag. Und die ganze Nacht.«
»Gut, deine Vorstellung von Chaos gefällt mir nämlich.« Ashs Hand glitt auf meine Hüfte, und er lehnte den Kopf zurück. Er musterte mich mit seinen warmen stahlgrauen Augen. »Bist du dir sicher, dass du zurechtkommst?«
Ich nickte, und mein Herz schien vor Liebe zu platzen.
»Und das ist auch die Wahrheit?«
»Ja.« Nach der Zeit mit Kolis und der Tatsache, dass ich beinahe gestorben wäre, stand die Gefahr, in der Badewanne erdrosselt zu werden, nicht mehr ganz oben auf der Liste der besorgniserregenden Dinge. Was ich Ash allerdings lieber nicht sagte. Es wäre nicht hilfreich gewesen, Kolis zur Sprache zu bringen oder ihn daran zu erinnern, was damals passiert war.
»Ich komme schon klar«, versicherte ich ihm. »Du kannst gehen.«
Ash zögerte, doch dann nickte er, als hätte er sich selbst auch davon überzeugt, dass es in Ordnung war. Ich sah zu, wie er aufstand und sich abwandte, und mein Blick wanderte über die Tätowierungen, die seinen Rücken überzogen, während er nach einer Hose griff. Die schwarzen Blutstropfen hoben sich deutlicher von der warmen weizenfarbenen Haut mit dem herrlichen gold-braunen Schimmer ab als vor meinem Aufstieg.
Sie bedeckten seinen Rücken, die Seiten und reichten bis hinunter zu den inneren Hüften, und sie repräsentierten alle, die er verloren hatte. Leben, für die er sich verantwortlich gefühlt hatte. Es sah wunderschön aus, aber es war auch traurig.
Es gab einfach viel zu viele.
Hunderte.
Aber es würde kein neuer Tropfen hinzukommen. Diesen Schwur würde ich niemals brechen.
Ich richtete mich auf und griff nach dem erstbesten Kleidungsstück, bei dem es sich um eine von Ashs langärmeligen Tuniken handelte. Ich zog sie über, und mein Blick fiel auf die kleine Holzkiste mit den silbernen Scharnieren auf dem Nachttisch. Sie war mit herrlichen Schnitzereien verziert, deren Schnörkel den Stickereien auf den Tuniken der Schattenwelt und dem Bild auf der Tür des Thronsaales glichen.
Ash hatte meine Haarbänder gesammelt und sie in dem kunstvoll gestalteten Kästchen aufbewahrt. Das war vielleicht für viele nicht der Rede wert, aber es bedeutete mir unglaublich viel, dass er so etwas Unbedeutendes aufbewahrt hatte, bloß weil es einmal mir gehört hatte.
»Übrigens …«, sagte er, während er in die weite Leinenhose schlüpfte, »die Sachen, die Erlina für dich geschneidert hat, hängen im Kleiderschrank.« Er drehte sich zu mir um, und nun war ich diejenige, die den herrlichen Ausblick genoss. Im nächsten Augenblick grinste er. »Vergiss, was ich gerade gesagt habe. Ich will, dass du so bleibst. Für immer. Etwas Aufreizenderes habe ich noch nie gesehen.«
Ich sah mich hochgezogenen Augenbrauen an mir hinunter. Das weiche Hemd war so lang, dass es als Nachtkleid durchgehen konnte – als ziemlich formloses, sackähnliches Nachtkleid. »Ich in einem deiner Hemden?«
»Ja«, sagte er, und es klang wie das Schnurren einer Katze.
Ich sah zu ihm auf, und was auch immer mir auf der Zunge lag, verschwand. Er hatte die Haare im Nacken zu einem tiefen Knoten zusammengefasst, sodass die atemberaubenden Ecken und Kanten seines Gesichts noch besser zur Geltung kamen. Er hatte sich immer schon mit einer mühelosen Anmut bewegt, doch es erschien mir jetzt noch deutlicher, als er auf das Bett zukam. Er bewegte sich im vollkommenen Einklang mit der Umgebung, als wäre er ein Teil von ihr.
Mein Blick wanderte nach unten. Auch die Brust- und Bauchmuskeln waren definierter. Ich folgte den tätowierten Tropfen von der Hüfte bis zu der Stelle, wo sie unter seinem Hosenbund verschwanden.
»Du solltest mich nicht so ansehen, Liessa.« Sein Ton hatte sich erneut verändert, und ich hob den Blick wieder. Seine Stimme klang satter und irgendwie sanfter, und jeder Ton schien Teil einer erregenden Sinfonie.
Ich atmete tief ein. Der Zitronengeruch war stärker geworden. Oder bildete ich mir das nur ein? Nein, ich spürte seine Erregung tatsächlich. Nicht so wie er, indem er Gefühle erspürte, sondern durch meinen neuentdeckten Instinkt. Ich spürte seine Erregung in jedem Klopfen seines Herzens. Offenbar entwickelten sich langsam auch die anderen Fähigkeiten, von denen Ash gesprochen hatte. »Sicher nicht?«
»Ja, leider. Du musst etwas essen.« Er beugte sich nach unten und legte eine Hand auf meine Wange. »Ich bin gleich wieder da.«
»In Ordnung.«
Unsere Blicke trafen sich, als er sich wieder aufrichtete. Dann kam er noch einmal näher, und als er das nächste Mal sprach, berührten seine Lippen meine. »Ich liebe dich.«
Mein Atem stockte, als ich die drei Worte hörte, die eigentlich unmöglich sein sollten.
Er neigte den Kopf, und der sanfte Kuss wurde erbittert und intensiv.
Mein Herz pochte, als er sich schließlich von mir löste. »Ich …«
In diesem Moment flog mit einem Mal die Balkontür auf, und die dicken Vorhänge schlugen an die Wand.
»Was zum …?« Ich verstummte. Weißer Nebel floss über den Boden und stieg immer höher. Ein seltsamer Geruch breitete sich aus. Moschusartig. Beinahe süß. Der Äther in meiner Brust pulsierte, und mein Instinkt sagte mir, dass das hier – was auch immer es war – nichts mit Kolis zu tun hatte.
Die Veränderung in Ash erfolgte innerhalb eines Sekundenbruchteils. Schatten breiteten sich explosionsartig unter seiner Haut aus, umschlangen seine Arme und nahmen von seiner Brust Besitz, als er herumfuhr.
Flügel aus schwarzem Äther bildeten sich hinter seinem Rücken. Ich sah wie gebannt in den Nebel, der langsam Gestalt annahm. Ein kehliges Knurren stieg aus Ashs Brust, und er fletschte die Zähne.
Die Haut in meinem Nacken kribbelte. Was ich spürte, war … »Uralt.«
Ich sprang vom Bett und streckte die Hände nach Ash aus. Meine Fingerspitzen berührten seine Haut, als ein Energiestoß in die Kammer fuhr. »Ash!«
Im nächsten Augenblick senkte sich Dunkelheit über mich.
ALSICHAUFWACHTE, LAGICHauf einem harten, feuchten Untergrund. Ein seltsames Summen lag in der Luft, und es roch nach Leder, das über einem Feuer gegerbt wird, nur irgendwie süßer und seltsam verwest. Es war sogar noch schlimmer als der Geruch von verblühtem Flieder. Wo war ich?
Der weiße Nebel.
Die Dunkelheit.
Ash.
Ich fuhr ruckartig hoch und sah nichts, außer abgrundtiefe Finsternis.
»Ash!«, schrie ich und zuckte zusammen, als meine Stimme widerhallte und sich mit dem Geräusch vermischte, das kein Summen war, sondern eher ein Stöhnen. Das quälende Lied hungriger Seelen.
Ein Schaudern lief über meinen Rücken, und ich bekam eine Gänsehaut. Aber das war alles, was ich spürte. Ich legte die Hand auf die Brust und auf Ashs weiche Leinentunika.
»Verdammt«, hauchte ich. Der Äther in mir summte nicht. Ich spürte die Macht nicht mehr.
Es musste ein Traum sein.
Abgesehen davon …
Abgesehen davon, dass sich der feuchte, kalte Steinboden unter mir viel zu real anfühlte und der Gestank so intensiv war, dass ich ihn mehr oder weniger schmecken konnte.
Ich erinnerte mich, was ich gespürt hatte, bevor die Dunkelheit über uns hereingebrochen war.
Etwas Uraltes.
Mein Magen zog sich zusammen, und ich drehte mich auf den Bauch und stemmte mich auf die Knie hoch. Wo war Ash? Panik stieg in mir empor, während ich zu begreifen versuchte, was hier los war. Ich bekam kaum noch Luft, so zugeschnürt war meine Kehle. Es war immer noch stockdunkel, und ich sah absolut nichts, als ich mich aufrichtete.
Im nächsten Moment erschienen zwei winzige Lichter. Ich hielt in der Hocke inne, und mein Herz raste. Die beiden Lichter verdoppelten ihre Größe, dann erwachte ein zweites Paar flackernd zum Leben und auch noch ein drittes, und alle wurden größer. Meine Lippen teilten sich. Die Lichter sahen nicht aus wie Leuchtkugeln.
Eher wie Augen, in denen der Äther glühte.
Ich richtete mich langsam zur vollen Größe auf, und mein Herz schlug noch schneller. Ich spürte zwar weder die Essenz in mir noch diesen unheimlichen Instinkt, aber meine anderen Sinne gerieten in Aufruhr. Eine eisige Angst ergriff von mir Besitz, und meine Stimme klang heiser. »Hallo?«, krächzte ich.
Die Lichter verschwanden.
Einen Herzschlag lang herrschte, abgesehen von dem unheimlichen Stöhnen, vollkommene Stille. Ich machte einen Schritt nach vorne. Ein Schwall elektrisch geladener Luft ließ mich innehalten. Goldene Funken erwachten überall um mich herum zum Leben. Flammen züngelten und warfen Licht auf die Wandleuchten aus Eisen. Mein Blick folgte instinktiv dem Licht, das sich entlang der matten grauen Steinwände bis in eine Art Höhle ausbreitete, in der Zeichen sichtbar wurden, die ich bereits aus dem Schattentempel und den Säulen der Asphodelen kannte. Ein Kreis, der von einer vertikalen Linie durchschnitten wurde. Die Haut hinter meinem linken Ohr kribbelte. Mein primarer Instinkt erwachte zum Leben, und ich folgte dem Licht weiter in Richtung Höhle.
Die Zeichen waren ein Symbol für den Tod. Für den wahren Tod.
Ich war nicht allein.
Sämtliche Muskeln in meinem Körper spannten sich, und mir wurde zuerst heiß und dann kalt. Vor mir saßen drei Gestalten auf ihren Pferden. Die gesenkten Köpfe waren von Kapuzen bedeckt, die Körper blieben unter wallenden weißen Gewändern verborgen. Die Pferde bestanden bloß aus Knochen und Sehnen und trugen ebenfalls blasse Kutten über den Leibern.
Ich hatte die drei schon einmal gesehen. Bei den Säulen der Asphodelen. Ich hörte Nektas, der mir ihre Namen verriet.
Polemus. Peinea. Loimus.
Krieg. Seuche. Hunger.
Sie waren die Reiter des unwiderruflichen Endes und konnten nur vom Primar des Lebens angerufen werden.
Mein Instinkt – der neue und der alte, den ich immer schon gehabt hatte – schrie mir zu, sofort davonzulaufen, denn diese Gestalten waren nie menschlich oder göttlich gewesen. Sie waren von Anfang an da. Sie waren zwar keine Urältesten, aber sie wurden von ihnen erschaffen. Deshalb fühlten sie sich auch uralt an.
Gleichzeitig sagte mir meine Intuition aber auch, dass ein Davonlaufen einem Versagen gleichkam, und ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete, also hielt ich still.
Der Reiter in der Mitte hob den Arm und schob ihn unter seinen Mantel. Er zog ein Schwert mit einem matten elfenbeinfarbenen Griff und einer blutroten Klinge hervor.
»Beweise dich«, befahl eine raue Stimme, die rasselte wie alte, trockene Knochen.
Meine Augen weiteten sich, als der Reiter mir das Schwert mit dem Griff voran entgegenstreckte. Ich vermutete, dass es Polemus war. Der Reiter des Krieges.
Ich hatte keine Ahnung, was er von mir wollte, und ich wagte nicht, auf ihn zuzutreten und nach dem Schwert zu greifen. »Wo ist Ash?«
Schweigen.
Vielleicht kannten sie ihn nicht unter diesem Namen? Es schien zwar unwahrscheinlich, aber ich räusperte mich dennoch. »Wo ist Nyktos?«
»Der Primar des Todes ist in Sicherheit«, antwortete der Reiter, und seine Stimme ließ mich erschaudern. »Beweise dich.«
»Ich will ihn sehen.«
»Beweise dich.«
Mein Herz schlug rasend schnell, während ich zwischen Angst und Wut hin- und herschwankte. »Ich will ihn sehen«, wiederholte ich. »Sofort.«
»Du musst dich beweisen, Primarin.«
Der linke Reiter hatte die Stimme erhoben, die brüchig und uralt klang. Peinea. Seuche. »Beweise, dass du würdig bist.«
»Ich soll beweisen, dass ich würdig bin?« Ich versteifte mich noch mehr, und meine Angst verwandelte sich in Wut. »Wie? Und warum?«
Die Worte des dritten Reiters klangen rau wie eine Reibe. Das musste Loimus sein. Hunger. »Beweise, dass du würdig bist, die Krone und die Last des Lebens zu tragen.«
»Gut.« Ich sah mich in der Höhle um. Abgesehen von mehreren zarten Rissen, schien es keine Öffnungen nach draußen zu geben, aber das konnte nicht sein. Wie wäre ich sonst in die Höhle hineingekommen? »Nichts für ungut, aber ich habe kein Interesse daran, mich zu beweisen, und ich habe auch nicht vor, euch drei irgendwann in naher Zukunft anzurufen, also …« Der Geruch nach verbranntem Fleisch wurde stärker, und ich bekam kaum noch Luft. »Was ist das für ein verdammter Gestank?«
»Das sind die Seelen, die in die Gruben des ewigen Feuers verbannt wurden«, antwortete Polemus.
Ich wiederholte die Worte des Reiters in Gedanken. Die Gruben des ewigen Feuers? Das hieß … »Ich bin im Abyss?«
»Beweise dich«, wiederholte Polemus zum gefühlt hundertsten Mal.
Ich ballte die Hände zu Fäusten. »Jetzt hört mal zu, ich wäre fast gestorben, und zwar, nachdem ich von einem irren Primar gefangen gehalten wurde. Und jetzt wurde ich gegen meinen Willen in den Abyss gebracht. Ich habe keine Ahnung, ob mein Ehemann in Sicherheit ist oder gerade das ganze Reich auf den Kopf stellt, um mich zu finden. Ein Reich, über das ich herrschen sollte, obwohl ich kaum einen klaren Gedanken fassen kann. Ich wollte bloß eine einzige Nacht mit meinem …« Eines der Pferde wieherte und setzte meiner Tirade ein Ende. Ich zwang mich, tief durchzuatmen und mich zu beruhigen. Diese Wesen waren so alt wie die Urältesten. »Stattdessen stehe ich hier. In einer viel zu großen Tunika und verdammt hungrig.«
»Beweise dich«, erwiderte Loimus.
Mein Kopf fuhr zu ihm herum. »Ich schwöre bei den Göttern, wenn einer von Euch noch einmal Beweise dich sagt …«
Polemus warf mir das Schwert zu. Er schleuderte es einfach in meine Richtung, ohne überhaupt aufzusehen.
Ich sprang fluchend und gerade noch rechtzeitig zur Seite. Die Waffe schoss an mir vorbei. »Was, um alles …?« Mit offenem Mund sah ich zu dem Schwert, das wenige Zentimeter vor der Wand angehalten hatte und nun wie von unsichtbaren Fäden gehalten in der Luft schwebte.
»Du musst dich beweisen«, erklärte Polemus.
Ich schloss die Augen und holte erneut tief Luft, was ich allerdings sofort bereute. Der Gestank war ekelerregend, und ich würgte. Ich zwang mich, langsam zu atmen, und ging eilig die verschiedenen Möglichkeiten durch.
Ich war nicht so dumm, mich den Reitern entgegenzustellen. Immerhin hatten die Urältesten sie erschaffen, und ich spürte nicht mal eine Spur der Essenz in mir. Außerdem war das Gefühl, das ich vorhin gehabt hatte – das instinktive Wissen, dass es einem Versagen gleichkam, wenn ich davonlief –, immer noch da. Ich verstand zwar nicht, was hier los war, aber ganz offensichtlich musste ich irgendetwas tun.
Wenn ich nicht tat, was sie von mir verlangten, würde ich vermutlich den Rest der Ewigkeit hier verbringen, während sie unaufhörlich dieselben Worte wiederholten.
Also stapfte ich mürrisch auf das Schwert zu. Als sich meine Finger um den Griff schlossen, wurde das Material warm. Ich sah auf das Schwert hinunter und wog es in der Hand. Es war fast so schwer wie ein Breitschwert. Die Klinge bestand aus einem blutroten Stein, der mich an die beinahe senkrechten Felshänge in der Schattenwelt erinnerte.
Mein Blick wanderte weiter zum Griff. Er sah ungewöhnlich aus, und ich vermutete, dass er aus Knochen bestand. Ich verzog angewidert den Mund. Darüber dachte ich jetzt besser nicht nach.
»Na schön«, blaffte ich und wandte mich wieder den Reitern zu. »Bringen wir’s hinter uns.«
Polemus hob die rechte Hand, und ich versteifte mich. Gleich würden sie mich angreifen.
Doch nichts geschah.
Stattdessen loderten Flammen bis zur Decke empor, und blutrotes Licht erhellte die Zeichen, die in den Boden geritzt waren. Ich trat einen Schritt zurück. Es schien mit einem Mal, als wären sie mit leuchtendem Blut gefüllt.
»Was … was passiert hier?«, fragte ich.
Doch ich bekam keine Antwort. Staub rieselte von der Decke, und ich blickte nach oben. Ein dunkelrotes Schimmern drang aus den Rissen in der Decke, und im nächsten Moment wurde das Licht so hell, dass es in meinen Augen schmerzte. Mein Blick verschwamm, als es aus den Spalten und Rissen sickerte und sich zwischen mir und den Reitern ausbreitete.
Ich sah mit aufgerissenen Augen zu, wie es pulsierte und wuchs, bis es langsam Form annahm.
Es war beängstigend.
»Wollt ihr mich verarschen, oder was?«, fluchte ich, während sich die goldenen Flammen langsam beruhigten und nur noch sanft tanzende Schatten auf die Wände zeichneten.
Eine riesige, von blauen und grünen Schuppen bedeckte Kreatur blickte bösartig auf mich hinab.
Ich traute meinen Augen nicht.
Das Untier war gigantisch, sicher zwei Mal so groß wie ich, und hatte den Körper eines Draken. Muskulöse Beine und scharfe Klauen, die Fleisch aufreißen konnten, als wäre es bloß dünnes Papier und die zu Pranken gehörten, die meine ganze Mitte umfassen hätten können. Die Brust und der Oberkörper waren breit und muskelbepackt, der Schwanz dick und stachelig, aber damit endeten die Ähnlichkeiten zwischen dem Wesen und den Draken auch schon wieder.
Das Ding hatte mehrere Köpfe.
Drei, um genau zu sein.
Und die Augen – sechs an der Zahl – leuchteten silbern, während Äther in ihnen funkelte.
Genauso grauenhaft wie die drei Köpfe war der Geruch der Kreatur. Sie stank widerlich, wie eine Mischung aus verwesenden Leichen und Schwefel.
»Beweise dich«, befahl einer der Reiter, »und vernichte das Monster.«
Ich sollte dieses Ding bezwingen, und zwar nur mit einem Schwert? Ohne Rüstung? Ohne Schuhe und sogar ohne Hose? Mit leerem Magen?
»Ich fühle mich unvorbereitet«, murmelte ich und versteifte mich.
Die Kreatur zischte mit ihren drei gespaltenen Zungen, und der rechte und linke Kopf schwangen im Gleichklang hin und her, während der mittlere sich nicht bewegte. Sie streckte die langen Beine aus, und die grauenhaft spitzen Krallen schrammten über den Steinboden.
Einatmen. Egal, ob das hier nun real war oder nicht, in dem jahrelangen Training mit Holland hatte ich gelernt, dass es zunächst einmal wichtig war, den Kopf frei zu machen. Luft anhalten. Ich durfte nicht an Ash denken. Daran, was außerhalb dieser Höhle passierte und was danach mit mir geschehen würde – ob mich dieses Ding vielleicht sogar fressen würde. Ausatmen. Ich durfte nicht einmal darüber nachdenken, warum das alles passierte. Warten. Ich ließ alles verstummen und konzentrierte mich lediglich auf den Albtraum, der sich vor mir aufbaute.
Es war nicht wie früher, wenn ich den Schleier übergezogen und zu einer weißen Leinwand oder einem leeren Gefäß geworden war. Es war sehr viel neutraler. Es war kein Kampf, und da war auch kein Widerstand, ich stellte einfach die Gedanken ab und spannte die Muskeln an. Ich wurde etwas, das mir sehr viel besser stand, als Königin zu sein.
Eine Kämpferin.
Eine Kriegerin.
Aber das war nicht das Einzige, was Holland mir beigebracht hatte. Ich umklammerte das Schwert fester. Manchmal brachte es keinen Vorteil, wenn man zuerst zuschlug, vor allem, wenn man sich nicht in einem sicheren Abstand zum Gegner befand und dieser unbekannt war. Ich hatte keine Ahnung, wozu dieses Ding fähig war, also machte ich mich bereit und wartete.
Es dauerte nicht lange.
Der mittlere Kopf erhob sich und bewegte sich flüssig und so schlangenhaft nach hinten, dass Ekel in mir hochstieg. Einen Herzschlag lang passierte nichts …
Dann schoss der linke Kopf mit einer Geschwindigkeit nach vorne, wie ich es von den Grubenottern bei den Klippen des Kummers kannte, riss das Maul auf und bleckte Fangzähne, die genauso lang waren wie meine Finger. Ich stürzte zur Seite, sprang jedoch im nächsten Moment wieder zurück, nachdem ich annahm, dass auch der rechte Kopf die Chance nützen würde. Ich hatte recht. Der zweite Kopf zischte auf mich zu, und mir blieb nur ein Sekundenbruchteil, um auszuweichen.