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Perfide Täuschung, kaltblütige Morde und atemberaubende Twists Im Thriller »Böse Herzen« von Bestseller-Autorin Karen Rose bringen die Ermittlungen in einer luxuriösen Wohnanlage voller dunkler Geheimnisse die toughe Polizistin Kit McKittrick und den Psychologen Sam Reeves erneut zusammen. Detective Kit McKittrick vom Morddezernat des San Diego Police Department wird in die Seniorenwohnanlage Shady Oaks gerufen. Man hat die Leiche eines fünfundachtzigjährigen Bewohners gefunden, der erstochen wurde. Der Mann hat sich offensichtlich gegen seinen Angreifer gewehrt, und seine Wohnung ist völlig verwüstet worden. Wer hatte es auf Frankie, einen ehemaligen Cop, abgesehen – und vor allem, warum? War Frankie ein einmaliges Opfer, oder sind die anderen Bewohner von Shady Oaks ebenfalls in Gefahr? Kit McKittrick beginnt mit den Zeugenbefragungen, wird aber schnell ausgebremst. Die meisten Bewohner zeigen sich alles andere als kooperativ. Shady Oaks, so kann Kit erahnen, scheint so einige Leichen im Keller zu haben, doch sie kommt nicht weiter. Um den Fall zu lösen, muss Kit wohl oder übel ein weiteres Mal mit Dr. Sam Reeves zusammenarbeiten, der ehrenamtlich in Shady Oaks tätig ist und gute Beziehungen zu Bewohnern und Angestellten pflegt. Dabei weckt der Psychologe Gefühle in ihr, die sie lieber ignorieren würde … Packender Pageturner mit reichlich Twists und einem Hauch Romantik In der Thriller-Reihe aus San Diego zeigt Karen Rose wieder ihr ganzes Können als vielfache Bestseller-Autorin: Dramatische Twists und lebensechte Figuren, die einem ans Herz wachsen, sorgen für Nervenkitzel der Extraklasse. Der erste Thriller der San-Diego-Reihe, »Kaltblütige Lügen«, war ein SPIEGEL-Bestseller.
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Seitenzahl: 681
Karen Rose
Thriller
Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Brandl
Knaur eBooks
Perfide Täuschung, kaltblütige Morde und atemberaubende Twists: Im Thriller »Böse Herzen« von Bestseller-Autorin Karen Rose bringen die Ermittlungen in einer luxuriösen Wohnanlage voller dunkler Geheimnisse die toughe Polizistin Kit McKittrick und den Psychologen Sam Reeves erneut zusammen.
Detective Kit McKittrick steht vor der Leiche eines ehemaligen Kollegen: Der Polizist im Ruhestand hat in Shady Oaks gelebt, einer luxuriösen Wohnanlage für Senioren in San Diego. Dort wurde er brutal erstochen, seine Wohnung durchwühlt. War er einem Verbrechen auf der Spur gewesen?
Kits Verdacht erhärtet sich, als auch der Sicherheitschef der Anlage tot aufgefunden wird. Doch die Bewohner von Shady Oaks scheinen ihre eigenen Leichen im Keller zu haben und zeigen sich wenig kooperativ.
Unerwartete Hilfe erhält Kit ausgerechnet von Dr. Sam Reeves, der ehrenamtlich in Shady Oaks arbeitet und gute Beziehungen zu Senioren und Angestellten hat. Um den Fall zu lösen, muss Kit ein weiteres Mal mit Sam zusammenarbeiten. Dabei weckt der Psychologe Gefühle in ihr, die sie lieber ignorieren würde …
Der zweite Thriller der San-Diego-Reihe, auch unabhängig lesbar.
Entdecken Sie auch den ersten Band der San-Diego-Thriller-Reihe: »Kaltblütige Lügen«.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Widmung
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
Epilog
Dank
Verzeichnis der Romane von Karen Rose und der darin auftretenden Figuren
Für meine Freundin JoCarol Jones. Ich hab dich lieb, meine Beste.
Und, wie immer, für meinen wunderbaren Martin. Seit zweiundvierzig Jahren bist du mein Herz. Ich liebe dich so sehr.
Kit McKittrick, Detective bei der Mordkommission von San Diego, schob das Scheunentor auf, sorgsam darauf bedacht, dass es möglichst geräuschvoll vonstattenging. Üblicherweise schlich sie sich unbemerkt hinein, um eine Weile allein zu sein, wenn ihr das Leben zu viel und zu hektisch wurde. Die Scheune war zu einer Art Zufluchtsstätte geworden, seit sie sie als verängstigte zwölfjährige Ausreißerin entdeckt hatte.
Gemeinsam mit Wren.
Beim Gedanken an ihre Schwester, die sie vor sechzehn Jahren verloren hatte, spürte sie das vertraute Ziehen in der Brust. Damals war den beiden Mädchen nicht bewusst gewesen, dass sie sehr viel mehr gefunden hatten als bloß einen Unterschlupf. Es war ihre Rettung gewesen – in Gestalt von Harlan und Betsy McKittrick, die ihnen Wärme, Sicherheit und unendlich viel Liebe geschenkt hatten.
Wren war seit langer Zeit tot, jäh aus ihrer Mitte gerissen von einem Mörder, der bis zum heutigen Tag nicht gefasst war. Noch nicht. Kit suchte selbst jetzt noch nach ihm, weil Wren es verdiente, Gerechtigkeit zu erfahren. So wie wir. Sie, Harlan und Betsy hatten ihr Leben weitergelebt aus dem einfachen Grund, weil sie es mussten, hatten das Mädchen, das ihnen so viel Freude geschenkt hatte, jedoch niemals vergessen.
Oft war Kit hierhergekommen, um nachzudenken und sich an Wren zu erinnern.
Heute jedoch führte sie etwas anderes her: ein Mädchen, das in staatliche Obhut genommen worden war, nachdem es die Leiche seiner ermordeten Mutter gefunden hatte. Die Kleine hatte viel zu viel Leid, Schmerz und Angst erleiden müssen, deshalb achteten alle Mitglieder des McKittrick-Haushalts darauf, sie nicht zu erschrecken.
Kit schob das Tor hinter sich zu, woraufhin die Geräusche der Geburtstagsparty gedämpft wurden. Alle Pflegekinder hatten sich versammelt – sowohl diejenigen, die inzwischen ausgezogen waren und auf eigenen Füßen standen, als auch jene, die sich noch offiziell im staatlichen Betreuungssystem und in Harlans und Betsys Obhut befanden. Sie waren eine Familie und kamen zu Geburts- und Feiertagen sowie zu den Sonntagsessen zusammen. Eine große, wundervolle Familie, zu der auch Rita jetzt gehörte, doch war ihnen allen bewusst, dass sie anderen Menschen schnell zu viel werden konnten, wenn sie alle auf einem Haufen waren. Es war nicht das erste Mal, dass sich jemand hierher flüchtete, und gewiss nicht das letzte.
Kit wollte nach Rita sehen und sie dann in Ruhe lassen, falls es ihr lieber wäre. Mit schief gelegtem Kopf lauschte sie, und tatsächlich drang aus der leeren Box, in der keine Tiere untergebracht wurden, leises Schluchzen.
Kit war nicht die Einzige, die die Box für sich nutzte, um einmal allein zu sein. Vielmehr diente sie Harlan als Werkstatt, wo er mithilfe seines Schnitzmessers aus einem Stück Holz kleine Kunstwerke fertigte.
Als Kit die Tür zur Box öffnete, sah sie Margarita Mendoza zusammengekauert in der Ecke auf einem Heuballen sitzen. Sie hatte die Arme um ihre angezogenen Knie geschlungen, und ihr Kopf war gesenkt, sodass ihr Gesicht hinter einem Vorhang aus blondem, von pinkfarbenen, violetten und blauen Strähnen durchzogenem Haar verborgen war.
»Hey«, sagte Kit. »Wir wollten deine Geburtstagstorte anschneiden und haben gemerkt, dass du schon eine ganze Weile verschwunden warst.«
Vor sechs Monaten war Rita entführt worden, daher hatte sich zunächst Panik in der Familie breitgemacht. Zwar war Rita damals unversehrt nach Hause zurückgekehrt, doch der Vorfall hatte allzu deutliche Erinnerungen an Wrens Verschwinden heraufbeschworen. Heute waren sie jedoch schon bald davon ausgegangen, dass der Teenager bloß etwas Zeit für sich brauchte. Trotzdem musste Kit Bescheid sagen, dass Rita in Sicherheit war, deshalb schickte sie Harlan eine Nachricht. Hab sie gefunden, Pop. In der Scheune.
Harlans Reaktion kam sofort. Und aus tiefstem Herzen. Gott sei Dank. Brauchst du mich?
Kit lächelte. Sie brauchte Harlan und Betsy immer, doch hier ging es jetzt um Rita. Gib mir fünf Minuten, dann kannst du reinkommen. Sie wird dich brauchen. Sie steckte ihr Handy ein und betrachtete das inzwischen vierzehnjährige Pflegekind. Rita hatte sich nicht gerührt, Kit jedoch auch nicht aufgefordert, sie in Ruhe zu lassen.
»Soll ich gehen oder bleiben?«, fragte Kit.
Rita zuckte die mageren Schultern, was Kit als Signal auslegte, bleiben zu dürfen. Sie setzte sich neben Rita auf den Heuballen und strich ihr übers Haar, wie Harlan es bei ihr getan hatte, wenn sie aufgebracht gewesen war.
»Es tut mir leid«, flüsterte Rita. »Ich habe die Party versaut.«
»Du hast überhaupt nichts versaut. Ich habe mich früher während der Partys auch immer hier versteckt.«
»Aber nicht an deinem eigenen Geburtstag.«
»Da wäre ich mir mal nicht so sicher. Ich habe meinen vierzehnten Geburtstag hier drinnen verbracht.«
Rita hob den Kopf gerade weit genug, um zwischen ihren Haarsträhnen hindurchzuspähen. »Ehrlich?«
»Ehrlich. Ich kann es sogar beweisen.« Kit ging auf die Knie und strich etwas von dem losen Heu am Rand des Ballens beiseite, sodass die Boxenwand zum Vorschein kam. Sie lächelte traurig beim Anblick der ins Holz geritzten Namen. Damals waren Wren und sie längst offiziell zur Pflege bei Harlan und Betsy registriert und ihre Tage als Ausreißerinnen Vergangenheit gewesen. »Es sieht nicht so schön aus wie das, was Pop schnitzt, aber es ist immer noch da.« Sie waren beide vierzehn gewesen. Der fünfzehnte Geburtstag ihrer Schwester war zugleich ihr letzter gewesen.
Rita rückte an die Kante des Ballens und sah zu der Stelle, auf die Kit deutete. Ihre Augen wurden groß. »Wren McK, vierzehn, und Katherine Matthews, vierzehn« stand da. Ritas Augen waren rot und verquollen, als sie Kit ansah. »Du heißt Katherine?«
»Ja. Nur Pop hat mich damals Kit genannt. Niemals Katherine.«
»Wieso nicht?«
»Keine Ahnung. Ich habe ihn nie gefragt.« Obwohl sie es eigentlich auch gern wüsste. »Hätte er einen konkreten Grund gehabt, hätte er ihn mir bestimmt verraten.«
»Dein Nachname war Matthews, aber Wrens McKittrick?«
»Ja. Sie hatten uns beiden angeboten, uns zu adoptieren. Wren war einverstanden, ich aber nicht.«
Rita spannte sich an. »Wieso nicht?«
Kit nahm an, dass diese Frage damit zusammenhängen könnte, weshalb Rita sich hier verkrochen hatte. Harlan hatte erzählt, sie hätten Rita vor einer Woche gefragt, ob sie von ihnen adoptiert werden wolle, doch sie habe sie nur entsetzt angestarrt und sei in ihr Zimmer gestürmt. Sie hatten das Thema nicht wieder angeschnitten in der Hoffnung, Rita komme von allein auf sie zu, nachdem sie Gelegenheit hatte, darüber nachzudenken.
»Ich dachte nicht, dass das mit den McKittricks etwas Reelles sein könnte«, antwortete Kit. »Zu der Zeit hatte ich zehn verschiedene Pflegefamilien hinter mir und konnte mir nicht vorstellen, dass dies meine letzte wäre und ich für immer bei ihnen bleiben würde. Und dass sie wirklich so nett waren. Schätzungsweise wollte ich mir keine großen Hoffnungen machen, weil ich überzeugt war, dass sie mich ohnehin bald satthätten und wegschicken würden.« Wieder strich sie Rita übers Haar. »Aber das haben sie nicht getan.«
»Warst du sauer auf Wren, weil sie Ja gesagt hat?«
»Nein, keine Sekunde lang. Wren war immer so lieb und süß und brav. Sie verdiente eine gute Familie wie diese, fand ich. Ich dagegen hatte … na ja, während ich von einer Pflegefamilie in die nächste weitergereicht wurde, hatte ich einige Dinge angestellt, auf die ich nicht gerade stolz war. Daher war ich davon überzeugt, dass ich gleich wieder weggeschickt werden würde, wenn die McKittricks davon erführen.«
Kit wartete auf Ritas Frage, was sie denn angestellt hätte, doch es kam nichts. Stattdessen blickte sie wieder auf die eingeritzten Namen und fuhr sie mit dem Finger nach.
»Und wann hast du dich dann von ihnen adoptieren lassen?«, fragte sie leise.
»Ein Jahr nach Wrens Tod. Eines Tages habe ich begriffen, dass Harlan und Betsy reell sind und mich lieben würden, auch wenn ich mich wie eine aufsässige Rotzgöre benahm. Ich glaube, ich war es einfach leid, wütend und frustriert zu sein.« Kit lachte leise. »Sie haben es ausgesessen und waren noch sturer als ich.«
Kit setzte sich wieder auf den Heuballen, wobei sie wünschte, sie hätte eine Decke daraufgelegt, da die Halme durch ihre Jeans hindurch piksten. Wie Harlan stundenlang hier sitzen und seine kleinen Figuren schnitzen konnte, war ihr ein Rätsel.
Ohne aufzusehen, fuhr Rita weiter die Namen im Holz nach. »Haben sie es jemals herausgefunden? Was du getan hast, meine ich.«
»Ja. Bevor die Adoption rechtskräftig wurde, habe ich ihnen alles erzählt. Na ja, um ihnen die Chance zu geben, es sich noch einmal zu überlegen, bevor sie die Papiere unterschreiben, aber sie wussten Bescheid. Schon die ganze Zeit.« Kits Augen brannten bei der Erinnerung daran. »Sie haben mich trotzdem geliebt.«
Minutenlang saßen sie schweigend da. Kit konnte sehr geduldig sein, und Rita war jede Sekunde ihrer Geduld wert.
»Vermisst du Wren noch?«, flüsterte sie nach einer Weile zögerlich.
Kits Kehle wurde eng. »Jeden einzelnen Tag«, flüsterte sie zurück.
Ein weiteres Schluchzen ließ Ritas Schultern erbeben. »Ich vermisse meine Mom.«
»Ach, Süße, das weiß ich doch.« Behutsam streichelte Kit Ritas Rücken. »Das ist doch ganz normal. Ich hatte damals Schuldgefühle, weißt du. Wegen Wren wollte ich keine Party zu meinem sechzehnten Geburtstag feiern, aber Pop hat mich überzeugt, dass Wren sich darüber gefreut hätte. Dass es wichtig sei, Geburtstage zu feiern, auch wenn jemand gestorben ist. Trotzdem bin ich direkt danach hierhergekommen und habe schrecklich geweint, weil ich so ein schlechtes Gewissen hatte. Wren war tot, und ich machte Geschenke auf und aß Kuchen.«
Rita sagte etwas, das wie Das ist nicht fair klang, doch ihre Stimme war so tränenerstickt, dass Kit nicht beschwören wollte, ob sie richtig gehört hatte.
Sie saß da und streichelte Rita übers Haar. »Es ist nicht fair, dass sie nicht mehr bei uns sind, Rita. Weder deine Mutter noch meine Schwester. Aber so ist es nun einmal, und wir müssen unser Leben weiterführen. Dafür sorgen, dass sie stolz auf uns sind. Aber wenn du mich fragst, hast du das schon getan. Deine Mom wäre stolz auf dich, und ich bin es auch.«
Rita barg das Gesicht in ihren Händen, während ihr Körper von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. »Ich habe noch nie etwas wirklich Gutes getan. Nicht so wie du. Du bist ein Cop, hilfst Menschen, sorgst für Gerechtigkeit für Menschen wie mich und meine Mom.«
»Mit vierzehn war ich noch keine Polizistin. Damals war ich noch nicht mal ein guter Mensch. Ich war nicht nett. Dafür hatte ich viel zu große Angst, verletzt zu werden. Aber du tust jeden Tag etwas Gutes, Rita. Du bist klug und witzig. Aber was am allerwichtigsten ist … du bist nett. Zu Menschen, zu Tieren, zu allen.« Rita schüttelte beharrlich den Kopf, deshalb versuchte Kit es mit einer anderen Taktik. Sie würde sich die Ermutigungen für einen Moment aufheben, wenn das Mädchen empfänglicher dafür war. »Nach allem, was du mir über deine Mom erzählt hast, hätte sie sich das allerbeste Leben für dich gewünscht, richtig?«
Rita nickte. Sie hatte noch immer das Gesicht in ihren Händen geborgen, doch ihre Tränen schienen verebbt zu sein. »Das hat sie immer zu mir gesagt.«
»Und genau das wird auch passieren. Pop und Mom und ich und all die anderen werden dafür sorgen. Du wirst ein wunderschönes Leben haben, Rita, aber das heißt nicht, dass du aufhören wirst, deine Mom zu vermissen. Und niemand nimmt es dir übel, wenn du nicht an der Party teilnehmen willst. Du kannst so lange hierbleiben, wie du willst.«
»Ich will aber niemanden kränken.«
»Siehst du? Das zeigt doch, wie nett du bist. Sie werden es alle verstehen. An Tagen wie diesem vermisst man die Menschen, die man liebt, am allermeisten. Das wissen alle hier.«
Eine Minute lang schwieg Rita, dann seufzte sie. »Haben Mom und Pop McK dir erzählt, dass sie mir angeboten haben, mich zu adoptieren?«
»Ja. Sie meinten, du hättest ein bisschen Angst bekommen.«
Ritas Lachen klang zittrig. »Das kann man wohl sagen. Ich war sehr unhöflich.«
»Du hast bloß nicht damit gerechnet. Deswegen braucht man sich nicht zu schämen.«
Rita ließ die Hände in den Schoß sinken. »Findest du, ich sollte es machen?«
»Diese Entscheidung kann ich nicht treffen.«
Rita verdrehte die Augen. »Das habe ich auch nicht verlangt. Ich habe dich nach deiner Meinung gefragt, und die Entscheidung treffe ich dann selbst.«
Kits Lippen zuckten. Du meine Güte, die Kleine erinnerte sie so sehr an sich selbst in diesem Alter. »In dem Fall – ja, ich finde, du solltest es tun. Deine Mom war ein wunderbarer Mensch, das weiß ich, aber da sie nicht mehr hier ist, kannst du keine besseren Eltern finden als Harlan und Betsy. Und eine Adoption gibt dir das Gefühl, deinen Platz gefunden zu haben und dauerhaft zu ihnen zu gehören. Fünf Sterne. Absolute Kaufempfehlung.«
»Ich wusste, dass du das sagen würdest. Dr. Sam hat dasselbe gesagt.«
Kit sog scharf den Atem ein. Darauf war sie nicht gefasst gewesen.
Dr. Sam.
Sam Reeves, der Psychologe mit dem Herzen aus Gold. Dem Kit seit sechs Monaten konsequent aus dem Weg ging. Er war ein guter, freundlicher Mann und mochte sie.
Und genau das jagte ihr eine Heidenangst ein.
»Wann hast du denn mit ihm geredet?«, presste Kit hervor.
Ritas Lippen verzogen sich kaum merklich, als hätte sie diese Reaktion erwartet. Kleines Miststück. »Letzte Woche, als ich wegen der Adoption ausgeflippt bin. Ich habe Dr. Carlisle angerufen, aber sie war im Urlaub. Dr. Sam ist ihre Vertretung. Und er hat geholfen. Eigentlich wollte ich es Mom und Pop sagen, aber dann bin ich hierhergekommen, weil mir die Party zu viel wurde …« Sie zuckte die Achseln.
»Du dachtest, sie überlegen es sich anders? Ach, Schatz, wenn sie es bei mir nicht getan haben, tun sie es bei dir erst recht nicht. Vertrau mir.«
»Okay. Das tue ich. Dir vertrauen, meine ich.« Entschieden stand Rita auf, wischte sich die Tränen ab und zupfte sich das Heu von der Jeans. »Ich hole mir jetzt ein Stück von meinem Geburtstagskuchen, und dann sage ich ihnen, dass ich mit der Adoption einverstanden bin. Und dann werde ich mein Leben in die Hand nehmen.« Sie öffnete die Boxentür, blieb stehen und blickte über ihre Schulter. »Dr. Sam ist echt nett, Kit, und er fragt jedes Mal nach dir, wenn ich ihn sehe. Du solltest mit ihm ausgehen. Fünf Sterne. Absolute Kaufempfehlung.«
Dann war sie fort, während Kit sprachlos zurückblieb.
Ein Räuspern ertönte. Kit hob den Kopf und sah Harlan in der Tür stehen. »Sie hat übrigens völlig recht«, sagte er leichthin.
»Lass gut sein, Pop.« Sie würde ihr – nicht existentes – Liebesleben ganz bestimmt nicht mit Harlan McKittrick diskutieren. »Hast du die ganze Zeit schon dagestanden?«
Er zuckte die Achseln. »Ich sollte dir fünf Minuten geben, deshalb habe ich nur den letzten Teil von dem mitbekommen, was du zu ihr gesagt hast. Das war ein guter Ratschlag, Kitty-Cat. Danke.« Er streckte die Hand aus und zog sie hoch. »Komm, essen wir ein Stück Kuchen.«
Kit warf einen letzten Blick auf die Namen in der Holzwand. Wren McKittrick und Katherine Matthews. »Ich vermisse sie, Pop. Wren.«
Harlan drückte ihr einen Kuss aufs Haar. »Ich auch. Aber sie sieht uns, Kit. Und sie ist stolz auf dich. Und in einem Punkt hast du dich geirrt. Du warst damals sehr wohl nett. Du hattest Angst und hast andere nicht an dich herangelassen, weil du nicht verletzt werden wolltest, aber unfreundlich warst du keineswegs. Ich werde nie diese Nacht vergessen, als ich euch zwei Ausreißerinnen in meiner Scheune entdeckt habe, zusammengekauert unter einer kratzigen Satteldecke, um euch zu wärmen. Du bist aufgesprungen und hast dich vor Wren gestellt, mit geballten Fäusten, um sie zu verteidigen.«
Bei der Erinnerung musste Kit lächeln. »Du warst so riesig, und ich hatte solche Angst.«
»Trotzdem warst du entschlossen, Wren zu beschützen. Für dich stand immer sie an erster Stelle, Kit. Immer.«
Kits Lächeln verblasste. »Aber als sie mich am meisten brauchte, habe ich sie nicht beschützt.« Als ein Killer sich Wren geschnappt und ihre Leiche in eine Mülltonne gestopft hatte, als wäre sie Abfall. »Ich hätte auf sie aufpassen müssen und habe es nicht geschafft.« Und das würde sie für den Rest ihres Lebens verfolgen.
»Machst du Rita für den Tod ihrer Mutter verantwortlich?«, fragte Harlan.
»Natürlich nicht. Sie ist ja noch ein –«
Harlan hob die Brauen. »Ein Kind? So wie du damals?«
Kit kniff die Augen zusammen, doch sie musste anerkennen, dass sie gegen sein Argument nicht ankam. »Na gut. Hab’s verstanden.«
Er lächelte. »Rita will auch Polizistin werden.«
»Ich dachte, Tierärztin.«
»Nein. Sie will so sein wie du.«
Kit schüttelte den Kopf. »Die Verantwortung ist mir zu groß.«
Harlan lachte leise. »Damit musst du wohl leben, Kitty-Cat. Und vielleicht denkst du noch mal darüber nach, was für ein Beispiel du abgibst, wenn du dich vor einem netten Mann versteckst, der sich gern mit dir treffen will, nur weil du findest, er hätte etwas Besseres verdient als dich, obwohl er wohl keine bessere Frau kriegen kann.«
»Pop«, knurrte sie warnend.
»Noch weiter mische ich mich nicht ein«, sagte er. »Versprochen. Kuchen?«
Vielleicht beließ er es tatsächlich dabei. Fürs Erste. Aber ihr war klar, dass er sich auch weiter einmischen würde, weil er sie liebte, und bisher hatte sie es stets begrüßt, seine Meinung zu hören. Nur hierzu nicht. Vielleicht, weil sie wusste, dass er recht hatte. »Ja. Holen wir uns ein Stück, bevor die anderen uns alles wegfuttern.«
Kit McKittrick gestattete sich einen Moment des Mitgefühls, als sie neben die Leiche des älteren Herrn trat, der tot auf dem Fußboden seines Apartments der Seniorenresidenz Shady Oaks Retirement Village lag. Dann straffte sie die Schultern und machte sich an die Arbeit.
Die Stimmung im Raum war gedrückt. Die Rechtsmedizinerin untersuchte den Leichnam, während die Kollegen von der Spurensicherung Fotos machten und Fingerabdrücke sicherstellten, nur von dem üblichen Tatort-Geplapper, an das Kit sich in den viereinhalb Jahren ihrer Tätigkeit bei der Mordkommission gewöhnt hatte, war nichts zu hören.
Stattdessen sprachen alle im Flüsterton, als befänden sie sich in einer Kirche. Weil es sich so anfühlte. Düster-melancholische Klaviermusik drang aus dem an der Wohnzimmerwand montierten Lautsprecher, nicht laut, dennoch verfehlte sie ihre Wirkung nicht. Am liebsten hätte Kit sie abgeschaltet, weil sie so bedrückend war, dass ihr die Brust eng wurde und ihr Tränen in den Augen brannten.
Doch noch waren Lautsprecher und Fernbedienung nicht mit Fingerabdruckpulver bestäubt worden und durften daher nicht berührt werden, also blieb ihr nur, die Musik zu ignorieren und ihr Augenmerk darauf zu richten, Gerechtigkeit für Mr Franklin Delano Flynn zu erlangen.
Der Tod des fünfundachtzigjährigen männlichen Weißen dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach durch das in seiner Brust steckende Messer herbeigeführt worden sein. Doch Kit hatte schon vor langer Zeit gelernt, sich nicht von Mutmaßungen leiten zu lassen. Trotzdem war ein Fleischermesser in der Brust nie ein gutes Zeichen. Es hatte eine tiefe, vom Brustbein bis zum Nabel reichende Wunde hinterlassen, die durch den Riss in seinem weißen Hemd erkennbar war. Wer auch immer ihn getötet haben mochte, hatte viel Kraft aufwenden müssen.
Mr Flynn war bereits einige Zeit tot, weshalb sowohl das Blut auf der Vorderseite seines Hemds als auch die Lache um seinen Oberkörper getrocknet war.
Seine glasigen Augen waren blicklos gen Zimmerdecke gerichtet, seine Arme lagen an seinen Seiten, die Hände waren leicht nach innen geneigt, nicht zu Fäusten geballt, aber auch nicht flach – eine keineswegs natürliche Haltung für jemanden, der nach einer tödlichen Stichwunde zusammenbricht. Sie fragte sich, ob der Mörder Mr Flynns Arme absichtlich so positioniert hatte.
Mr Flynn war ein robust gebauter Mann gewesen, groß, breitschultrig und immer noch muskulös. Nicht schlecht für einen Fünfundachtzigjährigen, dachte Kit. Er trug eine dunkle Hose, deren Taschen nach außen gestülpt worden waren, als hätte jemand sie durchsucht.
Seine schwarzen Oxford-Halbschuhe waren so auf Hochglanz poliert, dass man sich beinahe darin spiegeln konnte. Sie fragte sich, ob er den Täter beim Nachhausekommen überrascht oder ihn gekannt und hereingebeten hatte.
Das Wohnzimmer war völlig verwüstet worden – Bücher von den Regalen gefegt, Nippes zu Boden geworfen, Sofakissen aufgeschlitzt und die Füllung herausgerissen worden. Das Schlafzimmer befand sich in einem ähnlich schlimmen Zustand. Und in der Küche waren die Schubladen aufgerissen und der Inhalt auf die Arbeitsplatte gekippt worden. Mehl und Zucker bedeckten den gefliesten Fußboden. Jemand hatte etwas gesucht und dabei dieses Chaos angerichtet.
Kit fragte sich, ob der oder die Täter wohl gefunden hatten, wonach sie suchten. Und ob Mr Flynn Gegenwehr geleistet hatte.
Sie ging rechts neben dem alten Mann in die Hocke und beugte sich vor, um seine Hände besser erkennen zu können. Die Knöchel seiner rechten Hand waren zerschrammt und blau verfärbt, doch am auffälligsten waren seine Fingernägel: Sie waren kaum noch vorhanden, sondern bis auf das Nagelbett abgeschnitten worden.
Daher dürfte es wahrscheinlich sein, dass er sich gewehrt hatte. Sein Mörder hatte nicht gewollt, dass die Polizei Hautreste darunter sicherstellte, die als Beweismittel dienen könnten.
»Todeszeitpunkt?«, fragte Kit die Rechtsmedizinerin, die auf der anderen Seite der Leiche kniete.
Dr. Alicia Batra blickte auf und runzelte leicht die Stirn. »Weniger als vierundzwanzig Stunden. Der erste Polizist am Tatort hat mit der Heimleiterin gesprochen. Die Bewohner dieses Teils der Seniorenresidenz wohnen eigenständig in ihren Apartments, als wären es ganz normale Wohnungen, nur dass sie jeden Tag bis spätestens um zehn Uhr morgens an dieser Schnur dort ziehen müssen.« Sie deutete auf eine Kordel in der Frühstücksecke. »Wenn sie sich bis dahin nicht gemeldet haben, geht das Personal davon aus, dass sie Hilfe brauchen, und kommt vorbei. Gestern hat das Opfer mutmaßlich noch daran gezogen, aber heute nicht, denn als jemand kam, um nach ihm zu sehen, war er tot.«
Mutmaßlich? »Die First Responders haben Connor gesagt, eine der Pflegerinnen hätte das Opfer aufgefunden«, fuhr Kit fort. Connor Robinson, ihr Partner, war bereits eine Stunde zuvor am Tatort eingetroffen. Er hatte sich einen Eindruck vom Tatort verschafft und war nun irgendwo unten im Erdgeschoss, um dafür zu sorgen, dass die Zeugen getrennt voneinander warteten, bis sie ihre Aussagen machen konnten.
»Eine Schwesternhelferin«, korrigierte Alicia. »Sie ist unten bei Connor. Er hat gesagt, du hättest noch etwas Privates zu erledigen gehabt, aber nicht, was. Ist alles in Ordnung?«
Kit war dankbar für Connors Diskretion, doch Alicia war ihre Freundin und der Anlass ein freudiger gewesen. »Wir waren mit Rita beim Jugendamt. Sie hat beschlossen, der Adoption zuzustimmen, und mich gebeten, sie zu dem Termin zu begleiten. Mom und Pop haben jetzt die entsprechenden Schritte eingeleitet.«
Die Bitte hatte eine Woge der Zuneigung in Kit ausgelöst. Und großen Stolz. Zwar kannte sie die meisten Kinder, die die McKittricks bei sich aufgenommen hatten, seit sie vor neunzehn Jahren zu ihnen gekommen war, doch zwischen Rita und ihr bestand eine besonders starke Bindung.
Alicia strahlte. »Ich freue mich sehr für euch!«
Kit lächelte. »Ich mich auch. Ich habe Connor gebeten, es nicht an die große Glocke zu hängen, weil wir nicht wollten, dass die Medien Wind davon bekommen. Im Mordprozess ihrer Mutter wird es bald ohnehin eine Menge Wirbel geben, aber dir hätte er es natürlich sagen dürfen.«
Alicia hob die Brauen. »Läuft es denn mit dir und Connor?«
»Sogar ziemlich gut. Wir gewöhnen uns aneinander.« Seit sechs Monaten war Connor Robinson Kits Partner. Mit seinen zweiunddreißig war er ein Jahr älter als sie, allerdings erst seit anderthalb Jahren Detective, wohingegen sie diesen Titel bereits seit viereinhalb Jahren trug. Gelegentlich gebärdete sich Connor wie einer dieser selbstverliebten, wichtigtuerischen College-Rotzlöffel, die den Mund aufmachten, ohne vorher ihr Gehirn einzuschalten, doch allmählich wurde es etwas besser, und es gab Phasen, in denen er unglaublich rücksichtsvoll und nett sein konnte. »Trotzdem fehlt mir Baz sehr.«
»Natürlich. Schließlich war er dein erster Partner bei der Mordkommission.«
»Wir haben vier Jahre zusammengearbeitet, und ich kenne ihn sogar vier Mal so lange.« Baz Constantine war der Detective gewesen, der vor sechzehn Jahren die Ermittlungen im Mord an Kits Schwester geleitet hatte. Kit hatte ihm unterstellt, keinerlei Interesse daran zu haben, Wrens Mörder zu finden, jedoch schon bald gemerkt, dass genau das Gegenteil stimmte: Baz war der Fall viel zu sehr an die Nieren gegangen. Er war zum engen Ratgeber geworden, während sie von der wütenden Fünfzehnjährigen zu einer verantwortungsbewussten Erwachsenen herangewachsen war. Er hatte sie zudem in ihrem Erkenntnisprozess unterstützt, selbst Detective bei der Mordkommission werden zu wollen.
Obwohl sie verstehen konnte, dass Baz nach seinem Herzinfarkt vor einem halben Jahr in den Ruhestand gegangen war, fehlte er ihr dennoch sehr. Doch so gern sie ihn an ihrer Seite gehabt hätte, so brachte sie dieser Wunsch in ihrem Bestreben, Gerechtigkeit für Mr Franklin Delano Flynn zu erlangen, auch nicht weiter.
»Wieso hast du vorhin gesagt, das Opfer hätte ›mutmaßlich‹ die Glocke betätigt?«, fragte sie.
»Weil sich die Leichenstarre bereits vollständig gelöst hat. Ich hätte angenommen, dass sie sich in Anbetracht seiner Muskulatur in den letzten Stadien der Lösung befindet, andererseits ist der Mann natürlich nicht mehr ganz jung. Wir werden es genauer wissen, wenn ich ihn auf dem Tisch habe.«
»Kannst du mal seine linke Hand anheben?«
Alicia gehorchte. Kit runzelte die Stirn. Auch die Fingernägel der linken Hand waren bis aufs Nagelbett gekürzt worden, und sein Ringfinger wies einen hellen Hautstreifen auf, wo sich ein Ring befunden haben musste. »Er war verheiratet, das heißt, wir müssen in Erfahrung bringen, wo sich seine Ehefrau aufhält.«
»Ehemann«, sagte eine Männerstimme hinter ihr. Kit drehte sich um und sah Sergeant Ryland von der Spurensicherung mit einem Foto in einer Beweismitteltüte dastehen. »Alle Fotos wurden aus den Rahmen gerissen, und das Schutzglas wurde zerschlagen. Dieses hier lag ganz oben, deshalb habe ich es für Sie sichergestellt.«
»Danke.« Kit hatte sich Handschuhe übergestreift, nahm das Foto entgegen und machte mit ihrem Handy ein Foto davon für den Fall, dass sie es sich später noch einmal ansehen musste. Darauf stand das Opfer Seite an Seite mit einem anderen Mann, um dessen Taille er seinen Arm gelegt hatte. Beide trugen schwarze Anzüge und hielten strahlend ihre linken Hände in die Kamera, sodass man die glänzenden goldenen Eheringe erkennen konnte. Im Hintergrund war das berühmte Rathaus von San Francisco zu sehen.
»Auf dem Foto ist er erheblich jünger«, erklärte sie und runzelte die Stirn, als sie beim Anblick der Aufnahme ein seltsames Déjà-vu-Gefühl überkam. »Mindestens zehn oder zwanzig Jahre. Wissen wir schon, wann das Foto aufgenommen wurde?«
»Noch nicht«, antwortete Ryland. »Aber bestimmt gibt es irgendwo eine Heiratsurkunde.«
Also hatte jemand einen schwulen Mann in seinem Apartment erstochen und alles verwüstet. Das bedeutete, sie mussten Hass als Tatmotiv zumindest in Betracht ziehen.
Gerade als Kit das Foto zurückgeben wollte, meldete sich eine Erinnerung in ihrem Hinterkopf, deshalb betrachtete sie den größeren der beiden Männer noch einmal genauer, Mr Franklin Delano Flynn.
»Was ist?«, fragte Ryland.
Sie runzelte die Stirn. »Irgendwie habe ich den Eindruck, diesen Mann schon einmal gesehen zu haben.« Sie blickte kurz auf das fahle Gesicht des Leichnams auf dem Wohnzimmerfußboden, dann wieder auf das Foto. Ja, eindeutig.
»Und wo?«, hakte Ryland nach.
Angestrengt blickte Kit auf das Foto, während sie im Geiste Gesichter und Orte durchging, doch es kam nichts. »Darf ich die restlichen Fotos mal sehen?«
Ryland reichte ihr den Stapel. »Das sind alle, die wir bislang eingetütet haben.«
Kit nahm jedes einzelne in Augenschein. Hauptsächlich handelte es sich um Fotos des Verstorbenen mit seinem Ehemann an unterschiedlichen Orten – Kairo, Rom, Paris. Einige andere zeigten einen Mann und eine Frau, außerdem gab es Fotos von zwei etwas älteren Frauen.
Keines davon brachte Kit weiter. Dann kam das letzte Foto, das einen sehr viel jüngeren Franklin Delano Flynn mit einem Bierglas in der Hand und einem etwas widerstrebenden Lächeln zeigte.
»Hier. Die Bar. Sehen Sie doch. Die Wände, die Bilder«, sagte sie.
Ryland, der ihr über die Schulter spähte, sog erschrocken den Atem ein. »Das ist das Julio’s.«
Genau. Kit kannte die Bar gut, kannte jedes Gesicht auf den Fotos an den Wänden. Sie hatte sie genau betrachtet, seit sie das erste Mal durch die zerschrammten Holztüren getreten war.
Das erste Mal … In diesem Moment wusste sie es. »Genau! Ich war einundzwanzig, und Baz hat mich auf einen Drink zum Geburtstag eingeladen, weil ich endlich in der Öffentlichkeit Alkohol trinken durfte.«
»In eine Cop-Bar«, bemerkte Alicia. »Da war ich noch nie.«
»Es ist eine echte Spelunke«, erwiderte Kit mit einem gerührten Lächeln, »aber wir lieben es dort. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, weil Baz meinte, ich sollte mich umziehen und meine Uniform – damals war ich noch bei der Küstenwache – zu Hause lassen. Ich war völlig aus dem Häuschen, weil ich so viel von diesem Laden gehört hatte.« Nachdenklich betrachtete sie das Gesicht des Opfers.
»Er war also ein Cop?«, fragte Ryland, dessen Augen groß wurden.
»Muss er wohl.« Kit holte scharf Luft, als ihr alles wieder einfiel. »Du meine Güte, nicht nur ein Cop, Ryland. Er war Lieutenant bei der Mordkommission und damals schon zwanzig Jahre im Ruhestand. Ich weiß noch, dass ich vor Ehrfurcht keinen Ton herausbekommen habe.«
»Du hast keinen Ton herausbekommen?«, fragte Alicia überrascht. »Nie im Leben.«
»Bei so einer Legende, die direkt vor mir steht? Aber hallo. Und Baz auch. Der Mann war schon Lieutenant bei der Mordkommission gewesen, als Baz noch blutiger Anfänger war. Baz hat sich damals manchmal mit ihm in der Bar unterhalten und meinte, er sei ein offener, hilfsbereiter Mann gewesen, der jungen Cops Mut gemacht habe. Für Baz war er etwas zwischen einem Mentor und seinem persönlichen Helden. Deshalb war er begeistert, als wir ihm an dem Tag begegnet sind. Seit seiner Pensionierung hatte der Mann sich offenbar nicht mehr im Julio’s sehen lassen. Ich hatte von ihm gelesen und wusste, dass er vor seiner Beförderung zum Lieutenant ein Spitzencop gewesen war. Aber er hieß nicht Flynn, sondern Wilson. Frank Wilson.«
»Frank Wilson?«, rief Ryland. »Der Name sagt mir etwas. Die alten Revierhasen haben mir von ihm erzählt. Und das ist er?«
»Ich denke schon«, murmelte Kit. »Ich frage mich, ob er nach der Heirat mit dem Mann auf dem Foto seinen Namen geändert hat.« Sie gab Ryland das Foto zurück. »Das könnte ein weiterer hochkarätiger Fall sein.«
Ryland seufzte. »Ich habe mir schon gedacht, dass es langsam Zeit wird. Ist ja … wie lange her? Ein halbes Jahr?«
Ein halbes Jahr war vergangen, seit sie einen der übelsten Serienmörder San Diegos geschnappt hatten – der Fall hatte das gesamte Morddezernat auf den Kopf gestellt. Erst allmählich kehrte wieder etwas Ruhe ein, und nun hatten sie es mit der brutalen Ermordung eines hochdekorierten pensionierten Cops zu tun. »Stimmt. Da haben Sie wohl recht, es wurde langsam Zeit.«
»Muss ich damit rechnen, dass Ihr Lieutenant mir wieder im Nacken sitzt?«, fragte er.
»Wahrscheinlich.« Lieutenant Navarro war vor Kurzem nach seiner Auszeit in den Dienst zurückgekehrt und scharrte bereits mit den Hufen, endlich wieder einen wichtigen Fall auf dem Tisch zu haben. »Fehlte etwas im Schlafzimmer?«
»Wahrscheinlich ein Computer«, antwortete Ryland. »Der Router und das LAN-Kabel sind noch da, der Schreibtisch ist allerdings leer. Auf der Platte sieht man ein staubfreies Rechteck, was den Schluss nahelegt, dass ein Laptop dort gestanden hat. Ansonsten sieht es im Schlafzimmer ähnlich aus wie in der restlichen Wohnung. Fotos, Unterlagen, Bücher, alles liegt verstreut herum. Es wird eine Weile dauern, alles zu erfassen, aber wir beeilen uns.«
»Okay. Ich muss Connor suchen, damit wir loslegen können. Als Erstes müssen wir Navarro informieren.« Der Lieutenant würde sich darum kümmern, dass die einzelnen Stellen in der polizeilichen Hierarchie in Kenntnis gesetzt wurden. Kit blickte zu dem Lautsprecher an der Wohnzimmerwand. »Immerhin brauche ich mir dann diese Musik nicht länger anzuhören.«
»Wieso? Ist doch schön«, erwiderte Alicia.
Ja, das war sie, aber auch so schrecklich traurig. »Ich werde in Erfahrung bringen, was für eine CD das ist und ob er sie sich häufiger angehört hat.« Kit ging bewusst nicht auf Alicias Frage ein, weil sie nicht gern während der Arbeit über Gefühle sprach. Beim Gedanken daran musste sie einen Schauder unterdrücken.
»Hier gibt es keinen CD-Player, sondern nur eine altmodische Stereoanlage, Kit«, sagte Ryland. »Ich weiß immer noch nicht, woher diese Musik kommt.«
Noch ein Grund mehr, von hier wegzukommen. »Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie es wissen. Bis später.«
Kit verließ das Apartment und nickte dem vor der Tür postierten Officer zu. »Wissen Sie zufällig, wo der Gemeinschaftsraum ist?«, fragte sie. Dort hatte Connor sich mit ihr treffen wollen.
»Ja, Detective. Sie fahren mit dem Aufzug ins Erdgeschoss, dann gehen Sie nach links. Der Raum ist auf der anderen Seite des Eingangsbereichs. Die meisten Bewohner sind gerade dort. Man hat sie gebeten, uns nicht in die Quere zu kommen, deshalb haben sie sich dort versammelt.«
Sie blickte auf sein Namensschild. »Danke, Officer Stern. Sehr freundlich.«
»Gern, Ma’am.«
Kit duckte sich unter dem Absperrband durch und fuhr mit dem Aufzug nach unten. Zu ihrer Überraschung hörte sie weiterhin die Musik, zwar ein anderes Stück, aber dieselben melancholischen Klavierklänge.
Die Musik war gedämpft, als sie aus dem Aufzug stieg, schwoll jedoch an, je näher sie dem Gemeinschaftsraum kam. Wieder zog sich ihre Brust zusammen. In ihrer Jugend war sie häufig genug in der Kirche gewesen, um die Melodie zu erkennen. Amazing Grace.
Schlagartig fühlte sie sich in die kleine Kirche zurückversetzt, in der sie vor sechzehn Jahren von Wren Abschied genommen hatten. Damals war dasselbe Stück gespielt worden. Sie erinnerte sich an ihre Betäubung, an dieses Gefühl, sich außerhalb ihres eigenen Körpers zu befinden. An die Tränen. Natürlich nicht ihre eigenen. Nicht in dieser Kirche, nicht vor allen anderen. Erst Stunden später hatte Kit geweint. Sie und ihr Pflegevater, Harlan McKittrick, hatten beide gewartet, bis alle anderen im Haus schliefen. Sie hatten sich in die Scheune zurückgezogen, ohne zu wissen, dass der andere auch dort sein würde. Es war das erste Mal gewesen, dass Kit ihren Pflegevater weinen gesehen hatte.
Der Anblick hatte sie tief erschüttert. Und ihr Leben verändert.
In diesem Moment hatte die Mauer, die sie um ihr Herz errichtet hatte, zu bröckeln begonnen, und sie hatte sich zum ersten Mal den Gedanken gestattet, dass Harlan und Betsy sie vielleicht tatsächlich lieben könnten.
Ich muss nach Hause. Muss sie sehen. Obwohl seit dem Termin beim Jugendamt erst eine Stunde vergangen war. Obwohl sie die letzten sechs Monate nahezu jeden Sonntag auf der Farm verbracht hatte, beschwor die Musik ein Gefühl der Verletzlichkeit in ihr herauf. Als wäre sie mit einem Mal wieder fünfzehn Jahre alt und in tiefer Trauer.
Aber das bist du nicht. Du bist einunddreißig und stehst hier, mit der Hand auf dem Türknauf wie ein Zombie. Los, beweg dich, McKittrick.
Kit schluckte und holte tief Luft, ehe sie die Tür öffnete und in den hell erleuchteten Gemeinschaftsraum blickte. Und sah, dass die Musik nicht aus einem CD-Player kam, sondern von einem Stutzflügel. Der Pianist saß mit dem Rücken zu ihr, und seine Hände bewegten sich voller Anmut über die Tasten.
Sie schüttelte kurz den Kopf, um sich sowohl von den Erinnerungen zu befreien als auch die Musik aus ihren Gedanken zu verbannen. Konzentration. Auf der rechten Seite des Raums stand rund ein Dutzend Klappstühle, auf denen die Bewohner Platz genommen hatten. Die meisten wirkten wie betäubt, verwundbar. Genauso wie Kit sich gerade fühlte. Einige weinten leise, andere hatten die Augen geschlossen. Alle schienen unter Schock zu stehen.
Nicht verwunderlich, wenn einer der Bewohner auf brutale Weise mit einem Fleischermesser getötet wird.
Erst einmal musste sie dieser Musik ein Ende bereiten. So konnte sie nicht klar denken.
»Warte, Kit!«
Kit wandte sich um und sah ihren Partner auf sie zukommen. »Eine Sekunde, Connor. Ich muss dir einiges erzählen, aber dafür brauche ich Ruhe.« Sie trat ein. »Entschuldigung?«, rief sie dem Pianisten zu. »Könnten Sie vielleicht kurz Pause machen?«
»Warte, Kit«, zischte Connor und packte sie am Arm, doch Kits Blick war auf den Mann am Klavier gerichtet.
Für den Bruchteil einer Sekunde schoss ihr noch durch den Kopf, dass ihr sein dunkles Haar und sein breiter Rücken irgendwie bekannt vorkamen, dann drehte er sich um, und sie blickte in die leuchtend grünen Augen des Mannes, dem sie seit sechs Monaten eisern aus dem Weg gegangen war.
Dr. Sam Reeves.
»Ich wollte dich warnen«, raunte Connor. »Verdammt.«
Allerdings. Der neue Kriminalpsychologe des Reviers war der Mann, der es geschafft hatte, ihr Herz zu berühren, trotz all der Wachsamkeit, mit der sie es normalerweise schützte. Der Mann, den sie weggestoßen hatte. Der Mann, den sie wollte, obwohl sie sich seit Monaten das Gegenteil einzureden versuchte.
Und der so viel mehr verdiente, als sie zu geben bereit und fähig war.
Er stand auf und kam vorsichtig auf sie zu. Seine Augen hinter der Kent-Clark-Brille waren rot und verquollen, weil auch er geweint hatte. Dann stand er vor ihnen. Connor ließ Kits Arm los, der zentnerschwer an ihrer Seite herabzuhängen schien. Sie wollte etwas sagen, doch ihre Zunge verweigerte ihren Dienst. Ebenso wie ihr Gehirn.
»Hallo, Kit«, sagte Sam leise. »Ich bin ja so froh, dass Sie hier sind.«
Kit ist hier. Sam hatte es sich bereits gedacht, als er Connor Robinson mit der Leiterin der Seniorenresidenz und einigen Bewohnern reden gesehen hatte, und sich innerlich gewappnet, doch bei Weitem nicht genug.
Sie wirkte völlig verblüfft.
Ganz offensichtlich hatte sie nicht damit gerechnet, ihn hier zu sehen, und es war keine angenehme Überraschung, dachte er betrübt. Seit sie ihm vor sechs Monaten eröffnet hatte, dass sie nicht einmal Freunde, geschweige denn mehr sein könnten, hatte er sorgsam darauf geachtet, ihr nicht über den Weg zu laufen.
Geduldig hatte er gewartet, dass sie ihre Angst überwand. Ihm eine Chance gab. Ihnen beiden eine Chance gab. Weil sie es wert war, auf sie zu warten.
Die Seniorenresidenz war in völligem Aufruhr gewesen, als er zu seinem üblichen Einsatz als Ehrenamtlicher erschienen war. Kurz hatte er gehofft, ein anderes Detective-Paar übernehme die Ermittlungen, doch in Wahrheit war er froh, dass es Kit war. Sie würde dafür sorgen, dass Frankies Mörder gefasst wurde und hinter Gitter kam.
»Was machen Sie denn hier?«, fragte Kit leise, doch mit unverhohlener Missbilligung.
»Ich leiste seit vier Jahren hier Freiwilligenarbeit«, erwiderte er ruhig. »Mindestens einmal pro Monat spiele ich Klavier für die Bewohner und war heute Morgen für die Kunst-und-Bastel-Stunde eingeteilt.« All das hatte er Connor längst erzählt.
Anfangs hatte Sam Kits neuen Partner nicht leiden können, doch inzwischen war es ihnen gelungen, eine solide Arbeitsbeziehung aufzubauen. Was gut war, weil Kit sich immer noch weigerte, mit Sam zu kooperieren.
Natürlich hängte sie es nicht an die große Glocke oder verlangte offiziell einen anderen Profiler, sondern schickte ausnahmslos Connor zu ihm, wenn sie das Täterprofil eines Mörders brauchten. Was lediglich zwei Mal passiert war, seit Sam seine Tätigkeit für das Morddezernat des San Diego Police Department aufgenommen hatte. Normalerweise gelang es Kit und Connor auch ohne Sams Zutun, ihre Arbeit zu erledigen.
Die anderen Kollegen der Mordkommission und seine Privatpraxis hielten ihn auf Trab, wenn auch nicht ausreichend, da ihm nach wie vor Zeit blieb, an Kit zu denken. Doch er hatte sich geschworen, ihr nicht auf die Pelle zu rücken.
Und nun war Frankie ermordet worden. Sam konnte es immer noch nicht fassen.
»Alle waren in Tränen aufgelöst, als ich kam. Die Direktorin hat mich gebeten, eine Weile Klavier zu spielen, während die Polizei oben ihre Arbeit erledigt. Was ich getan habe.«
Kits Miene wurde weich, sodass er sich unwillkürlich fragte, wie schlimm er wohl aussehen mochte. »Sie kannten den Verstorbenen?«, fragte sie.
Sam nickte. »Ja. Frankie war ein hochanständiger Mann.«
»Es tut mir aufrichtig leid, Dr. Reeves.«
Es gelang ihm, nicht zusammenzuzucken, obwohl es sich wie ein Schlag ins Gesicht anfühlte, dass sie ihn mit seinem Titel ansprach. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie ihn Sam genannt und geduzt hatte. Bevor sie es mit der Angst zu tun bekommen und die Flucht ergriffen hatte.
»Danke, Detective. Ich habe heute Nachmittag Termine, deshalb müsste ich bald los. Sollten Sie also meine Hilfe brauchen oder Fragen zu Frankie haben, sagen Sie gern Bescheid. Ich will, dass der Täter bezahlen muss.«
»Das tun wir auch. Wissen Sie zufällig, wo wir den Ehemann finden, Dr. Reeves?«
Sam blinzelte. »Wenige Monate, bevor ich hier als Freiwilliger angefangen habe, ist Ryan gestorben. Ich habe ihn nicht persönlich kennengelernt. Frankie hat nicht oft von ihm gesprochen, aber ich weiß, dass sie über vierzig Jahre ein Paar waren. Sie haben 2008 geheiratet, als die gleichgeschlechtliche Eheschließung in Kalifornien legalisiert wurde … bevor man die Möglichkeit mit der Proposition 8 wieder abgeschafft hat. Frankie hat nur selten über Gefühle gesprochen, aber ich weiß, dass er seinen Mann sehr geliebt hat. Sie haben jahrelang gemeinsam ein Antiquitätengeschäft geführt.«
Nur weil Sam Kit so aufmerksam musterte, bemerkte er ihr Erstaunen, das sie jedoch sofort hinter ihrer gewohnten Fassade professioneller Neugier verbarg.
»Ein Antiquitätengeschäft?«, wiederholte sie. »Wo denn?«
»In San Francisco.«
»Ah. Danke. Wissen Sie zufällig, wer seine Freunde hier im Heim waren?«
Diese Frage war einfach zu beantworten, weil Frankie nicht viele echte Freunde gehabt hatte. »Ja. Benjamin Dreyfus und Georgia Shearer. Mit ihnen war er am engsten befreundet, allerdings war er nicht sonderlich gesellig. Er wirkte stets ein bisschen missmutig, aber in Wirklichkeit wollte er bloß allein sein.«
Zum ersten Mal schaltete sich nun auch Connor Robinson ein. »Mr Dreyfus und Miss Shearer warten in den Besucherräumen. Wir sollten uns beeilen, Kit. Mr Dreyfus sah ziemlich mitgenommen aus.«
Sam konnte sich gut vorstellen, dass Benny mit der Situation nicht gut zurechtkam. »Benny ist gesundheitlich angeschlagen. Körperlich und geistig.« Er zögerte. Einerseits war er versucht, sie zu warnen, behutsam mit dem alten Herrn umzugehen, gleichzeitig stand ihm die Weitergabe so persönlicher Informationen eigentlich nicht zu.
Kit beugte sich vor. »Was ist? Sie sehen aus, als wollten Sie uns etwas sagen.«
»Nur … bitte gehen Sie vorsichtig mit ihm um. Wie gesagt, er ist angeschlagen. Jeder Vorfall dieser Art würde ihm zusetzen, aber der Mord an Frankie hat ihn völlig aus der Bahn geworfen.«
»Die beiden standen sich nahe?«
»Sie waren beste Freunde. Und verschwägert noch dazu. Ryan war der Bruder von Bennys verstorbener Frau Martha. Die beiden waren seit Jahrzehnten befreundet.«
»Wir fassen ihn mit Samthandschuhen an«, versprach Kit und zögerte ihrerseits. Sam fragte sich, was in dieser hochintelligenten Frau vorgehen mochte. Doch sie lächelte nur – ihr professionelles anstelle ihres echten Lächelns, das ihm das Gefühl gab, drei Meter groß zu sein. Der Unterschied war ihm überaus schmerzlich bewusst. »Danke, Dr. Reeves. Sollte es Fragen geben, wenden wir uns an Sie.«
Und damit wandte sie sich um und ging davon. Wieder einmal. Eigentlich hätte es mehr wehtun müssen, doch gerade überwog die Trauer um Frankie. Vielleicht setzte der Schmerz über ihre Kränkung später ein.
Connor trat zur Seite, als sie den Weg in Richtung der Besucherzimmer einschlug, und warf Sam einen bedauernden Blick zu. »Der Verlust Ihres Freundes tut mir sehr leid. Ich melde mich bald.« Mit einem Nicken folgte er Kit, während Sam zurückblieb.
Ein Gefühl, an das er sich inzwischen gewöhnt hatte.
Seufzend kehrte er ans Klavier zurück, um seine Sachen zu holen, wurde jedoch von einer winzigen, stark geschminkten Seniorin mit leuchtend blau gefärbtem Haar und einer reich verzierten Gehhilfe angehalten. Ihr Gesicht, auf dem normalerweise ein strahlendes Lächeln lag, war ernst, ihr Make-up tränenverschmiert.
»Kommen Sie wieder, Dr. Sam? Bald und nicht erst nächsten Monat? Wir werden Sie hier brauchen.«
»Aber natürlich, Miss Eloise«, antwortete er sanft. »Ich versuche, morgen vorbeizukommen, sofern Miss Evans einverstanden ist.« Wahrscheinlich hätte ihn die Leiterin der Einrichtung ohnehin darum gebeten. Sam arbeitete länger hier als sie selbst und kannte alle Bewohner gut.
»Danke.« Eloises Augen füllten sich mit Tränen. »Wer tut so etwas, Sammy? Frankie konnte ein Mistkerl sein, aber dass ihn jemand umbringen würde, hat er nun wirklich nicht verdient.«
»Miss Eloise. Nur weil er Sie verpetzt hat, als Sie beim Cribbage-Spielen geschummelt haben, macht ihn das nicht zu einem Mistkerl. Denn das haben Sie ja getan.«
Die alte Dame zog einen Flunsch. »Außer ihm hat es keiner gemerkt. Weil ich so gut bin.«
»Beim Schummeln oder bei Cribbage?«, fragte Sam und musste grinsen.
»Bei beidem, Sammy. Bei beidem. Frankie war noch länger hier als ich.« Wieder liefen die Tränen. »Jetzt sind Benny und ich die Veteranen hier.«
Sam zog sie in eine behutsame Umarmung. »Ich bin schrecklich froh, dass Sie hier sind.«
»Werden die denjenigen schnappen, der das getan hat?«
Er löste sich von ihr und hob mit dem Finger ihr Kinn an. »Haben Sie die junge Dame gesehen, mit der ich gerade gesprochen habe? Das ist Detective McKittrick von der Mordkommission. Sie ist sehr, sehr gut in ihrem Job, und wenn jemand Frankies Mörder schnappen kann, dann sie. Darauf können Sie Gift nehmen, Ma’am.«
»Danke, Sammy. Sie sind ein braver Junge.«
»Ich bemühe mich.«
Er nahm seine Sachen und wollte sich gerade aus dem Besucherregister austragen, als Faye Evans, die Direktorin von Shady Oaks, aus ihrem Büro geeilt kam und die Hand hob.
»Dr. Reeves? Könnte ich Sie kurz sprechen?«
»Ja, aber nur kurz. Ich habe gleich Termine.«
»Es geht ganz schnell.« Sie nahm ihn beiseite und senkte die Stimme. »Könnten Sie bitte bei Frankies Begräbnis spielen? Das hätte ihm gut gefallen.«
»Natürlich. Geben Sie mir den Ort und das Datum durch, sobald Sie Bescheid wissen, dann arrangiere ich meinen Terminkalender entsprechend. Allerdings könnte es angesichts der Umstände etwas dauern, bis das Begräbnis stattfinden kann. Die Rechtsmedizin muss die Leiche erst freigeben.« Sie zuckte zusammen. Erst jetzt fiel Sam wieder ein, dass sie Frankies Leichnam ja gesehen hatte. Die Gerüchteküche hatte mächtig gebrodelt, deshalb wusste jeder in der Seniorenresidenz, dass Frankie mit einem Fleischermesser erstochen worden war. »Tut mir leid.«
Sie schüttelte den Kopf. »Muss es nicht. Ich hatte nur noch nie mit einem Mord in einer meiner Einrichtungen zu tun. Mit Todesfällen schon, daran bin ich gewöhnt, aber ein Mord …«
»Haben Sie Frankies Familie schon informiert? Hatte er denn eine?«
Frankie hatte stets nur von seinem verstorbenen Ehemann Ryan gesprochen, aber nie von Geschwistern oder anderen Verwandten.
Miss Evans presste die Lippen aufeinander. »Ja. Sein Sohn meinte, ich solle das Begräbnis so gestalten, wie ich es für richtig hielte. Kommen tut er nicht.«
Sam starrte sie entsetzt an. Frankie hatte einen Sohn gehabt? Der nicht zu seiner Beerdigung kommen würde? »Was? Wieso nicht?«
»Keine Ahnung, aber offenbar haben sie sich nicht gut verstanden. Deshalb übernehme ich die Planung des Begräbnisses. Ich dachte, ich bitte Georgia, eine Trauerrede zu halten. Benny ist dazu wohl nicht mehr in der Lage.«
Benny Dreyfus litt an beginnender Demenz und war gelegentlich verwirrt. »Könnte sein, dass er Sie überrascht, Miss Evans, aber Georgia ist trotzdem eine gute Wahl. Richten Sie ihr bitte aus, dass ich ihr gern zur Verfügung stehe, falls sie Hilfe braucht. Jetzt muss ich los. Ich darf nicht zu spät zu meinen Sitzungen kommen.«
»Danke, Dr. Reeves. Mit Ihrer Musik haben Sie den Vormittag ein wenig erträglicher gemacht. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Wir sehen uns bald.«
»Ach ja, ich habe Miss Eloise versprochen, morgen vorbeizusehen.«
Miss Evans lächelte freundlich. »Und Miss Eloise wollen wir doch nicht enttäuschen, nicht? Dann bis morgen.«
Auf dem Weg zu seinem Wagen runzelte Sam die Stirn. Frankies Sohn würde nicht zur Beerdigung seines eigenen Vaters auftauchen? Was, um alles in der Welt, war das denn?
Und wieso hatte Frankie ihn nie erwähnt?
Sam hatte den Mann eindeutig nicht so gut gekannt, wie er gedacht hatte.
Und jetzt war er tot. Verdammt, Frankie, du fehlst mir schon jetzt.
Sam stieg in seinen Wagen und starrte einen Moment lang durch die Windschutzscheibe. Dann zog er sein Handy heraus und schrieb eine Nachricht an eine Nummer, die er sechs Monate lang nicht angewählt hatte. Er konnte nur hoffen, dass Kit ihn nicht blockiert hatte.
Sam Reeves hier. Ich habe auf dem Weg hinaus mit der Leiterin gesprochen. Frankie hatte einen Sohn, der sich aus der Beerdigung allerdings heraushält und auch nicht teilnehmen wird. Offenbar herrscht böses Blut zwischen den beiden. Mir war es neu, und ich dachte, Sie sollten Bescheid wissen.
Gerade als er die Nachricht abschicken wollte, vibrierte sein Telefon. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte er, es sei Kit, aber … nein.
»Miss Evans«, sagte er. Hoffentlich war nicht noch mehr passiert.
»Dr. Reeves, ich weiß, Sie haben es eilig, aber es geht um Benny Dreyfus. Ich wollte gerade nach ihm sehen, und er ist völlig außer sich. Könnten Sie vielleicht noch ein paar Minuten erübrigen?«
»Eine halbe Stunde kann ich noch bleiben.« Notfalls musste er auf seine Mittagspause verzichten. Schließlich ging es um Benny, von dem niemand sagen konnte, was Frankies Tod in ihm auslöste. Die beiden waren viele Jahrzehnte lang Freunde gewesen, fast wie Brüder. Und dann dieses Messer zu sehen … »Ich bin gleich da.«
»Danke.«
Tut mir leid«, sagte Connor leise, als er und Kit den Gemeinschaftsraum verließen und sich einer geschlossenen Tür näherten, vor der ein uniformierter Polizist Wache stand.
»Schon gut«, murmelte sie, obwohl es nicht stimmte. Das Wiedersehen mit Sam war der reinste Schlag in die Magengrube gewesen und hatte ihr Gefühl der Verwundbarkeit, das sie beim Gedanken an Wrens Begräbnis überkommen hatte, noch verstärkt. Sie hatte nicht gewusst, dass Sam so gut Klavier spielen konnte. Aber eigentlich war es ja klar, denn dieser Mann war in allem gut, was er tat. »Ich wusste ja, dass er ehrenamtlich in einem Altenheim tätig ist, nur eben nicht, dass es dieses hier ist.«
»Ich kann seine Befragung übernehmen. Er und ich verstehen uns ziemlich gut. Es macht mir nichts aus.«
Kit rang sich ein Lächeln ab. Das Angebot war wirklich süß. In letzter Zeit erlebte sie Connor sehr viel häufiger so nett und zugewandt statt von seiner raubeinigen Seite, was eine angenehme Veränderung zu seinem Verhalten darstellte, das er an den Tag gelegt hatte, als sie vor sechs Monaten als Partner zusammengespannt worden waren. Trotzdem. Sam auf therapeutischer Ebene aus dem Weg zu gehen, war eine Sache, doch ihn als potenziellen Zeugen zu ignorieren, konnte sie sich nicht erlauben. »Das können wir immer noch spontan entscheiden. Also, wer erwartet uns in diesem Zimmer?«
»Benjamin Dreyfus, kurz Benny. Er hat die Leiche gesehen.« Connor trat zu dem Uniformierten und senkte die Stimme. »Hat er sich ein bisschen beruhigt? Was passiert da drin?«
»Anfangs war er noch sehr aufgebracht, aber mittlerweile geht es ihm etwas besser«, erklärte der Officer an Kit gewandt. »Er müsse zu Frankie, müsse ihn retten, hat er gerufen. Eine der Schwestern ist bei ihm und konnte ihn offenbar etwas beruhigen.«
»Wie ist es möglich, dass er die Leiche gesehen hat?«, hakte Kit nach.
»Eine der Schwesternhelferinnen hat Mr Flynn aufgefunden«, sagte Connor. »Sie wollte nach ihm sehen, nachdem er die Meldekordel am Morgen nicht gezogen hatte. Sie ist reingegangen und hat ihn mit dem Messer in der Brust auf dem Fußboden vorgefunden. Vor Schreck hat sie laut geschrien, deshalb kamen mehrere Bewohner angelaufen. Benny lebt in dem Apartment direkt nebenan und war als Erster da. Die Schwesternhelferin hat zwar daraufhin die Wohnungstür geschlossen, aber …« Er zuckte die Achseln. »Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie so die Fassung verloren hat, aber es war das erste Mal, dass sie ein Mordopfer gesehen hat. Sie ist gerade einmal achtzehn. Gerade wartet sie im dritten Befragungsraum. Im mittleren sitzt Georgia Shearer, eine Bewohnerin, die auch in einem der angrenzenden Apartments lebt. Auch sie hat Mr Flynns Leiche gesehen. Sie ist geistig klarer als Mr Dreyfus, aber nicht besonders gesprächig.«
Kit sah zu den drei geschlossenen Türen. »Wo ist die Direktorin?«
»Faye Evans ist in ihrem Büro«, antwortete der Officer und deutete in Richtung Eingangsbereich. »Sie hat die Polizei alarmiert. Die Schwesternhelferin hat sie sofort gerufen, nachdem sie die Leiche gefunden hatte.«
Connor zeigte auf die dritte Tür. »Miss Evans hat darum gebeten, mit der Schwesternhelferin anzufangen, damit sie nach Hause gehen und sich ein wenig fangen kann. Sie bräuchte sie später für die Nachtschicht, meinte sie. Sie hätte bereits Pflegerinnen angerufen, die gerade dienstfrei haben, die jetzt für sie einspringen könnten. Heute Abend sei sie aber unterbesetzt, meinte sie. Allerdings bezweifelt sie, dass die junge Frau heute Abend wirklich einsatzfähig sein wird.«
»Das ist in Ordnung, aber zuerst muss ich kurz mit dir reden.« Kit zog Connor ein Stück den Korridor hinunter. »Ich glaube, bei dem Opfer handelt es sich um einen pensionierten Lieutenant der Mordkommission. Frank Wilson.«
Connor riss die Augen auf. »Bist du sicher? Aber er heißt doch Flynn.«
»Ziemlich sicher. Ich habe ihn nur einmal gesehen. Baz hat uns einander vorgestellt. Er muss mit der Heirat seinen Namen geändert haben.«
Connor schüttelte den Kopf. »Wow. Das klingt, als würde es bald ziemlich heikel werden. Warst du deshalb so verwundert, als Sam gemeint hat, das Opfer hätte mit seinem Ehemann ein Antiquitätengeschäft geführt?«
»Genau. Offenbar hat er Sam nicht erzählt, dass er Cop war, und natürlich frage ich mich, ob sonst jemand darüber Bescheid wusste. Und wieso er es verschwiegen hat.«
Connor atmete durch. »Hast du es Navarro schon gesagt?«
»Noch nicht, aber das sollten wir nachholen. Das Opfer hat sich vor dreißig Jahren aus dem aktiven Dienst zurückgezogen, aber Navarro ist ähnlich lange dabei. Vielleicht kannte er ihn ja, und ich will nicht, dass er es von jemand anderem erfährt. Gibt es ein leeres Zimmer, das wir benutzen können?«
Connor deutete auf einen vierten Raum. »Da.« Sie traten ein. Kit wählte die Nummer ihres Lieutenants, während Connor die Tür schloss.
»Ich glaube, bei unserem Opfer handelt es sich um einen pensionierten Polizisten«, sagte Kit, als Navarro abgehoben hatte. »Frank Wilson.«
Stille. »Wie war das?«
Kit wiederholte ihre Worte und seufzte. »Ganz sicher bin ich nicht, aber ich meine, ihn von den Fotos in seinem Apartment wiedererkannt zu haben. Er hat 2008 geheiratet und schätzungsweise im Zuge dessen seinen Namen in Flynn geändert.« Sie schickte Navarro das Hochzeitsfoto und wartete. »Ist er es?«
»Heilige Scheiße«, stieß Navarro leise hervor. »Allerdings. Hier beim SDPD wusste niemand, dass er wieder geheiratet hat. Und auch nicht, dass er schwul war. Ich zumindest nicht, und so etwas bleibt hier nicht lange ein Geheimnis.«
Kit tauschte einen Blick mit Connor, der die Achseln zuckte. »Stimmt, Sir«, sagte sie, weil sie nicht recht wusste, was sie sonst darauf erwidern sollte. Sie kannte ihren Vorgesetzten gut genug, um zu wissen, dass er nicht homophob war, trotzdem wollte sie keine Spekulationen darüber anstellen, was er gerade empfand und weshalb.
Navarro räusperte sich. »Wie sehen Ihre nächsten Schritte aus?«
»Zuerst befragen wir die Schlüsselzeugen, Sir«, antwortete Connor. »Ich habe die Leiterin der Einrichtung gebeten, uns das Material aus der Überwachungskamera auf der Etage des Opfers zur Verfügung zu stellen. Ich hoffe, wir können den Täter anhand der Aufnahmen identifizieren.«
»Gut. Was zum Teufel hatte Frank in einem Seniorenheim zu suchen?«
»Der Mann war fünfundachtzig, Sir«, sagte Kit. »Wahrscheinlich war das hier sein Alterswohnsitz.«
»Aber es wusste niemand, dass er wieder in San Diego lebte. Meine letzte Information war, dass er nach Norden gezogen ist. Direkt nach der Pensionierung. Nach San Francisco, glaube ich. Es dürfte zehn Jahre her sein, seit ich ihn zuletzt im Julio’s getroffen habe. Er sei zu Besuch hier, hieß es damals, also habe ich kurz Pause gemacht, um ihn zu sehen. In meiner Anfangszeit hat er mir oft geholfen, meine Karriere voranzutreiben. Ich hatte immer gehofft, dass er wieder herzieht und uns als Berater zur Verfügung steht, aber er meinte, er hätte andere Pläne. Wieso hat er keinem von uns erzählt, dass er ins Shady Oaks gezogen ist?« Navarro seufzte. »Normalerweise würde ich bis nach der Autopsie warten, bevor ich die oberen Etagen in Kenntnis setze, aber dieser Vorfall spricht sich bald herum, und ich kann die Herrschaften nicht im Unklaren lassen. Bestimmt wollen sie Frank ein Polizistenbegräbnis mit einer Ehrenwache zuteilwerden lassen.«
»Ja, Sir«, sagte Kit noch einmal. »Wir wollten auch Sie nicht im Unklaren lassen.«
»Danke. Halten Sie mich auf dem Laufenden. Frank Wilson war eine Institution in unseren Kreisen.«
»Machen wir. Auf Wiederhören, Sir.« Kit beendete das Gespräch und atmete durch. Es war weniger schlimm gewesen als erwartet. »Machen wir uns an die Arbeit.«
Immerhin war mittlerweile Ruhe eingekehrt. Sie war nicht sicher, wie lange sie die Musik noch ertragen hätte. Selbst jetzt fühlte sich ihre Brust eng an, als sie Connor in den angrenzenden Raum folgte.
Die Schwesternhelferin war jung, mit dunkelbraunem Haar und bleichem, tränennassem Gesicht. Als Kit und Connor eintraten, setzte sie sich abrupt auf, und ein schuldbewusster Ausdruck spiegelte sich auf ihren Zügen.
Das dürfte interessant werden, dachte Kit.
»Wir haben der Polizei diese drei Räume für die Befragung zur Verfügung gestellt«, sagte Miss Evans, als sie Sam den Korridor neben ihrem Büro entlangführte. Zwischen dem ersten und dem zweiten Raum stand ein Uniformierter Wache und beäugte sie mit unübersehbarer Besorgnis.
Hierher war Benny geführt worden, um zu warten. Sam hörte die verängstigte Stimme des alten Mannes. Armer Benny, dachte er und spürte, wie ihm das Herz schwer wurde.
Sam sah Connor Robinson den dritten Raum betreten. »Wer ist da drin?«, fragte er Miss Evans.
»Devon Jones.«
Sie hatte Frankies Leiche gefunden, das arme Ding. Folglich musste Georgia Shearer im mittleren Raum warten. Auch beim Gedanken an sie wurde Sam schwer ums Herz. Neben Benny hatte Georgia Frankie am nächsten gestanden, nicht zuletzt verbunden durch ihr eher herbes Naturell.
Sam nahm sich vor, die alte Dame in den nächsten Tagen ganz besonders im Auge zu behalten, wohl wissend, dass sie hinter der scheinbar unbeeindruckten Fassade ihre große Gefühlstiefe verbarg.
Zumindest in dieser Hinsicht ähnelte Kit ihr sehr.
Sam fiel wieder ein, dass er die Nachricht an sie noch nicht abgeschickt hatte, deshalb zog er sein Handy heraus und holte es nach, ehe er Kit aus seinen Gedanken verbannte und sich wieder Miss Evans zuwandte.
»Ich habe die Polizisten gebeten, mit Devons Befragung anzufangen«, sagte Miss Evans, »damit sie nach Hause gehen und sich ein bisschen sammeln kann. Wir müssen dafür sorgen, dass Benny sich so schnell wie möglich beruhigt. In diesem Zustand steht er eine Befragung nicht durch.« Ihr angespannter Blick schweifte zu ihrem Büro. »Brauchen Sie mich hierfür?«