Böser Jerry, komm! - Nicole Oelze - E-Book

Böser Jerry, komm! E-Book

Nicole Oelze

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Beschreibung

"Ich bin, wer ich bin! Ein liebenswerter Zeitgenosse mit ausgiebigem Sinn für Humor und endloser Lebenslust." Hellwache Kulleraugen, fluffiges Federkleid, die Stirn eines Denkers und das Herz eines Abenteurers: Das ist Jerry. Doch der junge Wellensittich stößt mit seiner temperamentvollen Art nicht überall sofort auf Gegenliebe - ganz im Gegenteil. In seinem neuen Zuhause bei Oma Martha findet er sich stattdessen eingesperrt in einem schäbigen Holzkäfig wieder. Sein schöner Traum von einem Leben als kleiner Tausendsassa scheint zu platzen wie eine Seifenblase. Doch dann mischt das Schicksal die Karten noch mal völlig neu. Und für Jerry beginnt das Abenteuer seines Lebens...

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Für Jerry

Inhaltsverzeichnis

Wie alles begann!

Und nun?

Zeitreisen

Daheim

Versteckspielen

Wettlauf gegen die Zeit

Heiße Füße

Farbspiele in drei Variationen

Winterliche Überraschung

Unfreiwilliges Bad

Komm, duschen wir oder andere angenehme Unannehmlichkeiten

Grün – meine Liebe

Vorfreude

Weihnachts(alp)traum

Prost!

Geschichte wird geschrieben - eine neue Epoche bricht an

Es kommt, wie es kommt!

Onkel Kurt

Die Jahre vergehen

Wie alles begann!

Ich bin als Melopsittacus undulatus mit meiner klassischen Wildfärbung ausgesprochen ansehnlich. Folglich gehöre ich zur Familie der Psittac… Entsetzlich, diese Wortkombination kann ich mir weder merken noch perfekt auszwitschern. Also einfacher gepiepst, meine Wurzeln sind in der legendären Sippschaft der Papageien zu finden.

Mein Federkleid ist altbewährt olivgrün, meine ausgeprägte Denkerstirn, meine charakteristische Gesichtspartie und meine liebliche Kehle sowie die beiden Wangenhälften zeichnen sich durch einen leuchtenden Gelbton aus. Mein artiges Gesicht wird umrahmt von blauen Wangenflecken und den typischen schwarzen Kehltupfen. Das typische Wellenmuster, welches auf meinem Kopf und meinem Vorderrücken fein entspringt, um auf meinen Flügeldecken in breite Querstreifen elegant überzugehen, möchte ich hervorheben.

Kurzum, ich bin ein waschechter Wellensittich.

Mein Name ist Jerry und dies ist meine Geschichte.

Meine Geburt fiel auf einen verregneten Mittwochabend, mitten im bezaubernden Frühjahr des wichtigsten Zeitalters der Epoche, nämlich ins Jahr 1983. Die bescheidene Hütte meiner liebevollen Eltern befand sich bei einem anerkannten Züchter der Region. Hier gab es neben dem bekannten nahrhaften Bördeacker zusätzlich etliche Tierfreunde mit ihren Züchtungen und Eigenkreationen.

Mein Papa war von stattlicher Figur und wurde von den Damen seiner näheren Umgebung begehrt. Meine herzliche Mama schwärmte von ihm als einem heißblütigen Kavalier, der alle Weibchen auf charmante Weise für seine Wünsche gewinnen und um die Schwanzfedern wickeln konnte.

Sie dagegen war das lustigste und entzückendste Geschöpf unter den Jungvögeln und brachte meinen eitlen Papa mit ihrer zurückhaltenden, aber kecken Art um seinen Vogelverstand.

Tagelang umgarnte und busselte er sie, brachte ihr die feinsten Leckerbissen und hörte ihrem zarten Gesang stundenlang zu. Erst, als sie sich seiner ewigen Treue sicher war, erhörte sie ihn. Ein paar Wochen und weitere Gaumenfreuden später erblickten meine Geschwister und ich das Licht dieser Welt.

Wir waren das Glück unserer Eltern und wuchsen rasch heran. Papa brachte uns wesentliche Grundregeln des Lebens und Mama die gesellschaftlichen Sitten und Normen bei. Es war ihnen wichtig, dass wir intelligente, wissensdurstige und sensible Geschöpfe wurden.

Abends saßen wir zusammen und lauschten den vielfältigen Erzählungen der alten Vögel aus unserem Schwarm. Die Erlebnisse aus der Menschenwelt und von unseren Ahnen aus Australien sogen mich in ihren Bann. In meinen Tagträumen flog ich über die Savanne der glühenden Abendsonne entgegen. Ich spürte dabei die Winde unter meinen Flügeln und genoss die unendliche Freiheit. Die Welt außerhalb unserer Vogelvoliere fand ich aufregend, spannend und sie machte mich neugierig.

Als junger Hüpfer studierte ich unseren Züchter genau. Täglich kam Herr Steiner mit Fremden zu uns und präsentierte ihnen freudestrahlend seine Züchtungen, also uns. Die kleineren Kinder waren entzückt, wenn sie uns Wellensittiche sahen. Allein mit unserem Gezwitscher konnten wir ihnen unbändige Freude bereiten. Die meisten von den Menschenkindern klatschten und jubelten vor Begeisterung. Einige Mutige unter uns setzten sich auf die winzigen ausgestreckten Hände und augenblicklich war es um die Sprösslinge geschehen. Unzählige meiner Artgenossen und Freunde bekamen auf diese Weise ein neues Zuhause.

Unser Papa kannte keine Ausnahme. Alltäglich lehrte er uns. Selbst vor dem Wochenende hatte er keinen Respekt. Deshalb saßen wir wieder einmal in der Ecke unserer Voliere und lauschten angestrengt seinen Reden. Wir waren gelangweilt von den detaillierten Ausführungen zur Thematik Kräuter. Ich musterte meine Schwestern und sah, dass es ihnen genauso egal war, ob wir glatte oder krause Petersilie zum Knabbern bekamen. Die Hauptsache für uns war, dass sie gesund, knackig und häufig zur Verfügung stand. Jedoch war ein Widerstand unsererseits zwecklos. Ich wusste, das bringt Ärger und diesen konnten wir durch Zuhören und Nachfragen vermeiden.

Am Vortag hatte ich Papa heimlich dabei beobachtet, wie er drei Stängel Petersilie aus dem Futternapf mopste. Zuerst dachte ich, er wolle Mama imponieren. Ich schlich ihm nach und als ich sah, dass er sie versteckte, hielt ich ihn für gierig und meine Wissbegierde war erloschen.

Heute musste ich feststellen, dass ich mich geirrt hatte. Grienend thronte Papa uns gegenüber und hielt drei welke und ebenso viele frische Petersilienstängel mit seiner Kralle fest. Wir bekamen je ein Exemplar und nun baumelten an unseren linken Füßen das alte und an den rechten Füßen das frische Grünzeug. Papa gab uns Anweisungen, die wir ohne Rückfragen durchführten. Zuerst betrachtete ich meine Einzelstücke und ekelte mich bereits beim Anblick des linken Blattwerkes. Egal, wie ich es fixierte, es war bräunlich und in sich zerfallen. Das rechte Prachtexemplar war für mich wunderschön, es sah wie gemalt aus. Fortan war Grün meine Lieblingsfarbe. Meine nächste Aufgabe war es, die Augenlider zu schließen. Auf der einen Seite eine Wohltat, auf der anderen verschwand diese liebreizende Färbung. Papa hielt uns an, abwechselnd die Füße zu heben und die Krallen dabei leicht zu öffnen. Parallel auf mein Gleichgewicht achtend, wippte ich hin und her. Einseitig vernahm ich ein Knistern und Knacken, als würde ich kleine Stöckchen zertreten. Und im nächsten Moment dachte ich, im Schlamm zu waten. Unsere nächste Übung war eine Tortur. Abwechselnd musste ich mit weiterhin geschlossenen Lidern das Kraut an meine Nase führen und wie ein Hund intensiv schnüffeln. Immer wenn mein rechtes Bein an der Reihe war, roch ich eine aromatische Würze. Zusätzlich gaukelte mir mein Gehirn das Bild eines saftigen Petersilienbeetes vor und mein Fresszentrum schrie, ich solle reinbeißen. Schnell wechselte ich zur anderen Körperhälfte, stellte aber enttäuscht fest, dass dies eine schlechte Option war. Ich konnte keine Frische wittern und die unverfälschte Natürlichkeit war verflogen. Ekel ergriff mich und ich gab unbefriedigt auf. Langsam stieg in mir Hass auf dieses Spiel auf. Ich war bestürzt und fragte mich, was Papa damit bezwecken wollte. Doch bevor ich mich weiter mit meiner Frage beschäftigen konnte, gab Papa den Befehl zum Knabbern. Ohne darüber nachzudenken, oder die Augen zu öffnen, rupfte ich mir winzig kleine Blattfetzen aus der grünen Schönheit meiner rechten Kralle ab. Ich spürte auf meiner Zunge die feinperligen Wassertröpfchen, schmeckte die Fasern, roch das pikante Bukett, hörte das Aufbrechen der Zellen und kam mir vor wie im Paradies. Nachdem ich die Explosion mit meinem Körper und Geist vereinigt hatte, schlug ich die Lider auf. Ich war begeistert und beschloss auf das Experiment mit der schlechten Petersilienvariante zu verzichten. Papa blickte mich zufrieden an. Unser Test war zu Ende.

Das erneute Stillsitzen fiel mir zunehmend schwerer. Meine Füße fingen an zu kribbeln, sodass ich abwechselnd meine Krallen ausstrecken und bewegen musste. Durch meine Turnübungen kam unser mickriger Ast in ungewollte Schwingungen und brachte mir böse Blicke meiner Schwestern ein. Warum blieb mir schleierhaft und war mir einerlei. Ich sehnte das Ende unseres Unterrichts herbei und grübelte gerade darüber nach, was ich am Nachmittag anstellen könnte, als Herr Steiner mit einem jungen Pärchen in unsere Voliere trat.

Sie sahen nett aus. Intuitiv und ohne weiter darüber nachzudenken, nahm ich meinen Mut zusammen, kniff meine Augenlider erneut zu und flog los. Das war meine Chance und ich wollte sie ergreifen, bevor es ein anderer meiner Gefährten tat.

Tapfer landete ich auf der breiten Schulter des Mannes und fiepte ihm schrill in sein Ohr. Unsere Augenpaare trafen sich, wir fixierten den jeweils anderen und ich konnte den Schelm in ihm entdecken. Deutlich spürte ich das Knistern zwischen uns. Der besagte Funke war übergesprungen.

Das Pärchen war perplex, jedoch von meiner spontanen Begrüßungsaktion begeistert, sodass sie sich direkt für mich entschieden und die Formalitäten unverzüglich tätigten.

Unterdessen holte ich mir bei Mama und Papa gut gemeinte Ratschläge ein. Ich sog jedes einzelne Wort ein und versuchte es mir zu merken. Vielleicht war ich mir bewusst, dass dies unser letztes Gespräch sein würde und ich wollte es weder verkürzen noch Einzelheiten vergessen. Ich schaute Mama abwartend an. Ich unterbrach beide zu keinem Zeitpunkt.

Ich wusste, als Herr Steiner mit seinem mehrfach geflickten Fangnetz näher kam, dass der Abschied gekommen war. Mamas Augen weiteten sich und sie erschrak. Das zu sehen versetzte mir einen Stich ins Herz. Niemals wollte ich sie verletzen oder ihr Ängste bereiten. Schnell schnäbelte sie mich und Papa stupste mich an. Tapfer saß ich auf dem Geäst, während meine Eltern zum nächsten Baum flogen. Wacker ließ ich Herrn Steiner grinsend seine Arbeit verrichten und plumpste mit klopfendem Herzen in den mitgebrachten Schuhkarton.

Durch winzige Luftschlitze entdeckte ich meine Eltern. Zusammengekuschelt kauerten sie auf ihrem Lieblingsast. Mama rang mit den Tränen und schniefte leise. Papa versuchte sie zu trösten und kraulte zärtlich ihren Hals. Meine Schwestern saßen lediglich einen Ast entfernt. Ich spürte ihre Bestürzung um mich, oder war es meine eigene Furcht, die mich wanken ließ? Ihre fragenden Kulleraugen verfolgten die Szenerie. Mit offenen Schnäbeln knieten sie steif auf ihrem Platz und gaben keinen Laut von sich. Ruckartig stopfte ich meinen Schnabel in einen Spalt und zwitscherte ihnen aufmunternde Abschiedsfloskeln zu. Ich tröstete sie. Ich sagte ihnen, dass sie keine Furcht zu haben brauchten. In diesem Augenblick wusste ich, dass meine Worte mehr mir als ihnen galten. Mein Mut verkroch sich in die dunkelste Ecke meines Gefängnisses.

Mama piepste und ein Lächeln huschte über ihr liebreizendes Gesicht. Papa nickte mir zu. Ich deutete seine Geste als Zustimmung meiner getroffenen Wahl. Damit konnte und wollte ich vorerst leben. Inständig hoffte ich, dass sich alles Weitere ergeben würde.

Und nun?

Angespannt liege ich im finsteren Inneren der kleinen Transportbox und warte. Ich verhalte mich mucksmäuschenstill. Ehrlich gepiepst, habe ich eine Heidenangst und Muffensausen. Ich kauere mutterseelenallein in dieser unangenehmen Schachtel auf einer Fahrt in das Ungewisse.

Zweifel kriechen wie Tentakeln in meine Seele und verwirren meinen kleinen Geist. Habe ich die richtige Entscheidung getroffen oder zu voreilig gehandelt? Mein Kopf brummt und droht zu zerplatzen, meine Gedanken kreisen wie in einem Karussell auf dem Rummelplatz.

Über diese aufkommenden Gefühle und die Furcht hatten die alten Wellensittiche oder gar meine Eltern nie gesprochen. Was hatten sie überhaupt gewusst? Verbrachten sie ihr Leben ausschließlich in der Voliere? Kannten sie die Welt da draußen eigentlich? Waren alle Gutenachtgeschichten nur Märchen für die Unwissenden unter uns gewesen? Fragen über Fragen schießen durch mein Gehirn und überschlagen sich.

Ich bin lediglich einen Wimpernschlag davon entfernt völlig durchzudrehen. Ich will zurück, schreit meine Psyche. Nach Hause, in meine vertraute Umgebung, um meine herzensgute Mama zu befragen, mich an sie zu schmiegen und mich trösten zu lassen.

Einer Ohnmacht nahe erreiche ich mein Ziel.

Langsam öffnet sich der Deckel meiner Kiste und ein Lichtstrahl trifft mein verheultes Gesicht. Ich blinzele. Eine kräftige Männerhand hebt mich sanft hoch und setzt mich in einen Käfig. Tief enttäuscht schaue ich mich um. Stocksteif sitze ich auf einem der wenigen Äste. Lediglich meine Augen rollen aufgeregt hin und her. Mein neues Heim ist mickrig. Kein Vergleich zum gewohnten Vogelhaus meiner unbeschwerten Kindheit.

Ich kauere in einem schäbigen Holzkäfig, niedrig und schmal, mit einer klitzekleinen Tür an der Seite. Niemals passt dort ein Mensch hindurch, dessen bin ich mir sicher. Sogar für mich scheint diese Pforte kümmerlich. Wo bin ich gelandet? Meine Träume platzen wie unreife Seifenblasen und verschwinden am Himmel. Fliegen ist hier unmöglich. Lediglich hopsen, von Stange zu Stange, das wird mir sofort bewusst. Ich entfalte meine Flügel und berühre sogleich auf der anderen Seite die Gitterstäbe. Enttäuscht schleiche ich in die hinterste Ecke und schmolle. Ich fühle mich wie Pechmarie, nur ohne Pech.

Drei Augenpaare starren mich unverblümt an. Die junge Frau quasselt auf mich ein und trotzdem finden ihre tröstenden Worte keinen Zugang zu meinem beleidigten Gehör. Ich muss mich konzentrieren, ermahne ich mich selbst. Der bärtige Mann lächelt und eine ältere adrette Dame steht wankend mit geöffnetem Mund vor dem Käfig.

»Oma Martha«, flüstern sie ihr zu, »das ist unsere Überraschung für dich. Der Bursche ist jung, quick lebendig, aufdringlich und lustig zugleich.«

»Aber das ist Wahnsinn«, entgegnet Oma Martha kopfschüttelnd.

Stille entsteht. Unruhig hüpfe ich auf eine andere Stange.

»Was, wenn ich ihn nicht wieder in den Käfig bekomme?«, fragt sie mit gebrechlicher Stimme.

»Keine Angst. Er sieht gut genährt aus. Wenn der Hunger ihn übermannt, wird er den Weg finden«, versucht der Bärtige die kleine Oma zu beruhigen.

Verblüfft über den Dialog starre ich an mir herab. Wie hatte er das gemeint – gut genährt? Ich bin weder pummelig noch dick. Stattlich, wie mein verehrter Papa und adrett wie Mama. Was sollte diese unangebrachte Bemerkung über meinen Körperbau?

»Außerdem bist du nicht mehr allein und ihr könnt euch unterhalten«, höre ich die Frau verstohlen hinzufügen.

»Ich bin nicht allein, ich habe meine Freunde, auch hier im Haus. Irmchen zum Beispiel.«

Entrüstet über die Bemerkung schaut Oma Martha das Pärchen an und stemmt ihre Arme in die schmalen Hüften.

Deprimiert von dem Geschwafel wende ich mich ab. Ich stopfe meinen Schnabel unter meinen Flügel und versuche die neue Welt herum auszublenden. Es strengt mich an. Mein Akku ist leer und ich habe das dringende Bedürfnis zu schlafen.

Gefühlte Stunden später wache ich schweißgebadet auf. Oma Martha ruht in einem Sessel und schnarcht. Vorsichtig, um Krach zu vermeiden, bewege ich mich langsam von meinem Platz. Meine Knochen knacken. Ich vermute, dass mein traumloser Schlaf unter totaler Anspannung meiner Muskulatur stattgefunden hat. Nach ein paar Dehnübungen fühle ich mich besser, bleibe aber dennoch lautlos. Ich beobachte die kleine Dame und beschließe Oma Martha und mir eine Chance zu geben.

Zeitreisen

Die Tage vergehen und ich taue auf. Oma Martha ist liebreizend und großzügig. Sie füttert mich mehrmals täglich und erzählt mir Episoden aus ihrer Jugend. Seitenweise zeigt sie mir ihre Fotoalben mit den bereits vergilbten Bildern und ich muss gestehen, sie war ein hübsches Mädchen und später eine attraktive Frau. Meinem Vater hätte sie gefallen. Eine Perle der Natur, würde er behaupten und ihr dabei gekonnt mit einem Auge zuzwinkern. Es wäre um sie geschehen. Ich denke an Mama und ein Lächeln huscht über meine Wangen.

Wenn uns Irmchen, die Freundin von Oma Martha besucht, wird es amüsant. Aus dem alten Koffergrammofon erklingen Melodien von Mozart und Bach, je nach Laune der beiden Herrschaften. Dabei hübschen sie sich auf, als ob sie anschließend zu einer Tanzveranstaltung, von ebenfalls fein herausgeputzten Herren, abgeholt werden. Sie ziehen sich ihre makellosesten Kleider an, legen ein schlichtes Make-up auf, versprühen ein dezentes Parfum auf ihre Handgelenke und frisieren sich gegenseitig die ergrauten Haare zu aufwendigen Hochsteckfrisuren. Zum krönenden Abschluss öffnet Oma Martha behutsam ihre hölzerne Schmuckschatulle und die elegantesten Ketten, Ohrringe, Broschen und Ringe kommen zum Vorschein. Oh, wie das glitzert und funkelt. Eine wahre Pracht.

Ich hasse diese unüberwindbaren Gitterstäbe, welche zwischen mir und dem bezaubernden Schmuck stehen. Bei diesem Anblick gehe ich mit mir einen Pakt ein. Sollte ich eines Tages diesen Käfig verlassen dürfen, dann werde ich einen Ausflug zum Schmuckkästchen unternehmen und den Inhalt auf Herz und Nieren prüfen. Stundenlang, das verspreche ich mir.

Während der Zeremonie lachen und kichern meine Grazien wie kleine Mädchen, die das erste Mal mit Jungs ausgehen wollen. Am Ende stehen sie gemeinsam händchenhaltend vor dem alten Wandspiegel im Flur. Sanft legt Irmchen ihren Kopf auf Oma Marthas zierliche Schulter.

»Dem Günther und Heinz würden wir gefallen«, höre ich Irmchen herzergreifend flüstern und verfolge wissbegierig ihren Wortwechsel.

Über Oma Marthas Wange rollt eine winzige Träne.

»Das stimmt«, seufzt Oma Martha. »Schade, dass sie nicht mehr bei uns sind. Ich würde gern noch einmal mit Heinz tanzen gehen und seinen Atem auf meiner Haut spüren.«

Ich schaue sie an und empfinde tiefes Mitgefühl. Sie lösen sich von ihren Erinnerungen und schreiten vornehm auf den kleinen Balkon. Schwungvoll greift Irmchen im Vorbeigehen meinen Käfig und hängt ihn gekonnt an einen Haken, welcher ursprünglich für eine Hängepflanze gedacht war. Ich baumele oberhalb der geschlossenen Gesellschaft. Es ist der perfekte Ort. Ich habe alles in meinem unmittelbaren Sichtfeld und kann in die sorgfältig angelegten Vorgärten des Hauses blicken. Was für eine Aussicht! Das frische Grün der Bäume, Sträucher und Blumen fasziniert mich. Alles beginnt mit neuer Kraft zu wachsen. Die Sonne scheint und ich fühle mich wohl. Hoffentlich hänge ich öfter auf dem Balkon rum, das würde mir gefallen.

Das runde Tischlein ist bereits festlich gedeckt. Die mit einem Goldrand verzierten Sammeltassen und Teller schmücken ihn. Eine dicke Kerze brennt und eine üppige Blumenvase mit frischen roten Tulpen steht neben dem Sahnekännchen aus Kristall. Aus der Kaffeekanne strömt aromatischer Duft und Irmchen bittet höflich zu Tisch. Sie genießen das Leben und gönnen sich bereits am frühen Nachmittag ihren Eierlikör zum erwärmten Apfelstrudel mit Schlag.

Meine beiden Schönheiten scherzen mit mir, während ihre unversiegbaren Worte ununterbrochen aus ihren Mündern fließen.

Am Abend lümmelt sich Oma Martha mit ihrer Lieblingsdecke in den Sessel und sieht glücklich aus. Ich finde, wir hatten einen wundervollen Tag und meine beiden alten Mädchen waren eine Augenweide.

Nachdem ich mich am Hirsekolben gestärkt habe, falle ich erschöpft in einen traumlosen Halbschlaf.

Gelegentlich steckt Oma Martha ihre knochigen Zeigefinger zaghaft zwischen die Käfigstäbe. Ich husche