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Als der 15-jährige Grayson Parker unverhofft die Möglichkeit erhält, Teil eines neuen Bounty Hunter Teams zu werden, sagt er aus der Not heraus zu. Nur mit den Prämien, die bei der Ergreifung echter Verbrecher winken, können "Gray" und sein Vater weiter sein Schulgeld bezahlen. Wer würde da lange überlegen!? Doch das Auswahlverfahren ist hart und nicht jeder besteht das Training. Als sich ein kleiner Kern um "Gray", seinen Kumpel Elijah, ihre supersportliche Mitschülerin Réka, Angeber Benedict und Außenseiter Matthew bildet, erkennt auch ihr Auftraggeber, dass sie die richtigen Kopfgeldjäger ausgewählt haben. Aber das heißt noch lange nicht, dass sie auch als Team funktionieren. Ihr erster richtiger Zugriff als Team Ghost war als leichte Beute geplant – doch schnell stellt sich heraus, dass sie es mit einem weit größeren Verbrechen zu tun haben als gedacht.
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Seitenzahl: 212
Veröffentlichungsjahr: 2022
Für Joscha.Endlich Action,auch wenn du jetzt schon zu alt dafür bist.
Kopfgeldjäger machen gesuchte Personen ausfindig und übergeben sie gegen eine Belohnung den Behörden. Die offizielle Bezeichnung für Kopfgeldjäger lautet Fugitive Recovery Agents. Umgangssprachlich nennt man sie auch Bounty Hunters.
Dienstag, 06. April, 16:43 Uhr, Pazifische Sommerzeit
Mit einem dumpfen Bopp! schlugen die Geschosse auf der anderen Seite der Ziegelsteinmauer ein. Grayson Parker duckte sich tiefer.
Bloß nicht den Kopf heben, sonst war’s das!
Rechts von ihm hockte Isaac. Grays Freund hielt den Lauf seiner Waffe auf den mit Mauerbrocken übersäten Boden gerichtet. Schweißbäche liefen über sein Gesicht wie Rinnsale auf ausgetrockneter Erde.
Der Dauerbeschuss hörte auf. Der Kerl, der sich als einer der letzten beiden Gegner in dem Wohnwagen verschanzt hatte, glaubte wohl, dass er Gray und Isaac erwischt hatte. Jetzt konnte er seine Aufmerksamkeit ganz auf Ben und Réka richten.
Wo steckten die zwei überhaupt?
Tja, Gray würde es kaum herausfinden, wenn er weiter nur Däumchen drehte.
Der 15-Jährige rollte sich herum. Seine schwere Schutzmontur behinderte ihn dabei, aber schließlich kniete er auf einem Bein und stellte das andere auf.
Langsam schob er sich nach oben. Die Mauer, hinter der er und Isaac vor zwei Minuten in Deckung gegangen waren, war nur ein kleiner Teil eines halb zerfallenen Gebäudes. Irgendwas Industrielles. Eine alte Fabrik. Gray konnte nicht erkennen, was darin hergestellt oder repariert worden war. Er erhaschte nur einen Blick durch ein zum Teil aufgezogenes Rolltor in eine Halle mit Stahlträgern. Von einer Art Kran baumelte eine dicke Kette mit einem riesigen Haken. Auf dem Boden verstreut lagen ein paar Metallteile, die alles und nichts darstellen konnten. Motorblöcke? Gussformen für Werkzeuge? Ansonsten war die Halle leer, soweit Gray sie einsehen konnte. Die Party fand hier draußen statt. Mehrere rostige und mit Graffiti besprühte Überseecontainer verteilten sich chaotisch auf dem Gelände.
Und dann war da noch der Wohnwagen. Ein weißer Riese mit einer notdürftig hergerichteten Veranda aus Holzpaletten, über die sich eine zerfetzte Markise spannte. Er stand ein ganzes Stück von Grays und Isaacs Standort entfernt, dazwischen nur freies Gelände, das keinerlei Schutz bot.
Aus einem der zerbrochenen Plastikfenster lugte ein schwarzer Lauf. Und zielte in Grays Richtung.
Mist!
Ein Trommelfeuer ging auf die Mauer nieder. Gray duckte sich und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. 16:43 Uhr. Wann sah dieser Vollidiot endlich ein, dass sie so nicht weiterkamen? Solange sie hier saßen, würde er sie nicht treffen. Umgekehrt hatten aber auch sie keine Chance, ihn zu erwischen, wenn sie sich nicht bewegten.
Gray rief sich den Plan des Areals ins Gedächtnis. Ihr Gegner würde nach links laufen, sobald er den Trailer verließ. Dort boten ihm mehrere übereinandergestapelte Metallfässer Schutz. Es sei denn, Gray und Isaac waren vor ihm …
»Los, los, los!«, ertönte eine Stimme aus der Halle mit dem Kran.
Gray presste die Lippen zusammen. Warum brüllte Big Ben nicht gleich Ich, ich, ich? Wenigstens lenkte er mit seinem Geschrei den Schützen ab. Gray und Isaac verständigten sich mit einem Nicken und erhoben sich.
Ben walzte derweil hinter dem Rolltor hervor. Mit seinen achtzig Kilogramm reiner Muskelmasse hätte er auch direkt durch das Blech brechen können. Das hätte ihm zwar nichts gebracht, aber deutlich spektakulärer ausgesehen. Allerdings waren seine Bewegungen für jemanden, der gerade 16 geworden war, auch so schon beeindruckend. Er rückte in gerader Linie auf den Wohnwagen vor. Dabei drehte er den Oberkörper zur Seite, um die Angriffsfläche zu verringern. Die Beine streckte er nie ganz durch. So war ihm jederzeit ein fester Stand oder ein schneller Ausweichschritt möglich.
Réka folgte ihm dicht auf den Fersen. Der lange, geflochtene Zopf, ohne den Gray sie noch nie gesehen hatte, schaute unter ihrem Helm hervor. Sie schwenkte nach rechts, damit der Schütze sich zwischen ihr und Ben entscheiden musste. Während Bens Schüsse auf die Verkleidung des Trailers prasselten, zielte Réka auf die Fenster. Der Kerl im Inneren hatte gar keine Chance, sie oder Ben ins Visier zu nehmen! Wieder bauschte sich der Vorhang in der Öffnung neben der Tür, als eins ihrer Geschosse hindurchjagte.
Und nun? Gray und Isaac konnten die beiden einfach machen lassen. Aber was, wenn Ben oder Réka später fragten, wo sie die ganze Zeit gesteckt hatten? Ihr habt euch wie zwei Hosenschisser verkrochen und nur zugeschaut? Nicht gerade das, was Isaac brauchte.
»Los geht’s! Beeilung!«, erteilte Gray das Kommando.
Réka hatte bereits die Hälfte der Strecke zum Wohnwagen überwunden. Wenn sie vor ihr dort sein wollten, mussten sie einen Zahn zulegen. Dann konnte Isaac beweisen, dass er doch was draufhatte.
Gray riss die zur Faust geballte Hand nach oben. Stopp!
Da war eine Bewegung an der Rückseite des Wohnwagens. Es machte wohl Eindruck, wenn ein Zwei-Meter-Hüne und seine nicht weniger entschlossene Partnerin auf einen zurasten. Die Bohnenstange wollte abhauen! In gebückter Haltung lief der schmächtige Kerl auf die Fässer zu.
Gray unterdrückte ein Grinsen. Na also, es ging doch!
Er winkte Isaac nach vorn. Wenn alles glattlief, würde sich der tolle Ben Kramer in ein paar Sekunden ausgerechnet bei dem Typen bedanken müssen, den er nur aus der Not heraus mitgenommen hatte.
Der Schmächtige schnallte immer noch nicht, was abging. Er schaute stur auf etwas hinter den löchrigen Fässern, seine Lippen bewegten sich.
Moment, mit wem quatschte der da?
Ein bunt gesprenkelter Helm schob sich über den Rand einer Tonne. Der zweite Gegner! Der Lauf der Waffe richtete sich auf Isaac. Gray riss seine eigene herum, aber es war zu spät. Zwei Schüsse trafen seinen Freund mitten in der Bewegung, nur einen Sekundenbruchteil später folgten zwei weitere für Gray.
Er spürte nicht einmal, wie die Kugeln einschlugen.
Er ließ die Waffe sinken und fuhr sich mit der Hand über die Brust. An seinen Fingerspitzen blieb etwas Rotes kleben.
Wie in Zeitlupe beobachtete er, dass der Typ auf Réka anlegte.
Eine Sirene schallte über das Gelände.
16:45 Uhr.
Der Schütze hinter den Fässern warf seinem Partner einen fragenden Blick zu. Die Bohnenstange zuckte die Achseln, und der andere schwenkte herum und drückte eiskalt ab. Auf Rékas Helm leuchtete eine rote Blume auf.
Die Sirene verklang.
»Tot!«, lachte der Schlaksige aus dem Wohnwagen und gab selbst ein paar Schüsse auf Réka ab. Weitere Farbexplosionen erschienen auf der Schutzmontur, die ihr ein Mitarbeiter des Seattle Paintball Parks vor einer guten Dreiviertelstunde überreicht hatte.
»Hör auf, du Trottel«, blaffte Réka. Trotz der klobigen Protektoren sah man, wie gut sie in Form war. Nicht überraschend für die amerikanische Olympiahoffnung im Modernen Fünfkampf. Schwimmen, Degenfechten, Radfahren und Combined, also ein Querfeldeinlauf mit Pistolenschießen kurz nach dem Start, nach 800 Metern und dann wieder nach 1.600 und 2.400. Réka musste fit sein. Wie alle Schülerinnen und Schüler der Seaside High School.
»Die Zeit war um«, stellte sie trocken fest und fixierte die Gegner der West High, mit denen sie sich heute getroffen hatten.
»War sie nicht. Und überhaupt: Halt die Klappe, du bist tot.« Der Schütze schwenkte mit dem Lauf seiner Waffe zu Isaac und Gray. »Und du bist tot, und du auch. Macht zwei Überlebende für uns und einen für euch Loser von der Seaside High. Wir haben gewonnen.«
Wie hatte der Kerl sich vorhin vorgestellt? Phil? Egal.
»Ich dachte, das Spiel ist vorbei, wenn die Sirene heult?«, fragte Gray.
Wahrscheinlich-Phil nickte. »Hat aber keiner gesagt, dass wir aufhören, sobald sie losgeht. Sie hat noch geheult, also gilt der Abschuss.«
»Komm schon, das ist doch …«, setzte Gray an, aber die Bohnenstange mischte sich mit einem meckernden Lachen ein: »Alter, du bist voll in die Falle gelaufen und hast deinem Kumpel sogar noch den Vortritt gelassen!«
Gray warf Isaac einen Blick zu, aber der winkte nur locker ab. Es war schließlich nicht wirklich um Leben und Tod gegangen. Oder?
Isaac hatte im letzten Spiel des Fußballteams der Seaside gegen die Auswahl der Cleveland einige schlechte Entscheidungen getroffen. Okay, er hatte es gewaltig verkackt. Das musste sogar Gray zugeben. Es war schon richtig, dass eine Mannschaft nur zusammen gewann oder verlor, aber nicht unbedingt das, was man direkt nach dem Match ausgerechnet von demjenigen hören wollte, der für die Klatsche verantwortlich war. Mit seinem aufmunternden Grinsen und dem gut gemeinten Schulterklopfen hatte Isaac sich bei der Mannschaft komplett ins Abseits geschossen.
Also ja, doch, es ging für ihn um Leben und Tod. Wenn auch nur im übertragenen Sinn.
»Einigen wir uns auf ein Unentschieden«, schlug Gray vor. Dabei hörte er die Stimme seines Dads in seinem Hinterkopf: In verfahrenen Situationen sucht man den Kompromiss. Damit wäre Isaacs Ruf zwar nicht ganz wiederhergestellt, aber es war ein Schritt in die richtige Richtung.
»Träum weiter!«, sagte die Bohnenstange. »West High drei Siege, Seaside einer.« Er nickte Réka zu. »Wir sehen uns nach den Ferien. Ich drück euch die Daumen, dass Kevin und James bis dahin wieder fit sind.«
Kevin und James. Die beiden, für die Gray und Isaac kurzfristig eingesprungen waren.
Réka riss sich den Helm und die Schutzbrille vom Kopf. Dass es in ihr brodelte, war nicht zu übersehen. Die Härchen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten, klebten ihr auf der Stirn. Darunter blitzte ein Paar blauer Augen auf. Als hätte man einen Gletscher in zwei Murmeln gepresst. Die Farbe hatte Gray schon immer fasziniert. Aber er sah noch etwas, das ihm bisher entgangen war. Einen kleinen Fleck auf der linken Iris in einem tieferen Blau. Als hätte man ein Stück vom Pazifik …
»Ich habe ja gesagt, dass die beiden nichts taugen.« Big Ben stampfte von der Seite heran und feuerte aus der Hüfte heraus einen einzelnen Schuss auf Isaacs Handgelenk ab.
»Autsch, verdammt! Das tut weh!« Isaac umklammerte seine Waffe fester.
Gray ging dazwischen. »Fürs erste Mal haben wir uns nicht schlecht geschlagen, Ben. Und hättest du uns vorher in deine Rambo-Taktik eingeweiht, hätten wir uns darauf eingestellt.«
»Sagt der, der den zweiten Gegner aus den Augen verloren hat.« Ben wandte sich ab. »Antal, wir gehen.«
Gray sah ihm nach. Und Réka.
Warum fiel ihm nie etwas ein, womit er sie ansprechen konnte? Am besten was Witziges. Wenn er sie zum Lachen brachte, würde sie vielleicht …
»Das war ja echt für die Tonne«, holte Isaac ihn in die Realität zurück und steuerte das Tor an. Gray schloss zu ihm auf. Sie passierten die immer noch jubelnden Schüler der West High und traten auf den geschotterten Weg, der vom Spielfeldrand zum Ausgang führte.
»Sorry«, seufzte Isaac, während er sich die Protektoren auszog und zu dem Tresen hinüberlief, an dem sie die Ausrüstung zurückgeben mussten. »Du wolltest nur helfen. Und ich bin dir echt dankbar, dass du Ärger mit deinem Alten riskierst. Ich kapier zwar nicht, was er gegen Paintball hat, aber wenn er besser nichts davon weiß, erzählst du ihm eben, dass wir joggen waren. Vorbereitung auf den nächsten Geländelauf.« Er deutete auf Grays Hand. »Und immer schön die Pfoten waschen, bevor du nach Hause kommst.«
Gray betrachtete seine roten Fingerspitzen und wich so einer Antwort aus. Die Sache mit seinem Dad war kompliziert. Außerdem gingen ihm Rékas Gletscheraugen nicht aus dem Kopf. Und das Stück vom Pazifik, das darin schwamm. Er reckte den Hals. Nein, keine Chance, zu ihr aufzuschließen. Ben bahnte sich einen Weg durch die Leute, Réka hing an ihm dran. Die Menge schloss sich hinter ihr. Während Gray mit Isaac darauf wartete, dass der Typ vor ihnen seine Sachen abgab, ließ er den Blick über das Gelände schweifen.
Der Angestellte, der sie eingewiesen hatte, unterhielt sich gerade mit einem jungen Mann, der zu Gray und Isaac herüberschielte. Mitte zwanzig, Jeans, schwarz-rotes Karohemd, schulterlange zottelige Haare. Noch einer, der auf Kurt Cobain machte, den verstorbenen Sänger von Nirvana. Keine Seltenheit in der Geburtsstadt des Musikstils, den die Band mitgeprägt hatte.
Der Kerl schüttelte dem Angestellten die Hand und lief dann zum Ausgang. Er sah über die Schulter zurück, bemerkte Grays Blick und reckte grinsend den Daumen. Dann war er weg.
Isaac hatte die Szene mitbekommen. »Kanntest du den?«
»Nicht dass ich wüsste.« Der Typ war ein komischer Kauz gewesen, mehr nicht. Davon gab es genug in Seattle. Gray strich ihn schon aus seinem Gedächtnis. Dafür klopfte sein Herz schneller, als er sich noch einmal zum Spielfeld umblickte. Fast glaubte er, wieder das Knirschen unter seinen Schuhen zu spüren, als er sich den Fässern genähert hatte, das Adrenalin, das durch seinen Körper gejagt war. Er hätte nur einen winzigen Moment schneller reagieren müssen, dann hätten sie gewonnen.
Mittwoch, 07. April, 08:03 Uhr, Seaside High School, Painmore, Staat Washington, USA
Die Seaside High lag auf einer Landspitze, die östlich von Seattle in den Lake Washington ragte. Die Schule fügte sich so unauffällig wie möglich in die vornehme Wohngegend der Stadt Painmore ein, was ihr mit ihren drei Stockwerken und den weitläufigen Sportplätzen ringsherum aber nicht ganz gelang.
Gray und Isaac betraten das Gebäude durch den Haupteingang. Gray wandte sich nach links und verpasste dem Maskottchen der Schule einen Tritt. Das war Tradition vor einem Heimspiel eines Teams der Seaside. Fußball, Baseball und Leichtathletik im Frühling, Football und Schwimmen im Herbst, bis im Winter die Basketball-Saison startete. Die mannshohe Plastikfigur musste ständig einstecken. Auch Isaac holte aus – und wurde von einem älteren Schüler aufgehalten.
»Du nicht, Whitman. Du bringst Unglück.« Der Kerl wartete nicht einmal, ob seine Ansage ankam. Er lief mit seinen dämlich lachenden Anhängern einfach weiter.
»Weißt du, warum man Trouty Troutman wirklich tritt?«, rief Isaac ihm nach. Seine Stimme klang trotzig, aber Gray kannte ihn lange genug, um zu hören, dass er in Wahrheit gekränkt war. »Weil es eigentlich alle total beknackt finden, dass er eine sprechende Forelle ist! Andere haben Seeadler oder Bären. Berglöwen! Aber wir sind Forellen. Ich bin eine Forelle, du bist eine Forelle. Bescheuerte Fo-ho-rellen!«
Gray konnte nicht anders. Er lachte laut los. Okay, es war unfair, sich über Isaac lustig zu machen. Immerhin war er derzeit bei allen unten durch, nicht Gray. Aber sein Kumpel führte sich auf wie Rumpelstilzchen.
Manche Dinge änderten sich nie. Zum Glück.
Gray und Isaac, das Dreamteam. Isaac als blonder Brillenträger mit einem Hang zur Dramatik, Gray nicht nur äußerlich das komplette Gegenteil. Sein dichtes schwarzes Haar ließ er seit Monaten wachsen, seine Haut war braun, als verbrächte er jede freie Minute an der frischen Luft. Sportlich waren sie beide, aber da bildeten sie keine Ausnahme an der Seaside.
Ungewöhnlich war Isaacs Ausbruch dennoch. Er riss zwar gern seine Sprüche, hatte aber noch nie wirklich einen Streit provoziert. Für ihn stand der Zusammenhalt innerhalb der Schule oder einer Mannschaft über allem. Genau das hatte ihm die Suppe ja eingebrockt. Und genau deshalb war Grays Arm gestern sofort in die Höhe geschossen, als Big Ben nach zwei Freiwilligen für ein inoffizielles Paintball-Match fragte. Dass es am Nachmittag dann nicht ganz so gelaufen war wie gedacht, war Pech. Irgendwann würde ein anderer Spieler eines der anderen Teams Mist bauen, und Isaacs Patzer geriet in Vergessenheit. Bis dahin musste Gray seinen Freund nur vor weiterem Ärger bewahren. Und das hieß jetzt, ihn sicher zu den Spinden zu geleiten, bevor er sich doch noch mit jemandem anlegte.
»Lass die Pfeifen«, sagte er und zog Isaac mit sich.
»Grayson Parker bitte in das Büro der Rektorin«, schallte Ms Robinsons Stimme aus den Lautsprechern. Wie immer klang sie leicht panisch. Als hinge ihr Job davon ab, dass der ausgerufene Schüler die Beine in die Hand nahm und sich sputete. Für die meisten Anlass genug, sich besonders langsam auf den Weg zu begeben.
Isaac runzelte die Stirn. »Hast du Ms Dutton die Donuts geklaut?«
Gray zuckte die Achseln und verstaute seine Schul- und die Sporttasche in seinem Spind.
Isaac nahm sich die Bücher für seine ersten Stunden aus dem daneben. »Wir sehen uns«, sagte er und machte sich auf den Weg zum Unterricht.
»Grayson Parker! Bitte in das Büro der Rektorin!«
Gray schloss den Spind und bog mit seinen Sachen in den Gang zur Verwaltung ab. Dort klopfte er an Ms Robinsons Tür. Die Sekretärin bat ihn sofort herein und winkte ihn erleichtert weiter. Ms Duttons Büro stand offen.
»Nimm Platz, Grayson.«
Ms Dutton blieb sitzen. Kein Wunder. Wahrscheinlich war sie mit ihrem Stuhl verwachsen. Oder sie hatte sich an ihrem ersten Tag zwischen den Lehnen verkeilt und harrte seitdem dort aus. Wahrscheinlich wartete sie darauf, dass endlich jemand die Feuerwehr rief. Sie faltete die fleischigen Hände und lehnte sich mit den Unterarmen auf den Schreibtisch, der tatsächlich ein Quietschen von sich gab.
Mit ihrem maßgeschneiderten Hosenanzug wäre die Rektorin auch als Rechtsanwältin durchgegangen. Oder als Staatsanwältin. Dummerweise wusste man bei ihr nie, ob sie einen verteidigen oder anklagen wollte.
»Ich komme gleich zur Sache«, sagte sie in einem Tonfall, der ganz klar nach Anklage klang. Gray versteifte sich. »Trotz wiederholter Aufforderung ist dein Vater mit der Zahlung des Schulgelds weiterhin im Rückstand. Das schmerzt mich. Du bist ein guter Schüler, Grayson. Ein hervorragender sogar.«
Gray rutschte nach vorn und legte seine Bücher auf den Tisch. »Ich dachte, das wäre erledigt. Mein Dad muss es vergessen haben. Er hat gerade viel um die Ohren.« Allerdings nicht so viel, dass er nicht eine verdammte Online-Überweisung tätigen konnte!
Ms Dutton nickte, aber das Mitleid in ihren Augen war nicht zu übersehen. Sie lehnte sich schwerfällig zurück, und ihr Stuhl gab dem Tisch eine Antwort auf sein Quietschen gerade. »Es tut mir sehr leid, Grayson, aber mir sind die Hände gebunden. Ich setze deinem Vater eine letzte Frist bis zum 23. Verzeichnen wir bis Ende der Woche nach den Frühlingsferien keinen Zahlungseingang, kann ich dir den Besuch der Seaside High nicht weiter gestatten. So schwer mir das fällt. Ich verliere dich nur ungern.«
»Ich … Das … Aber ich …«, stotterte Gray. »Die Ferien dauern doch gerade mal eine Woche! Wie soll … Das ist …«
Ms Dutton kämpfte sich wieder nach vorn. »Noch ist es ja nicht so weit. Aber wenn …« Die Art, wie sie es aussprach, zeigte, dass sie eher von sobald ausging. »… wenn es so kommt, dann ist es so. Leben heißt Veränderung. Es gibt noch andere ausgezeichnete Schulen in Painmore. Vielleicht nicht gerade mit unserem sportlichen Profil, aber du könntest auch …«
Ihr Mund bewegte sich weiter, aber ihre Worte drangen nicht mehr zu Gray durch. Veränderung. Teil des Lebens. Hatte sie heute Morgen tatsächlich auf ihre Donuts verzichtet und stattdessen einen Sack Glückskekse gefuttert? Anders konnte sie nicht an den Spruch gelangt sein. Veränderungen waren Mist. Da brauchte sie nur seine Mutter fragen. Am besten von Angesicht zu Angesicht. Dazu musste sie sich aber aus ihrem Stuhl hieven, in ein Flugzeug steigen und knapp fünftausend Kilometer von Seattle nach Boston fliegen.
»… Ms Robinson gern die Adressen geben«, schaffte es Ms Duttons Stimme durch den Nebel, der unbemerkt vom See in ihr Büro gekrochen sein musste. Komischerweise schien er nur um Gray zu wabern. Er blinzelte ihn weg, und erst jetzt fiel ihm auf, dass seine Hände die Armlehnen des Stuhls so fest umklammerten, als wolle er sie ausreißen. Er atmete tief ein.
Box-Breathing. Eine Technik, die der Coach ihm für die stressigen Minuten vor einem Spiel gezeigt hatte: Man stellte sich ein Quadrat vor, holte vier Sekunden lang Luft und fuhr die obere Kante der Box nach rechts. Dann hielt man vier Sekunden die Luft an und folgte dabei der Linie nach unten. Man ging nach links, während man vier Sekunden ausatmete. Zum Schluss vervollständigte man das Rechteck, indem man in den vier Sekunden Atempause wieder nach oben stieg. Bei Bedarf wiederholte man das Ganze.
Aber jetzt hätte Gray vor seinem geistigen Auge bis zum Abwinken Rechtecke nachzeichnen können – geholfen hätte es nicht!
»Hast du gehört?«, fragte Ms Dutton. »Ms Robinson gibt dir gern die Adressen der Schulen, die ein Stipendienprogramm für, ähm …«
… finanziell in Schieflage geratene Familien anbieten? Wollte sie das sagen? Ms Robinson konnte ihn mal. Gray griff nach seinen Büchern und stand auf. »Danke, Ms Dutton. Nicht nötig. Ich kümmere mich darum.«
Mittwoch, 07. April, 11:34 Uhr, 559 5th Avenue, King-County-Strafanstalt, Seattle
»Bitte quittieren Sie den Empfang.«
Die junge Frau schob Asher Franklin eine Plastikschale mit seinen Habseligkeiten zu und legte das Formular zur Unterschrift daneben. Das Papier listete auf den Cent genau den Inhalt auf, den seine Brieftasche gehabt hatte, als sie Asher aufgriffen, die Anzahl der Streifen in der zerknautschten Packung Kaugummi aus seiner Hosentasche, das iPhone, seinen Schlüsselbund und weitere Kleinigkeiten.
Die Frau konnte nur unwesentlich älter als Asher mit seinen 21 Jahren sein. Die raspelkurzen Haare ließen sie eher wie ein Mädchen aus einer Gang aussehen als wie eine Beamtin eines staatlichen Gefängnisses. Die Frisur stand ihr. Asher warf einen Blick auf ihr Namensschild.
»Nichts geklaut, Officer Hernandez?«, fragte er und hoffte, dass sie sein Lächeln schelmisch fand. Spitzbübisch. Zwei tolle Begriffe, die er sich in dem Wörterbuch, das er zurzeit las, dick angestrichen hatte.
Die Beamtin wartete mit unbewegter Miene, bis er abgezeichnet und sich seine Sachen aus der Schale gegriffen hatte.
Dann eben nicht. Es war nicht die erste Abfuhr, die er erhielt. Das Los derer, die über kein markantes Kinn, interessante Grübchen, ausdrucksstarke Wangenknochen oder sonstige besondere Merkmale verfügten. Mittelgroß, normale Nase, allerweltsbraune Haare. Asher war der Typ Mensch, den man sofort wieder vergaß. Das wusste er selbst. Er drehte sich um.
»Beehren Sie uns bald wieder, Mr Franklin.«
Eigentlich genau sein Humor. Aber die blöde Kuh hatte ihre Chance gehabt. Wortlos lief Asher weiter und verließ das Gebäude.
Der hässliche Betonklotz war ein Schock gewesen nach dem Jugendgefängnis. Dort hatte Asher beinahe gern eingesessen, wenn sie ihn geschnappt hatten. Jetzt also sein erstes Vergehen als Erwachsener. Nichts, weswegen er sich Sorgen machen musste. Er hatte schließlich kein Gewaltverbrechen begangen. Er war nur mit einigen Gegenständen aus der Unterhaltungselektronik erwischt worden, deren rechtmäßigen Besitz er nicht hatte nachweisen können. Wie auch? Dass es sich um illegale Ware gehandelt hatte, wäre selbst dem dümmsten Cop aufgefallen. Wahrscheinlich sogar Officer »Ich-bin-lustiger-als-du« Hernandez.
Asher schlenderte die paar Straßen zu den Anlegestellen der Fähren am Hafen. Der Blick aufs Wasser half ihm stets, seine Gedanken zu sortieren.
Er suchte sich eine freie Bank und schaltete sein iPhone ein. Eins der wenigen Telefonate, die sie ihm gestattet hatten, hatte seinem Arbeitgeber gegolten. Landolf’s Import.
Der alte Landolf hatte getobt, als Asher ihn um einige Tage unbezahlten Urlaub gebeten hatte, bis das Gericht die Kaution festlegte. Aber was sollte er machen? Asher war sein bester Mann. Es lag Asher im Blut, die Bedürfnisse der Leute vorauszuahnen und frühzeitig die entsprechende Ware aus dem Ausland zu beschaffen. Sobald die Nachfrage stieg, musste Landolf nur noch verteilen, was dank Asher bereits in seinen Hallen lagerte. Kein Wunder, dass der Alte ihm inzwischen mehr oder weniger freie Hand ließ. Und ihm damit einige schöne »Zusatzgeschäfte« ermöglichte.
Das Telefon meldete etliche verpasste Anrufe. Die meisten Nummern kannte er. Ein Anrufer hatte seine jedoch mehrmals unterdrückt. Asher zählte zehn Versuche, ihn zu erreichen. Da schien aber jemand dringend mit ihm sprechen zu …
Als das Gerät erneut zu summen begann, hätte er es vor Schreck beinahe ins Wasser fallen lassen.
Also gut. Mal sehen, was du willst.
»Woher haben Sie meine Nummer?«
Die meisten Menschen zögerten, wenn Asher sich so meldete. Nicht aber dieser Anrufer: »Ich habe Sie schon länger im Blick, Mr Franklin. Sie haben einige interessante Dinge für ein paar meiner Geschäftspartner organisiert.«
»Zum Beispiel?« Asher war nicht dumm. Er würde von sich aus gar nichts sagen. Gut möglich, dass es eine Falle war. Officer Hernandez hatte er nicht in der Leitung, immerhin handelte es sich um einen Mann. Aber einen ihrer Kollegen vielleicht? Die Art, wie der Anrufer sprach, hatte einen besonderen Rhythmus. Beinahe eine Art Gesang. Sanft und angenehm. Einnehmend.
»Ich habe neulich auf einem Stuhl gesessen. Nicht sehr gemütlich, dafür aber exklusiv. Mir wurde berichtet, Sie hätten die Lieferung zur Zufriedenheit aller abgewickelt.«
»Möglich.« Die Stimme spielte auf das Möbelstück aus Elfenbein an, das ein Kontakt in Südafrika Asher vor einigen Monaten angeboten hatte. Das Ding war eher ein Thron als ein Stuhl gewesen. Angeblich hatte er einmal dem Häuptling oder König eines bedeutenden Zulu-Stamms gehört. Es war ein Wagnis gewesen, ihn mit dem Schiff in die Staaten zu schmuggeln. Aber es hatte sich gelohnt. Jetzt diente der Thron einem einflussreichen Drogenboss als Sitzgelegenheit in seinem vornehmen Loft. Asher hätte gern weitere lohnende Geschäfte in diesen Kreisen gemacht.
»Was wollen Sie, Mr …?«
Der Anrufer stieß ein glockenhelles Lachen aus. »Nennen Sie mich, wie Sie wollen. Mir reicht, dass ich Ihren Namen kenne, Mr Franklin. Ihre Anschrift. Im Grunde alles über Sie.« Die Stimme wurde zum Zischen einer Schlange. Nicht wirklich, aber die Absicht hinter den Worten war klar.
Asher kroch eine Gänsehaut über den Rücken, die nicht vom leichten Wind kam, der die Wellen in der Bucht kräuselte.
Die Stimme. The Voice.
Wie diese Castingshow, in der die Coaches mit den Rücken zu den Sängerinnen und Sängern saßen. Die Frage war, ob Asher sich umdrehen sollte.
»Was wollen Sie?«, wiederholte er.
Diesmal beantwortete ihm The Voice seine Frage.
Je länger Asher zuhörte, desto heftiger schlug sein Herz. Er erwischte sich dabei, wie er sein Knie rieb, als wäre es der Buzzer, den er nur noch drücken musste. Dabei rekrutierte der Anrufer gerade ihn, nicht umgekehrt, nicht wahr? Weil der ursprüngliche Mittelsmann Mist gebaut hatte und nicht mehr vertrauenswürdig war.
Asher filterte das nächste drohende Zischen aus dieser nebensächlich eingestreuten Information heraus. Sollte er ablehnen? Konnte er das überhaupt noch? Oder hatte er den Auftrag schon in dem Moment angenommen, als er abgehoben hatte?
So oder so, es war ein Geschäft, das ihm etliche Türen öffnen würde. Und es hatte einen Haken.