Brand. Eine deutsche Familiengeschichte/Chapters/Dass wir Geister sind - Bettina Erasmy - E-Book

Brand. Eine deutsche Familiengeschichte/Chapters/Dass wir Geister sind E-Book

Bettina Erasmy

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Beschreibung

Fritz und Greta lernen einander in den 50er Jahren kennen und gründen eine Familie. Die Geschäfts-idee von Fritz, sein Geld in Immobilien zu investieren, wird sich als goldwert erweisen. Deutschland wird nach den Zerstörungen des Krieges schnell wiederaufgebaut und Fritz wirkt kräftig mit am Wirtschaftswunder. Die Kinder Michael und Paulina wachsen in scheinbar gesicherten Verhältnis-sen auf. Doch sie tragen mit, was die Eltern belastet: das Schweigen über traumatische Erfahrungen, die sie als Kriegskinder in Bombennächten oder auf der Flucht erlebt haben, die verdrängte Trauer um Verstorbene. Bettina Erasmy erzählt die komplexe Geschichte einer westdeutschen Familie über den Zeitraum eines halben Jahrhunderts hinweg. Wie Traumata und Gefühlskälte sich einschreiben in die DNA einer Familie, darüber schreibt die Dramatikerin in leichtfüßigen und auch komischen Dialogen. Mit liebevoller Distanz entwirft Erasmy Bühnenfiguren, die einem nahegehen, und schreckt nicht zurück vor drastischen Bildern, die deshalb so stark berühren, weil sie an kollektive Erfahrungen rühren.

Dieser Band vereint neben Brand. Eine deutsche Familiengeschichte zwei weitere Stücke der Dramatikerin Bettina Erasmy: Chapters ist das Protokoll eines Ausstiegs, ein Roadmovie, in dem die Protagonistin eine scheinbar gesicherte Existenz eintauscht gegen ein Leben auf der Straße. Dass wir Geister sind erzählt wie Brand eine Familiengeschichte: Zwei Jahre nachdem Klaus am Tag sei-ner Verlobung mit Anna bei einem Autounfall stirbt, ist er wieder da, ausgerechnet am Tag der Verlobung von Anna und Malte.

Die besondere Stärke von Erasmys Stücken liegt in der Schärfe und Genauigkeit einer glasklaren Sprache, in der Leichtigkeit und im Esprit der Dialoge, in der Erzählhaltung, in der Tragödien ohne Ironie und Komödie nicht zu denken sind.

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Bettina Erasmy

Brand. Eine deutsche Familiengeschichte/Chapters/Dass wir Geister sind

Suhrkamp

Für Vincent

Inhaltsverzeichnis

Brand. Eine deutsche Familiengeschichte

Chapters. Monolog mit vielen Stimmen

Dass wir Geister sind

Leben und Erzählen ‒ über Chapters

Stücke von Bettina Erasmy im Suhrkamp Verlag

Veröffentlichungen im Suhrkamp Verlag

Brand

Eine deutsche Familiengeschichte

Personen

Großmutter Else Berg, geb. 1912

Greta Schüller, ihre Tochter, geb. 1936

Fritz Schüller, Gretas Mann, geb. 1935

Sohn und Tochter von Fritz und Greta

Michael Schüller, geb. 1960

Paulina Schüller, geb. 1961

Kowalczyk, Fritz' polnische Schwester, geb. 1944

Jonathan Tolbin, Gretas afroamerikanischer Sohn, geb. 1955

Christina Schüller, Michaels Frau, geb. 1963

Frederik, Paulinas Freund

Sebastian, Paulinas Freund

Gosia, Krankenpflegerin

Herr Bonnstetter, Anwalt der Familie

Die Stimme der Stadt

Die Stimme der toten Großmutter

Ort

Eine deutsche Großstadt an einem Fluss

1959Himmel & Hölle

Die Wohnung von Mutter Else und Greta. Sozialer Wohnungsbau der 50er Jahre. Im Wohnzimmer. Möbel zwischen Altdeutsch und Eiche rustikal. Ein Buffet aus den 30er Jahren, eine Schrankuhr, die laut tickt. Ein Röhrenradio. Alles wirkt wie unverrückbar. Penible Sauberkeit. Es riecht nach 4711. Fritz und Greta, etwas Zeit vergeht, bevor Greta sich irgendein Thema herausgreift.

Greta Ich habe gelesen, dass es tote Sterne gibt, die aber immer noch scheinen.

Fritz Oh.

Greta Ja. Das muss man sich mal vorstellen. Ich sehe etwas, das aus etwas herauskommt, also dem Stern, aber den Stern, den gibt es gar nicht mehr.

Fritz Ich … also, ich kenne mich da nicht so aus, die sind mir zu weit weg, die Sterne.

Pause.

Fritz Ich halte mich lieber an Dinge, die ich in Händen halten kann. Zum Beispiel das Auto mit dem Stern. Irgendwann, bald, werde ich mir einen Mercedes kaufen, weißt du, der ist wirklich bequem. Und schnell.

Pause.

Greta Ich mag alles, was schnell ist. Autos, Flugzeuge, Raketen.

Fritz Oh. Wieso Raketen?

Greta Einmal in einer drin sitzen und dann rein in den Himmel.

Pause.

Fritz Ich mag Gewitter. Dann stehe ich draußen und beobachte die Blitze. Und ich mag auch den Regen.

Pause.

Greta Hast du dich schon mal gefragt, ob … also, stellst du dir manchmal vor, wo du in ein paar Jahren sein wirst.

Fritz Ja, klar, irgendwie schon. Und du?

Greta Sag du zuerst.

Fritz Also auf jeden Fall nicht mehr da, wo ich jetzt bin. Das ist klar. Und du?

Greta Ich auch.

Fritz ‒

Greta Ganz sicher was anderes. Das weiß ich. Ich will tanzen.

Fritz Deine Mutter hat davon erzählt.

Greta Dass sie mich rausgenommen hat aus der Ballettschule, das auch? Ich war so gut, dass ich auf die Bühne sollte, eine richtig große Bühne. Aber sie wollte nicht, und dann durfte ich nicht.

Pause.

Greta Ich würd gern nach Amerika. Modern Dance. Kennst du Martha Graham?

Fritz Weiß nicht, nein.

Greta Amerika! Irgendwann mal. Einfach nur da sein und nicht mehr hier.

Fritz Wirklich?

Greta Amerika ist ein freies Land.

Fritz Deutschland jetzt auch.

Greta Die Freiheit kommt von den Amerikanern.

Fritz Unser Land wieder aufbauen. Das will ich, damit es ein besseres Land wird. Ich will, dass es das beste Land wird.

Greta Aha.

Fritz Mein Vater hat nicht mehr viel gesprochen, er kam aus der Kriegsgefangenschaft zurück, lag meistens auf dem Sofa und blickte an die Zimmerdecke. Ich wollte, dass er mit mir redet. Egal was, irgendwas. Ich war klein, als er an die Front ging, und als er zurückkam, war ich einen Kopf größer als er. Er hat einfach nicht mehr gesprochen. Dann wurde er krank, überall Knoten am Hals. Hat sich ins Bett gelegt und ist nicht mehr aufgestanden. Kurz bevor er starb, hat er mich an sich gezogen. »Denk an deine Mutter«, hat er geflüstert. »Und denk an Deutschland.« Ich habe es genau gehört. »Denk an Deutschland, Fritz.«

Greta Ich häng nicht dran. Ich kann auch gut woanders leben.

Fritz Amerika ist weit weg. Europa ist auch schön.

Greta Die leben in riesigen Städten, auf die ist nie eine Bombe gefallen. New York wächst immer weiter, immer höher, immer schneller. Millionen von Menschen bewegen sich durch die Stadt, friedlich wie ein Vogelschwarm. Wenn du vom Empire State Building runterschaust, kommen dir die Straßenschluchten vor wie die Linien auf einem Mühlebrett. Und dann setzt du dich in New York ins Auto, fährst 4000 Kilometer bis nach Kalifornien, sprichst immer noch dieselbe Sprache und bezahlst immer noch mit Dollars. Und hast alles gesehen, was man einmal im Leben gesehen haben sollte, Urwälder, Wüsten, die Rockys, Indianer, Cowboys, Grand Canyon, ein Land wie ein Film. Und in Los Angeles läufst du James Dean über den Weg. Wenn er noch leben würde.

Fritz Woher weißt du das alles?

Greta ‒

Fritz Ich mag Liz Taylor. Sie dreht gerade wieder einen Kinofilm, habe ich gelesen.

GretaDie Katze auf dem heißen Blechdach. Mit Paul Newman. Ich liebe Paul Newman.

Fritz Du liebst ihn?

Greta Ja.

Fritz So wie man einen Filmstar liebt.

Greta Nein. Ich liebe ihn.

Pause.

Fritz Wir könnten mal ins Kino gehen. Möchtest du das?

Man hört die Stimme von Mutter Else.

Greta Meine Mutter führt manchmal Selbstgespräche.

Fritz Wirklich?

Greta Sie wird alt.

Fritz So alt ist deine Mutter doch gar nicht. Mein Chef ist sehr zufrieden mit ihr. Schnell, zuverlässig und sehr beliebt. Arbeitet viel. Tüchtig.

Greta Kurz vorm Krieg hat sie meinen Vater verloren. Er hatte einen Herzinfarkt und ist die Treppe runtergefallen. Sie weiß nicht, ob er an einem Genickbruch oder am Herzinfarkt gestorben ist. Und im Krieg sind dann meine Brüder umgekommen. Der eine an Typhus. Der andere hat in einem zerbombten Haus gespielt und ist von Trümmern erschlagen worden. Seitdem spricht sie mit sich selbst.

Fritz Sie ist immer noch attraktiv.

Greta Ist gut jetzt.

Fritz In der Mittagspause stehen wir zusammen und rauchen eine Zigarette.

Die Stimme von Mutter ElseGreta spricht ihr nach. Hör mit dem Rauchen auf. Das schickt sich nicht für eine junge Frau.

Greta Meine Mutter wirft mich aus der Wohnung, wenn ich rauchen will.

Fritz Einmal hat sie mich gefragt, ob es eine Frau an meiner Seite gibt. Und mich zum Kaffee eingeladen.

Greta Sie hätte mich fragen müssen.

Fritz Du warst nicht einverstanden, dass ich komme?

Greta Die Augen meiner Mutter sind grau, aber sie werden blau, wenn sie von dir redet.

Fritz Deine Mutter ist wirklich sehr nett.

Greta »Es gibt da einen technischen Zeichner, der sieht sehr gut aus. Der ist wirklich ein anständiger Mensch«, hat sie gesagt, mit so großen Augen.

Fritz Ja, sie hat schöne Augen. Deine Mutter ist wirklich sehr nett.

Greta Das sagtest du schon.

Fritz Und du bist auch sehr sympathisch.

Greta Als die Bomben auf die Stadt fielen, wurden wir aufs Land verschickt. Am Bahnhof hat sie mich vergessen, ist einfach allein in den Zug gestiegen.

Pause.

Fritz Sie hat gesagt, du seist sehr hübsch und sehr klug. Du wüsstest immer alles besser.

Greta Sie kennt mich nicht.

Fritz Du arbeitest nicht gerne als Sekretärin, sagt sie.

Greta Eine kaufmännische Lehre? Das war ihre Idee. Ich hasse es. Und dann noch die Hälfte von meinem Gehalt abgeben. »Die Arbeit als Sekretärin ist das Beste, was einer unverheirateten Frau passieren kann.« So 'n Quatsch.

Fritz Komm doch zu uns, da verdienst du garantiert mehr.

Greta Es reicht, wenn wir hier aufeinanderhocken.

Fritz Du bist wirklich sehr hübsch.

Pause.

Greta Glaubst du, dass irgendwann mal alle Sterne erloschen sind, und dann ist der Himmel schwarz?

Fritz Was hast du nur immer mit den Sternen?

Greta Ohne Sterne wüssten wir gar nicht, dass es einen Himmel gibt.

Fritz Wo all die guten Toten leben.

Greta Du glaubst an so was?

Fritz An Himmel und Hölle? Ja.

Greta Der Himmel ist langweilig, da ist alles nur weiß und ruhig, und alle lächeln wie blöde Irre.

Fritz Besser als die Hölle. Die möchte ich mir erst gar nicht vorstellen.

Pause.

Greta Kino ist eine gute Idee. Ein Film mit James Dean. Ich könnte ihm stundenlang zuschauen, wie er dasteht und sich anlehnt und eine Zigarette raucht und ins Leere starrt. Feiner Staub weht über der Prärie und dringt durch jede Ritze, aber sein Unterhemd bleibt immer weiß.

Fritz Und James Dean liebst du auch?

Greta Ja, den noch mehr als Paul Newman.

Die Stimme der Stadt Nach dem Angriff entstanden große Flächenbrände, die sich auf alle Stadtviertel ausdehnten, man konnte nichts machen, nichts löschen, weil die Wasserschläuche bei der klirrenden Kälte eingefroren waren, in den Leitungen hatten sich Eiskrusten gebildet. Sie verbrannten, die, die vorher trotz Kälte nicht erfroren und verhungert waren, brannten jetzt lichterloh, ihre Körper waren schon schwarz geworden und klein wie Kinder. Nach einer Weile versammelten sich Frauen, alte Männer in den zerstörten Straßen, standen vor den eingeschlagenen Gesichtern der Fassaden und schauten nach den Leichen, horchten in die Stille und trauten sich nicht, laut zu sprechen, aus Angst, der Boden, der eben noch geschwankt hatte, könnte sich mit einem lauten Wort ganz auftun und würde sie verschlucken. Manche liefen immer noch mit offenem Mund herum, weil man ihnen gesagt hatte, sie sollten bei Luftdruck den Mund aufhalten. In der eisigen Kälte atmeten sie die Winterluft, die nach Schwefel, Rauch und Verwesung roch, sie zitterten, weil der Angstschweiß jetzt trocknete und wie eine kalte Membran auf ihnen klebte. Da half auch nicht der Mantel, den sie jemandem weggenommen hatten, der es nicht bis zum Keller geschafft hatte, der stand noch an der Mauer gelehnt, seine Augen weit aufgerissen, als habe er sehen wollen, ob die Gefahr wirklich so groß sei. Aber seine Taschenuhr tickte noch, und in der Brieftasche steckte Geld. In Zinkeimern wurde alles Mögliche transportiert, in Waschbütten, in Jutesäcken, ein weinender Junge zog einen Eimer hinter sich her und fragte nach dem Friedhof. Einige standen benommen herum, als hätte eine der Bomben Chloroform freigesetzt, andere fingen an zu lachen und hielten sich an den Händen, und jetzt tanzten sie in den Trümmern, als sei eine Saite in ihnen zersprungen. Die Haut war vor Schreck totenbleich geworden, die Haare wurden durch die Druckwelle vom Kopf gerissen, und sie erkannten sich, weil ihnen nichts mehr fremd war.

1959Elvis & rollende Treppen

Abend. Greta und Fritz gehen am Fluss entlang. Er füllt sich allmählich mit den Lichtern der Stadt.

Fritz Schau dir diese Stadt an.

Greta Ja. Und?

Fritz Wenn sie erst wieder vollständig aufgebaut ist, wird sie eine der schönsten Städte sein.

Greta Den Fluss, den mag ich. Und die Friedhöfe. Alles andere ist austauschbar.

Fritz Wie tüchtig die Menschen hier arbeiten. Wie tüchtig das Land ist. Überall wird gebaut. Die alte Einkaufsstraße, da stand nichts mehr, und heute, ein Geschäft neben dem anderen, der neue Plattenladen, hast du den schon entdeckt, da gehen wir morgen hin, ich kauf dir die neue Single von Elvis.

Greta Ich mag Elvis nicht.

Fritz Und warst du schon im Kaufhof, diese riesigen Rolltreppen, alles deutsche Ingenieurskunst …

Er will mit ihr tanzen.

Fritz Komm, Greta, Männer in Friedenszeiten wollen tanzen.

Greta weicht aus. Er singt »Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg«. Will sie an die Hand nehmen.

Greta Lass das.

Fritz Diese alten Kamellen, nicht wahr.

Greta Ich hab's mal ins Englische übersetzt. Maybug fly. Your father has to die. Your mother is in Pommerland, in Pommerland has fire fanned, maybug fly. Klingt einfach besser. Nicht so traurig, finde ich.

Fritz Du kannst Englisch?

Greta Hab ich mir selbst beigebracht. Ich wollt's immer schon lernen. Nach dem Krieg hat mir ein Ami einen Kaugummi geschenkt. »You like it, sweetheart?«

Fritz Was heißt das?

Greta Musst du selbst rausfinden.

Fritz Du kannst stur sein, oder?

Greta Und wenn der Kaugummi nicht mehr schmeckt, »just put some toothpaste to it«.

Pause.

Greta Magst du deine Arbeit?

Fritz Ich will hoch hinaus, weißt du. Viel Geld verdienen. Als technischer Zeichner kommst du nicht weit. Ich werde bald was Besseres finden.

Greta Und Geld magst du auch?

Fritz Na klar, du nicht? Ich will die Welt sehen, eine Familie ernähren, eine große Wohnung haben.

Greta Ich verdiene mein eigenes Geld.

Fritz Aber es macht dir doch keinen Spaß.

Greta Ich hab's mir anders überlegt, ich werde nicht tanzen, ich werde Kleider entwerfen, ich kann sehr gut nähen. Das Kleid hier, mein Entwurf.

Fritz Du siehst sehr hübsch aus. Kurze Pause. Darf ich dich küssen?

Greta Keine Ahnung.

Fritz Darf ich?

Greta lässt es geschehen.

Fritz Hmm, willst du nochmal?

Greta Nein.

Fritz Wir könnten über die Brücke gehen und die Stadt von der anderen Seite ansehen. Da ist sie noch schöner.

Greta Die Stadt ist überhaupt nicht schön. Immer noch grau vom Krieg. Du gehst durch die Straßen und denkst, du lebst jetzt auf einem verwandelten Planeten.

Fritz Ich wette, das war nicht dein erster Kuss. Es hat sich angefühlt, als ob du nicht zum ersten Mal einen Mann küsst.

Pause.

Fritz Magst du mich? Pause. Ein bisschen?

Greta Ich lade dich zum Eis ein, und dann sage ich's dir.

1959Himmel & Hölle 2

Wochen später. Wohnzimmer. Greta trägt ein gepunktetes Kleid. Sie hat den Blumenstrauß auf dem Sofatisch abgelegt. Fritz sieht Greta an. Ihm fällt nicht auf, dass sie sich geschminkt hat. Sehr rote Lippen. Etwas Zeit vergeht.

Fritz Ich habe noch mal über die Sterne nachgedacht.

Greta Ach ja?

Fritz Ja. Nein. Ich meine, ich habe über das nachgedacht, was du gesagt hast, und dann kamen mir plötzlich andere Fragen in den Sinn.

Greta  ‒

Fritz Zum Beispiel, woher die Erde die Kraft hat, sich um die eigene Achse zu drehen? Und ob das eines Tages mal aufhört, weil sie zu müde wird?

Greta Keine Ahnung.

Fritz Und wenn man tiefer und tiefer ins Universum schaut, dann wird's immer unheimlicher, weil die Fragen nicht mehr aufhören und die Antworten immer schwieriger werden.

Pause.

Fritz Na ja, das Universum existierte 13 Milliarden Jahre ohne mich.

Greta Du weißt viel.

Fritz Und dann hatten meine Eltern, also, dann hatten meine Eltern, ich meine …

Greta Geschlechtsverkehr.

Fritz … ja … ähm … und zufällig fand dieses eine … ähm … du weißt schon … den Weg zur Eizelle. Wenn also dieses … Spermading von einem anderen überholt worden wäre, wäre eine andere Person auf die Welt gekommen. Dass wir existieren in diesem Universum, ist doch wie der Gewinn in einer Lotterie. Das ist unheimlich.

Greta Also doch keinen Himmel und keine Hölle?

Fritz Naja, ich weiß nicht. Pause. Du bist nicht wirklich sonderlich gesprächig.

Greta Eigentlich schon.

Fritz Ich bin auch eher der stille Typ. Aber du fällst auf.

Greta Ich gefalle dir, weil ich gut aussehe?

Fritz Ja. Ist … ist das falsch?

Greta Was gefällt dir an mir?

Fritz Was meinst du? Na, alles.

Greta Nein, sag, was genau findest du an mir schön. Meine Augen?

Fritz Nein, ich meine ja. Deine Augen sind schön, aber auch dein Mund ‒

Greta Warum?

Fritz Warum?

Greta Ja, warum findest du meinen Mund schön?

Fritz Der ist so hübsch geschwungen, wie bei den Engeln, die ich mir so gerne in der Kirche anschaue … Und wenn du sprichst, schiebst du die Lippen nach vorn, wie diese Französin, wie … Birgit Bardot.

Greta Brigitte Bardot.

Fritz Und deine aufrechte Haltung, wenn du gehst, … siehst du aus, als würdest du über dem Boden schweben.

Greta Und magst du meine Schultern?

Fritz Ich … ich habe sie mir noch nicht ‒

Greta Und meine Beine? Sie hebt das Kleid an.

Fritz Ja … sie sind muskulös … schlank und muskulös, das ist … das ist sehr … Und deine Hände … deine Hände sind wirklich wunderschön. Ein Ring würde sehr schön an deiner Hand aussehen.

Gretazieht Fritz an sich, küsst ihn. Wir haben zwei Stunden.

Später. Greta tanzt zu einem Song von Ray Charles, der im Radio läuft.

Fritz Was machst du da?

Greta Wonach sieht es denn aus?

Die Stimme von Mutter Elsesingt. Liebe liegt nur auf der Zunge, Liebe ist nur ein Wort, aber mehr ist es nicht, Liebe ist nur ein Wort.

Fritz Also Elvis singt da nicht.

Greta Ray Charles.

Fritz Du magst Ray Charles?

Greta Der hat unheimlich viel Rhythmus im Blut.

Fritz Ray Charles ist ein Neger.

Greta Ja.

Fritz Und vielleicht ist ja auch wirklich was dran, an der Musik, kann ja sein ‒

Greta Oh ja, so vertraut wie mein eigener Atem.

Fritz Aber … aber sie sind eine andere Rasse.

Greta Ja.

Fritz Sie sind anders als wir.

Greta Jeder von uns ist anders.

Fritz Ja, aber diese Rasse ist doch schon sehr verschieden von der weißen Rasse.

Greta Sie sind schwarz, und wir sind weiß.

Fritz Man sagt, dass sie anders riechen. Zum Beispiel.

Greta Und wenn schon. Anders, aber gut.

Fritz Ich glaube einfach, dass sie noch viel von uns lernen müssen.

Greta Ja, zum Beispiel, wie man Millionen von Juden ermordet.

Fritz Das meine ich nicht.

Greta Was meinst du dann?

Fritz Ich meine, sie sind noch nicht so weit. Bei uns hat es ja auch Jahrhunderte gedauert, bis die weiße Rasse einigermaßen zivilisiert war, bis große Ideen und Erfindungen uns so einzigartig gemacht haben.

Greta Einzigartig … Stimmt.

Fritz Du brauchst nicht ironisch werden.

Greta Du redest Schwachsinn.

Fritz Ich mag das nicht, wenn du so mit mir sprichst.

Greta Wir kennen uns schon eine Weile, wir müssen nicht mehr so förmlich sein.

Pause.

Fritz Greta, ich würde dir gerne … ich habe eine Entscheidung getroffen, ich möchte dir etwas sagen, und vielleicht wäre es schön, wenn auch deine Mutter dabei wäre.

Greta Besprich das erst mit mir, und dann sage ich dir, ob meine Mutter dabei sein soll.

Fritz Na ja, eigentlich sind es zwei Entscheidungen … du hast Recht, es betrifft zunächst einmal nur uns … und besonders dich … das heißt, wenn du einverstanden bist. Also … ich habe mich dazu entschlossen … ich habe gekündigt!

Greta Aha.

Fritz Nächsten Monat fange ich in einem Immobilienbüro an. Ich werde in die Immobilienbranche einsteigen … Was hältst du davon?

Greta Du hast dich doch schon entschieden.

Fritz Ja. Aber deine Meinung ist mir wichtig.

Greta Keine Ahnung.

Fritz Soll ich dir erklären, was meine neuen Aufgaben sein werden?

Greta Eines Tages wirst du dich selbständig machen und dein eigenes Immobilienbüro haben wollen.

Fritz Eine Branche mit einer großen Zukunft, Greta. Und gerade in unserer Stadt, die so dem Erdboden gleichgemacht wurde. Freiflächen ohne Ende, Brachland. Alles Bauland. Die Wohnblocks werden wie Pilze aus dem Boden schießen, die Bevölkerung wächst und wächst, alle wollen komfortabel wohnen. Und dann brauchen wir noch Büroräume. Ist dir schon mal aufgefallen, wie viele Büroräume gesucht werden? Gewerberäume! Ladenflächen! Unsere Wirtschaft explodiert, und jetzt ist die Zeit da, auf diesen Zug zu springen und in eine goldene Zukunft zu fahren.

Greta Du scheinst dir sehr sicher zu sein.

Fritz Tausendprozentig.

Greta Du wirst viel Geld verdienen.

Fritz Und wenn ich meine eigene Firma habe, stelle ich dich als Sekretärin ein. Du wirst eine großartige Sekretärin sein.

Greta Ich werde Mode entwerfen.

Fritz Das ist ein sehr schönes Hobby.

Greta Coco Chanel ist unsterblich geworden.

Fritz Wer?

Greta Christian Dior!

Fritz ‒

Greta Givenchy.

Fritz Ich gehe in eine Bar, und der Barkeeper will mir einen Martini ausgeben, und ich sage, »nein, keinen Martini, Champagner«, und gebe ihm ein sehr üppiges Trinkgeld, sitze auf dem Barhocker mit meinem neuen Anzug von C&A, unter dem blütenweiße Hemdmanschetten hervorblitzen, ich rieche mein Deodorant, ich rieche mein Eau de Cologne, ich zittere immer noch, »ich habe gerade ein glänzendes Geschäft abgeschlossen«, sage ich zu dem Barkeeper, ich weiß, dass das der Anfang einer Geschichte ist, die gut ausgehen wird, am liebsten würde ich jetzt dreißig Jahre in meine Zukunft sehen, aber das muss ich nicht, ich kann ganz ruhig sein, ich weiß, es wird gut ausgehen.

Greta Und was war deine zweite Entscheidung?

Fritz Ach ja … Liebe Greta.

Er fällt vor ihr auf die Knie.

Fritz Liebe Greta, willst du meine Frau werden?

Schweigen.

Fritz Ich werde dich lieben, dich schützen, auf Händen tragen, dir ein guter Ehemann sein und ein guter Vater für unsere Kinder. Wir werden nach Italien reisen, an die französische Riviera, und wenn du willst, sogar nach Amerika. Ich werde dir alle deine Wünsche von den Augen ablesen, dir wird es an nichts mangeln ‒

Greta Meine Augenfarbe? Nicht hingucken.

Fritz Was? Blau.

Greta Braun.

Fritz Was sagst du?

Greta Unter einer Bedingung.

Fritz Alles, mein Engel.

Greta Dann zwei Bedingungen. Die erste: Nenn mich nicht Engel.

Fritz Alles, was du willst.

Greta Die zweite Bedingung: Ich werde mein eigenes Geld verdienen, unsere Familie mit ernähren.

Fritz Das heißt, du kannst dir auch Kinder vorstellen?

Greta Aber ich werde nicht am Herd stehen den ganzen Tag, und auch nicht die Kinder hüten, wir werden eine Haushälterin einstellen.

Fritz Ich bin ein moderner Mann, und der sagt ja, wenn seine Frau ihren eigenen Kopf hat.

Greta Lass uns bald heiraten, bevor ich es mir anders überlege.

Fritz Oh Greta. Du machst mich zum glücklichsten Mann der Welt.

Greta Ich habe auch schon eine Idee, wie wir an eine große Wohnung kommen.

Fritz Liebst du mich denn auch?

Greta Die Liebe kommt und geht. Man kann sich nicht auf sie verlassen.

Fritz Aber jetzt? Was fühlst du jetzt?

Greta Vielleicht hat's ja heute schon geklappt mit dem Kind. Ist das nicht Liebe genug?

Die Stimme der Stadt An einem Tag im Frühling 1959 stand sie an der Haustür eines Ziegelhauses in der Lindenstraße. Sie fand zwar die Hausnummer nicht, aber sie erkannte die alte Buche im Vorgarten, auf die sie geklettert waren, und es gab immer noch das Gitter vor dem Souterrainfenster. Das Haus hatte den Krieg scheinbar unbeschadet überstanden, nur eine Schornsteineinfassung schien erneuert worden zu sein. Sie trat zur Seite und konnte durch ein Fenster in ein großes Zimmer blicken. In diesem Zimmer hatten sie und ihre Freundin erste Ballettschritte geübt. Die Mutter der Freundin spielte auf dem Klavier und gab zur Belohnung selbst gemachte Karamellbonbons. In einer Ecke des Zimmers, neben dem Kamin, hing eine alte Fotografie, sie zeigte ein geräumiges Zimmer mit hohen Decken, eine Frau winkte in die Kamera. »Das ist meine Großmutter«, hatte die Freundin erzählt. Auf dem Grundstück ihrer Großeltern war man auf Reste einer römischen Wasserleitung gestoßen, und der Großvater hatte dort eine Fabrik errichtet, die Steinzeugflaschen für den Handel mit Mineralwasser herstellte. Auf dem Klavier stand immer einer dieser braunen Krüge, aus dem die Mutter den durstigen Kindern nach den Übungen das Wasser einschenkte. Im Februar 1942 wurden ihre Freundin, deren Eltern und Großeltern abgeholt. Die Fabrik brannte bis auf die Grundmauern ab, es hieß, das Wasser in den Flaschen sei von jüdischem Blut verseucht gewesen.

1960Blütenköpfe & Zigaretten

Ein italienisches Restaurant. Italienische Schlagermusik. Greta, hochschwanger, und Fritz. Die beiden sind jetzt verheiratet. Fritz legt eine weiße Rose auf den Tisch.

Greta Oh, danke.

Fritz Wie geht es dir, Schatz?

Greta Zieh erst mal deinen Mantel aus.

Fritz Entschuldige. Ich bin mit meinen Gedanken noch ganz woanders. Es war ein langer Tag. Die neue Sekretärin ist ein wenig lahm. Dazu fünf Wohnungsbesichtigungen, ich bin total erschöpft.

Greta Ich finde die Stimme deiner Sekretärin ein wenig schrill am Telefon. Wenn ich mir vorstelle, es rufen Kunden bei euch an, und sie trällert so ‒

Fritz Du hast Recht, Schatz. Ich sage ihr, sie soll etwas tiefer sprechen.

Greta Hast du bei meiner Mutter angerufen?

Fritz Ach Gott, das habe ich vergessen, entschuldige, Schatz.

Greta Nenn mich nicht immer Schatz.

Fritz Wie soll ich dich denn nennen? Also ich nehme nur eine Pizza heute, wie immer, viel Käse und Salami. Was nimmst du?

Greta Ich habe schon bestellt. Und einen halben Liter von diesem Chianti. Es reicht, wenn du Greta sagst, aber wenn du willst, kannst du Darling sagen. Das heißt Schatz, aber auf Englisch klingt es nicht so ernst.

Fritz Ich weiß, dass Darling auf Deutsch Schatz heißt. Du solltest in deinem Zustand keinen Alkohol trinken.

Greta Und du solltest Englisch lernen. Wenn du dich eines Tages selbständig machen willst. Du wirst vielleicht internationale Kontakte aufbauen wollen. Wohnungen und Häuser gibt es auch in anderen Ländern zu verkaufen. Ferienhäuser zum Beispiel. Die eigenen vier Wände, auch im Urlaub. Es gibt heute genügend Leute, die sich das leisten können.

Pause.

Greta Was starrst du mich so an?

Fritz Das ist wirklich gut! Auf die Idee hätte ich auch selbst kommen können.

Fritz/Greta Manchmal stellen sie sich vor, jemand anderes zu sein. Das Kind in Gretas Bauch erinnert sie daran, wie sie sich als Kind mal in einem Tonkrug versteckte und dachte, »ich warte einfach, bis der Wal mich wieder ausspuckt«. Und Fritz … er kauft seiner Frau Blumen, er sieht sie in der Vase stehen, alkalisch weiße Blütenköpfe, und dann nimmt er die Schere, und schnipp, schnapp, schnipp, schnapp, sind alle Köpfe ab.

Fritz starrt vor sich hin.

Greta Was ist los mit dir?

Fritz Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass wir deine Mutter quasi … genötigt haben, umzuziehen.

Greta Als sie von der Schwangerschaft erfahren hat, war ihr von vorneherein klar, dass wir in ihre Wohnung ziehen. Sie hat es provoziert, sie hat es darauf angelegt, dass wir uns so um sie bemühen. Die Wohnung war ihr egal. Abgesehen davon, ihre neue Wohnung ist doch viel passender für sie.

Fritz Sie hat es schwer gehabt. Der Tod deines Vaters, der Krieg, der Verlust deiner Brüder.

Greta Das haben viele durchmachen müssen.

Fritz Die Hungersnot nach dem Krieg. Meine Mutter konnte mit mir zu Verwandten aufs Land, die haben uns durchgefüttert. Aber deine Mutter musste hier in der Stadt zusehen, wie sie mit dir durchkam.

Greta Wie sie das wohl geschafft hat?

Fritz Wie meinst du das?

Greta Frag sie doch mal.

Fritz Wieso? Was hat sie dir erzählt?

Greta Nichts. Sie redet nicht drüber. Nicht über den Krieg, nicht über die Zeit danach. Aber ich hatte ja Augen im Kopf.

Fritz Und … was hast du bestellt?

Greta Also, eines Tages kam ich aus der Schule, ich war krank und durfte nach Hause ‒

Fritz Eigentlich will ich's gar nicht hören.

Greta Und ich schließe die Wohnungstür auf und ‒

Fritz Hör auf!

Greta Es war der Priester!

Fritz Hör auf! Das ist widerlich!

Greta Ihr Beichtvater!

Fritz Das bildest du dir ein.

Greta Und woher kamen Brot, Butter, die Zigaretten?

Fritz Du hast wirklich eine überschießende Fantasie.

Greta Selbst im Luftschutzkeller hat sie ihr Kleid hochgezogen. Wir haben uns wimmernd und schreiend die Ohren zugehalten, und sie hat den alten Männern ihre Beine gezeigt.

Fritz Ich möchte das nicht hören.

Fritz/Greta Eines Tages stellen Fritz und Greta fest, dass sie ähnliche Träume haben, es gibt Szenen darin, in denen sehen sie sich selbst von oben, so, als ob sie zweimal auf der Welt wären, als gäb's von ihnen eine identische Kopie. Aber in Fritz' Traum tut der eine Fritz nichts für den anderen Fritz. Also zum Beispiel sieht er sich weit unten in ein Feuer laufen, er läuft geradewegs auf ein Feuer zu, aber der Fritz von oben wird nicht eingreifen und ihn davon abhalten. In Gretas Traum versucht sie vor einem Feuer zu fliehen, es ist einer dieser typischen Träume, wo man nicht von der Stelle kommt, sie will also vor dem Feuer fliehen, die Greta oben reicht der Greta unten die Hand und will sie wegzerren, sie halten sich ganz fest an der Hand, aber jetzt kommen beide nicht von der Stelle und verbrennen.

Fritz Lass uns … lass uns einfach diesen Abend genießen, Greta. Was hältst du davon, wenn …

Greta Ja, bestell eine Flasche Sekt.

Fritz Nein, das meine ich nicht.

Greta Ich aber. Es gibt was zu feiern. Aus Berlin hat sich ein Modeatelier gemeldet. Ich soll mich dort vorstellen. Kurze Pause. Und was wolltest du sagen?

1960Tisch & Bett

Alles neu. Zierliche Polstersessel, funktionale Musiktruhe, ein kleiner Barschrank, Blumenhocker mit einer riesigen Monstera deliciosa. Michael liegt in der Wiege. Greta hat ihm eben noch die Flasche gegeben. Jetzt raucht sie eine Zigarette. Es ist Sonntag. Fritz liest den »Stern«.

Fritz