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Als die Polizei einen unbewaffneten schwarzen Teenager erschießt, brechen in Los Angeles Unruhen aus, die Erinnerungen an den Fall Rodney King wachrufen. Inmitten dieser aufgeheizten Atmosphäre müssen sich zwei Familien ihrer Vergangenheit stellen. Grace Park, 27, arbeitet in der familieneigenen Apotheke, ihre aus Korea eingewanderten Eltern haben ihr immer ein behütetes Leben geboten. Doch dann erfährt Grace, dass ihre Mutter vor dreißig Jahren Ava Matthews erschoss – sie hatte die junge Schwarze fälschlicherweise für eine Ladendiebin gehalten und kam vor Gericht mit einem sehr milden Urteil davon. Shawn Matthews, Avas Bruder, hat Politik und Protest inzwischen abgeschworen, doch die aktuellen Ereignisse brechen alte Wunden auf. Als ein weiteres schockierendes Verbrechen die Stadt erschüttert, wird Shawn mit der Frage konfrontiert, ob wirklich alle in seiner Familie ihre Dämonen im Griff haben ...
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Seitenzahl: 441
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BRANDSÄTZE
STEPH CHA
Aus dem amerikanischen Englisch von Karen Witthuhn
ars vivendi
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Your House Will Pay bei ecco/HarperCollins Publishers.
Copyright © 2019 by Steph Cha
Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Deutschen Originalausgabe (1. Auflage August 2020)
© 2020 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg
Alle Rechte vorbehalten
www.arsvivendi.com
Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag
eISBN 978-3-7472-0163-3
Für Maria Joo
Inhalt
1
FREITAG, 8. MÄRZ 1991
1 – SAMSTAG, 15. JUNI 2019
2 – DIENSTAG, 25. Juni 2019
3 – DONNERSTAG, 8. AUGUST 2019
4 – SONNTAG, 11. AUGUST 2019
5 –FREITAG, 23. AUGUST 2019
6 – FREITAG, 23. AUGUST 2019
2
SAMSTAG, 16. MÄRZ 1991
7 – SAMSTAG, 24. AUGUST 2019
8 – SAMSTAG, 24. AUGUST 2019
9 – MONTAG, 26. AUGUST 2019
10 – MONTAG, 26. AUGUST 2019
11 – MITTWOCH, 28. AUGUST 2019
12 – MITTWOCH, 28. AUGUST 2019
13 – DONNERSTAG, 29. AUGUST 2019
14 – DONNERSTAG, 29. AUGUST 2019
15 – FREITAG, 30. AUGUST 2019
16 – SAMSTAG, 31. AUGUST 2019
3
MITTWOCH, 29. APRIL 1992
17 – SONNTAG, 1. SEPTEMBER 2019
18 – MONTAG, 2. SEPTEMBER 2019
19 – DIENSTAG, 3. SEPTEMBER 2019
20 – DIENSTAG, 3. SEPTEMBER 2019
21 – MITTWOCH, 4. SEPTEMBER 2019
22 – DONNERSTAG, 5. SEPTEMBER 2019
23 – FREITAG, 6. SEPTEMBER 2019
24 – FREITAG, 6. SEPTEMBER 2019
4
SONNTAG, 15. SEPTEMBER 2019
NACHWORT
DANKSAGUNGEN
DIE AUTORIN
DIE ÜBERSETZERIN
We ain’t meant to survive, ’cause it’s a setup.
– Tupac Shakur, »Keep Ya Head Up«
Latasha Harlins gewidmet
Bis heute kann ich nicht glauben, dass unserer Familie so etwas passieren konnte.
– aus einem Brief von Soon Ja Du an Richterin Joyce Karlin,
25. Oktober 1991
1
FREITAG, 8. MÄRZ 1991
Okay, das war’s«, sagte Ava. »Keine Ahnung, wie wir die Idioten hier finden sollen.«
Shawn musterte die versammelte Menschenmenge auf der anderen Straßenseite mit großen Augen. Hunderte von Leuten warteten vor dem Kino, dabei fing der Film erst in eineinhalb Stunden an. Außerdem war es dunkel, und die Gesichter unter den Straßenlaternen waren kaum zu erkennen. Ava hatte gesagt, Westwood sei eine Weiße-Leute-Gegend, aber fast alle da drüben waren schwarz, viele noch Schüler. Um Ray und seine Freunde zu finden, mussten sie näher ran.
Ava nahm Shawn an der Hand, und sie überquerten die Straße. Schnell zog er die Hand weg, denn die älteren Kids sollten nicht sehen, dass er von seiner Schwester mitgeschleift wurde. »Mann, Ava, ich bin kein Baby«, sagte er.
»Wer hat behauptet, dass du ein Baby bist? Ich will dich einfach nicht verlieren.«
Sie gingen langsam die Schlange entlang, die sich vor der Kinokasse unter dem Vordach mit den Vorstellungszeiten von New Jack City gebildet hatte. Shawn lächelte. Er freute sich schon die ganze Woche auf den Film. Alle in der Schule redeten darüber, und er würde ihn bereits am Premierenabend zu sehen bekommen. Da war es egal, dass Tante Sheila Ray und Ava gezwungen hatte, ihn mitzunehmen, als sie sagten, sie würden sich Wolfsblut anschauen. Jetzt war er hier, und er würde sich wie sie in einen Film schmuggeln, der erst ab siebzehn freigegeben war.
»Ava! Shawn!«
Shawn drehte sich um und sah, dass ihnen Ray entgegenkam, begleitet von seinem breit grinsenden besten Freund Duncan. Wieder ließ er Avas Hand los und hoffte, dass sie nichts gesehen hatten.
»Da seid ihr ja«, sagte Ava. »Das ist irre hier. Müssen wir uns da anstellen? Sagt bloß, ihr habt euren Platz in der Schlange aufgegeben.«
»Das ist die Schlange für die Tickets«, sagte Duncan. »Wir haben unsere schon.« Er fächerte sie mit großer Geste auf, während Ray johlte und hinter ihm einen Tanz aufführte.
»Ihr seid echt dämlich.« Ava lachte. »Siehst du, Shawn, das kommt dabei raus, wenn man die Schule schwänzt, um ins Kino zu gehen.«
»Hey, sei mal ein bisschen dankbar. Wir sind seit Stunden hier«, sagte Ray. Er drohte Shawn mit der Faust. »Und du denk dran, was passiert, wenn du Mom was erzählst.«
»Vor dir hab ich keine Angst, Ray. Aber Tante Sheila würde uns alle drei verdreschen.«
Ray lachte und öffnete die Faust wieder. Er machte nur Spaß. Und er wusste, dass Shawn den Mund halten würde. Shawn hatte Ray und Ava noch nie verpfiffen, auch nicht, als er noch kleiner war. Und wenn er ihnen Ärger einhandeln wollte, kannte er bessere Wege. Mann, wenn Tante Sheila schon nicht wollte, dass sie sich einen Gangfilm anschauten – was würde sie erst sagen, wenn sie wüsste, dass Ray in einer echten Gang war?
Sie würde es nicht verstehen. Im Gegensatz zu Shawn. Tante Sheila wusste, dass es Gangs gab, aber sie redete über sie, als hätten sie nichts mit ihr zu tun. Sie verbot ihren Jungs nie, sich einer anzuschließen – sie schien es einfach nicht für nötig zu halten, schließlich hatte sie keine Schläger und Verbrecher großgezogen. Ihre Jungs waren anders als die bösen Jungs, die einfach so Hunde abknallten und ihren Müttern nicht gehorchten.
Dabei gehörte ungefähr die Hälfte der Kids in der Nachbarschaft irgendwelchen Gangs an. Einige verbreiteten Furcht und Schrecken – wie der Typ, der den Nachbarshund abgeknallt hatte, der war echt böse –, aber nicht die, die Shawn kannte. Duncan schüchterte ihn zwar ein, aber aus anderen Gründen. Er war einfach überlebensgroß, witzig und clever und bei den Mädchen beliebt, und Shawn hoffte, mit sechzehn auch so zu sein wie er. Und niemand auf der Welt war weniger furchterregend als Ray. Shawn musste es wissen – sie teilten sich seit seinem fünften Lebensjahr ein Zimmer. Unter seinen coolen blauen Klamotten trug Ray Spider-Man-Boxershorts. Vor dem Einschlafen sang er mit Mädchenstimme die Songs im Radio mit und brachte Shawn damit zum Lachen. Ray und Ava waren gleichaltrig, aber Ava behandelte ihn wie einen kleinen Bruder und zog ihn wegen seiner albernen Frisuren und schlechten Noten auf. Wenn Ray ein Crip war, konnte jeder ein Crip werden.
Sie gingen auf einen geschlossenen Elektronikladen zu, vor dem Shawn einen Haufen Kids aus ihrer Gegend entdeckte, die alle etwa so alt waren wie Ray und Ava. Manche waren vielleicht sogar schon siebzehn, alt genug, um legal in den Film zu kommen.
»Schaut mal, wen wir gefunden haben!«, rief Duncan und zeigte auf Ava.
Shawn sah, wie alle seine Schwester umschwärmten und sie mit Umarmungen und High Fives begrüßten. Bis zur neunten Klasse war sie mit ihnen zur Schule gegangen, dann war sie auf die Westchester gewechselt, eine Schule mit Schwerpunkt auf Musik. Alle freuten sich, sie wiederzusehen.
Eins der Mädchen nickte Shawn zu. Er wusste ihren Namen nicht, kannte aber ihr Gesicht. Sie war früher mit Ava im Chor gewesen, und er erinnerte sich noch genau, wie sich beim Singen ihre Lippen bewegt hatten. Inzwischen war sie noch hübscher. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und nickte zurück.
»Musst du babysitten?«, fragte sie Ava.
Shawn wäre am liebsten im Boden versunken. Gebeugt stand er da und hoffte, dass man ihm nichts ansah. Ava lächelte ihm zu, und er wusste, dass sie ihn durchschaute. Sie legte ihm den Arm um die Schultern. »Meinen Bruder Shawn kennt ihr ja«, sagte sie.
Sie schlossen sich der Gruppe an. Shawn hielt sich dicht an Ava, schwieg und hörte zu, wie die anderen herumalberten, unbeschwert und selbstsicher, wobei sie die ganze Breite des Gehwegs in Beschlag nahmen, als würde er ihnen gehören. Sogar Ray und Ava waren jetzt irgendwie anders, wirkten älter und cooler als zu Hause. Shawn hielt sich zurück und wartete auf eine Chance. Er hoffte, ihm würde irgendeine witzige und clevere Bemerkung einfallen, um zu beweisen, dass er nicht nur Avas komischer kleiner Bruder war.
Ava holte ihren Walkman aus dem Rucksack und setzte den Kopfhörer schief auf, sodass er nur ein Ohr bedeckte. Sie hatte ihn zu Weihnachten bekommen. Shawn hatte sich auch einen gewünscht, aber Tante Sheila meinte, er brauche keinen, und außerdem wusste er, dass sie ihm ganz sicher keine Kassetten mit Schimpfwörtern kaufen würde. Ava drückte auf Play, blickte verträumt drein und klopfte den Takt mit den Fingern auf dem Oberschenkel mit.
»Was hörst du da?«, fragte Duncan.
Wieder einmal nahm Shawn seiner Tante übel, dass sie so streng war. Wenn er einen Walkman hätte, würde Duncan vielleicht ihn fragen, was er gerne hörte. Er hatte eine Liste parat: Ice Cube, Tupac, A Tribe Called Quest, Michael Jackson. Michael Jackson würde er vielleicht weglassen.
»Kennst du nicht«, sagte Ava lächelnd.
Duncan schnappte ihr den Kopfhörer weg und setzte ihn sich auf. »Was ist das?«
»Einer der krassesten Tracks der 1890er.« Sie holte sich den Kopfhörer zurück, und alle lachten. Sie hatten schon mitbekommen, dass sie Klassik hörte. Ava war das nicht im Mindesten peinlich.
»Klar kenn ich Chopin, Chopin kennt doch jeder.«
»Das ist Debussy. Und Chopin kennt ihr nur wegen mir.«
Das stimmte, zumindest, was Shawn und Ray anging. Ava spielte Klavier. Und sie war gut, nahm an Wettbewerben in der ganzen Stadt teil. Tante Sheila bestand darauf, dass Shawn und Ray jedes Mal mitkamen und zuhörten, selbst wenn sie dafür weit raus in Gegenden wie Glendale und Irvine fahren mussten. Einmal hatte sie in Inglewood gespielt, und ihre Freunde waren gekommen – um sich über sie lustig zu machen, wie sie gesagt hatten, aber Shawn hatte gesehen, wie sie verstummten und zuhörten, als Ava zu spielen begann.
Trotzdem zogen sie Ava noch immer auf, auch weil sie ein Westchester-Nerd war. Als würden sie das insgeheim nicht ziemlich toll finden.
»Und den Scheiß hörst du dir zum Spaß an?«, fragte Duncan.
»Ich will echt nicht wissen, was du zum Spaß tust«, gab sie zurück und setzte den Kopfhörer wieder auf.
Shawn konnte es nicht fassen. Während er einfach so dastand, brachte seine Schwester – ein Mädchen – die ganze Crew, sogar Duncan, dazu, vor Lachen zu brüllen. Sie sah sich entspannt in der Runde um, ein kleines Lächeln im Gesicht. Shawn verschränkte die Arme und schaute weg.
Es gab viel zu sehen. Westwood war hübsch, wie eine Freiluftmall: gepflegte Straßen und helle Geschäfte, Palmen, die größer als die Häuser waren. Alles wirkte so viel ordentlicher als in ihrer Gegend, nichts war kaputt oder verfallen. Auf dem Weg hierher hatte Ava ihm erzählt, dass die Leute in Westwood vor ein paar Jahren wegen einer Gangschießerei durchgedreht waren, aber nur deswegen, weil sie quasi vor ihrer Haustür stattgefunden hatte und das Opfer ein asiatisches Mädchen gewesen war. Westwood war weit weg, aber auch nicht so weit – obwohl Ava aus Angst um Onkel Richards Auto wie eine alte Oma fuhr, brauchte man keine Dreiviertelstunde. Aber es fühlte sich an wie eine andere Stadt. Shawn beobachtete die Menschen vor dem Kino, sah ihre Ungeduld, die Aufregung in ihren Gesichtern. Ob sie auch alle von weither gekommen waren, um den Film zu sehen?
Die Schlange war immer noch lang und wirkte zerfranster als vorhin. Der Film sollte in einer halben Stunde beginnen. Was, wenn er bald ausverkauft wäre und all die Leute wieder nach Hause gehen müssten? Shawn sah, dass die Schlange in Bewegung geriet. Sie schob sich vorwärts, löste sich auf, und die Menge drängte zum Kassenhäuschen vor. Es gab Geschrei, undeutlich, aber immer lauter.
Er schaute Ava an, die den Kopfhörer absetzte. Als er ihren Blick sah, wusste er, dass sie fühlte, was er fühlte. In der Luft lag etwas Neues, Schweres.
»Hey«, sagte sie. »Da am Kino ist irgendwas los.«
Ray stellte sich auf die Zehenspitzen. »Vielleicht haben sie die Türen aufgemacht. Wird auch Zeit.«
Duncan schlug Shawn auf die Schulter. »Wie wär’s, wenn du dich mal nützlich machst? Renn hin und sieh nach, was los ist.«
»Ich?« Shawn bekam große Augen, reckte sich dann und war erfreut, sich beweisen zu können. »Klar, kein Problem.«
»Ich komm mit«, sagte Ava und steckte den Walkman in den Rucksack.
»Nee, Ava, schon okay. Bin gleich wieder da.« Er flitzte los, bevor ihm seine Schwester folgen konnte.
Er rannte quer über die Straße und drängte sich mitten in die Menschenmenge hinein, nutzte die immer kleiner werdenden Lücken, bis es keine mehr gab. Gute sechs Meter vom Kassenhaus entfernt kam er nicht weiter. Er steckte fest wie ein Stück Fleisch zwischen den Zähnen. Es war laut, alles um ihn herum dröhnte dumpf. Irgendwer neben ihm stank nach Schweiß, und ihm wurde übel.
Ein Typ links von ihm hielt die Hände vor den Mund und brüllte: »Mann, ich wette, ihr betet, dass wir nie wieder hier in Westwood aufkreuzen.«
Shawn tippte ihm auf die Schulter, und der Typ drehte sich mit bösem Blick zu ihm um. »Was ist da los?«, fragte Shawn.
»Die sagen, sie haben zu viele Karten verkauft, und wir müssen gehen.«
»Und wenn wir schon Karten haben?«
»Ist egal. Die Vorstellung ist abgesagt.« Er erhob wieder die Stimme. »Weil die Schiss vor uns haben. Die sehen zehn Schwarze und glauben, hier kommt die Hood.«
»Wir haben unsere Karten schon. Bezahlt und alles.«
»Ist scheißegal.«
»Aber das ist nicht fair.«
Der Typ lachte. Er war nicht viel älter als Ray und die anderen, aber sein Lachen klang alt und bitter. »Was heißt schon fair? Hast du nicht von Rodney King gehört?«
Shawn nickte, als wüsste er Bescheid. Rodney King – der Name war ihm schon mal begegnet. Ein Schwarzer, der letzte Woche von den Bullen zusammengeschlagen worden war oder so. Tante Sheila hatte gesagt, dass das nicht rechtens war, aber der Typ hätte es besser wissen müssen, als vor den Bullen wegzulaufen, und er wäre gar nicht erst in diese Situation gekommen, wenn er nicht irgendwas auf dem Kerbholz gehabt hätte. Sie und Ava waren darüber beim Abendessen fast in Streit geraten.
»Der Film läuft also nicht?«, fragte Shawn ein letztes Mal.
Er wandte sich um, um zu seinen Leuten zurückzukehren, aber der Weg war versperrt. Er konnte nicht mal erkennen, wo er hinmusste. Wenn er doch bloß größer wäre. Er kam sich wieder wie ein Kind vor, hilflos und ängstlich und kleiner als alle anderen.
Alle redeten gleichzeitig, die Stimmen wurden lauter und lauter, bauschten sich auf und vermischten sich zu einer riesigen Geräuschkulisse. Er konnte sie fast sehen, wie ein Bild in einem Comic: ein Feuerball, der immer größer wurde, bis er explodierte.
Sein Herz klopfte laut, seine Handflächen kribbelten vor Schweiß. Das hier war nicht in Ordnung. Er fühlte es kommen – etwas Zerstörerisches, etwas Großes, etwas Bleibendes. Nach dem Tod seiner Mutter hatte er eine Zeit lang Albträume gehabt, in denen er allein in einem fremden dunklen alten Haus war. Die Einzelheiten verblassten nach dem Aufwachen, aber an den Schrecken jener Nächte erinnerte er sich bis heute, ebenso wie an die Erleichterung, vor etwas entkommen zu sein, das er nicht verstand. Ganz früher hatte er beim Aufwachen nach seiner Mutter gerufen, später hatte er sich angewöhnt, sofort nach dem Aufwachen nach Ava zu greifen. Nur das konnte ihn beruhigen. Er musste ihren Körper spüren und ihre Atemzüge hören, um sich in seinem Zimmer, seinem Haus selbst wiederzufinden. Deswegen hatte er bei ihr im Bett geschlafen, an sie gekuschelt, auch dann noch, als man ihn in der Schule längst dafür verarscht hätte, wenn es rausgekommen wäre.
Das war Jahre her, eine Phase in seiner Kindheit, die so weit zurücklag, dass er nicht mehr wusste, wie lange sie gedauert hatte. Aber noch immer wachte er manchmal mitten in der Nacht auf, halb in der Traumwelt verfangen, und schaute sich panisch in seinem Zimmer um, bis ihm einfiel: Er war jetzt dreizehn, und Ava war ganz in der Nähe, im Zimmer nebenan.
Aber wo war sie jetzt? Er musste sie finden. Sie sehen. Er schob sich durch die Menge, mit offenem Mund und aufgerissenen Augen, wurde hin und her geschubst, allein und verängstigt und auf der Suche nach ihr.
Dann löste sich die Menge auf und strömte auf die Straße, ein Energiefeld aus Anspannung und Schweiß. Shawn spürte eine Aufregung durch seinen Körper schießen, die etwas Neues mit sich führte – ein Fieber im Blut.
Jemand warf einen Mülleimer um. Der verschüttete Müll schien im schwachen Licht der nächtlichen Stadt zu glühen.
Ein Junge rannte mit einem Stein, so groß wie eine Limodose, an ihm vorbei, und Shawn wunderte sich, wo er dieses raue Stück Natur in dieser Stadt aus verschlossenen Türen und poliertem Glas herhatte. Dann sah er drei breitschultrige Männer Äste von einem Baum abbrechen. Sie wirkten eigentlich ganz ruhig – das Feuer in ihren Augen war kein Buschbrand, sondern kontrollierte, gelenkte Wut.
Er folgte ihnen, und nicht nur er – die Menge schien sich hinter ihnen zu versammeln. Aus dem Augenwinkel sah er eine Bewegung: Ein Junge sprang auf ein parkendes Auto, aber Shawn blieb weiter hinter den Männern mit den Ästen, folgte ihnen voller Erstaunen. Fäuste wurden um ihn herum gereckt, Stimmen erhoben sich in Überschwang und Zorn, die Worte drängten sich ineinander, bis sie zu einem Singsang verschmolzen. »Black power!« »Fight the power!«
Die Männer schwangen die Äste und zerschlugen eine Wand aus Glas.
Shawn hatte schon oft Glas splittern sehen, aber noch nie eine so große und saubere, so unsichtbar solide Scheibe. Sie war wie eine Grenze zwischen zwei Welten, durch die nun in eine andere Dimension vorgestoßen wurde. Wieder brüllte die Menge – diesmal klang es wie Triumphgeheul – und rannte über die Glasscherben hinweg. Shawn merkte, dass er wieder vor dem Elektronikladen stand, aber weder Ava noch Ray noch deren Freunde waren zu sehen – sie hatten der Horde im Weg gestanden und waren versprengt worden. Er wusste nicht wohin, lief geradeaus in den Laden, und als unter seinen Füßen Splitter knirschten, vibrierte er am ganzen Körper.
Er drängte sich an eine Wand und machte sich klein. Hier konnte er bleiben und in dem Chaos Ausschau nach einem vertrauten Gesicht halten. Menschen, die er noch nie gesehen hatte, taten Dinge, die er ebenfalls noch nie gesehen hatte. Die Männer mit den Ästen waren von der Menge verschluckt worden, ihr Stolz und ihre Entschlossenheit waren rauschhaftem Wahn gewichen. Der Elektronikladen war voll mit zerbrechlichen, teuren Gegenständen, die im schwachen Licht verheißungsvoll glitzerten. Die Menge drehte durch und griff nach allem, das nicht niet- und nagelfest war – es ging so laut zu, dass Shawn das hohe, vergebliche Kreischen der Alarmanlage kaum hören konnte. Er betrachtete die Szenerie mit starrem Blick und dachte, dass all diese Leute Ärger bekommen würden und er dringend hier wegmusste.
Er brauchte gute fünf Minuten, um sich durch den Laden auf die Straße zu schlängeln. Die Menge war ungebändigt, floss aber wie ein donnernder Fluss in eine bestimmte Richtung. Shawn schwamm mit, folgte den Bewegungen, drängte vorwärts, weg von dort, wo sie hergekommen waren.
Er hörte jemanden »Weg da!« brüllen und sprang gerade noch rechtzeitig beiseite, um einem riesigen Mann auszuweichen, der auf einem nagelneuen Kinderfahrrad davonradelte.
Dann rief jemand seinen Namen. Die Stimme seiner Schwester. Er fuhr herum, schaute in die Richtung, aus der sie zu kommen schien, sah sie aber nicht. Vielleicht war es nur Wunschdenken gewesen.
»Shawn! Hier oben!«
Ava stand auf dem Rand eines Blumenkübels und überragte die Menge um etwa sechzig Zentimeter, wie ein Leuchtturm.
Sie grinste, als er sich zu ihr durchkämpfte. Auch Ray und Duncan warteten dort auf ihn.
»Da bist du ja«, sagte sie und sprang zu Boden. Er musste sich beherrschen, um ihr nicht um den Hals zu fallen, und war froh und verlegen zugleich, als sie stattdessen ihn umarmte.
Duncan pfiff. »Okay, hauen wir ab.«
Er balancierte einen Gettoblaster auf der Schulter, ein großes, schwarzes, glänzendes Ding mit Kassettenrekorder und CD-Player. Die beiden Lautsprecher standen vor wie Fliegenaugen.
»Wo hast du den her?«, fragte Shawn etwas dümmlich.
»Den hatte ich schon die ganze Zeit dabei. Hast du’s nicht gemerkt?« Duncan lachte und zeigte auf den Elektronikladen. »Beeil dich, wenn du auch einen willst.«
»Nee, geht schon«, sagte Shawn, als würde er vielleicht beim nächsten Mal einen Gettoblaster klauen und hätte heute nur keine Lust dazu.
In Wahrheit hatte er noch nie etwas gestohlen, nicht mal eine Tafel Schokolade. In dem ersten Jahr bei Tante Sheila war Ray in Frank’s Liquor, ihrem alten Eckladen, beim Klauen erwischt worden. Nichts Großes, bloß eine Zeitschrift – vorne drauf waren Titten gewesen, Shawn sah sie noch genau vor sich –, aber »der fiese Frank« hatte Ray gezwungen, Tante Sheila anzurufen: entweder sie oder die Polizei. Er war ein echter Kotzbrocken, dessen Atem nach Kippen stank, ein alter Koreaner, der gebrochen Englisch sprach und Ray immer misstrauisch beäugte, aber sie hatten tun müssen, was er wollte.
Tante Sheila war weinend angekommen und hatte mit Gott und Gefängnis gedroht. Die Szene war denkwürdig genug, um danach den Eckladen zu wechseln, und Shawn hatte für alle Zeiten gelernt, dass Stehlen den Zorn Gottes, eine Gefängnisstrafe und einen vulkanartigen Trauerausbruch von Tante Sheila nach sich zog.
»Wie du willst.« Duncan nickte Ray und Ava zu. »Aber diese beiden Gettokids hier haben auch was abgegriffen. Zeigt ihm mal, was ihr da habt.«
»Halt die Klappe, Duncan«, sagte Ray. »Nichts von alldem hier passiert wirklich, klar, Shawn? Das ist alles ein Traum.« Er wedelte mit dem Fingern vor Shawns Gesicht herum, als würde dadurch alles noch unwirklicher erscheinen – diese Nacht, die so anders war als alles, was er kannte.
Ava verdrehte die Augen, dann zog sie eine Kassette aus der Gesäßtasche. »Die ist ziemlich alt, aber ich hab sie gesehen und gedacht, vielleicht ist das was für dich«, sagte sie. »Du kannst dir meinen Walkman leihen. Aber erzähl’s nicht Tante Sheila.«
Shawn nahm die Kassette und war sprachlos. Michael Jackson schaute in enger schwarzer Hose und einer schwarzen Lederjacke ernst zu ihm auf. Über seinem Kopf stand in roten Buchstaben das Wort Bad. Shawn rieb mit dem Daumen über das Cover, die Plastikverpackung warf Falten.
»Danke«, sagte er. Ava wuschelte ihm durch die Haare.
Duncan klatschte über dem Gettoblaster in die Hände. »Okay, smooth criminals. Hauen wir ab.«
Er ging voraus, und Shawn fiel auf, dass er eine neue Jacke trug. Die alte Windjacke mit den ausgebeulten Taschen hatte er sich um die Hüfte gebunden.
»Er sieht aus wie der Grinch, der Westwood ausgenommen hat«, sagte Shawn.
Ray und Ava brachen in Gelächter aus.
Die Straße war mit Glas und Müll übersät, als hätten die Läden ihre Eingeweide ausgewürgt. Es roch nach Rauch und Pisse, und überall rannten Menschen brüllend und prügelnd herum wie wilde Kinder.
Aber Shawn hatte keine Angst mehr.
Mitten auf der Straße stand ein Kleidergestell aus Metall, die meisten Bügel waren leer – wie abgenagte Knochen an einem Rippenstück. Shawn trat im Vorbeilaufen danach, woraufhin das Ding ins Rollen kam, wackelte und mit lautem Rasseln umfiel.
»Shawn!«, schrie Ava. Aber es klang belustigt.
Die Nacht und der Mob und die Gewalt – Shawn wusste mit instinktiver Klarheit, dass diese Dinge ihnen nichts anhaben würden. Wenn dies das Feuer war, waren sie die Flamme. Sie waren Teil davon, geschützt in der Glut.
1 – SAMSTAG, 15. JUNI 2019
Grace brauchte zwanzig Minuten, um einen Parkplatz zu finden. Sie entdeckte einen, für den man sieben Dollar zahlen musste, hoffte auf billigere Alternativen, entfernte sich dabei aber nur immer weiter von ihrem Ziel, bis sie schließlich wendete und beschloss, dass der erste Parkplatz gar nicht so schlecht war. Die Innenstadt war ein Labyrinth aus Einbahnstraßen, die sie alle von dort wegzuführen schienen, wo sie hinwollte. Zweimal falsch abgebogen, schon war sie in einer zwielichtigen Gegend, in der auf beiden Straßenseiten Zelte standen. Sie vergewisserte sich, dass die Autotüren verriegelt waren.
Als sie endlich geparkt hatte – für neun Dollar und ziemlich weit weg –, war sie aufgeregt und leicht verschwitzt, und außerdem plagte sie wie immer, wenn sie zu spät kam, das schlechte Gewissen. Für den Fußweg zum Gericht würde sie noch mal zehn Minuten brauchen und dort Miriam und Blake in der Menge erst mal finden müssen. Sie schrieb ihrer Schwester eine Nachricht.
Sorry, hab gerade geparkt. Wo bist du?
Sie war fast am Ziel und feilte gerade an einer Entschuldigung, als Miriam antwortete.
Wir sind auf dem Weg! Mit Uber.
Es war 18.13 Uhr, fast fünfzehn Minuten später als verabredet. Grace war erleichtert und kam sich gleichzeitig dumm vor, denn sie hätte es eigentlich wissen müssen: Miriam lebte nach »koreanischer Zeit«, wie sie es nannte, obwohl sie die Einzige in der Familie war, die nicht immer auf die Sekunde pünktlich kam. Doch sie hatte behauptet, die Gedenkfeier für Alfonso Curiel sei ihr wichtig, weswegen Grace angenommen hatte, Miriam würde sich Mühe geben und vielleicht nicht erst im allerletzten Moment ausgehfertig machen.
Aber sie hatte ihre Schwester seit über drei Wochen nicht gesehen und wollte den Abend nicht mit unwirschen Vorwürfen beginnen, auch wenn Miriam ihren Mädelsabend in letzter Minute vereitelt und Grace in die Rolle des fünften Rads am Wagen gezwungen hatte. Eigentlich hatten sie zu zweit zum Thai gehen wollen, aber dann war diese Gedenkfeier angesetzt worden, und Miriam hatte Grace überredet, sie vor dem Essen dorthin zu begleiten.
Miriam lud sie auf Facebook ständig zu Veranstaltungen ein. Grace ging nie hin und wurde hin und wieder von Miriam für ihre Achtlosigkeit, Gleichgültigkeit, Faulheit gescholten, als wäre es ohne Bedeutung, dass sie einen Vollzeitjob hatte und in Northridge arbeitete. Diesmal hatte sie keine Ausrede gehabt. Sie hatte heute nicht in der Apotheke arbeiten müssen und war sowieso mit Miriam in L.A. verabredet gewesen. Als Blake sich ungefragt anschloss, konnte sie nichts dagegen tun. Sie konnte ihm ja schlecht verbieten, eine öffentliche Versammlung zu besuchen. Wenn er wenigstens nicht mit zum Essen kommen würde – aber er hatte für drei in irgendeinem neuen Lokal reserviert, das Miriam ausprobieren wollte. Die Rechnung ging natürlich auf ihn. Grace grauste vor den nächsten Stunden. Und schon jetzt ließ Miriam sie hängen.
Die Gedenkfeier fand vor dem Bundesgerichtsgebäude statt, einem riesigen, glänzenden Würfel, der einem bösen Apple Store glich. Etwa hundert Menschen waren dort versammelt und hörten schweigend einem großen schwarzen Mann zu, der gerade eine leidenschaftliche Rede hielt. Grace blieb ein Stück abseits auf dem Gehsteig stehen und überlegte, wo sie auf ihre Schwester warten sollte.
Sie sah sich um und bemerkte ein paar Meter weiter eine zweite Gruppe: etwa zehn weiße Männer im Alter zwischen zwanzig und vierzig, die rote Mützen und schwarze Polohemden trugen wie die Mitglieder einer überalterten Studentenverbindung oder einer Musikkapelle. Einer von ihnen hielt ein Schild hoch, auf dem stand: Kommt und fangt euch eins, Antifa. Grace wusste nicht, wer Antifa war, aber sie wollte weg von den Männern. Bei ihrem Anblick überkam sie das gleiche unangenehme Gefühl wie bei den weißen Typen im College, die nur deshalb Koreanisch belegt hatten, um im Seminar die Mädchen anzustarren.
Sie stellte sich in die letzte Reihe der Menschenmenge, schaute in die gleiche Richtung wie alle anderen und hoffte, nicht aufzufallen. Nachdem sie schon mal da war, konnte sie genauso gut zuhören.
Es war nicht so, dass ihr alles gleichgültig gewesen wäre. Ihr war bewusst, dass auf der Welt viele schlimme Dinge passierten, und natürlich machte es ihr zu schaffen, dass es Rassisten und schreckliche Menschen gab und dass immer wieder Schwarze zu Tode kamen.
Und diese Geschichte hier war ganz besonders furchtbar. Alfonso Curiel war fast noch ein Kind gewesen, ein Highschoolschüler, der mit seinen Eltern in Bakersfield lebte. Vorgestern Nacht war er in seinem eigenen Hinterhof von einem Polizisten erschossen worden. Einer seiner Freunde hatte auf Facebook gepostet, dass er noch eine Stunde zuvor mit ihm im Kino gewesen war und dass Alfonso ständig seine Schlüssel vergaß und vermutlich versucht hatte, von hinten ins Haus zu kommen, und irgendein Nachbar hatte daraufhin die Polizei gerufen.
Allem Anschein nach war er völlig unschuldig gewesen. Es war so traurig.
Der Mann ganz vorne redete laut, und trotzdem wurde seine Stimme teilweise vom Stadtlärm verschluckt. Er stand hoch aufgerichtet da, trug einen schwarzen Anzug mit schwarzem Hemd und schwarzer Krawatte. Bestimmt war er Pastor – Grace las ihm die religiöse Autorität an seiner Haltung und am lauten Dröhnen seiner Stimme ab, noch bevor sie ihm richtig zuhörte.
Sie vernahm den Namen des toten Jungen und beugte sich mit geneigtem Kopf vor, um den Pastor besser verstehen zu können.
»Er wollte nur nach Hause«, rief er. »In sein eigenes Haus, wo er mit seiner Mutter und seinem Vater lebte. Wenn ihr in Amerika schwarz seid, ist es ganz egal, was ihr tut. Ihr könnt in eurer eigenen Nachbarschaft, eurer eigenen Straße bleiben und trotzdem vor dem eigenen Haus von einem Polizisten erschossen werden. Ihr könnt ein unbewaffneter schwarzer Junge sein und einfach so umgebracht werden, und zwar mit dem Segen des Gesetzes. Und das gilt genauso für Frauen und Mädchen. Denkt an unsere Schwestern. Denkt an Sandra Bland, denkt an Rekia Boyd.«
Er wandte sich an eine neben ihm stehende ältere Frau und legte ihr seine große Hand auf die Schulter.
»Denkt an Ava Matthews, hier in L.A.«
Grace hörte dem Pastor zu, gab sich der Macht seiner Stimme hin. Es gab Gemurmel und Fingerschnippen – das hatte sie noch nie erlebt, verstand aber, dass es sich um ein Amen handelte.
»Die Mutter von Alfonso Curiel hat gestern Abend ein Interview gegeben. Sie hat ihn als einen guten Jungen beschrieben, der nie Ärger machte. Der gute Noten hatte und Arzt werden wollte. So ein Junge war das – einer, der alles richtig machte. Jetzt ist er im Himmel, da gibt es keinen Zweifel. Aber hier hat er nie die Chance bekommen, seine Träume zu leben. Wieder haben wir einen von uns verloren. Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass ihm Gerechtigkeit widerfährt.«
Die ältere Frau neben dem Pastor hielt ein selbst gebasteltes Schild aus Pappe und wischte sich mit der freien Hand die Tränen aus den Augen. Grace dachte zunächst, das sei die Mutter, aber dafür war sie mit ihren mindestens sechzig Jahren zu alt. Sie hatte dichte graue Locken und tiefe Falten in den weichen, runden Wangen. Vielleicht die Großmutter. Sie war das Inbild von Traurigkeit, sogar das Schild hing schlaff herunter. Gerechtigkeit für Alfonso Curiel stand darauf über einem Schwarz-Weiß-Foto. Ein hübscher, pausbäckiger Junge in einem Kragenhemd, ernst, aber mit leuchtenden Augen. Ein Schulporträt. Er hätte aufs College gehen sollen. Er hätte Arzt werden sollen.
Grace wurde schwindelig, und sie schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, lief auch ihr eine Träne über die Wange.
Ihre Schwester hatte recht. Es war falsch und egoistisch von ihr gewesen, wegzuschauen, wenn es doch so viel Ungerechtigkeit auf der Welt gab. Sie hatte es sich bei Alfonso Curiel zu leicht gemacht, hatte sich den Luxus der Apathie geleistet und ihre Welt von der realen Welt ferngehalten.
Ihr Herz schwoll an vor Demut und gerechter Leidenschaft. Ein vertrautes Gefühl, das sie aus ihrer Zeit in der Kirche kannte. Das Gefühl christlicher Erweckung. Sie war erfüllt von Liebe, reich und rein und unpersönlich, und hatte so viel davon, dass sie jede gefallene Seele zu erreichen und in die allgemeine Trauer einzustimmen vermochte.
Sie war so in Gedanken versunken, dass sie Miriam erst bemerkte, als sie mit Blake im Schlepptau neben ihr stand. »Da bist du ja«, flüsterte Miriam ihr ins Ohr, umarmte sie kurz, trat zurück und musterte sie. »Du hast dich hübsch gemacht. Schön.«
Grace wurde rot. Sie hatte sich für den Abend geschminkt und ordentliche Klamotten angezogen, was nicht oft vorkam, da sie den Großteil ihres Lebens in Laborkittel und orthopädischen Schuhen verbrachte und alte koreanische Patienten versorgte. Jetzt trug sie ein schwarzes, vielleicht etwas zu kurzes Kleid mit Flügelärmeln, das sie unlängst über einer blickdichten Strumpfhose auf der Beerdigung einer alten Halmoni aus der Gemeinde getragen hatte. Beim Durchkramen ihres Kleiderschranks heute Nachmittag war ihr das Kleid als passende Wahl erschienen – seriös genug für eine Gedenkfeier, ausreichend modisch für ein Abendessen –, aber als sie sich jetzt umsah, kam sie sich gleichzeitig altbacken und overdressed vor. Andere waren zwar auch schwarz gekleidet, trugen aber T-Shirts mit Slogans wie I can’t breathe und Black Girl Magic. Sie hatte dezent und respektvoll aussehen wollen, und jetzt wirkte sie wie Wednesday Addams.
Miriam war wie für ein Musikfestival gekleidet und trug eine Art sexy Kimono aus weiter, geblümter Seide mit luftigen Ärmeln über einem bauchfreien Oberteil und zerrissenen Denim-Shorts. Das Outfit hätte eigentlich auch bei weniger ernsten Anlässen albern gewirkt, aber an Miriam sah es phantastisch aus. Grace hatte ihre Schwester immer um ihren Stil beneidet, den sie nicht einmal dann erfolgreich nachahmen konnte, wenn Miriam ihr Klamotten lieh oder mit ihr einkaufen ging. Hinzu kam, dass Miriam schon immer vier Zentimeter größer und fünf Kilo leichter gewesen war als Grace, woran sich genauso wenig änderte wie an dem Altersunterschied zwischen ihnen. Wenn Grace sich dieses Outfit besorgt und angezogen hätte, hätte sie darin ausgesehen wie eine Haarwäscherin in einem billigen koreanischen Frisiersalon.
»Die verdammte Nazibande ist auch da«, sagte Blake und nickte in Richtung der bleichgesichtigen Verbindungstypen, die Grace vorhin schon aufgefallen waren.
»Ignorier sie«, sagte Miriam. »Die warten doch nur darauf, dass jemand sie anmacht.«
Blake zog ein Gesicht, als wäre er des Feldes verwiesen worden. »Was für Arschlöcher protestieren auf einer Gedenkfeier?«, fragte er laut. Ein paar Leute drehten sich zu ihm um. Er hatte zwar recht, aber solange der Pastor sprach, hielten alle anderen still.
Blake und Miriam waren jetzt seit fast zwei Jahren ein Paar, und Grace verstand immer noch nicht, was ihre Schwester an ihm fand, außer vielleicht, dass er die Rechnungen bezahlte, während sie sich auf Twitter rumtrieb oder an irgendeinem Drehbuch oder ihrem Roman rumtippte, mit dem sie sich schon ziemlich lange herumschlug. Er galt wahrscheinlich als gut aussehend – er war groß und hatte blaue Augen, das reichte schon –, aber er war fünfzehn Jahre älter als Miriam, hatte eine immer höher werdende Stirn und neigte dazu, Statement-Blazer zu glänzenden Turnschuhen zu tragen. Wenigstens war er erfolgreich: Als Drehbuchautor hatte er eine beliebte Fernsehserie über Drogensüchtige in den Appalachen entwickelt. Grace fand es interessant, dass Miriam auf die Vorherrschaft weißer Männer in Hollywood schimpfte, sich aber in den weißesten Mann verliebt hatte, den Hollywood je gesehen hatte. Sogar Grace fiel auf, wie weiß seine Serie war, dabei bemerkte sie solche Dinge nur sehr selten, wie Miriam immer wieder betonte.
Er kompensierte auf unerträgliche Weise, erzählte allen, er sei Feminist und praktisch Kommunist, und bat auf Facebook um Empfehlungen für Bücher von Autorinnen of color, als könnten Miriam und Google ihm keine Tipps geben. Einmal hatte Grace mitbekommen, dass er auf Twitter gepostet hatte: »Hört zu, Jungs, Oralsex ist keine Einbahnstraße.« Miriam hatte den Tweet gelikt, aber Grace hätte viel dafür gegeben, ihn aus ihrem Gedächtnis löschen zu können.
Sie wurde vom aufbrandenden Applaus überrascht. Der Pastor hatte seine Rede gerade erst beendet, aber sie hatte ihm schon minutenlang nicht mehr zugehört.
»Und jetzt spricht unsere Schwester Sheila Holloway zu uns«, sagte er und legte wieder seine Hand auf die Schulter der älteren Frau.
Miriam beobachtete die Frau eindringlich und aufmerksam. Grace hörte so lange zu, bis ihre Neugier gestillt war. Die Frau war nicht die Großmutter, sondern ein Gemeindemitglied oder so was, aber sie sprach leiser als der Pastor. Ihre Worte waren über den Lärm der Menge hinweg kaum zu verstehen, und nach einer Minute gab Grace auf. Sie spürte nicht mehr die mitreißende Begeisterung von vorhin und hatte das Gefühl schon fast wieder vergessen. Es war, als würde man wieder einschlafen wollen, um einen vielversprechenden Traum zu Ende zu träumen.
Das Lokal in Little Tokyo war nicht mal ein richtiges Restaurant, eher eine Bar mit Speisekarte. Alles, was sie bestellten, war niedlich und winzig, wie Spielzeugessen in einem japanischen Geschenkeladen. Grace nippte regelmäßig an ihrem Screwdriver und trank sich unabsichtlich einen Schwips an. Sie trank nur selten, und der Wodka wärmte ihr das Blut und zeigte schnell Wirkung.
Sie war immer noch mit dem Screwdriver beschäftigt – die zweite Hälfte war verträglicher als die erste –, als Blake an die Bar ging und mit drei Tumblern zurückkam, in denen eine braune Flüssigkeit schwappte. »Die haben hier großartige japanische Whiskys«, sagte er. »Ich habe uns einen Yamazaki Single Malt geholt.«
Grace beäugte die drei Gläser, während Blake Miriam eins reichte. Grace hörte seinem unausstehlichen Kennerton an, dass der Whisky teuer war. Miriam nahm einen Schluck und gab ein anerkennendes Geräusch von sich. Blake wirkte erfreut. Während Grace sich wieder ihrem Screwdriver widmete, dozierte er über japanische Whiskys.
»Probier mal«, sagte er und schob ihr den verbliebenen Tumbler hin. »Der schmeckt wie Honig. Ehrenwort.«
Grace schnüffelte daran und musste fast würgen. Sie mochte den Geruch von Alkohol nicht, und Whisky oder Bourbon waren am schlimmsten.
»Ich glaube, das ist nichts für mich«, sagte sie und stellte das Glas weg.
»Ach, komm schon. Wenn du den Mist da runterkriegst, kannst du alles trinken.« Er zeigte auf ihren Screwdriver. Das war bereits seine zweite abfällige Bemerkung über den Drink, begleitet von einem herablassenden Lächeln. »Das hier ist guter Stoff.«
Grace blinzelte und wartete darauf, dass ihre Schwester sagen würde, er solle sie in Ruhe lassen.
»Nimm einen kleinen Schluck«, sagte Miriam stattdessen. »Wenn er dir nicht schmeckt, trinke ich den Rest.«
Grace nahm das Glas, starrte es an und stählte sich innerlich. »Tja, wenn’s guter Stoff ist«, sagte sie.
Sie hielt sich die Nase zu und kippte den Whisky mit einem Schluck herunter. Ihre Kehle brannte. Sie hustete und trank schnell den letzten Rest Screwdriver hinterher.
»Nicht ganz wie Honig«, sagte sie, blinzelte heftig und streckte die Zunge heraus.
Blake sah sie an, als hätte sie gerade ein Baby erwürgt. Miriam brach in Lachen aus.
»Das war ein Fünfundzwanzig-Dollar-Shot«, sagte Blake.
Das war noch mehr, als Grace getippt hatte. »Oh, wow, das wusste ich nicht«, sagte sie unschuldig. Ihre Brust schien zu glühen.
»Hol ihr noch einen Screwdriver, Schatz«, sagte Miriam immer noch lachend. »Den hat sie sich verdient.«
Blake wollte widersprechen, doch Miriam sah ihn mit einem geduldigen Lächeln an, das deutlich machte, dass ihre Stimmung kippen würde, wenn er sich weigerte. Grace wollte eigentlich keinen weiteren Drink, genoss es aber, Blake an die Bar stürmen zu sehen und Miriam auf ihrer Seite zu wissen.
»Zwei reichen mir dann auch«, sagte sie. »Ich muss noch nach Granada zurückfahren.«
Miriam verdrehte die Augen. »Kannst du nicht endlich mal aus dem Valley rausziehen? Es ist unmöglich, sich mit dir zu treffen, und selbst wenn du mal herkommst, musst du um sechs wieder los.«
»Es ist schon fast neun.«
Seit Miriam nach Silver Lake, Heimat der Yuppies und Hipster, gezogen war, hatte sie nichts als kalte Verachtung für das Valley übrig, vor allem für Granada Hills. Sie wollte partout nicht glauben, dass Grace ihre Wohnsituation gefiel und sich bewusst dafür entschieden hatte, obwohl es andere Optionen gab, und dass die ständigen Hinweise, sich jederzeit eine WG suchen zu können, unnötig waren. Grace hatte auf dem College und während des Pharmaziestudiums in WGs gewohnt, aber warum sollte sie jetzt Geld für Miete rausschmeißen, wenn sie nur zehn Minuten zu ihrer Arbeitsstelle brauchte, wenn ihre Eltern sie bei sich haben wollten und wenn ihre Mutter Yvonne es genoss – wie Grace auf die Bibel schwören würde –, sie zu bekochen und ihre Wäsche zu waschen? Eigentlich sollte Miriam das verstehen. Sie hatte kurz nach dem College ebenfalls zu Hause gewohnt, und auch später noch einmal ein paar Monate, nachdem sie ihren Consultingjob aufgegeben hatte, um ihre Träume zu verwirklichen. Stattdessen redete sie jetzt über das Valley wie andere über winzige Heimatdörfer in der Ödnis von Alabama oder Ohio – wie von einem Ort, dem sie auf dem Weg in ihr wahres Leben entflohen war. Ein rückständiger Flecken, für den man sich nur schämen konnte. Dabei ging es um einen Cluster von Wohngegenden innerhalb der Stadtgrenze von Los Angeles, der nur eine halbe Stunde Autofahrt von ihrem neuen Zuhause entfernt lag.
Miriam war in den letzten zwei Jahren nicht ein Mal rausgefahren. Das war das eigentliche Problem. Sie sahen sich deshalb so selten, weil Miriam nicht mehr mit ihrer Mutter sprach und sich weigerte, nach Hause zu kommen.
Vor dem Streit – wenn man überhaupt von einem Streit sprechen konnte – hatten Grace und Miriam sich fast jede Woche getroffen. Selbst für Schwestern hatten sie sich immer ungewöhnlich nahegestanden, hatten sich früher ein Kinderzimmer geteilt, kannten und bewahrten die Geheimnisse der jeweils anderen. Aber dann hatte Miriam den Kontakt zu Yvonne abgebrochen und war mit Blake zusammengekommen, und jetzt wunderte Grace sich immer öfter darüber, wie wenig sie noch verband. Keine der beiden konnte die Entscheidungen, den Lebensstil, die Ziele, den Job oder die wichtigen Menschen im Leben der anderen nachvollziehen. Manchmal spürte Grace die Distanz zwischen ihnen wie einen klammen Hauch im Nacken.
»Dann bleib heute Nacht einfach hier«, sagte Miriam und legte ihre Stirn in besorgte schwesterliche Falten. »Du siehst schon ziemlich betrunken aus. Blake kann mit deinem Auto fahren, und du übernachtest bei uns.«
»Okay«, sagte Grace.
Miriam wirkte überrascht über die schnelle und widerspruchslose Einwilligung, lächelte und drückte Graces Hand. Grace hatte eigentlich keine Lust, einen langen Abend mit Blake zu verbringen und in dem Gästezimmer mit dem Metallbett und den Plakaten seiner Drogenserie zu übernachten, aber sie vermisste ihre Schwester.
Sie schrieb ihren Eltern gerade auf dem Handy, was sie vorhatte, als jemand an ihrem Tisch auftauchte – ein hochgewachsener weißer Mann mittleren Alters mit Flanellhemd und einer abgenutzten Botentasche aus Leder. Er berührte Miriams Schulter mit den Fingerspitzen.
Miriam bemerkte ihn erst jetzt. »Oh, hi«, sagte sie. »Jules.« Sie wirkte ungewöhnlich nervös und erhob sich halb vom Stuhl, um ihm die Hand zu schütteln, woraufhin er ein Stück vom Tisch zurücktrat.
»Dachte ich doch, dass du das bist«, sagte der Mann. »Ich war gerade auf der Gedenkfeier für Alfonso Curiel. Hast du davon gehört?«
»Ich war da«, sagte sie.
Ich, nicht wir. Grace sah sich um und entdeckte Blake im Gespräch mit dem Barmann. Vielleicht benahm sich Miriam deshalb so steif. Blake neigte zu Eifersucht, und wahrscheinlich wollte sie den Typen abschütteln, bevor er zurückkam.
»Dann hast du auch gesehen, dass die Western Boys da aufgekreuzt sind?«
Grace dachte an die wütend aussehenden weißen Typen in den Polohemden. Bestimmt waren die gemeint.
»Ja«, sagte Miriam.
»Ich schreibe über sie, für ein Projekt über White Supremacy und Rassengewalt in Kalifornien. Gut, dass ich dich treffe. Ich weiß, dass du viel über das Thema nachdenkst. Vielleicht –«
»Sicher«, schnitt ihm Miriam mit einem liebenswürdigen Lächeln das Wort ab. »Du hast meine E-Mail-Adresse, oder? Unter der Woche habe ich bestimmt Zeit.«
»Super. Ich melde mich.« Er blieb stehen, als hätte er nicht mitbekommen, dass Miriam ihn verabschiedet hatte. »Wie geht’s deiner Mom?«, fragte er.
Grace versuchte den Blick ihrer Schwester aufzufangen – was für eine seltsame Frage. Dieser weiße Mann konnte doch unmöglich Yvonne kennen? Aber Miriam schaute sie nicht an. Eine Bewegung huschte über ihr Gesicht. Das Aufblitzen von Panik, da war sich Grace sicher.
»Gut«, antwortete Miriam. »Hey, schön dich gesehen zu haben.«
»Gleichfalls.« Er lächelte Grace zu. »Ist das deine Schwester?«
Noch so eine seltsame Frage, denn sie sahen sich nicht gerade ähnlich. Grace hatte plötzlich das Gefühl, betrunken zu sein. Die Luft schien zu wabern.
Sie wollte sich gerade vorstellen, als Miriam ihr die Antwort abnahm. »Ja«, sagte sie. Ihre Stimme klang hart, fast feindselig.
Der Mann merkte es. »Ich schreib dir eine Mail.« Wieder betrachtete er Grace – einige Sekunden zu lang. »Nett, Sie kennenzulernen«, sagte er und ging.
»Was war das denn?«, fragte Grace, als er sich allein an einen Ecktisch setzte und ein rotes Moleskine-Notizbuch aus seiner Tasche zog.
»Nichts. Sorry. Ich wollte einfach nicht, dass er mit dir redet.«
Grace hatte nichts Unheimliches an ihm wahrgenommen, jedenfalls nicht in sexueller Hinsicht. Der Typ war noch älter als Blake.
»Wer ist das?«
»Bloß ein Autor, den ich kenne.«
Blake kam mit Graces Cocktail und zwei weiteren japanischen Whiskys für sich und Miriam an den Tisch zurück. Grace bedankte sich und trank. Der Screwdriver ging runter wie Saft. Da Miriam den Autor nicht mehr erwähnte, sagte auch Grace nichts. Sie nippten an ihren Getränken, und Blake und Grace erkundigten sich nach den Jobs des jeweils anderen – in erster Linie, um Miriam einen Gefallen zu erweisen, aber es war nett von Blake, so zu tun, als würde er sich für die Apotheke interessieren. Grace holte die nächste Runde und fühlte sich langsam ein kleines bisschen euphorisch. Sie begann sogar, sich für Blake zu erwärmen. Ganz offensichtlich betete er ihre Schwester an, und außerdem nervte er eigentlich nur etwa zehn Prozent der Zeit. Vielleicht sogar nur fünf Prozent.
»Das kann ja wohl nicht wahr sein«, sagte er und schreckte Grace aus ihrer beschwipsten Trance auf.
Sie schaute hoch. Kam etwa dieser Autor zurück? Doch der saß immer noch an seinem Ecktisch, hatte den Blick auf den Eingang der Bar gerichtet und sah, was Blake sah: ein halbes Dutzend Western Boys drängte grinsend herein, die Gesichter fleckig, rosa und schweißnass, die Uniformen zerknitterter als vorhin bei der Gedenkfeier, aber immer noch erkennbar. In diesem Hipsterlokal stachen sie heraus wie Pinguine in der Savanne – was genau ihre Absicht zu sein schien.
Sie plusterten sich auf und sahen sich um. Köpfe drehten sich, Gespräche brachen ab – sie wussten, dass das ganze Lokal sie beobachtete. Einer trat vor und ging zur Bar, die anderen folgten ihm wie Entenküken. Der Anführer der Truppe war etwa dreißig Jahre alt, hatte einen kantigen, fleischigen Kopf und dicke Bizepse, über die sich die Ärmel des Polohemdes spannten.
Miriam schüttelte den Kopf. Sie hatte gerade auf ihrem Handy etwas gelesen. »Das ist geplant und abgesprochen«, sagte sie und hielt Grace und Blake eine Facebookseite hin. »Die machen eine ›Zeckenkneipensauftour‹.«
Grace sah wieder zu dem seltsamen Autor hinüber, der die Szene aus seiner Ecke heraus mit gezücktem Stift und Notizbuch beobachtete. Er hatte gewusst, dass die Western Boys herkommen würden. Wenn Miriam ihn nicht abgewimmelt hätte, hätte er sie wahrscheinlich eingeweiht.
»Am liebsten würde ich denen die Fresse einschlagen«, sagte Blake.
»Allen?«, fragte Grace.
»Die haben echt Nerven.«
»Wer sind die eigentlich genau?«
»Rechte Versager«, erwiderte Miriam. »Die meinen, dass Amerikaner weiß sein müssen und Frauen in die Küche gehören – du verstehst schon.«
»Was hatten die auf der Gedenkfeier zu suchen?« Grace war selbst nur gezwungenermaßen hingegangen, dabei hielt sie den Tod des Jungen durchaus für eine Tragödie. Wie konnte man beim Tod eines Teenagers kein Mitleid empfinden? Wie konnte man losziehen, um Trauernde zu belästigen? Die Western Boys erinnerten sie an diese irren Gott hasst Schwule-Typen – diese wütenden, dummen weißen Menschen, die Beerdigungen von Homosexuellen heimsuchten.
»Weil das zu ihren Versagertaktiken gehört. Die kreuzen überall auf, wo sie denken, Linke provozieren zu können. Das reicht ihnen schon.« Miriam trank ihr Glas aus und stand auf. »Ich sage dem Türsteher Bescheid.«
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch sah Grace ihrer Schwester nach. »Warte«, sagte sie. »Ich komme mit.« Sie sprang auf und ließ Blake mit seiner Wut allein am Tisch zurück.
Der Türsteher hatte braune Haut, war Latino oder vielleicht Filipino und so muskelbepackt, dass er beinahe fett aussah. Bei Miriams Anblick leuchteten seine Augen auf.
»Was geht?«, fragte er, als würden sie sich kennen. Grace fiel ein, dass es schon beim Einlass ein bisschen Geflirte gegeben hatte. Wahrscheinlich war er verknallt in sie.
»Hey«, sagte Miriam. »Die Typen, die gerade reingekommen sind – ist dir klar, wer das ist?«
»Ich habe die Mützen gesehen«, sagte er achselzuckend. »Aber wegen Mützen kann ich niemanden abweisen.«
»Das ist eine Hassgruppe. Das Southern Poverty Law Center hat sie auf der schwarzen Liste.«
»Das Southern was?«
Grace berührte Miriams Arm. Ihre Schwester würde den Türsteher nicht überreden können, zahlende Gäste rauszuwerfen, nur weil sie auf einer Liste standen, von der noch niemand gehört hatte.
Miriam machte trotzdem weiter. »Die sind nicht bloß zum Trinken hier, verstehst du? Die wollen Ärger machen. Das ist schon die dritte Bar auf ihrer Tour.«
»Sie scheinen mir aber nur Drinks zu bestellen und dabei alberne Uniformen zu tragen.« Er klang inzwischen ein wenig sauer. Das passierte Miriam öfter. Sie verhielt sich weniger niedlich, als sie aussah, und diese Diskrepanz war für andere irritierend.
»Kann ich den Manager sprechen?«
»Um ihm was zu sagen?«
»Ich finde, er sollte wissen, dass Nazis in der Bar sind. Was er dann macht, ist seine Sache.«
Er seufzte. »Mann, lass die doch einfach ihr kleines Treffen abhalten.«
»Ihr Nazitreffen.«
Sie sahen sich herausfordernd an. Dann schweifte der Blick des Türstehers ab. »Gehen Sie zu Ihren Freunden zurück«, sagte er.
Der Anführer der Western Boys stand auf einmal so dicht hinter Grace, dass sie einen Satz machte, als er zu reden begann. »Gibt es ein Problem?« Seine hoffnungsvolle Miene war widerwärtig.
Grace flehte ihre Schwester im Stillen an, den Mund zu halten.
Miriam zögerte keine Sekunde. »Ich bin nicht hergekommen, um mit der Simi-Valley-Hitlerjugend zu trinken.«
»Wir sind keine Nazis.« Sein Ton ließ Grace vermuten, dass er diesen Vorwurf häufiger abwehren musste.
»Ich hab noch nie klarstellen müssen, dass ich kein Nazi bin«, sagte Miriam.
»Halten Sie uns, wofür Sie wollen. Wir trinken hier nur was. Und Sie wollen uns rausschmeißen lassen.« Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Tja, es ist nicht lange her, da wurden Leute wie Sie an der Tür abgewiesen. Da waren keine Schwarzen, keine Juden, keine Chinesen erlaubt.«
Sie schnaubte höhnisch. »Ihre Mütze können Sie ablegen, die Hautfarbe nicht. Sie sind sicher nach der vierten Klasse abgegangen, oder?«
»Ich habe in Berkeley studiert«, sagte er und verschränkte die Arme.
Grace spürte Miriams Überraschung. So etwas flößte ihr Respekt ein.
Der Türsteher mischte sich ein. »Genug jetzt. Sie«, sagte er zu dem Anführer, »geben Sie mir bloß keinen Grund, hier durchzugreifen.«
»Ich verteidige mich doch nur.« Er hob die Hände und wich mit übertriebener Ehrerbietung zurück.
»Du gibst denen genau, was sie wollen«, sagte der Türsteher zu Miriam. »Eine Frau wie du würde solche Typen sonst doch nicht mal anschauen.«
Sie ignorierte das Friedensangebot. »Der Manager sollte Bescheid wissen. Glaub mir. Der Typ ist nicht hergekommen, um in Ruhe was zu trinken.«
Als sie wieder am Tisch saßen, begann Blake sofort auf sie einzureden. Er ratterte geradezu manisch los und zeigte ihnen auf dem Handy einen Tweet mit einem körnigen Video der Western Boys, die an der Bar saßen und lachten. Im @TheCrookedTail mit @MiriamMPark, und wer kommt rein? Diese Faschisten. Gerade eben. Kommt her und macht denen klar, dass sie in unserem LA nicht erwünscht sind. #WesternBoysNightOut
»Das habe ich vor fünf Minuten gepostet, und es ist schon über dreißig Mal retweetet worden.« Blake hatte über zwanzigtausend Twitter-Follower, wie er Grace gegenüber mindestens fünfmal erwähnt hatte. »Vermutlich waren sie vorher im Bells & Whistles. Da läuft ein Hashtag. Sie sind weg, bevor sie dort rausgejagt wurden, aber es waren schon Leute auf dem Weg, um sie sich vorzuknöpfen. Die kommen jetzt hierher.«
Graces Schwips wurde von Furcht zerstäubt. »Ist das dein Ernst? Wer?«
Blake grinste vor Aufregung. »Alle möglichen. Die Leute von den Democratic Socialists of America, Aktivisten, wahrscheinlich auch ein paar Gaffer, die sich am Samstagabend langweilen. Auch ein paar Leute von der Gedenkfeier. Wir waren nicht die Einzigen, die die Arschlöcher da bemerkt haben.«
Grace stellte sich vor, was passieren würde, wenn nicht bloß ein paar auf Krawall gebürstete, selbstgerechte Weiße aufeinandertrafen, sondern auch noch angepisste Schwarze mit dazukämen.
»Verdammt, Blake«, sagte Miriam. »Ich weiß, dass das Schwachmaten sind, aber weiße Schwachmaten haben gern mal Schusswaffen dabei. Das könnte echt böse enden.«
Grace war erleichtert – wenigstens ihre Schwester zeigte ein bisschen Vernunft. »Wir gehen besser«, sagte sie.
»Was?« Blake war entrüstet. »Wir können nicht gehen. Wir müssen hier Widerstand leisten.«
Beide sahen Miriam an. Grace hoffte so sehr, ihre Schwester würde sich auf ihre Seite schlagen, dass sie das Gefühl hatte, der Raum würde sich drehen. Dann nahm Miriam Blakes Hand. »Diese Arschlöcher haben ihren Samstag damit verbracht, die Gedenkfeier für einen ermordeten Teenager zu stören«, sagte sie. »Ich lasse mich von denen nicht verjagen.«
Sie hatte sich entschieden. Grace wusste: Wenn Miriam eine Entscheidung getroffen hatte, konnte man sich auf den Kopf stellen – es würde nichts ändern.
»Gut, ich fahre nach Hause«, sagte sie.
»Du wolltest doch bei uns übernachten«, protestierte Miriam.
»Das war, bevor ihr beide einen Wildwest-Showdown angezettelt habt.«
»Kannst du überhaupt noch fahren?«
»Klar. Ich werde gerade wieder nüchtern.«
»Sicher? Du bist nicht sauer auf mich, oder?«
Miriam drückte ihre Hand, und Grace dachte an all die Gründe, die sie hatte, sauer auf ihre Schwester zu sein. Wegen eines idiotischen Revierkampfs ließ sie zu, dass Grace allein und betrunken die Bar verließ, womöglich ausgeraubt oder vergewaltigt wurde oder einen tödlichen Unfall baute. Sie hatte zugelassen, dass Blake ihren ersten gemeinsamen Abend seit Wochen versaute und ihnen die kostbare Zeit zu zweit mit Whisky und seiner Angeberei verdarb. Sie hatte den Kontakt zu ihrer Mutter abgebrochen und die Familie gesprengt, und Grace verstand immer noch nicht, warum. Eine Woge aus konfusen, alkoholgetränkten Gefühlen schwappte über sie hinweg. Sie musste sich an Miriam festhalten, um nicht umzukippen, nicht zu weinen.
»Ich will einfach nur nach Hause.« Sie umarmte ihre Schwester. »Bitte lass dich nicht erschießen.«
Nur mit Mühe fand sie ihren Wagen wieder, und als sie am Steuer saß, wurde ihr klar, dass sie so nicht ins Valley zurückfahren konnte.