Brave - Eine Liebe zwischen Licht und Dunkelheit - Jennifer L. Armentrout - E-Book

Brave - Eine Liebe zwischen Licht und Dunkelheit E-Book

Jennifer L. Armentrout

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Beschreibung

Eine Liebe zwischen Licht und Dunkelheit

Zwar konnte sich Ivy aus der Gewalt des dunklen Fae-Prinzen befreien, doch sie hat sich verändert: Etwas Dunkles und Gefährliches scheint in ihr zu wohnen und die Beziehung zu Ren, dem Mann, den sie liebt, zu zerstören. Ren wiederum würde alles tun, um Ivy von ihrem dunklen Fluch zu befreien. Doch Ivy ist klar, dass sie Ren verlassen muss – zumindest für kurze Zeit –, um sich den Fae ein für alle Mal zu stellen. Denn nur wenn sie den dunklen Prinzen und seine Königin besiegen kann, hat sie eine Chance, ihr Leben zu retten. Und ihre Liebe zu Ren ...

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Seitenzahl: 512

Veröffentlichungsjahr: 2019

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JENNIFER L.

ARMENTROUT

Brave

EINE LIEBE ZWISCHEN

LICHT UND DUNKELHEIT

BAND 3

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetzt

von Michaela Link

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Titel der amerikanischen OriginalausgabeBRAVE
Redaktion: Martina VoglCopyright © 2017 by Jennifer L. ArmentroutCopyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München, unter Verwendung eines Motivs von oksanka007 / ShutterstockSatz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
ISBN 978-3-641-23250-4V002
www.heyne.de

Das Buch

In letzter Zeit war Ivy Morgan nicht ganz sie selbst. Das ist allerdings auch kein Wunder, wenn man bedenkt, dass sie wochenlang von einem verrückten Faeprinzen gefangen gehalten wurde, der mit ihrer Hilfe, die Tore zur Anderwelt aufstoßen und die Menschheit versklaven will. Doch obwohl sie der Gewalt des Winterprinzen entfliehen konnte und nun endlich wieder mit ihrer großen Liebe Ren vereint ist, ist Ivy nicht glücklich: Etwas Gefährliches und Dunkles regt sich in ihr. Etwas, das Ivy kaum zu kontrollieren vermag.

Ren würde alles tun, um Ivy von ihrem dunklen Fluch zu befreien. Wirklich alles. Als Ivy in tödliche Gefahr gerät, trifft Ren eine folgenschwere Entscheidung, die die Beziehung zwischen ihm und Ivy für immer zerstören könnte.

Doch dann wird Ivy klar, dass sie Ren und allen, die sie liebt, vertrauen muss, wenn sie sich dem Winterprinzen ein letztes Mal entgegenstellt. Denn nur gemeinsam haben sie eine Chance die dunklen Fae zu besiegen …

Die Autorin

Jennifer L. Armentrout wurde 1980 in Martinsburg, West Virginia, geboren und zählt zu den erfolgreichsten Autorinnen der USA. Mit ihren Romanen – fantastische, realistische und romantische Geschichten für Jugendliche und Erwachsene – stürmt sie regelmäßig die nationalen und internationalen Bestsellerlisten. Wenn sie nicht gerade schreibt, frönt Jennifer L. Armentrout ihrer Leidenschaft für schlechte Zombiefilme. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Hunden in West Virginia.

Mehr zu Jennifer L. Armentrout und ihren Romanen erfahren Sie auf:

www.jenniferlarmentrout.com

1

Das Zimmer war so dunkel, dass ich nichts als einen schwachen Silberstreifen Mondlicht zwischen den dicken Vorhängen erkennen konnte. Die Luft roch abgestanden. Aber ich wusste, dass ich nicht allein war.

Ich war hier nie allein.

Angestrengt spähte ich in die Dunkelheit. Der kühle Halsring aus Metall schnitt mir in die Haut. Ich befahl meinem Herzen, langsamer zu schlagen, aber das Hämmern wurde stärker, bis meine Brust zu zerspringen drohte.

Ich bekomme keine Luft.

Ich bekomme keine Luft in diesem …

Etwas näherte sich dem Bett.

Ich sah nichts, aber ich spürte den leisen Luftzug. Mir schlug das Herz bis zum Hals, und jeder Muskel in meinem Körper spannte sich an. Da! Ein Schatten verschluckte den dünnen Streifen Mondlicht.

Er war hier.

O Gott, er war hier, und es gab kein Entkommen. Ich konnte nichts tun. Dies war meine Zukunft, mein Schicksal.

Mein dicker Bauch schmerzte, als ich mich aufsetzte und gegen das Kopfteil des Bettes lehnte. Als plötzlich an der Kette gerissen wurde, fiel ich auf die Seite. Ich hielt mich am Bett fest, aber es nützte nichts. Ich schrie auf, aber der Schrei verlor sich schnell in den Schatten des Zimmers. Ich wurde weggezerrt, aus dem Bett, hin zu ihm. Zu …

Ich riss die Augen auf, warf mich zur Seite und wäre um ein Haar aus dem Bett gefallen. Im letzten Moment fing ich mich und schnappte nach Luft – frischer Luft, deren Duft mich schwach an einen Herbst im Norden erinnerte.

Fahrig strich ich mir meine Locken aus dem Gesicht und suchte das Zimmer ab, bis ich das Fenster sah. Die Vorhänge waren zurückgezogen, genau so, wie ich sie vor dem Schlafengehen hinterlassen hatte. Mondlicht strömte herein und ergoss sich über das kleine Sofa und den Sitzbereich. Die Umgebung und der Geruch waren vertraut.

Süße Erleichterung durchströmte meine Adern. Trotzdem musste ich mich vergewissern, dass das, was ich gerade erlebt hatte, wirklich ein Albtraum gewesen war und nicht die Realität. Eine Realität, in der der Prinz mich noch immer gefangen hielt. Jener Prinz, der mich unbedingt schwängern wollte, um das Baby aus dieser Verbindung dazu zu benutzen, alle Tore zur Anderwelt aufzureißen.

Langsam legte ich mir eine Hand auf den Bauch.

Definitiv nicht dick.

Definitiv nicht schwanger.

Also bedeutete das, dass ich mich definitiv nicht mit dem Prinzen in jenem Haus befand.

Erneut fuhr ich mir mit zittriger Hand durch meine roten Locken. Es war nur ein Traum gewesen – ein dummer Albtraum. Ich sollte mich daran gewöhnen. Irgendwann würde ich nicht mehr voller Panik erwachen.

Ich musste damit aufhören.

Mein Magen krampfte sich zusammen, als ich tief einatmete. Hunger. Ich hatte Hunger, aber ich schob das Gefühl erfolgreich beiseite. Bisher hatte ich die brennende Leere in meinen Eingeweiden immer gut ignorieren können.

Nachdem ich unsicher den Atem wieder ausgestoßen hatte, ließ ich die Hände aufs Bett fallen und schluckte. Ich war hellwach. Genau wie in der vorigen Nacht … und in der Nacht davor.

Hinter mir bewegte sich etwas, dann erklang eine tiefe, verschlafene Stimme: »Ivy?«

Mein Rücken versteifte sich. Ich sah mich nicht um, während ich die Beine aus der Decke freistrampelte. Hitze kroch mir in die Wangen. »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht wecken.«

»Du musst dich nicht entschuldigen.« Der Schlaf verschwand aus seiner Stimme, das Bett bewegte sich abermals, und ich wusste, ohne hinzuschauen, dass Ren sich aufsetzte. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja.« Ich räusperte mich. Er hatte mich das schon eine Million Mal gefragt. Ist alles in Ordnung? Dicht gefolgt von: Geht es dir gut? »Ja. Ich bin bloß … aufgewacht.«

Ein Moment verstrich. »Ich dachte, ich hätte dich schreien gehört.«

Verdammt.

Mir wurde noch heißer im Gesicht. »Ich … ich glaube nicht, dass ich das war.«

Er reagierte nicht sofort. »Hattest du einen Albtraum?«, fragte er dann.

Ich war mir sicher, dass er die Antwort bereits kannte. Deshalb hätte es mir leichtfallen sollen, es zuzugeben. Außerdem war ein Albtraum nichts Aufsehenerregendes. Himmel, gerade Ren würde verstehen, dass ich an den Folgen einer posttraumatischen Belastungsstörung litt – der Beilage zu einem Hauptgericht namens Momentan verkorkste Angelegenheiten. Vor allem, da auch er eine kleine Auszeit mit dem Prinzen und seiner Schar dunkler Fae verbracht hatte.

Aber aus irgendeinem Grund konnte ich ihm gegenüber nicht eingestehen, dass ich an Albträumen litt, dass ich manchmal, wenn ich aufwachte, dachte, ich sei immer noch in diesem Haus, an ein Bett gekettet.

Ren hielt mich für mutig, und ich war mutig. Aber in Augenblicken wie diesen fühlte ich mich … fühlte ich mich überhaupt nicht sehr mutig.

»Ich habe nur geschlafen«, flüsterte ich und stieß einen flachen Atemzug aus. »Und das solltest du auch tun. Du hast morgen einiges zu erledigen.«

Ren wollte von unserer Bleibe aus, die ich im Stillen das Hotel zum guten Fae nannte, losziehen und seinen Beitrag dazu leisten, den sehr speziellen Kristall aufzuspüren. Ursprünglich hatte dieser Kristall den guten Fae gehört – den Fae des Sommerhofes. Der Orden hatte ihnen diesen abgenommen, und dann hatte Val ihn dem Orden gestohlen, und jetzt hatte der Prinz ihn. Ohne den Kristall konnten wir den Prinzen nicht wieder in die Anderwelt verbannen.

»Ivy. Süßes.« Rens Stimme war sanft, als er mir eine Hand auf den Arm legte. »Rede mit mir.«

Seine Berührung mache mich kribbelig. »Ich rede doch mit dir.« Ich löste mich von ihm und schlüpfte aus dem Bett. Sobald meine Füße den Boden berührten, setzte ich mich in Bewegung. Die bohrende Leere in meinem Bauch wuchs. »Ich glaube, ich gehe trainieren.«

»Um drei Uhr morgens?« Er klang ungläubig, und ich konnte ihm keinen Vorwurf daraus machen. Es schien tatsächlich seltsam zu sein, mitten in der Nacht trainieren zu gehen.

»Ja. Ich bin rastlos.« Es kam nicht infrage, mich jetzt wieder neben Ren hinzulegen, während mein Bauch sich so anfühlte, wie er sich anfühlte, und meine Gedanken dort waren, wo sie waren.

Fayes Worte aus der Nacht, in der sie mir bei meiner Flucht vor dem Prinzen geholfen hatte, nutzten die Gunst der Stunde, um mir durch den Kopf zu schwirren. Und wenn du das immer weiter tust, wirst du süchtig. Wahrscheinlich bist du es bereits.

Ren wusste, dass ich mich von Menschen genährt hatte, wusste Bescheid über die Tatsache, dass ich vielleicht jemanden damit getötet hatte, aber er machte mir keine Vorwürfe. Er glaubte sogar, dass ich ihm nichts tun würde. Dass ich diesem Teil von mir, der während meiner Gefangenschaft erweckt worden war, nicht nachgeben würde – dem Teil von mir, der Fae war und der jetzt wusste, wie ich mich nähren konnte und wie ich mich anschließend fühlte.

Wie einfach es war.

Ren vertraute mir, aber ich tat das nicht.

Ich konnte es mir im Augenblick nicht leisten, irgendetwas zu glauben, denn ich würde es mir nie, niemals verzeihen, wenn ich Ren wehtat, so wie ich anderen wehgetan hatte. Mein Mund wurde trocken, und ich öffnete und schloss meine Hände.

»Ivy?«

Als mir klar wurde, dass ich mich in meinen Gedanken verheddert hatte, blinzelte ich schnell und konzentrierte mich. »Hast du den Fitnessbereich gesehen, den sie hier im Keller haben? Der motiviert sogar mich, aufs Laufband zu steigen.«

Natürlich hatte er ihn gesehen.

So, wie Ren in Form war, musste er dort täglich ein- und ausgehen.

»Wie wär’s, wenn du wieder ins Bett kämst, statt um drei Uhr morgens zum Training zu gehen?«, fragte er. »Wir könnten uns Serien ansehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du ein paar Episoden von The Walking Dead versäumt hast.«

Ich hatte eine Menge Episoden meiner Lieblings-Zombie-Serie versäumt. Was sehr nervig war, denn wann immer ich Tink sah, bestand die große Gefahr, dass er alles spoilerte. Mit Supernatural war es das Gleiche.

Eine bittersüße Sehnsucht traf mich wie ein Schlag in den Magen und verscheuchte vorübergehend die Schatten, die in mir lauerten. Ich wollte am liebsten Kopf voraus ins Bett zurückspringen, mich an Ren kuscheln, in seinen Armen einschlafen und dabei zuhören, wie Rick Grimes sich wieder in den »Riktator« verwandelte, den wir alle kannten und liebten. Das wäre normal gewesen, und ich wünschte mir Normalität weiß Gott schon so lange und so sehr.

Genau deshalb hatte ich mich am College eingeschrieben, obwohl ich bereits einen Beruf hatte. Na ja, einen Beruf im Orden gehabt hatte. Wer wusste schon, wie es jetzt aussah? Aber ich wollte so gerne wissen, wie es war, aufzuwachen und zur Uni zu gehen oder zur Arbeit, ohne Angst haben zu müssen, bei der Arbeit zu sterben oder festzustellen, dass meine Kollegen getötet worden waren.

Normalität bedeutete, in Restaurants und ins Kino zu gehen. Zu Hause zu bleiben und Serien-Marathons zu veranstalten, ohne mir Sorgen wegen des möglicherweise bevorstehenden Endes der Welt zu machen.

Normalität bedeutete, dass sich die beste Freundin nicht am Ende als verräterisches Miststück entpuppt und aufgrund ihrer Taten und Entscheidungen stirbt.

Normalität wurde so sehr unterschätzt.

Die Nachttischlampe ging ohne Vorwarnung an. Das Licht flutete den Raum und fiel auf mich. Ein seltsamer Instinkt erwachte brüllend zum Leben. Ich wusste nicht warum, aber ich wollte in diesem Moment nicht gesehen werden. Ich wich vor dem Licht zurück, aber sobald mein Blick auf Rens blattgrüne Augen fiel, erstarrte ich.

Ren Owens war … meine Güte, er war auf eine wilde Art wunderschön. Er erinnerte mich an Herbsttage im nördlichen Virginia, ganz golden und kupferfarben. Sein Haar war wirr in seiner rostroten Fülle, fiel ihm über die Stirn und bettelte darum, zurückgestrichen zu werden. Dichte, schwere Wimpern, um die ich ihn zugegebenermaßen beneidete, umrahmten seine atemberaubenden Augen. Seine Wangenknochen waren breit und passten zu dem starken, wie gemeißelten Kinn. Rens Nase war schief, aber das verstärkte die Schönheit seines Gesichtes noch. Er hatte volle Lippen, die meist zu einem schiefen Grinsen verzogen waren, und wenn er lächelte, erschienen auf beiden Wangen tiefe Grübchen.

Jetzt waren seine Lippen schmal und bildeten eine ernste, gerade Linie, und Grübchen waren definitiv keine zu sehen.

Bevor all das mit dem Prinzen passiert war, hatte Ren nur mit einer Hose oder ganz nackt geschlafen, und wir hatten die Finger nicht voneinander lassen können. Ernsthaft. Selbst wenn wir verletzt gewesen waren und uns alles wehgetan hatte, hatten wir die Chemie zwischen uns nicht ignorieren können. Aber seit ich zurückgekommen war – seit wir wiedervereint waren –, trug er im Bett ein T-Shirt und Boxershorts oder Schlafanzughosen.

Wir hatten uns nur geküsst, nichts sonst.

Drei Mal, um genau zu sein, und es waren keusche, süße Küsse gewesen, die nach einem tieferen, unterdrückten Verlangen geschmeckt hatten.

Wahrscheinlich waren meine Albträume der Grund dafür, dass Ren angezogen schlief, denn diese Albträume hatten in der ersten Nacht begonnen und waren seither jede Nacht wiedergekommen.

Und diese Albträume fühlten sich an wie Vorahnungen. Eine Warnung vor dem, was kommen würde, und ich konnte dieses Gefühl nicht abschütteln, nicht einmal, wenn die Sonne aufging und ich umgeben war von Menschen, die mich nicht aufgegeben hatten – denen ich genug bedeutete, dass sie zurück in die Hölle gegangen wären, um mich herauszuholen.

Ich unterdrückte ein Schaudern.

»Bitte.« Er hielt mir eine Hand hin.

Mein Blick folgte dem leuchtenden Ranken-Tattoo auf seinem Arm nach oben, wo es unter seinem weißen T-Shirt verschwand.

»Komm zu mir zurück, und bleib bei mir.«

Mir fiel das Atmen schwer, denn ich hatte einen Kloß im Hals, der immer größer wurde. Ich wollte bei ihm sein. Dringend. Aber ich … ich brauchte Abstand, und ich brauchte … Ich wusste nicht, was ich brauchte. Ich konnte einfach nicht hier sein.

»Vielleicht später«, sagte ich und setzte mich endlich in Bewegung. Ich ging zu der kleinen Kommode mit meinen Kleidern. Schuldgefühle krochen in mir hoch, bitter wie Galle. »Falls du noch wach bist, wenn ich zurückkomme, können wir uns etwas ansehen.«

»Gestern Nacht bist du nicht zurückgekommen.«

Ich zog ein Paar Leggings aus der obersten Schublade. »Ich konnte nicht wieder einschlafen, deshalb wollte ich dich nicht stören.«

»Du weißt, dass du mich nie störst. Niemals.« Es folgte eine Pause. »Und ich bin auch nicht wieder eingeschlafen. Ich habe auf dich gewartet.« Die Art von Geduld, die ich nicht besaß, sorgte dafür, dass seine Stimme ruhig blieb. »Ich kann mit dir zum Training gehen. Gib mir nur …«

Ich wirbelte herum und sah, dass er die Beine bereits aus dem Bett geschwungen hatte. »Nein!«

Ren erstarrte, und seine Augen weiteten sich leicht. »Nein?«

Ich krallte die Finger in die Leggings. »Ich meine, ich will nicht, dass du aufstehst und das Gefühl hast, du müsstest mir Gesellschaft leisten. Ich habe dich bereits geweckt. Du solltest noch ein wenig schlafen.«

Seine Schultern hoben sich mit einem tiefen Seufzer. »Es ist nicht der Rede wert. Ich kann dich begleiten.« Er stand auf, hob die Arme über den Kopf und reckte sich. »Wir können ein Wettrennen auf den Laufbändern veranstalten.« Er ließ die Arme fallen. »Der Verlierer muss in die Küche gehen und die Schachtel mit Beignets stehlen, die jeden Morgen geliefert wird.«

Mein Herz hämmerte, als er einen Schritt auf mich zukam und dann noch einen. Das Zimmer war nicht sehr groß, daher stand er im Handumdrehen direkt vor mir.

»Ich muss mich nur umziehen. Oder könnte ich so gehen? Was meinst du?«, neckte er mich mit einem kleinen Grinsen. »Das würde vielleicht kein sehr angenehmes Laufen werden.«

Das Blut rauschte mir in den Ohren, und mein Blick fiel auf seinen Mund. Mein Magen hüpfte, als Ren nach einer meiner Locken griff. Er zog sie immer glatt und ließ sie dann los. Das war eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. Und dann kam er normalerweise immer näher und küsste mich. Die Vorfreude erwachte, und ein Schauer lief mir über den Rücken. Eine angenehme Wärme kursierte durch meine Adern.

Aber wollte ich ihn küssen? Oder wollte ich … wollte ich mich von ihm nähren?

Dass ich mir diese Frage überhaupt stellen musste, war furchterregend.

Ich trat einen Schritt zurück und stieß gegen die Kommode.

Ren blieb reglos wie eine Statue stehen. Angespanntes Schweigen füllte den Raum zwischen uns, als ich mit großen Augen zu ihm aufschaute.

»Ich tue dir nichts, Ivy. Das weißt du doch, oder? Bei mir bist du sicher. Immer.«

O Gott, dachte er, ich machte mir Sorgen, dass er mir wehtun könnte? Natürlich dachte er das. Und wie konnte ich ihm daraus einen Vorwurf machen, wenn ich in seiner Nähe so zappelig war wie jemand, der zu viel Kaffee getrunken hatte?

Mein Gesicht brannte, und ich wandte den Blick ab. »Ich weiß, dass du mir nichts tun würdest. Es tut mir leid …«

»Hör auf, dich zu entschuldigen, Ivy. Verdammt. Hör einfach auf zu sagen, dass es dir leidtut.«

Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder, als mir klar wurde, dass ich mich schon wieder entschuldigen wollte.

Ren machte einen Schritt zurück und gab mir Raum. »Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen.«

Aber stimmte das auch? Ich hatte das Gefühl, dass es eine ellenlange Liste von Dingen gab, für die ich mich entschuldigen musste, beginnend mit der Tatsache, dass ich den Prinzen nicht sofort erkannt hatte, als er sich in Rens Gestalt für ihn ausgegeben hatte. Und da war noch mehr – Gott, da war so viel mehr.

Meine Gedanken liefen gerade in tausend verschiedene Richtungen, was es schwermachte, mich daran zu erinnern, dass Ren mir nichts von alledem übel nahm.

Aber wie konnte das sein? Wie konnte er nachts so gut schlafen? Ich wollte ihn fragen, wie er sich von den Geschehnissen freimachte, denn auch er war gefangen gehalten worden. Fae hatten sich von ihm genährt – ihn auf schlimmste Art ausgesaugt, und dann war da noch diese eine Fae gewesen. Breena. Sie hatte behauptet, sie und Ren …

Breena hatte eine Menge Dinge behauptet, aber selbst wenn irgendetwas davon der Wahrheit entsprach, wusste ich, dass Ren nicht freiwillig dabei mitgemacht hatte.

Zorn verdrängte die Wärme in mir. Ich wollte ihr erneut die Augen auskratzen, und genau das würde ich auch tun. Kurz bevor ich sie tötete. Langsam. Schmerzhaft.

Ren beobachtete mich so, dass ich das Gefühl hatte, er schaue direkt in meinen Kopf hinein, und wenn das der Fall war, dann würde ihm wahrscheinlich nicht gefallen, was er sah.

Seine Schultern verspannten sich, dann stieß er rau den Atem aus. »Okay.«

Eine Woge der Erleichterung schlug über mir zusammen.

Sein Blick huschte über mich, und er sah vielleicht, wie meine Haltung sich entspannte, nachdem er sich zurückgezogen hatte. Er biss die Zähne zusammen. »Ich bleibe auf, bis du wiederkommst.«

Ich wusste, dass er das tun würde.

Und ich wusste auch, dass ihm im tiefsten Herzen klar war, dass es keinen Sinn hatte.

2

Laut trommelten meine Sneakers auf das Laufband, und das ganze Ding bebte, als würde eine Kuhherde darauf herumtrampeln, aber es kümmerte mich nicht. Ich ballte die Fäuste und schwang die Arme beim Laufen vor und zurück. Die Locken, die meinem Knoten entkommen waren, klebten mir jetzt im Nacken und an den Schläfen. Schweiß rann mir den Hals hinunter und sammelte sich an Stellen, über die ich gar nicht nachdenken wollte.

Laufen.

Uff.

Ich hasste es zu laufen – Gott, ich verabscheute normalerweise jede körperliche Anstrengung, aber als Mitglied des Ordens, dem es von Kindheit an bestimmt war, Fae zu jagen, musste ich in Form bleiben.

Aber jetzt war ich nicht auf diesem Laufband, weil es mein Schicksal war, die Menschheit zu beschützen. Ich lief bloß, weil ich nichts anderes zu tun hatte. Ich steckte hier fest, im Grunde unter Hausarrest im Hotel zum guten Fae. Da der Prinz der verdammten Anderwelt mich wittern konnte wie ein Bluthund, war es für mich zu riskant, durch die Straßen New Orleans zu streifen.

Meine Nägel gruben sich in die Handflächen.

Wie Faye, die undercover im Anwesen des Prinzen eingeschleust gewesen war, mir erklärt hatte, verbarg der Glamour-Zauber, der das Hotel zum guten Fae umgab, meine Anwesenheit vor dem Prinzen. Diese Art von Macht besaßen nur Fae, die vom Sommerhof abstammten. Einem Hof, der, wie der Orden uns erzählt hatte, nicht mehr existierte.

Meine Lippen wurden schmal, und ich beschleunigte mein Tempo, obwohl ich buchstäblich nirgendwo ankam. Der Orden hatte wegen so vieler Dinge gelogen. Er wusste, dass es da draußen gute Fae gab – Fae, die sich dafür entschieden hatten, sich nicht von Menschen zu nähren. Fae, die ein normales Leben führten und alterten und starben wie Menschen. Der Orden hatte früher einmal sogar mit ihnen zusammengearbeitet.

Hatte David das gewusst?

Als Sektionsleiter von New Orleans hätte David Cuvillier die wahre Geschichte des Ordens und der Fae kennen müssen. Das bedeutete also, dass auch er gelogen hatte, und aus irgendeinem Grund tat das höllisch weh. David kam einer Vaterfigur für mich am nächsten, seit man mich nach New Orleans versetzt hatte. Er war ein störrischer Hurensohn und verbrachte mehr Zeit damit, mich zu kritisieren, als mich zu loben, aber er war … er war David, und ich hatte ihm vertraut.

Wir alle im Orden hatten David vertraut – wir hatten dem Orden selbst vertraut.

Ich wusste nicht einmal, warum mich das so belastete, denn spielte es unter dem Strich eine Rolle? Ich bezweifelte, dass ich überhaupt noch ein Ordensmitglied war.

Da ich den letzten Monat über verschollen gewesen war, während die Elite – eine hoch spezialisierte und verschwiegene Gruppe innerhalb des Ordens – nach dem Halbling gesucht hatte, war ich mir sicher, dass sie entweder dachten, ich sei tot oder der gesuchte Halbling.

Den zu finden Ren hierhergeschickt worden war.

Ich schluckte die plötzlich aufwallende Übelkeit hinunter und schüttelte leicht den Kopf. Schweißtröpfchen flogen durch die Luft und landeten auf dem Display des Laufbands. Das Problem war, dass wir den Orden brauchten, um die Tore zu öffnen, damit wir den Prinzen zurückschicken konnten. Ich hatte keine Ahnung, wie uns das gelingen sollte – dieses sogenannte Ritual von Blut und Stein. Denn es musste in der Anderwelt vollzogen werden.

Wie zum Teufel sollten wir mit dem gegenwärtig verschwundenen Kristall mit dem Blut des Prinzen und meinem eigenen darauf in die Anderwelt gelangen? Allein bei dem Gedanken daran schmerzte mir das Hirn, und dafür hatte ich gerade wirklich nichts übrig. In meinem Kopf war einfach nicht genug Platz für all das.

Letzte Nacht war ich hier gelandet, nachdem ich Ren in unserem Zimmer zurückgelassen hatte. Jetzt war ich schon wieder hier, nur Stunden später, weil mein Gedankenkarussell normalerweise beim Laufen innehielt. Wenn ich so lief wie jetzt und meinen Körper antrieb, bis mir die Waden brannten, die Schenkel schmerzten und das Herz raste, blieb wenig Raum zum Nachdenken, wenig Raum, um über die Wochen meines Lebens nachzugrübeln, die ich verloren hatte – die Wochen, die ich mit dem Prinzen verbracht hatte.

Normalerweise dachte ich nicht an das schauerliche Kleid, das er mich zu tragen gezwungen hatte, oder daran, wie ich an mein Bett gekettet gewesen war. Wenn ich lief, bis meine Muskeln sich wie Gummi anfühlten, das gleich reißen würde, konnte ich den heimtückischen Hunger ignorieren, der an meinen Eingeweiden nagte – die Art Hunger, die keine noch so große Menge an Beignets oder Flusskrebsen stillen konnte.

Wenn ich bis zu dem Punkt lief, an dem meine Oberschenkel sich wie Betonblöcke anfühlten, dachte ich nicht daran, dass der Prinz mich gezwungen hatte, mich von unschuldigen Menschen zu nähren. Ich hörte ihr Wimmern nicht, wenn meine Sneakers auf das Laufband knallten. Ich vergaß die Euphorie, die diese Art der Nahrungsaufnahme mir beschert hatte.

Und wenn ich lief, bis meine Brust sich anfühlte, als würde sie in Flammen stehen, hatte ich keine Kapazitäten frei, um darüber nachzudenken, was dieses Miststück Breena mit Ren gemacht hatte. Oder was der Prinz mit mir gemacht hatte … oder mit mir zu machen versucht hatte.

Meine Gedanken unter Verschluss zu halten hatte im Moment oberste Priorität, aber jetzt gerade funktionierte das Laufen nicht für mich.

Ich musste mich auf etwas konzentrieren – irgendetwas.

Mein Blick huschte zu der Reihe hoch an der Wand angebrachten Fernsehern, aber sie waren alle ausgeschaltet. Ich hatte bisher noch nie einen Fae hier trainieren sehen. Ich wusste nicht, ob sie es überhaupt nötig hatten zu trainieren.

Bedeutete das, dass sie so etwas wie Herzkrankheiten nicht bekommen konnten? Warum dachte ich überhaupt darüber nach …

Das Laufband stoppte plötzlich unter meinen Füßen, und ich wurde nach vorn geschleudert. Ich schlug die Hände auf die Handläufe und fing mich, kurz bevor ich mit dem Kopf auf dem Display aufschlagen konnte.

»Herrgott!«, stieß ich hervor und hob den Blick.

Tink stand neben mir. Er hatte den Knopf für den Not-Stopp gedrückt. »Guten Tag, Ivy Divy. Ich freue mich zu sehen, dass deine Reflexe immer noch auf Zack sind.«

Als ich wieder sicher stand, ließ ich die Handläufe los und drehte mich schwer atmend zu ihm um.

»Aber deine Observationskünste sind das Letzte«, fügte er hinzu und stützte mit einer Hand das graue Tragetuch, das über seine beiden Schultern gebunden war. »Ich habe dieses Ding direkt vor deinen Augen ausgestöpselt.«

»Du bist ein Arsch.« Meine Brust hob und senkte sich heftig.

Er lächelte stolz. »Ich bin viele Dinge. Unter anderem ein Arsch.«

Eines Tages würde ich Tink kaltblütig ermorden. Und ich hatte eine Menge Gründe dafür, zu finden, es sei Zeit für eine Säuberung, was ihn betraf. Beginnend mit der Tatsache, dass ich bis vor Kurzem gedacht hatte, Tink wäre nur ungefähr so groß wie eine Ken-Puppe. So hatte ich den verdammten Brownie auf dem St. Louis Cemetery No. 1 gefunden: Er hatte ein gebrochenes Bein und einen Riss in seinen empfindlichen, hauchzarten Flügeln gehabt. Und er war ungefähr dreißig Zentimeter groß gewesen, höchstens.

Ich hatte ihm aus Eisstielen eine Beinschiene gemacht und den kleinen, chaotischen Mistkerl gesund gepflegt, obwohl es mein Todesurteil bedeutet hätte, wenn herausgekommen wäre, dass ich eine Kreatur aus der Anderwelt beherbergte. Ich wusste immer noch nicht wirklich, warum ich ihn gerettet hatte. Er hatte mir einfach so leidgetan, aber vielleicht hatte der Teil von mir, der Fae war, die Kontrolle übernommen und sich um eine andere Kreatur aus der Anderwelt gekümmert. Wer wusste das schon?

Und wie hatte Tink es mir gedankt? Er gab mein Geld für irgendwelchen schrägen Scheiß aus, den er bei Amazon Prime bestellte. Er hatte mir verheimlicht, dass ich ein Halbling war, und er hatte vergessen zu erwähnen, dass er aus freien Stücken klein wie eine Puppe, in Wirklichkeit aber sehr, sehr groß war.

Und anatomisch absolut korrekt.

Beim Anblick des ausgewachsenen, menschengroßen Tink flippte ich immer noch jedes Mal aus, denn ich hatte ihn nie auf diese Art betrachtet. Er hatte mich nicht nur Hunderte Male in meiner Unterwäsche gesehen, als er noch in seiner Miniaturgestalt herumgelaufen war, an ihm war jetzt auch noch eine Menge mehr dran, und …

… und der ausgewachsene Tink war heiß.

Bei diesem Eingeständnis kam mir das Abendessen wieder hoch, aber es stimmte. Wenn er klein war, hatte er so ein süßes, hübsches, winziges Gesicht, und er war einfach Tink. Und jetzt, da er so groß war, hatte dieses niedliche, winzige Gesicht plötzlich breite Wangenknochen, und sein Körper war muskulös und … na ja.

Ich verzog das Gesicht. Tink auf diese Art zu betrachten war immer noch verstörend, aber ich schätzte, irgendwie war er nach wie vor Tink. Und obwohl ich ihn oft am liebsten zurück in die Anderwelt prügeln wollte, musste ich zugeben, dass ich ihn lieb hatte.

Nicht dass ich ihm das jemals sagen würde.

Tinks Haar war so blond, dass es beinahe weiß war. Heute hatte er es zu einer Stachelfrisur gestylt. Er trug Jeans und ein Thermoshirt. Auf dem Weg hierher musste er sich ein Handtuch geschnappt haben, denn er hielt es in seiner freien Hand. Ich warf einen Blick auf den unteren Teil des Tragetuchs, in dem sich etwas zu einem kleinen Ball zusammengerollt hatte. Tink hatte sich angewöhnt, Dixon – sein neues Kätzchen – mit sich herumzutragen. In einem Tragetuch, das, wie ich mir ziemlich sicher war, für menschliche Babys gedacht war …

Moment mal.

Meine Augen wurden schmal, als ich Tinks graues Thermoshirt näher betrachtete. »Ist das etwa Rens?«

»Ja. Ich glaube, das wird mich bei ihm beliebter machen. Es wird helfen, den Bund zwischen uns zu stärken, damit wir wie Brüder von verschiedenen Müttern sein können.«

»Ähm. Wohl kaum.« Ren würde sauer sein. »Und es ist auch ein wenig schräg.«

»Warum? Mädchen tauschen ständig Kleidungsstücke aus.«

»Ja, das Schlüsselwort ist tauschen, Tink. Du hast dir sein Shirt einfach genommen.« Ich konnte kaum glauben, dass ich das erklären musste. »Ist dieses Handtuch da für mich?«

»Ja. Du siehst aus, als hättest du ein Bad in einem Sumpf genommen.« Er warf es mir zu. »Aber zumindest siehst du nicht mehr so aus, als wäre dir ein Augapfel geplatzt.«

»Danke«, murmelte ich und wischte mir mit dem Handtuch übers Gesicht. Als ich von dem Anwesen des Prinzen geflohen war, hatte Valor, einer der Gefolgsleute des Prinzen, versucht, mich zu erwürgen. Während dieses Kampfes war mir ein Blutgefäß im Auge geplatzt. Es war genauso ekelig, daran zu denken, wie es anzusehen.

Valor hatte allerdings mit dem Leben dafür bezahlt. Ren hatte ihn getötet. Das war zumindest ein uralter Fae, um den wir uns keine Sorgen mehr machen mussten.

»Ich fasse es nicht, dass du schon wieder im Fitnessraum bist«, fuhr Tink fort und trat beiseite. »Warum bist du so oft hier und läufst? Bereitest du dich auf eine bevorstehende Zombie-Apokalypse vor, von der ich nichts weiß? Denn wenn du das tust, dann müssen wir uns den nächstbesten Redneck suchen und uns mit ihm anfreunden, einen, der auf eine dreckige, grobe Art heiß ist. Du weißt schon, die Art, die wahrscheinlich nach Schweiß und Mann riecht. Ein Typ mit einem vielschichtigen Hintergrund, der dafür sorgt, dass du ihn zuerst hasst, in den du dich dann aber mit der Zeit langsam verliebst.«

Ich starrte ihn an. »Du hast dir offenbar eine Menge Gedanken darüber gemacht.«

»Stimmt. Ich bin gern vorbereitet. Da wir hier im Süden sind, sollte es nicht weiter schwierig sein, so jemanden zu finden. Also, warum bist du so oft im Fitnessraum?«, fragte er übergangslos.

»Was hätte ich denn sonst zu tun?« Ich hängte mir das Handtuch um den Hals und beobachtete, wie der kleine Ball im Tragetuch sich rührte.

»Keine Ahnung.« Tink tätschelte das Tragetuch und bekam ein winziges, gedämpftes Miauen zur Antwort. »Du könntest etwas Zeit mit den Leutchen hier verbringen. Sie sind ziemlich cool.«

»Du findest sie nur cool, weil sie dich anbeten.«

Sein Lächeln wurde so breit, dass ihm sein Gesicht wehtun musste. »Nun, ja, da sieht man’s mal. Sie sind klug.«

Die meisten der Fae hier hatten noch nie einen Brownie gesehen. Der Prinz und der Winterhof hatten Tinks Art praktisch ausgelöscht.

»Du könntest außerdem ein wenig Zeit mit Merle oder Brighton verbringen«, fuhr er fort. »Mama Merle ist fast immer draußen im Garten, gräbt irgendetwas um oder pflanzt etwas. Sie ist interessant. Seltsam. Aber seltsam kann unterhaltsam sein, und Merle ist unterhaltsam. Und ich mag Brighton.« Er hielt inne. »Ich glaube aber nicht, dass sie mich mag. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass sie Angst vor mir hat.«

Ich zog eine Braue hoch. Tink konnte einen wirklich ganz schön zutexten.

»Sie geht immer in die andere Richtung, ganz egal, wohin ich gehe.« Er schürzte die Lippen. »Erst heute Morgen war ich im Gemeinschaftsraum. Du weißt schon, dem Raum, den du nie besuchst, aber ich schweife ab. In dem Raum befinden sich all diese Spiele und Sofas und das ganze andere coole Zeug. Ich war gerade dabei, ein abgefahrenes Air-Hockey-Match zu gewinnen, und dann kam Brighton herein, sah mich und ging sofort wieder hinaus. Ich verstehe das nicht. Ich bin superfreundlich und zugänglich. Ich weiß außerdem, dass ich nach menschlichen Maßstäben verdammt gut aussehe.«

Ich beschloss, nicht auf all die Dinge hinzuweisen, mit denen er Brighton wahrscheinlich in die Flucht schlug, denn das war ein Fass ohne Boden, in das ich nicht hineinfallen wollte. Außerdem brauchte ich bald eine Dusche, denn ich fühlte mich wirklich so, als hätte ich in einem Sumpf gebadet. Ich stieg vom Laufband, und sobald meine Füße den Boden berührten, schwankte meine ganze Welt. »Oha.«

Tink packte mich am Arm und stützte mich. Der Schwindel legte sich genauso schnell, wie er gekommen war. »Bist du betrunken?«, fragte er.

Ich schnaubte und entzog ihm den Arm. »Schön wär’s. Ich habe noch nicht gefrühstückt. Das war dumm von mir.«

Tink schwieg, während er mich musterte. »Meinst du, du übertreibst es vielleicht etwas?«

»Was soll ich übertreiben? Während eines unfreiwilligen verlängerten Urlaubs untätig herumzusitzen?«

»Du hast nicht herumgesessen. Du trainierst. Unentwegt.«

»Ich übertreibe gar nichts.« Ich wandte mich von ihm ab und schob mich zwischen den Fahrradergometern und den Laufmaschinen für Faulpelze hindurch bis zu den Crosstrainern.

Tink war direkt hinter mir. »Nicht dass ich dich daran erinnern müsste, aber du bist wochenlang gefangen gehalten worden und …«

»Du hast recht.« Ich wirbelte zu ihm herum, als der allgegenwärtige Zorn in mir aufschäumte. »Ich brauche nicht daran erinnert zu werden. Ich weiß, wo ich gewesen bin.«

»Aber weißt du auch, wohin du gehst?«, fragte er sanft.

Ich öffnete den Mund, doch ich hatte keine Ahnung, was ich auf diese Frage antworten sollte. Wohin ging ich? Der Zorn verrauchte und wurde von Verwirrung und einem beinahe überwältigenden Gefühl der Hilflosigkeit abgelöst.

Gott, ich hasste dieses Gefühl, denn das letzte Mal hatte ich mich so gefühlt, als die Fae vor vielen Jahren meinen Freund Shaun getötet hatten.

Damals war ich hilflos gewesen.

Ich war hilflos gewesen, als der Prinz mir einen Eisenring um den Hals gelegt und mich an einer Kette herumgeführt hatte.

Und ich war immer noch hilflos, während ich hier im Hotel zum guten Fae festsaß.

Klein-Dixon streckte seinen grauen Kopf aus dem Tragetuch und schaute sich mit schläfrigen Kätzchenaugen um. Tink kraulte ihn hinterm Ohr. »Ren müsste bald zurück sein.«

Mein Magen hüpfte, als säße ich in einer Achterbahn, die gleich steil in die Tiefe schießen würde. Ich hatte Ren nicht mehr gesehen, seit ich mitten in der Nacht zum Training gegangen war.

»Ich habe ihn mit Faye weggehen sehen.«

Mir wurde heiß, und ein erdrückendes Gefühl ergriff mich und vermischte sich dann tief in meinem Bauch mit all den anderen beschissenen Dingen, die ich gerade durchmachte. Die Welt schmeckte bitter in meiner Kehle, als hätte ich Sodbrennen.

Ich hatte nicht gewusst, dass Ren mit Faye weggehen würde. Hatte er mir etwas davon gesagt? Ich erinnerte mich nicht. Nicht dass es eine Rolle spielte. Ich nahm nicht an, dass da etwas lief oder so. Ren hatte gesagt, er liebe mich, er sei in mich verliebt, und ich glaubte ihm. Absolut. Ich war nur …

Ich war nicht mit ihm zusammen dort draußen. Jemand anderer war bei ihm, und mein Kopf – in meinem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander.

»Sie wollten losziehen und versuchen, dieses Kristall-Dingsda zu finden.« Tink kraulte noch immer das kleine Kätzchen hinterm Ohr, und Dixon schnurrte wie ein Motor. »Du sitzt hier fest, während dein Kerl dort draußen ist und versucht, alles in Ordnung zu bringen. Das muss ätzend für dich sein.«

Ich hob langsam den Blick. »Wirklich? Versuchst du, mich aufzumuntern?« Ich drehte mich um und ging zur Tür. »Nur damit du’s weißt, es funktioniert nicht, und du bist scheiße.«

»Ich versuche nicht, dich aufzumuntern«, antwortete Tink und folgte mir. »Ich weise lediglich auf das Offensichtliche hin.«

»Es ist nicht notwendig, auf das Offensichtliche hinzuweisen, wenn es offensichtlich ist, Tink.«

Er schwieg weniger als eine halbe Sekunde, dann meinte er: »Du hast dich gestern Abend zum Essen nicht zu uns gesellt.«

Der Weg zur Tür schien kein Ende zu nehmen, also ging ich schneller.

»Du hast dich auch am Abend davor nicht zum Essen zu uns gesellt«, fuhr er fort. »Und das bedeutet, dass ich mit Ren zusammen gegessen habe. Ganz allein. Wir werden uns womöglich demnächst gegenseitig umbringen.«

»Ihr werdet schon klarkommen.« Ich erreichte glücklicherweise die Tür.

»Wo bist du gewesen?«, fragte er. »Du warst hier, aber irgendwie auch nicht.«

»Ich bin hier, Tink. Ich habe nur …« Ich wusste nicht, wie ich darauf antworten sollte, denn mir fehlten die Worte. Wie sollte ich erklären, dass die Fae mich immer, wenn ich mit ihnen zusammen war, misstrauisch, beinahe furchtsam anstarrten? Sie wussten, was ich war. Sie wussten, warum der Prinz mich gefangen gehalten hatte. Sie wussten, was ich symbolisierte. Schließlich sagte ich ausweichend: »Du weißt, wie es mir mit größeren Menschenansammlungen geht. Esst ihr nur weiter in der Kantine. Ich stehe nicht auf Gruppenaktivitäten …«

Tink hielt mich am Arm fest und hinderte mich daran, die Tür zu öffnen. Er drehte mich zu sich um, und ausnahmsweise war sein Gesichtsausdruck hundertprozentig ernst. »Essen in einer Kantine ist keine Gruppenaktivität.« Er musterte mich von oben bis unten. »Und es sieht auch nicht so aus, als hättest du wenigstens allein gegessen.«

Darüber lachte ich. »Glaub mir, ich habe gegessen. Eine Menge. Ständig, um genau zu sein.« Und das war die Wahrheit. Ich musste das tun, denn wenn ich es nicht tat, überwältigte mich der Hunger. »Ich bin bloß …«

»Du bist bloß zehn Meilen am Tag gelaufen, hast tonnenweise Kaffee getrunken und nicht geschlafen?«

Meine Augen weiteten sich. »Hey. Stalkst du mich?«

»Ich bin nur aufmerksam. Ren ist das ebenfalls.« Er sah mir weiterhin fest in die Augen. »Dein Gesicht sieht anders aus.«

»Was?«

»Deine Wangen sind eingefallen, und du hast Ringe unter den Augen. Die sind früher nicht da gewesen.«

»Wow. Du fängst an, mir Komplexe einzureden.«

»Sieht so aus, als hättest du bereits Komplexe.«

Ich fühlte mich unwohl und entzog ihm den Arm. Dann riss ich mir das Handtuch vom Hals und warf es in einen nahen Wäschekorb. »Es gibt keinen Grund, mich so zu beobachten, okay?«

»Ivy …«

Bevor er mich noch einmal aufhalten konnte, öffnete ich die Tür und trat in den Flur. Ich war absolut nicht in der Stimmung für dieses Gespräch. Genauso wenig wie in jeder einzelnen Situation, in der Ren all das zur Sprache brachte – was er gefühlt ungefähr alle fünf Sekunden tat.

Ren wollte über die Dinge reden – Dinge, an die ich in niemandes Gegenwart denken wollte. Und erst recht nicht in seiner.

Ich eilte den Flur entlang und wusste, dass Tink immer noch direkt hinter mir war. Ich beschleunigte meine Schritte und erreichte das Ende des Gangs, bog ab und blieb wie angewurzelt stehen.

Tanner stand vor mir.

Er leitete dieses Haus. Irgendwie betrachtete ich ihn wie den König der guten Fae, aber er war kein König. Zumindest glaubte ich das.

Als ich ihn das erste Mal gesehen hatte, war ich vor Schreck fast umgekippt. Er war der am ältesten aussehende Fae, der mir bis zu diesem Zeitpunkt begegnet war. Feine Fältchen durchzogen die silberfarbene Haut um seine Augen, und sein Haar war eher weiß als grau.

Er war der lebende und alternde Beweis, dass er sich nicht von Menschen genährt hatte, jedenfalls nicht regelmäßig genug, um den Alterungsprozess aufzuhalten.

»Da bist du ja.« Tanner lächelte und verschränkte die Arme vor der Brust. Er war wie immer so gekleidet, als wäre er zu einem Geschäftsessen unterwegs – in dunklen Anzughosen und einem weißen Hemd. »Ich habe nach dir gesucht.«

»Klasse«, zwitscherte ich, froh über die Ablenkung. »Was gibt’s?«

Tanner sah Tink an, der neben mir stehen geblieben war, und senkte den Blick auf das Tragetuch, wo er Dixon vermutete. »Ich habe gerade aufregende Nachrichten erhalten.«

»Amazon Prime liefert jetzt auch hierher?«, fragte Tink.

Ich verdrehte die Augen.

Tanner lächelte weiter, anscheinend ganz vernarrt in den übergroßen Brownie. »Noch nicht, aber wir arbeiten daran.«

Sie arbeiteten daran? Ernsthaft? Gütiger Gott.

»Ich habe nach dir gesucht, da ich weiß, dass Ren mit Faye unterwegs ist«, fuhr Tanner an mich gewandt fort, und ich ignorierte den hässlichen, dummen Stich in meiner Brust. »Wir sind mit einer anderen Gruppe in Verbindung getreten, die, wie wir glauben, uns helfen kann, den Kristall ausfindig zu machen. Das sind tolle Neuigkeiten, denn als ich vorhin kurz mit Faye telefoniert habe, waren sie und Ren im Flux noch nicht fündig geworden.«

Das Flux war ein Club, der, wie wir wussten, von dem uralten Fae Marlon St. Cyers, einem der größten Bauunternehmer New Orleans, betrieben wurde. Es war möglicherweise einer der Orte, an dem dieser so spezielle Kristall versteckt sein konnte.

»Wirklich?« Ich spürte die Aufregung wie ein Sirren in mir, ein Trillern in meinem Blut, was seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr vorgekommen war.

»Sie werden in einigen Tagen hier sein«, berichtete er weiter. »Und sie haben ein … einzigartiges Talent, Dinge zu finden, die verschwunden sind.«

»Einzigartiges Talent?«, überlegte Tink laut, und als ich ihn anschaute, hatte Dixon sich in den Bauch des Tragetuchs zurückgezogen. »Ich habe selbst einige einzigartige Talente …«

»Und du glaubst wirklich, sie könnten helfen?«, schnitt ich Tink das Wort ab, bevor er sich in Details erging, die keiner von uns hören wollte.

Obwohl, vielleicht wollte Tanner sie hören. Was wusste ich schon?

Tanner nickte. »Ja, ich glaube das wirklich.« Er musterte mich mit seinen blassen Augen. »Ich muss noch einige Dinge erledigen. Ich hoffe, wir sehen uns heute Abend beim Essen.«

»Na klar«, murmelte ich.

An diesem Punkt verschwand er und ließ mich mit Tink wieder allein. Ich wandte mich dem Brownie zu und überlegte, warum Ren und Faye immer noch im Flux waren, wenn Tanners Hilfe doch kam? Warum sie überhaupt noch dort draußen unterwegs waren. Aber sobald ich Tinks Gesichtsausdruck sah, hörte ich auf, darüber nachzudenken.

Er war wieder ernst geworden. »Wohin gehst du jetzt?«, fragte er aufmerksam.

»Duschen.«

»Und danach?«

Ich zuckte mit einer Schulter. »Keine Ahnung. Wahrscheinlich mir einen Happen zu essen holen.«

»Okay.« Er deutete auf die Lobby des Hotels zum guten Fae. »Ich begleite dich.«

»Ich werde mir nur einen Snack schnappen und in meinem Zimmer rumhängen. Ich bin mir sicher, dass du Besseres zu tun hast«, erwiderte ich und wich zurück. »Du hast doch ein ganzes Publikum von Fae, die mehr als bereit sind, dein Ego zu streicheln und dir zu erlauben, sie mit Geschichten zu unterhalten.«

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich kein bisschen. Kein Grinsen. Kein selbstgefälliges Glitzern in den Augen. »Geht es dir gut, Ivy?«

»Natürlich«, lachte ich. »Ich habe euch schon gesagt, dass ich mich besser fühle.«

Und das hatte ich ihnen wirklich gesagt. Ich hatte Tink und Ren an jenem Tag draußen auf der Hollywoodschaukel erklärt, dass ich es schaffen würde. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, aber ich fühlte mich nicht besser. Ich war weit davon entfernt.

3

Die Arme vor der Brust verschränkt, schlenderte ich durch den langen, schmalen Gang der Bibliothek des Hotels zum guten Fae. Sie befand sich im selben Stockwerk wie die Lobby und der Fitnessraum, aber weit weg in einem anderen Flügel. Vor einigen Tagen hatte ich sie zufällig entdeckt, während alle anderen beim Abendessen gesessen hatten.

Wieso aßen eigentlich alle gleichzeitig zu Abend? War das irgendeine seltsame Tradition der Fae des Sommerhofs? Es war wie in der Highschool, aber mit attraktiven, silberhäutigen Menschen … nur, dass sie keine Menschen waren.

Ich streckte die Hand aus und ließ die Finger über die dicken Bücherrücken gleiten. Einige dieser Bände mussten Jahrzehnte alt sein, wenn nicht älter. Viele, die ich aufgeschlagen hatte, waren in Sprachen verfasst, die ich nicht verstand. Weiter hinten befanden sich die neueren Bücher und eine Menge Genre-Belletristik wie Liebesromane und Krimis. Die Fae hatten sogar eine ganz anständige moderne Abteilung mit Jugendbüchern.

Dorthin war ich unterwegs, während alle anderen Bewohner des gewaltigen Gebäudes beim Abendessen waren. Nach dem Duft zu schließen, der aus der Kantine drang, gab es Schmorbraten. Normalerweise wäre mir jetzt das Wasser im Mund zusammengelaufen, stattdessen verkrampfte sich mein Magen unangenehm.

Ich hatte ständig entweder schrecklichen Hunger oder war drauf und dran, mich zu übergeben, und dazwischen schien es nichts zu geben. Wann würde das aufhören? Es war eine Woche vergangen, seit ich mich das letzte Mal … genährt hatte. Der Hunger musste doch irgendwann weggehen.

Ich sollte wahrscheinlich jemanden danach fragen. Faye wusste, wozu man mich gezwungen hatte. Aber dazu müsste ich tatsächlich mit ihr reden – dazu müsste ich überhaupt mit jemandem reden, und tja, damit wollte ich gar nicht erst anfangen.

Als ich das Ende des Gangs erreichte, bog ich rechts ab und ging tiefer in die Bibliothek hinein. Es gefiel mir hier drinnen. Es war ruhig, und niemand, nicht einmal Tink, war bisher auf den Gedanken gekommen, hier nach mir zu suchen. Ich konnte mir ein Buch schnappen, ein ruhiges Eckchen finden und einfach dasitzen und lesen.

Und genau das tat ich.

Ich nahm einen alten, historischen Liebesroman zur Hand, so einen, auf dessen Einband ein Typ mit breiter Brust abgebildet war und eine junge Frau, die aussah, als würde sie jeden Moment ihr Kleid verlieren. Ich fand eine kleine Nische im hinteren Teil des Raums und machte es mir in einem bequemen, übergroßen Sessel gemütlich.

Es dauerte einige Kapitel, bis ich mich in der Geschichte über die Frau verlor, die zwischen die Fronten schottischer Warlords geraten war. Ich liebte es zu lesen, aber es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren, weil ich das Gefühl hatte, ich sollte dort draußen sein und mehr tun – irgendetwas tun.

Vielleicht war es das, was mit mir nicht stimmte? Vielleicht war ich es nicht gewohnt, herumzusitzen und tagelang gar nichts zu tun, ohne dass ein Ende dieser Untätigkeit in Sicht war. Denn wer wusste es schon? Möglicherweise musste ich noch wochenlang hierbleiben. Vielleicht sogar Monate.

Ich würde das nicht aushalten.

Verärgert schob ich die unliebsamen Gedanken beiseite und konzentrierte mich wieder auf die Geschichte. Und wurde so in den Bann der sanften grünen Hügel und Nebel der Highlands gezogen, dass ich die nahenden Schritte nicht hörte.

»Ivy.«

Von der tiefen, sündhaft weichen Stimme aufgeschreckt, ließ ich um ein Haar mein Buch fallen. Ich hob den Kopf hoch und hielt im nächsten Moment den Atem an, als ich in Augen von der Farbe von Frühlingsblättern schaute.

Ren.

Ich hatte nicht erwartet, dass er mich finden würde.

»Hey«, sagte ich, als ich meine Stimme wiederfand und das alte Taschenbuch zuklappte. Mein Versteck war kein Versteck mehr. »Was machst du denn hier?«

Er zog bei meiner Frage die Augenbrauen hoch, und ich wünschte sofort, ich hätte sie nicht gestellt. Es hörte sich an, als wollte ich nicht gefunden werden, und tja, das wollte ich auch wirklich nicht. Aber ich wollte auch nicht, dass Ren das wusste.

»Ich meine, ist es nicht Zeit fürs Abendessen?«, fügte ich hastig hinzu, während ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden. Es war eine weitere dumme Frage, die ich sofort bereute.

»Ja, das ist es.« Er kam näher, hockte sich auf die Lehne meines Sessels und streckte seine langen Beine aus. »Deshalb habe ich nach dir gesucht.«

Ich hatte die ganze Sache mit dem Abendessen an meinen beiden ersten Abenden hier mitgemacht und mich gezwungen, unter neugierigen und misstrauischen Blicken meine Mahlzeit zu verzehren. Dann war ich nicht mehr hingegangen. Ich hatte keine Ahnung, was Ren bisher getan hatte, aber dies war das erste Mal, dass er mich tatsächlich suchen kam. Nun, soweit ich es wusste. Falls er es zuvor getan hatte und mich nur nicht hatte finden können, hatte er es abends im Zimmer jedenfalls nicht zur Sprache gebracht.

»Ich war bloß so in dieses Buch vertieft«, log ich. »Ich hoffe, du hast dein Abendessen nicht für mich unterbrochen.«

Ein seltsamer Ausdruck, den ich nicht recht deuten konnte, huschte über seine Züge, war aber wieder verschwunden, bevor ich ergründen konnte, was dahintersteckte. Er schaute auf das Buch herunter. »Hast du den ganzen Tag hier gesessen?«

»Ähm, ich bin schon seit einer Weile hier.«

Er biss sich auf die Unterlippe. Ein Augenblick angespannten Schweigens verstrich, und … Nun, wir waren uns fremd geworden. Und das lag allein an mir. Ich wusste das. Ich hatte mich von ihm entfernt. Der Tag draußen im Garten auf der Hollywoodschaukel – der Tag, an dem ich das Gefühl gehabt hatte, es zu schaffen, dass ich mit Ren und Tink an meiner Seite alles hinbekommen würde –, dieser Tag fühlte sich jetzt an wie aus einem anderen Leben.

Ren atmete langsam aus, beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Ich bin vor ein paar Stunden zurückgekommen und habe nach dir gesucht. Tatsächlich war das das Erste, was ich getan habe.«

Mein Herz verkrampfte sich, als eine Welle von Schuldgefühlen über mir zusammenschlug. Seine unausgesprochene Frage hing zwischen uns in der Luft. Wo warst du? Gute Frage. Ich hätte erreichbar sein und auf ihn warten sollen. Alles Mögliche hätte passieren können, während er dort draußen war. Der Prinz, der Orden, alles.

Ich hatte mir Sorgen gemacht, aber ich hatte nicht auf ihn gewartet. Stattdessen hatte ich mir ein Plätzchen gesucht, an dem ich mich verstecken konnte.

Ren schaute weg und konzentrierte sich auf eins der Regale. »Ich habe im Fitnessstudio nachgesehen, in den Gemeinschaftsräumen und im Garten. Ich hätte wissen sollen, dass ich hier suchen muss, du kleiner Bücherwurm.« Sein Grinsen war flüchtig. Ohne Grübchen. »Ich dachte … ich dachte, du würdest im Zimmer sein oder irgendwo, du weißt schon, irgendwo, wo man dich leicht finden könnte.«

Die Schuldgefühle strömten jetzt durch meine Adern wie Batteriesäure. »Es tut mir leid. Ich hab einfach die Zeit aus den Augen verloren.« Ich schloss die Hände um das Buch. »Also, was ist im Flux passiert?«

»Wir haben es geschafft, uns hineinzuschleichen.« Sein Kiefer entspannte sich etwas. »Faye hat bei den Menschen ihren Glamour-Zauber eingesetzt. Ich kann es nicht fassen, dass der verdammte Laden geöffnet ist. Es waren Angestellte dort und einige rangniedere Fae, um die wir uns gekümmert haben.«

Ich war einigermaßen überrascht, dass das Flux geöffnet und in Betrieb war. Bei meinem letzten Besuch hatte dort kurz zuvor ein Massaker stattgefunden. Leichen hatten von der Decke gehangen und Schlimmeres. Ein Anblick, den ich nicht so leicht vergessen würde.

»Wir haben nichts gefunden«, fuhr er fort. Faye hatte den Kristall in dem Haus, in dem der Prinz sich verschanzt hat, nie gesehen, also musste er irgendwo anders versteckt sein. »Nachdem wir mit dem Flux fertig waren, haben wir beschlossen, uns noch einige der Friedhöfe vorzunehmen. Auch dort nichts Verdächtiges.«

»Hat Tanner euch erreicht?« Ich schaute zu Boden, als er mich wieder ansah.

»Ja.« Es folgte ein Moment des Schweigens. »Er meinte, irgendjemand oder irgendetwas käme, um uns zu helfen, den Kristall aufzuspüren, aber das glaube ich erst, wenn ich es sehe. Wenn der Kristall nicht in dem Haus war, dann muss er irgendwo hier draußen sein.«

Ich nickte. »Wie läuft es mit Faye?«

»Es ist eigenartig«, antwortete er, und zum Glück regte sich keinerlei Eifersucht in mir. »Wer hätte gedacht, dass wir einmal Seite an Seite mit den Fae arbeiten würden?«

»Der Gedanke wäre mir nie gekommen.« Ich wies ihn nicht darauf hin, dass er im Prinzip mit jemandem zusammen war, den man als Fae betrachten konnte, da ich ein Halbling war. »Glaubst du, die Elite hat davon gewusst?«

Ren war in diesem Geheimbund innerhalb des Ordens aufgewachsen, von Geburt an dazu bestimmt, eines ihrer Mitglieder zu sein. »Ich hab nie davon gehört, aber die Elite muss es gewusst haben.« Seine Stimme war hart geworden, und ich sah auf. Er starrte wieder auf die Bücherregale. Seine Lippen waren angewidert verzogen, als er weitersprach. »Kyle muss es gewusst haben.«

Ich verspürte die gleiche Abscheu. Kyle Clare leitete die Elitegruppe, zu der Ren gehörte, und er war ein Bastard. Ein riesiger Bastard, der Rens besten Freund Noah getötet hatte.

Noah hatte sich als Halbling entpuppt, und Ren war hin und her gerissen gewesen zwischen seiner Pflicht der Elite gegenüber und der Loyalität zu jemandem, der ihm viel bedeutete. Genau die gleiche Situation, in der er sich nun wieder befand. Wegen mir.

»Das ist es, was mich immer wieder fertigmacht.« Ren legte den Kopf in den Nacken und drehte ihn langsam hin und her. »Warum sollten sie die Tatsache, dass es in unserer Welt gute Fae gibt, geheim halten? Dass sie eng mit ihnen zusammengearbeitet haben?«

»Ich weiß es nicht«, flüsterte ich. Das war die Frage des Jahres, wie es schien.

Rens Blick fand meinen. »Wir haben auf den verdammten Straßen im Kampf gegen die Fae jede Woche Ordensmitglieder verloren. Wie viele sind in der Nacht gestorben, in der das Tor geöffnet wurde?«

»Sechzehn«, antwortete ich, eine Zahl, die ich niemals vergessen würde.

»Und die ganze Zeit über gab es diesen Ort hier voller Fae, die an unserer Seite hätten kämpfen können, die das Gleiche wollen wie wir. Das ist Schwachsinn!«

Es war so einiges. Schwachsinn war nur ein Teil davon. »Ich hab auch darüber nachgedacht. Ich kann einfach nicht glauben, dass es keinen Grund dafür gibt. Ich sage nicht, dass es ein gerechtfertigter Grund ist, aber warum hat der Orden diesen Fae den Kristall weggenommen? Und warum haben sie uns allen ihre frühere Allianz verheimlicht? Es muss etwas Großes gewesen sein.« Ich warf einen Blick in die stillen Gänge. »Und ich kann nicht glauben, dass es nur am Orden lag. Vor allem, da Tanner nicht gerade mitteilsam gewesen ist, was das Wie und Warum der Ereignisse betrifft.«

»Ja, immer wenn ich es zur Sprache gebracht habe, ist er der Frage ausgewichen. Genau wie Faye.« Er beugte sich vor, und sein Arm streifte mein angewinkeltes Bein. »Und du weißt, was man sagt: Jede Geschichte hat drei Seiten.«

»Der Orden. Der Sommerhof. Und die Wahrheit«, antwortete ich. »Vertraust du … vertraust du ihnen, den Fae hier?«

Als Rens Blick meinen wiederfand, schaute ich nicht weg. »Das tue ich, sonst hätte ich die Dolche nicht hergegeben, um hierbleiben zu können.«

Tanner hatte uns darum gebeten, ihm unsere Waffen auszuhändigen, nur für alle Fälle. Wir hatten es getan, aber der Dornenpflock war immer noch in unserem Zimmer, weil er selten und die einzige Waffe war, mit der man einen der Alten ausschalten konnte.

»Wir sind schon die ganze Zeit über schutzlos, also hatten sie jede Menge Gelegenheiten, uns kaltzumachen. Das haben sie nicht getan. Sie haben uns zu essen und ein Dach über dem Kopf gegeben, und wir sind an einem sicheren Ort. Außerdem haben sie geholfen, dich hierherzubringen.« Er streifte meine Hand mit den Fingerspitzen. »Vertraust du ihnen?«

Mein Blick folgte seinen Fingern. Wenn ich ehrlich war, gab es nur zwei Personen auf der ganzen Welt, denen ich im Moment zu hundert Prozent vertraute. Ren und, so verrückt es klang, Tink. Ich hatte auf die harte Tour gelernt, dass man niemanden wirklich ganz kannte, egal wie gut man jemanden zu kennen glaubte. Val war der beste Beweis dafür.

»Ich vertraue dir«, antwortete ich.

Ren schob schweigend seine Hand unter meine und verschränkte unsere Finger. Mir stockte der Atem, als sich ein Durcheinander von Gefühlen in meiner Brust erhob. Langsam schloss ich meine Finger um seine. Er hob unsere Hände an die Lippen und drückte mir einen Kuss auf den Handrücken. Ein Wirbelsturm aus Sehnsucht und Zweifeln tobte als unheilvolles Chaos in mir. Ich wollte auf seinen Schoß klettern, und gleichzeitig wollte ich weglaufen.

Er legte unsere Hände auf seinem Oberschenkel ab. »Lass uns zum Abendessen gehen.«

Das »Ja« lag mir auf der Zunge, aber es war nicht das, was aus meinem Mund kam, als ich meine Hand wegzog. »Ich habe mir schon was zu essen geschnappt, aber geh du nur. Ich werde zu den Männern in Kilts zurückkehren.«

Ein Muskel zuckte an seinem Kiefer, dann glätteten sich seine Züge. »Was hast du gegessen?«

In Erinnerung an das Gespräch mit Tink schilderte ich übertrieben detailliert, was ich heute zu mir genommen hatte. Die Hälfte davon war gelogen. Nach dem Duschen hatte ich eine riesige Schüssel Cheerios gegessen und dazu ein Erdnussbutter-Sandwich. Beides hatte sich in meinem Magen wie Blei angefühlt, und es hatte einige Momente gegeben, in denen ich gedacht hatte, ich würde den Rest des Nachmittags über der Kloschüssel hängen.

Als ich mit meiner Essensauflistung fertig war, war ich mir nicht ganz sicher, ob Ren mir glaubte oder nicht.

»Na gut.« Er zog das erste Wort in die Länge. »Dann setz dich zu mir, während ich esse.«

Meine Anspannung wuchs. In dem Wissen, dass die Kantine gerammelt voll sein würde mit Fae – mit Fae, die genau wussten, was ich war und was der Prinz von mir gewollt hatte –, drehte sich mir der Magen um.

Ich drückte mich wieder in die Polster des Sessels. »Ich glaube, ich werde noch ein bisschen hier abhängen.«

Enttäuschung huschte über seine Züge, und ich musste wegschauen. »Ivy.« Es folgte eine Pause, in der ich seinen durchdringenden Blick auf mir spürte. »Ich vermisse dich.«

»Ich bin die ganze Zeit hier«, antwortete ich und versuchte, den plötzlich in mir aufwallenden Ärger zu unterdrücken. Es war nicht richtig, mich über ihn zu ärgern. Ren machte nichts falsch. Ich holte tief Luft und zwang mich zu einem Lächeln. »Ich kann nirgendwo anders hin.«

»Du bist hier, Süßes.« Seine Stimme war sanft, aber als er meinen Spitznamen verwendete, zuckte ich trotzdem zusammen. Als der Prinz sich für Ren ausgegeben hatte, hatte er mich kein einziges Mal so genannt.

Ich hätte es wissen müssen.

»Körperlich bist du hier, aber das ist auch schon so ziemlich alles.«

Ich öffnete den Mund, wusste aber nicht, wie ich darauf reagieren sollte, denn er sagte die Wahrheit. Man musste nicht besonders scharfsichtig sein, um das zu erkennen.

Er wartete auf meine Antwort, und als keine kam, atmete er tief ein und dabei hoben sich seine Schultern leicht. Er stand auf, und als er sprach, zog sich mir bei seinem Ton schmerzhaft die Brust zusammen, denn da war diese … unermessliche Kluft zwischen uns, und sie wuchs immer weiter, dehnte sich aus, bis ich mir Sorgen machte, dass es keine Brücke geben würde, die lang genug war, dass einer von uns sie noch überqueren konnte. »Ich gehe jetzt essen. Du weißt, wo du mich finden kannst.«

Ich presste die Lippen aufeinander und nickte.

Ren sah mich einen Moment lang durchdringend an, und ich dachte, er würde vielleicht noch etwas sagen, aber das tat er nicht. Er drehte sich um und ging davon, seine Haltung aufrecht und sein Rücken steif. Und ich saß da und starrte auf die Stelle, an der er gestanden hatte, noch lange nachdem er fort war.

Ich wollte, dass er blieb.

Ich wollte, dass er mich hochhob und in die Kantine schleppte.

Aber am allermeisten wollte ich das, was er gerade getan hatte, nämlich dass er mich mit der Leere allein ließ.

4

Als der Abend der Nacht entgegendämmerte, gab ich das Lesen auf und verließ die Bibliothek. Ich hatte keinen Plan, wohin ich wollte. Rastlos streifte ich durch die Flure, während ich, nun ja, allen aus dem Weg ging.

Ich wusste, egal wie lange ich es vermied, in unser Zimmer zurückzukehren, Ren würde wach sein. Er würde daliegen, den Blick auf den Fernseher geheftet, ob es nun neun Uhr abends oder zwei Uhr morgens war. Jede Nacht wartete er auf mich, während ich mich im Bad umzog, als wäre ich wieder sechzehn. Die Decken auf meiner Seite des Bettes waren dann aufgeschlagen. Ich kletterte hinein und legte mich hin, und gewöhnlich verstrichen einige Sekunden, bevor er sich an mich schmiegte und mich fest an seine Brust drückte.

Dieser körperliche Kontakt – seine Brust an meinem Rücken, sein Arm um meine Taille – machte mich immer fix und fertig. Es war zu viel und gleichzeitig nicht annähernd genug, aber es war das Einzige, das mir half einzuschlafen.

Ren war der einzige Grund, warum ich einschlief.

Ich schlief nur seinetwegen jede Nacht die wenigen Stunden, die ich ergattern konnte, weil er auf mich wartete. Weil er nichts als Geduld gezeigt hatte, und Gott, er war so ein guter Mann. Perfekt. Wirklich. Er konnte sogar Spannbettlaken falten, und wer konnte das schon? Ich war bloß so … so verdammt verkorkst.

Als ich an der Tür zum Garten vorbeikam, trat ich einen Schritt hinaus und schaute zu den Hunderten und Aberhunderten funkelnder Lichter der Lichterketten auf.