British Knight - Louise Bay - E-Book
SONDERANGEBOT

British Knight E-Book

Louise Bay

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Alex Knightley: so charmant wie James Bond, so höflich wie Mr Darcy, so sexy wie Christian Grey

Violet King hat genug von New York und braucht dringend einen Tapetenwechsel. Da kommt ihr ein Jobangebot in London wie gerufen. Doch als sie ihrem zukünftigen Boss Alex Knightley gegenübersteht, stellt sich heraus, dass ihm niemand etwas von seiner neuen Assistentin gesagt hat! Der aufstrebende Rechtsanwalt kann keine Ablenkung gebrauchen - schon gar nicht in Form einer wunderschönen Amerikanerin, die ihn vom ersten Augenblick an um den Verstand bringt. Doch von einem arroganten Geschäftsmann lässt Violet sich garantiert nicht in die Flucht schlagen - auch wenn das bedeutet, dass es im Büro bald ganz schön kompliziert wird ...

"Heißes Prickeln, hitzige Wortgefechte und ein arroganter britischer Boss - dieses Buch gehört zu den besten Liebesromanen des Jahres!" L. J. SHEN

Band 4 der sinnlich-heißen KINGS-OF-NEW-YORK-Reihe von USA-TODAY-Bestseller-Autorin Louise Bay

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 472

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

TitelZu diesem Buch1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. KapitelEpilogDankDie AutorinDie Romane von Louise Bay bei LYX Impressum

LOUISE BAY

British Knight

Roman

Ins Deutsche übertragen von Anja Mehrmann

Zu diesem Buch

Seit Violet King ihre Firma an ihren Ex-Verlobten verlor, hat sie geschworen, sich emotional nie wieder auf etwas Festes einzulassen. Sie lebt nur noch für den Moment und braucht dringend einen Tapetenwechsel. Da kommt ihr die Chance, für drei Monate einen Job in London anzunehmen, gerade recht. Dort fühlt sich alles nach dem lang ersehnten Neubeginn an, und als sie in der U-Bahn mit einem verflixt hinreißenden Engländer zusammenstößt, kommt es ihr wie ein Wink des Schicksals vor. Doch die Magie findet ein jähes Ende, als sich der aufstrebende, junge Rechtsanwalt als ihr neuer Boss entpuppt – der alles sucht, nur keine Assistentin! Denn Workaholic Alex Knightley vertraut niemandem, macht am liebsten alles selbst und kann keine Ablenkung gebrauchen – schon gar nicht in Form einer wunderschönen Amerikanerin, die ihn von der ersten Sekunde an um den Verstand bringt. Doch Alex hat keine Wahl, wenn seine Kanzlei nicht im Chaos versinken soll – auch, wenn das bedeutet, dass es im Büro bald ganz schön kompliziert wird …

1. KAPITEL

VIOLET

Männer und Cocktails gehörten zu den Dingen, mit denen ich mir die Zeit am liebsten vertrieb, und ich sorgte dafür, dass ich jeden Tag viel davon bekam – entweder vom einen oder vom anderen. »Prost.« Ich hob das Glas und stieß mit zwei der Menschen an, die ich auf dieser Welt am meisten schätzte – meine Schwester Scarlett und ihre Schwägerin Darcy. Wir befanden uns in einer schicken Bar in SoHo, in der ein Drink ungefähr doppelt so viel kostet wie ein Auto. Es war Darcys erster Abend in New York City, und ich dachte nicht daran, irgendetwas zu bezahlen, denn einen Job, zu dem ich am Tag danach würde erscheinen müssen, hatte ich nicht mehr. Ich bewunderte Darcy und bekam sie viel zu selten zu Gesicht, weil sie in England lebte, darum würde ich mich an diesem Abend ausschließlich auf das Positive konzentrieren. Vielleicht konnte ich dafür sorgen, dass sie Sex als Willkommensgeschenk bekam? Sex sorgte bei mir immer für gute Laune. Bestimmt würde ich jemanden finden, mit dem ich nach Hause gehen konnte. Ich musste die schreckliche Woche vergessen, die hinter mir lag, und dafür würde eine meiner Lieblingsbeschäftigungen vermutlich nicht ausreichen. Ich brauchte Alkohol und einen Mann.

»Gibt es in England eigentlich einen Mann, den du besonders magst?«, fragte Scarlett jetzt Darcy. »Einen, bei dem du schwach wirst?«

Ich stöhnte. »Sie ist doch nicht Aschenputtel. Sie ist eine clevere, selbstsichere Frau und kann garantiert keinen Mann gebrauchen, der sie schwach macht. Frag sie lieber mal, ob sie in letzter Zeit guten Sex gehabt hat.«

»Ich weiß, dass sie clever und selbstbewusst ist, aber einen Ritter in glänzender Rüstung kann man doch immer gebrauchen«, erwiderte Scarlett.

»Ach, ich wünschte, ich hätte eine Schwester«, sagte Darcy und lächelte uns an.

Scarlett und ich gerieten häufig aneinander, weil wir ausgesprochen gegensätzlich waren. Sie war zum zweiten Mal verheiratet. Ich hingegen verspürte nicht den Wunsch, mich an einen einzigen Mann zu binden. Scarlett machte Karriere, während ich nicht mal in der Lage war, einen Job als Kellnerin zu behalten. Sie hatte zwei Kinder, und ich durfte in meiner Wohnung nicht mal eine Katze halten.

Sie würde mich umbringen, wenn sie herausfand, dass ich entlassen worden war.

Aber sie war meine Schwester, und ich liebte sie.

»Eine Schwester zu haben, ist toll«, bestätigte Scarlett, »ich wünschte nur, sie würde öfter auf mich hören.«

»Finde dich endlich damit ab, dass nicht jede ein Haus in Connecticut, einen perfekten Ehemann und zwei perfekte, wenn auch sehr laute Kinder haben will.« Suchend blickte ich mich im Raum um. Was ich mir wünschte, war wilder Sex mit jemandem, der mich vergessen ließ, was am nächsten Tag passieren oder eben nicht passieren würde. Aber bislang war mir niemand ins Auge gefallen.

»Ich will doch nur, dass du glücklich bist«, sagte Scarlett und legte den Kopf schief.

»Na, dann sind wir ja schon zu zweit.« Das Mitleid meiner Schwester war das Letzte, was ich brauchte. Vor allem an einem Tag wie diesem. »Okay, was hast du in New York alles vor?«, fragte ich Darcy. »Wenn du willst, klappere ich mit dir die typischen Sehenswürdigkeiten ab.«

»Musst du denn nicht arbeiten?«, fragte Scarlett.

Das Problem an der Nähe zwischen meiner Schwester und mir bestand darin, dass wir zwar völlig unterschiedlich waren, einander aber dennoch nichts verheimlichen konnten.

»Doch, aber ich kann mir die Arbeitszeit so einteilen, wie es mir passt. Ich möchte, dass du dich gut amüsierst, Darcy.« Ich trank einen weiteren Schluck Cocktail und mied den durchdringenden Blick meiner Schwester.

»Oh, Violet! Du hast doch nicht schon wieder deinen Job geschmissen, oder?«

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Scarlett Kopf und Schultern sinken ließ.

»Nicht direkt«, sagte ich.

Ich wollte ihren enttäuschten Blick nicht sehen. Konnte sie sich nicht einfach damit abfinden, dass ich kein Interesse an einer hochfliegenden Karriere hatte? Das Leben hatte mir mehr als einmal gezeigt, dass es wichtig war, den Augenblick zu genießen und dass man sich um den nächsten Tag erst kümmern musste, wenn er gekommen war.

»Nicht direkt?«, fragte sie. »Ich dachte, du mochtest die Mädels an deinem Arbeitsplatz?«

»Ja.« Die anderen Kellnerinnen waren sehr lustig und die Trinkgelder sogar großartig gewesen. »Aber ich bin nicht bereit, einfach hinzunehmen, dass man mir bei der Arbeit an den Hintern grabscht.«

»Wer hat dir denn an den Hintern gefasst?«, fragte Darcy.

»Einer von den Stammgästen. Er macht das zwar bei allen, aber deswegen ist es noch lange nicht okay.«

»Natürlich nicht. Du hast also gekündigt?«, fragte Scarlett.

»Nein, ich habe ›Sie schmieriger Scheißkerl‹ zu ihm gesagt und bin gefeuert worden«, erklärte ich und hoffte, dass das Thema damit beendet war. An diesem Arbeitsplatz hatte ich mit Arschlöchern weiß Gott genug zu tun gehabt – ich wollte keine Zeit vergeuden, indem ich auch noch an sie dachte. »Hoffentlich führt das wenigstens dazu, dass er die anderen Kellnerinnen in Ruhe lässt, eine Zeit lang zumindest.«

Ich hatte entdeckt, dass ich Enttäuschungen im Leben vermeiden konnte, wenn ich kaum etwas erwartete, und der beste Weg, meine Erwartungen gering zu halten, war der, mich niemals wirklich einzulassen. Egal, ob es um einen Job oder einen Mann ging – nichts davon behielt ich lange genug, um Gefühle zu investieren, und das bedeutete, dass ich beides jederzeit aufgeben konnte, ohne darunter zu leiden. Einen Job zu verlieren, war kein Problem für mich – darüber war ich in dem Augenblick hinweg, in dem ich den Arbeitsplatz verließ. Kein Geld zu haben, stellte mich hingegen vor deutlich größere Probleme.

Scarlett seufzte. »Es sieht dir gar nicht ähnlich, so die Beherrschung zu verlieren. Natürlich darf der Typ keiner von euch an den Hintern fassen, aber …«

»Erwartest du etwa von mir, dass ich meine Wut einfach runterschlucke?«

»Natürlich nicht. Ich wollte damit nur sagen, dass es untypisch für dich ist, so die Beherrschung zu verlieren. Ich mache mir Sorgen um dich. Liegt es an der Nachricht von gestern?«

»Welche Nachricht denn?«, fragte ich in gespielter Ahnungslosigkeit. Ich war eine furchtbar schlechte Lügnerin. Ungefähr die schlechteste, die man sich vorstellen kann. Aber ich wollte auf keinen Fall über meinen Exfreund und die Nachricht reden, die am Tag zuvor im Wirtschaftsteil der Zeitung gestanden hatte: dass er die Firma übernehmen würde, die wir zusammen gegründet hatten.

Dies war genau die Art von Gespräch, die ich am liebsten vermied.

»Regt dich das denn gar nicht auf?«, fragte Scarlett, die genau wusste, dass ich gelogen hatte.

»Überhaupt nicht. Du weißt, dass ich längst darüber hinweg bin. Das ist doch Jahre her.« Dass mein Freund aus der Collegezeit mich betrogen und mir die Firma abgenommen hatte, für deren Aufbau ich so hart gearbeitet hatte, war jetzt fast vier Jahre her. »Wie gesagt, das Leben ist schön.«

Ich hatte tatsächlich geglaubt, über die Sache hinweg zu sein. Aber die Nachricht am Tag zuvor hatte mich schockiert, und viele Gefühle waren wieder hochgekommen. Ich genoss mein Leben – meistens jedenfalls. Ich hatte eine fantastische Familie, gute Freunde, und ich musste mir keine Sorgen machen oder schwierige Entscheidungen treffen, all das stressige Zeug, mit dem man zu tun hat, wenn man ein eigenes Unternehmen leitet. Allerdings führte ich ein anderes Leben als das, von dem ich geglaubt hatte, dass ich es eines Tages führen würde. Ich war immer davon ausgegangen, dass ich die Frau neben David auf dem Foto in der Zeitung sein würde. Wir wären verheiratet, hätten vielleicht ein oder zwei Kinder – ein richtiges Powerpaar. Stattdessen hatte David eine andere geheiratet und würde in wenigen Monaten an der Börse verzeichnet sein, während ich noch immer als Kellnerin arbeitete.

Scarlett griff über den Tisch und drückte mir die Hand. »Ich finde es toll, dass du glücklich bist. Aber mal ehrlich: Manchmal ist es auch gut, einen Plan zu haben, nur zur Abwechslung. Habe ich recht, Darcy?«

Dass sie Darcy in dieses Gespräch miteinbezog, war ein Schlag unter die Gürtellinie. Das Mädchen hatte keine Ahnung, wie konfliktgeladen diese Frage zwischen meiner Schwester und mir war.

»Also, ich plane wahnsinnig gern«, sagte Darcy. »Ich steigere nach und nach die Erträge aus dem Vermögen. Innerhalb der nächsten drei Jahre rechnen wir mit einem Sprung von ungefähr fünfzehn Prozent. Wenn es so weit ist, werde ich einen Hofladen eröffnen und lokale Erzeugnisse verkaufen. Außerdem möchte ich vor meinem fünfunddreißigsten Geburtstag gern ein Kind adoptieren. Oh, und falls ein Ritter in glänzender Rüstung vorbeikommt, würde ich vielleicht nicht gleich schwach werden, aber wenn er mit mir essen geht und mir eine Fußmassage verabreicht, sage ich nicht Nein. Geschäft, Kinder, Fußmassage. In dieser Reihenfolge.«

Ich lachte über ihre To-do-Liste. Darcy wirkte immer so unbekümmert, aber wenn ich genauer darüber nachdachte, musste sie überaus organisiert und kompetent sein, um das ländliche Anwesen ihrer Familie zu führen. Und sie machte ihren Job offensichtlich sehr gut.

»Hast du schon mal darüber nachgedacht, wieder aufs College zu gehen?«, fragte Scarlett mich.

»Ist das dein Ernst? Aufs College?« Mit meiner Zeit auf dem College verband ich so viele unangenehme Erinnerungen, dass ich niemals auf die Idee gekommen wäre, diese Erfahrung zu wiederholen. David und ich hatten uns im zweiten Jahr kennengelernt und waren vier Jahre lang zusammengeblieben. Wir waren zuerst ein Liebespaar und dann Geschäftspartner gewesen, aber inzwischen waren wir einander fremd.

»Ich meine, falls du nicht weißt, was du machen sollst. Und da du jetzt keinen Job und keinen Plan für dein Leben hast, ist ein College vielleicht genau der richtige Ort, um dir über alles Weitere klar zu werden«, sagte Scarlett.

»Warum für ein besseres Morgen auf heute verzichten, wenn du gar nicht weißt, ob du den nächsten Tag überhaupt erleben wirst?« Das Unternehmen zu verlieren, das ich mit so viel Zeit und Mühe zu etwas gemacht hatte, worauf ich stolz sein konnte, war niederschmetternd für mich gewesen. Ich war fest entschlossen, diesen Fehler kein zweites Mal zu machen. Den größten Teil meiner frühen Zwanzigerjahre hatte ich geopfert … für nichts und wieder nichts. In den letzten Jahren hatte ich versucht, mir diese Zeit zurückzuholen – indem ich Partys feierte, im Augenblick lebte und mit allen möglichen Typen ausging.

»Das finde ich deprimierend«, sagte Darcy.

»Nein, im Gegenteil«, erwiderte ich. »Ich vergeude keine Zeit, indem ich Dinge plane, die vielleicht nie eintreten. Ich habe keine Rücklagen für schlechte Zeiten, darum muss ich auch keine Zeit mit Planungen für solche Zeiten verschwenden – das fände ich nämlich deprimierend. Ich genieße lieber, dass es mir gut geht.«

»Und wenn doch mal dunkle Wolken am Himmel aufziehen?«

Der Tag, an dem ich gefeuert worden war, war mit Sicherheit ein finsterer Tag gewesen, aber ich amüsierte mich dennoch – jetzt, wo ich mit Darcy und Scarlett zusammen war. »Dann suche ich mir einen heißen Typen und habe wilden Sex, bis die schwarze Wolke sich wieder verzieht.«

Scarlett schüttelte den Kopf. »Und was willst du jetzt wegen eines Jobs unternehmen?«

»Keine Ahnung. Ich schätze, ich suche mir einen neuen.« Ich hatte noch ungefähr dreihundert Dollar auf dem Konto, nicht einmal die Hälfte dessen, was ich brauchte, um auch nur die nächste Miete zu zahlen. Das Problem war allerdings, dass das Kellnern mir allmählich keinen Spaß mehr machte. Inzwischen war ich die Drinks nach der Arbeit leid und hatte auch keine Lust mehr, verlorene Zeit aufzuholen. Aber ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Ich hatte zwar einen Abschluss in Informatik und einige Jahre lang ein Start-up-Unternehmen geführt, aber in letzter Zeit hatte ich nichts dazugelernt, außer wie man sich das Angebot des Tages merken und drei Suppenteller auf einmal tragen kann.

»Warum begleitest du mich nicht nach England?«, fragte Darcy. »Du musst ja nicht bei mir auf dem Land bleiben. Du könntest in unserem Haus in London wohnen und ein paar Monate dort verbringen, bis sich die Wolken verzogen haben. Wer weiß, vielleicht inspiriert dich die Stadt, und du entdeckst, wofür dein Herz wirklich schlägt.«

Ich war noch nie in dem Haus in London gewesen, das Darcy und ihrem Bruder, Scarletts Mann, gehörte, aber Scarlett hatte mir erzählt, dass es aussah wie aus einem Roman von Jane Austen.

London wäre vermutlich lustig, aber leider konnte ich mir eine solche Reise nicht leisten.

»Das ist wirklich sehr lieb von dir, aber …«

»Das Haus steht leer, und es befindet sich genau da, wo das Leben pulsiert«, erklärte Darcy.

Ich musterte Scarlett von der Seite und rechnete damit, dass sie sich einmischen und Darcy erklären würde, dass ihre Idee verrückt war und ich mich darauf konzentrieren musste, einen neuen Job zu finden, aber sie erwiderte nur stumm meinen Blick und wartete ab, was ich antworten würde.

»Ich kann nicht. Ich habe eine Wohnung, und ich muss auf Jobsuche gehen. Aber trotzdem: vielen Dank.«

»Hast du nicht neulich noch gesagt, dass deine Miete bald wieder fällig wird?«, fragte Scarlett. Wäre meine Schwester etwa damit einverstanden, wenn ich New York einfach so verließe?

»Vor fünf Sekunden hast du noch gesagt, ich soll wieder aufs College gehen.«

»Ich glaube, dass dir eine Veränderung guttun würde. Vielleicht ist London genau das, was du brauchst – ein paar Wochen, um gründlich darüber nachzudenken, was du mit deinem Leben anfangen willst. Seit der Unternehmensgründung … ähm, also … Wenn in ein paar Monaten der Börsengang stattfindet, ist ein bisschen Abstand von New York vielleicht ganz gut für dich.«

»Ich bin glücklich hier, Scarlett.« Über meinen Ex wollte ich auf gar keinen Fall reden. »Und das ist doch wohl das Wichtigste, oder?«

Meine Schwester lächelte halbherzig. »Hoffentlich bist du wirklich glücklich. Das wünsche ich dir nämlich mehr als alles andere.«

Mein Herz zog sich in der Brust zusammen. Ich hasste es, wenn meine Schwester sich Sorgen um mich machte. Meistens fand ich, dass sie überreagierte, aber an diesem Tag erwischte sie mich in einem schwachen Moment. Die Zeitungsnotiz über David war ein Schock gewesen. Sie hatte mich daran erinnert, wie mein Leben hätte verlaufen können, und meine Aufmerksamkeit auf all das gelenkt, was mein Leben nicht war. Ich war nicht glücklich. Ich hatte nur keine Ahnung, wie ich es besser machen sollte.

»Ich glaube, die Sache mit David und dem Börsengang erschüttert dich mehr, als du zugibst«, sagte Scarlett. »Und das überrascht mich nicht. Mir würde es genauso gehen. Was er damals getan hat, war schrecklich. Er hat dich betrogen, und, schlimmer noch, er ist damit durchgekommen. Du hast jedes Recht, dir eine Auszeit zu nehmen. Dass dir das zu schaffen macht, ist ganz natürlich. Aber die Sache liegt jetzt vier Jahre zurück, und ich vermisse meine mutige, tatkräftige Schwester, die es mit der ganzen Welt aufnimmt. Es fühlt sich an, als hätte er sie mir gestohlen, und ich möchte sie zurückhaben.«

Bei den Worten meiner Schwester überrollte mich eine Welle von Gefühlen – ich wusste nicht, ob ich mich übergeben oder in Tränen ausbrechen sollte. Ich hatte alles getan, um die Fehler, die ich bei David und meiner Firma gemacht hatte, nicht zu wiederholen, und zwar, indem ich mich emotional auf nichts mehr einließ. Aber irgendetwas fehlte mir. So ungern ich es zugab: Scarlett hatte recht. Ein Teil der Person, die ich einmal gewesen war – ein großer Teil –, war verschwunden. Ich schloss die Augen und atmete durch, um nicht in aller Öffentlichkeit zu weinen. Ja, früher war ich bereit gewesen, es mit der Welt aufzunehmen. Und auch ich wollte gern wieder dieser Mensch sein.

Meine Schwester drückte mir die Hand, und ich blickte ihr ins Gesicht. »Ich liebe dich«, sagte ich.

»Ich liebe dich auch, aber werd jetzt bloß nicht sentimental. Du musst über diesen Kerl und das, was er dir angetan hat, hinwegkommen, und ich habe das Gefühl, dass du irgendwie feststeckst«, sagte Scarlett.

Ich war doch über ihn hinweg, oder? David und ich lebten zwar in derselben Stadt, aber ich achtete geflissentlich darauf, dass wir uns in verschiedenen Welten bewegten. Ich sehnte mich nicht mehr nach ihm, aber Scarlett hatte recht – es fühlte sich tatsächlich an, als steckte ich irgendwo fest.

»Bitte überleg dir, ob du nicht doch nach London gehen willst«, sagte sie. »Auf diese Weise bist du nicht in New York, wenn der Börsengang stattfindet, und du kannst dich inspirieren lassen, dich von der Vergangenheit lösen und dir überlegen, was du machen willst, wenn du mal erwachsen bist.« Sie grinste. Wie immer bereitete es ihr Vergnügen, mir ins Gedächtnis zu rufen, dass sie älter als ich war.

»Wenn dich in New York nichts mehr hält, warum solltest du dann nicht für einige Wochen oder auch Monate mit nach London kommen? Vielleicht kannst du auf diese Art noch mal ganz von vorn anfangen«, meinte Darcy.

»Du behauptest immer, dass du von Augenblick zu Augenblick leben willst«, fuhr Scarlett fort. »Aber irgendwie sieht es oft so aus, als könnte der nächste Augenblick der letzte für dich sein. Warum also nicht ein paar dieser Augenblicke in London verbringen? Und wenn du zurückkommst, hast du dich neu erfunden: Violet King 2.0.«

Ich hasste es, aber im Grunde konnte ich Scarlett nicht widersprechen. In den vergangenen zwölf Monaten war ich von einem Job als Kellnerin zum nächsten gestolpert, und das war nicht lustig gewesen, so oft ich auch das Gegenteil behauptete. Ich hatte meinen Mobilfunkvertrag auf den Basistarif reduzieren und verdammt oft Toast essen müssen. Etwas musste sich ändern, aber ein Auslandsaufenthalt war mir bislang noch nicht in den Sinn gekommen. Konnte ich mein Leben wirklich wieder auf Null setzen, indem ich nach London ging? Würde ich dort auf neue Ideen kommen? Eine Violet erschaffen, die es wieder mit der Welt aufnehmen konnte?

»Ryder begleitet mich, also wird er darauf bestehen, dass wir einen Privatjet chartern. Du müsstest dir nicht mal ein Ticket kaufen.«

Ich kicherte. Da draußen gab es eine ganze Welt, von der ich keine Ahnung hatte. Und Privatjets standen ganz oben auf meiner Wunschliste. Wenn ich meine letzten dreihundert Dollar – und ein paar geliehene dazu – nicht für ein Flugticket ausgeben musste, verkürzte das zudem die Liste der Gründe, die gegen meine Reise nach London sprachen, um einen weiteren Punkt.

»London also, hm?«

»Ja!«, quiekte Darcy begeistert. »Und am Wochenende kommst du mich auf dem Land besuchen.«

»Aber ich müsste mir da drüben einen Job suchen«, dachte ich laut. Mit meinem restlichen Geld würde ich nicht weit kommen, selbst wenn ich keine Miete mehr zahlen musste.

»Restaurants gibt’s in London wie Sand am Meer. Du wirst sofort einen Job finden«, sagte Darcy.

Ich rümpfte die Nase. »Na ja, ehrlich gesagt würde ich lieber etwas anderes machen. Wie Scarlett schon sagte: ein bisschen Abwechslung kann nicht schaden.« Ich vermied es, meiner Schwester in die Augen zu blicken, denn sie hatte zweifellos ihr »Hab-ich’s-nicht-gesagt«-Grinsen im Gesicht.

»Okay, ich rede mit Freunden unserer Familie. Mal sehen, was sich machen lässt«, sagte Darcy. »Vielleicht hat ja jemand einen Job zu vergeben.«

»Bist du dir sicher? Dass ich in eurem Haus wohnen darf, ist wahnsinnig großzügig von dir, und …«

Mit erhobener Hand brachte Darcy mich zum Schweigen. »Lass nur, ist schon gut. Ich kann dir nichts versprechen, aber ich werde sehen, was sich machen lässt.«

»Danke.« Ich lächelte und nickte nachdenklich. Vielleicht war ein Tapetenwechsel genau das, was ich brauchte. Wenigstens hatten die Männer dort einen Akzent. Und den Kerlen in dieser Bar nach zu urteilen, musste ich mir dringend ein neues Jagdrevier suchen. Außerdem würde ich vielleicht nach langer Zeit mal wieder anfangen, mir Gedanken über meine Zukunft zu machen.

2. KAPITEL

VIOLET

London war genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Die schwarzen Taxis und roten Telefonzellen, der Regen und die alten Gebäude – all das begeisterte mich. Nachdem ich Darcys Stadthaus abgeschlossen hatte, drehte ich mich um und stieg die drei Stufen zum Bürgersteig hinab. Alles war so herrlich britisch. Außer dem Akzent musste ich mir deshalb auch die Fähigkeit aneignen, pausenlos über das Wetter zu reden. Darüber sprachen die Briten wie über ein dysfunktionales Familienmitglied, das sie immer wieder enttäuschte. Sogar wenn der Himmel blau war und die Sonne schien, beklagten sie sich, denn damit hatten sie nicht gerechnet und waren zu dick angezogen. Ich glaube nicht, dass sie sich über Regen freuten, aber wenn es ein paar Tage lang trocken blieb, schüttelten sie den Kopf, denn seltsamerweise schien sie der ausbleibende Niederschlag zu beunruhigen. Es war völlig skurril, aber ich fand es wundervoll. Wollte ich ein Gespräch mit einem Fremden anfangen, war das Wetter mein Trojanisches Pferd, das wusste ich inzwischen. Das Thema war das Gegenstück zum Super Bowl in Amerika, nur mit dem Unterschied, dass das Wetter an jedem Tag des Jahres stattfindet.

Ich ging mit einem guten Gefühl in diesen Tag. Der Himmel war blau, ich war nicht zu dick angezogen, meine Dauerfahrkarte war mit zwanzig Pfund Guthaben aufgeladen, und das Vorstellungsgespräch, das Darcy für mich organisiert hatte, würde ich mühelos bewältigen. Ich spürte es. Heute war mein Glückstag. So musste es einfach sein. Ich besaß nur noch fünfzig Dollar, und wenn ich diesen Job nicht bekam, würde ich meine Schwester anrufen müssen, damit sie mir ein Ticket kaufte für den Rückflug in die USA und das Nichts, das mich dort erwartete.

Am Tag vor meiner Abreise nach London hatte ich drei volle Kartons aus meiner Wohnung getragen und dazu den Koffer, den ich nach England mitnehmen wollte. Drei Kartons, in denen sich all meine Klamotten, Bücher, Andenken und mein Schmuck befanden. Möbel besaß ich nicht. Ich nannte nicht einmal eine Gabel mein Eigen. Jahrelang hatte ich es genossen, nur wenig zu besitzen, und lange Zeit fand ich es megacool, dass ich nicht an materiellen Dingen hing. Doch als ich die drei Kartons auf dem Rücksitz des Wagens meiner Schwester sah, kam mir das plötzlich erbärmlich vor.

Doch so ein Gefühl würde ich an diesem Tag nicht an mich heranlassen. Mich interessierten nur das Vorstellungsgespräch und der Drei-Monats-Vertrag, den es mir vielleicht einbringen würde. Darcy hatte gehört, dass ein Freund ihres Großvaters einen befristeten Job zu vergeben hatte – Verwaltungsarbeiten für mehrere Anwaltskanzleien –, und sie hatte einen Gesprächstermin für mich vereinbart. Die Stelle war mir noch nicht sicher – durchaus möglich, dass ich das Vorstellungsgespräch vermasselte, aber natürlich würde ich mein Bestes tun. Ich wollte Darcy nicht enttäuschen, und die Vorstellung, in einem Anwaltsbüro zu arbeiten, gefiel mir. Das war neu für mich. Die Stellenbeschreibung war ziemlich vage formuliert, aber Darcy hatte mir erzählt, dass sie jemand Belastbaren suchten und dass eine Amerikanerin für den Job möglicherweise genau richtig war.

Auf Wikipedia hatte ich mich rasch mit grundlegenden Informationen über den Anwaltsberuf versorgt. Ich hatte herausgefunden, dass es bei den Briten, im Gegensatz zu den Amerikanern, zwei Arten von Anwälten gab – solicitors und barristers. Letztere, die Prozessanwälte, trugen seltsame Perücken und Roben und gingen vor Gericht. Solicitors hingegen nicht, die trugen Anzüge, saßen im Büro und kümmerten sich dort um ihre Mandanten. Ich hatte keine Ahnung, wozu diese Trennung nötig war, aber die Prozessanwälte in ihrem altmodischen Aufzug kamen mir besonders britisch vor, und da ich mich in alles Britische förmlich hineinsteigerte, kam mir dieses Jobangebot gerade recht.

Ich spähte in meine Umhängetasche. Das gefaltete Blatt Papier, auf dem ich die Adresse notiert hatte, war noch da und ebenso mein Handy, also steuerte ich auf die U-Bahn-Station zu. Ich hatte die Route genau durchgeplant und war rechtzeitig aufgebrochen. An der Holborn Station würde ich aussteigen und dort mithilfe von Google Maps herausfinden, wohin ich gehen musste. An diesem Tag fühlte ich mich einfach großartig.

Ich erreichte den Eingang zur U-Bahn und hielt meine Fahrkarte an das Lesegerät. Wenn ich den Job bekam, würde ich diesen Weg in den kommenden drei Monaten jeden Tag zurücklegen. Es würde sich anfühlen, als lebte ich tatsächlich in London. Ich wusste nicht, wann ich zuletzt so freudig erregt gewesen war, aber ganz sicher war es nicht wegen eines Jobs oder einer Pendelstrecke gewesen. Es fühlte sich tatsächlich wie der Anfang von etwas an – ein Neubeginn.

Als abgehärtete New Yorkerin war ich an das typische U-Bahn-Gesicht gewöhnt. Wenn man öffentliche Verkehrsmittel benutzte, musste man gewisse Regeln einhalten – den Reißverschluss der Handtasche zuziehen, Augenkontakt meiden und eine teilnahmslose Miene aufsetzen. Ich war mir ziemlich sicher, dass in der Londoner Tube dieselben Gesetze galten, aber dennoch konnte ich an diesem Tag ein Lächeln nicht unterdrücken, denn ich wollte meine gute Laune mit allen teilen.

Kaum hatte ich den Bahnsteig betreten, fuhr schon der Zug ein. Ich nahm es als positives Zeichen – alles verlief nach Plan. Ich trat einen Schritt nach vorn, achtete aber darauf, hinter der gelben Linie zurückzubleiben – »Mind the gap!«, befahl eine elektronische Stimme. Ich stieg ein und erblickte in einer Ecke einen freien Platz, doch ein Mann, der mit mir zusammen eingestiegen war, war näher dran. Als er den freien Platz gesehen hatte, drehte er sich zu mir um. Er hatte leuchtend blaue Augen und ein so markantes Kinn, dass ich am liebsten die Hand ausgestreckt und es gestreichelt hätte. Eigentlich war er nicht mein Typ – Anzüge mochte ich nicht –, aber für einen so großen, gut aussehenden Mann würde ich eine Ausnahme machen. Für einen Mann, dem der Anzug verdammt gut stand.

»Bitte«, sagte er und deutete auf den freien Sitzplatz.

Ein wahnsinnig heißer Typ bot mir einen Platz an? Das hier war wirklich mein Glückstag. »Danke.« Jetzt strahlte ich über das ganze Gesicht.

Er blieb stehen, und unsere Blicke begegneten sich. Er nickte, drehte sich wieder um und holte eine Zeitung heraus. Seit er mich angesehen hatte, schlug mein Herz ein bisschen schneller, und ich beobachtete, wie er die Zeitung ausschüttelte und sie dann mit ruhigen, gezielten Bewegungen zusammenfaltete. Ob er im Bett auch so ruhig und zielstrebig war? Würde er meinen Körper genauso betrachten wie seine Zeitung, ebenso konzentriert? Ich seufzte, denn ich würde es niemals erfahren.

Als ich mich setzen wollte, sah ich, dass eine Frau, die im Gegensatz zu mir nicht von einem scharfen Typen abgelenkt worden war, den für mich vorgesehenen Platz eingenommen hatte. Offenbar hatte die Höflichkeit der Briten ihre Grenzen. Erneut seufzte ich und sah mich um in der Hoffnung, einen Platz zu finden, an dem ich stehen bleiben konnte, ohne zu schwanken oder sogar umzufallen. Ich quetschte mich in einen Spalt in der Nähe der Tür und hielt mich an der gelben Stange fest, um die sich außer meiner eigenen noch fünf Hände klammerten. Außerdem war ich zufällig direkt neben dem attraktiven Fremden eingezwängt, der es trotz des brechend vollen Zuges schaffte, seine Zeitung weiterzulesen. Ich blickte zu ihm auf. Seine Hand war kaum zwei Zentimeter von meiner Schulter entfernt. Ich senkte den Blick auf den Boden. Sein Fuß berührte beinahe meinen. Es war äußerst seltsam, einem völlig fremden Mann so nahe zu sein. Er stand so dicht neben mir, dass ich ihn mit der … Zunge hätte berühren können.

Die erotische Dürreperiode, die ich durchmachte, führte dazu, dass ich mich Fantasien über einen Fremden in der U-Bahn hingab. Allerdings schlug mich dieser Typ derartig in seinen Bann, dass ich vermutlich sogar fünf Minuten nach einem Orgasmus schon wieder schmutzige Gedanken gehabt hätte. Er war einfach hinreißend.

In den zwei Wochen seit meiner Ankunft in London hatte ich noch nicht mal einen Mann geküsst. In New York war es einfach, einen Typen aufzureißen oder mich auf jemanden einzulassen, der mich aufreißen wollte. Viel zu einfach. Und genau wie das Kellnern hatte auch die Dating-Szene für mich viel von ihrem Reiz verloren. Dating in New York langweilte mich, und ich fand es sinnlos, in London damit weiterzumachen, denn schließlich war ich hergekommen, um etwas Neues auszuprobieren und richtig durchzustarten. Doch bislang hatte ich nur viel ferngesehen, den britischen Akzent geübt und zu Fuß die Stadt erkundet. Und all das nur, um mir die Zeit zu vertreiben, bis mir ein befristetes Visum bewilligt werden würde.

Scarlett hatte recht: Es war sinnlos, für den Augenblick zu leben, wenn ein Augenblick wie der andere war. Ich musste ein bisschen Schwung und Abwechslung in mein Leben bringen.

Der Zug hielt an. Ich beugte mich vor und blickte aus dem Fenster, um den Namen der Station zu lesen. Ich war mir sicher, dass es bis Holborn noch zwei Haltestellen waren, aber ich wollte unbedingt rechtzeitig aussteigen. Die Station hieß Piccadilly Circus. In der Woche zuvor war ich einmal dort gewesen und hatte enttäuscht festgestellt, dass es weder Tiere noch Akrobaten gab. Nur diesen Erosbrunnen, umgeben von elektronischen Reklametafeln. Der Platz wirkte wie der exzentrische, aber weniger reiche Cousin des Times Square. Als ich mich wieder aufrichtete, streiften meine Haare die Zeitung des blauäugigen Fremden, und er blickte auf mich herunter. »Ups«, sagte ich lächelnd. Er starrte mich an, ohne zu blinzeln, und weil ich nicht wegsehen konnte, starrte ich einfach zurück. Es kam mir vor, als versuchte er, sich wortlos mit mir zu verständigen. Aber was wollte er mir sagen?

Darf ich dich küssen?

Dich zum Dinner ausführen?

Ich bin fantastisch im Bett, siehst du das nicht?

Ja, ja, und doppelt Ja, aber bitte mit Sahne.

Der Fremde blinzelte dreimal schnell, als wäre er gerade aus einer Trance erwacht, dann wandte er sich stirnrunzelnd wieder dem Artikel zu, den er gerade las. Ich musterte ihn immer noch. Sogar ohne das markante Kinn und den durchdringenden Blick wäre er attraktiv gewesen. Sein dichtes, dunkelbraunes Haar, die breiten Schultern und der teure Anzug – alles passte perfekt zusammen. Seine glatte Haut war gebräunt, und ich musste all meine Selbstbeherrschung aufbringen, um sie nicht zu berühren, denn ich hätte zu gern gewusst, ob sie sich tatsächlich so geschmeidig anfühlte, wie ich sie mir vorstellte. Seine Hände waren lang, die Finger schlank und kräftig, die sauberen Nägel kurz geschnitten, aber nicht manikürt. Maniküre für Männer war in New York inzwischen an der Tagesordnung, vor allem für die Typen von der Wallstreet, und das war einer der Gründe, warum ich nur selten mit einem Anzugträger ausging. Maniküre ist etwas, das ausschließlich Frauen vorbehalten sein sollte.

Endlich öffneten sich die Türen zum Piccadilly Circus, und wenn ich den Zug für voll gehalten hatte, belehrten mich die gefühlt dreitausend Menschen, die sich jetzt in den Waggon zu quetschen versuchten, eines Besseren. Ich verlagerte das Gewicht, sodass ich dem Mann meiner erotischen Träume näherkam – mein Fuß stand zwischen seinen Füßen, und ich starrte ihm direkt auf die Brust. Wir hatten schon vorher eng beieinandergestanden, aber jetzt streifte sein Ärmel meine Hand, und wenn ich tief einatmete, roch ich Leder und Holz – nicht stark genug für ein Eau de Cologne, aber zu teuer für eine Seife oder ein schlichtes Deo. Vielleicht ein sorgfältig ausgewähltes Duschgel. Die Türen schlossen sich mit einem Piepen, und der Zug fuhr wieder an, schlingerte kraftvoll vorwärts. Hätte mein attraktives Gegenüber nicht ebenfalls sein Gewicht auf den anderen Fuß verlagert, wäre ich an seine Brust gedrückt worden. Wir stellten uns wieder gerade hin, und der Zug nahm Fahrt auf, fuhr in einem geradezu hypnotischen Rhythmus schaukelnd weiter. Falls der Fremde gemerkt hatte, dass ich ihn musterte, sagte er zumindest nichts, und selbst wenn er eine Bemerkung gemacht hätte – ich hätte ihn vermutlich weiterhin angestarrt. Plötzlich kam der Zug kreischend zum Stehen. Ich riss die Arme hoch, um nicht hinzufallen, und zu meinem Glück landeten meine Hände auf der breiten, muskulösen Brust des blauäugigen Fremden. Eine Sekunde lang war ich wie erstarrt, weder willens noch in der Lage, mich zu bewegen, doch dann umfasste er meine Oberarme und schob mich zurück, bis ich wieder sicher auf eigenen Füßen stand.

»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte er, und sein britischer Akzent hüllte mich ein wie Seide, während sich meine Hände von seiner Brust lösten.

Am liebsten hätte ich mich wieder an ihn gelehnt, nur um seine Kraft zu spüren. Ja, das war es. Sein Duft, sein Blick, diese Stimme und die Art, wie er mich angefasst hatte – all das passte perfekt zusammen. Alles strahlte Stärke aus – geistige, körperliche und charakterliche Stärke.

»Ja. Tut mir leid, ich glaube, ich bin die Tube einfach nicht gewohnt.«

»Nehmen Sie die Beine etwas weiter auseinander, dann sind Sie besser ausbalanciert«, antwortete er.

Hatte er mich wirklich gerade gebeten, die Beine zu spreizen? Ich grinste und nickte.

Er holte tief Luft, wobei sich seine ohnehin schon breite Brust noch mehr ausdehnte, und widmete sich wieder seiner Zeitung. Ich seufzte, etwas lauter, als ich eigentlich wollte, und die Frau neben mir wandte sich ab und versuchte vergeblich, etwas Abstand zwischen uns zu bringen. Wahrscheinlich glaubte sie, dass ich unter Medikamenten stand. Oder verrückt war oder beides. Um so normal wie möglich zu erscheinen, holte ich mein Handy heraus und ging ins Internet. Ich rief Google Maps auf und versuchte herauszufinden, wohin ich gehen musste, wenn ich die Tube verlassen hatte.

Rasch fuhr der Zug von einer Haltestelle zur nächsten und hielt öfter, als ich es gewohnt war. Leider prallte ich nicht noch einmal gegen meinen attraktiven Fremden, denn ich stand nun breitbeiniger da, und nur wenig später erschienen die ersten Hinweisschilder auf die Holborn Station im Fenster. Ich musste aufhören, über unglaublich attraktive Männer in der U-Bahn zu fantasieren und mich konzentrieren. Ich drängelte mich durch die Menschenmenge hindurch zu den Türen. Als sie sich öffneten, machte ich drei Schritte nach vorn, und gerade, als ich den Bahnsteig betrat, stieß mir jemand mit dem Ellbogen so fest gegen den Arm, dass mir das Handy aus der Hand fiel.

Mit rasendem Puls sah ich, wie mein Handy und somit der Stadtplan in Zeitlupe in Richtung der berüchtigten Bahnsteigkante rutschte, auf die man unbedingt achten sollte – mind the gap. »Nein!«, rief ich verzweifelt, als die Leute, die nach mir ausstiegen, mein Handy auf die Gleise beförderten.

Fuck. Ich bedeckte mein Gesicht mit beiden Händen, während die Leute an mir vorbeihasteten. Ich konnte es nicht glauben. Wie sollte ich jetzt zu meinem Vorstellungsgespräch kommen? All meine Hoffnungen auf ein neues Leben, auf einen Neubeginn, hingen an diesem Job. Und auf keinen Fall wollte ich Darcy in Verlegenheit bringen, indem ich nicht zum Vorstellungsgespräch erschien.

»Das war mein Fehler. Tut mir leid.«

Ich drehte mich um und erblickte den Mann, der meine Reise mit der U-Bahn etwas interessanter gestaltet hatte. Ich holte tief Luft. »Ihr Fehler?«

Der Zug begann zu piepen, und die Türen schlossen sich. Vielleicht würde er mein Handy ja doch nicht unter seinen Rädern zerquetschen, und ich konnte auf das Gleis springen und es holen, bevor der nächste Zug kam?

»Ich habe Sie angerempelt«, antwortete der Fremde.

Also war er derjenige, der mich mit dem Ellbogen erwischt hatte. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich hinter ihm ausgestiegen war.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich hätte vorsichtiger sein müssen.« Jetzt, da der Zug den Bahnhof verlassen hatte, blickte ich auf das Gleis hinunter. »Da ist es.« Mein Handy schien überhaupt nicht beschädigt zu sein. »Glauben Sie, dass ich genug Zeit habe, um hinunterzuspringen und es zu holen?«, fragte ich den Mann.

Ein Ausdruck des Schreckens legte sich auf sein Gesicht, und er zog mich von der Bahnsteigkante weg. Ich blickte hinunter zu der Stelle, wo seine Hand meinen Arm berührte. Er hatte mich mit einer Leichtigkeit von der Kante zurückgeholt, als wäre ich eine Puppe, und vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich glaubte, die Hitze seiner Haut durch den Ärmel meines Mantels zu spüren. Er fasste in seine Jackentasche und holte eine Visitenkarte heraus. »Das Bahnhofspersonal kann es vielleicht holen, wenn heute Abend der Fahrbetrieb eingestellt wird. Und wenn nicht, rufen Sie mich an, und ich ersetze es Ihnen.«

Ich war dermaßen damit beschäftigt, ihn anzustarren, dass ich kaum hörte, was er sagte, doch schließlich drangen seine Worte zu mir durch.

»Heute Abend? Nein, ich brauche es jetzt!« Panik überkam mich. Ich musste zu diesem Vorstellungsgespräch, und mit weniger als fünf Pfund in der Tasche konnte ich mir nicht einmal einen Stadtplan kaufen. »Ich brauche die Karte, um den Weg zu finden! Ich habe einen Termin.« Ich griff nach seinem Arm, der mich immer noch berührte.

Der Fremde senkte den Blick auf unsere Arme, dann sah er mir erneut in die Augen. Er hatte den gleichen Gesichtsausdruck wie in der Tube – als wollte er mehr sagen, als er tatsächlich herausbrachte.

Ich musste mich konzentrieren. Musste unbedingt zu diesem Vorstellungsgespräch. »Vielleicht können Sie mir den Weg zeigen?« Ich holte den Zettel mit der Adresse der Prozessanwaltskanzlei aus meiner Umhängetasche. Gott sei Dank hatte ich sie mir aufgeschrieben. »Sie müssen mir sagen, wie ich da hinkomme. Ich darf auf keinen Fall zu spät kommen.«

Er warf einen Blick auf den Zettel, dann sah er mir wieder ins Gesicht, musterte mich forschend aus blauen Augen. »Ich muss auch dorthin. Am besten nehme ich Sie einfach mit.«

»Tatsächlich?« Selbst wenn der Typ nicht ausgesehen hätte wie aus einer Tom-Ford-Anzeige, sodass mir die Knie schon weich wurden, wenn er mich nur ansah – hätte er mir einen Antrag gemacht, hätte ich in diesem Augenblick sogar meinen Vorsatz gebrochen, niemals zu heiraten. Auf keinen Fall durfte ich dieses Vorstellungsgespräch verpassen.

Er nickte. »Das ist das Mindeste, was ich tun kann.« Seine Stimme erinnerte mich an Crème brûlée – seidenweich und ein kleines bisschen rau. Lecker. Wenn ich eine Portion davon genossen hatte, würde ich sogar noch den Teller ablecken.

Eine Sekunde lang vergaß ich, dass ich am Rand einer Katastrophe stand.

»Kommen Sie«, sagte er und strebte dem Ausgang zu.

Im Aufzug nach oben sprachen wir kein Wort. Mit gerunzelter Stirn, als würde er ein komplexes Problem durchdenken, stand er vor mir. Ich wollte ihn nicht stören, aber es kam mir seltsam vor, nicht mit ihm zu reden.

»Sie sind also auf dem Weg zur Arbeit?«, fragte ich, als wir die Drehkreuze passierten.

»Ja, genau«, sagte er.

Er war kurz angebunden und förmlich. Offenbar hatte er keine Lust, sich mit mir zu unterhalten. Er schien froh zu sein, dass Schweigen zwischen uns herrschte. Was allerdings nur dazu führte, dass ich mehr über ihn wissen wollte.

»Ich muss zu einem Vorstellungsgespräch. Für einen Job«, sagte ich in der Hoffnung, dass er mir nun etwas über sich erzählen würde. Was machte er beruflich? War er Diamantenhändler? Professioneller Polospieler? Vielleicht gehörte er ja zum Königshaus. Er hatte etwas Majestätisches an sich. »Ich will einen guten Eindruck machen. Meine Schwester sagt immer, ich sei unzuverlässig, aber tatsächlich komme ich nie zu spät. Ich hasse Zuspätkommen. Das ist wirklich das Letzte – total arrogant«, plapperte ich drauflos. Er machte mich nervös. Männer machten mich sonst nie nervös.

»Arrogant?«, fragte er. Seine Stirn lag immer noch in Falten, und ich versuchte, mit ihm Schritt zu halten, als wir die Straße entlanggingen.

Ehe ich antworten konnte, klingelte sein Telefon. »Knightley«, meldete er sich.

Sein Name war Knightley? Verdammt. Ein Brite mit einem romantischen, sexy Namen, noch dazu möglicherweise der bestaussehende Mann, der mir je unter die Augen gekommen war, rettete mich vor dem drohenden Verhängnis. Offensichtlich sah nicht nur Darcys Landhaus so aus, als wäre es einer Novelle von Jane Austen entsprungen.

Er blickte mich von der Seite an und drückte das Handy an die Schulter. »Dieses Gespräch muss ich annehmen, aber in ein paar Minuten sollten wir da sein.«

»Kein Problem«, sagte ich. Es war mir egal, dass er telefonierte. Ich würde auf jeden Fall pünktlich zu meinem Vorstellungsgespräch kommen, und wenn er mich nicht mehr ansah, bedeutete das, dass ich ihn nun anstarren konnte. Verstohlen betrachtete ich seinen knackigen runden Hintern. Himmel … Ob er was dagegen hätte, wenn ich sein Jackett etwas anhob, um sicherzugehen, dass er tatsächlich so gut war, wie er aussah? Männer mit knackigem Hintern mochte ich beinahe so sehr wie Männer mit großen Händen und vollem Mund. All das gehörte zur Ausstattung eines Mannes, der gut im Bett war. Und diese Augen? Die Art, wie er mich ansah? Ich erschauerte.

Wir verließen den Gehweg und schlüpften durch eine Lücke zwischen den Gebäuden. Auf einmal war es, als wären wir in einem Schrank verschwunden und auf der anderen Seite wieder herausgekommen. Wenige Sekunden zuvor waren wir noch von Verkehr, Lärm und unzähligen Menschen umgeben gewesen, aber hier hörten wir Vögel zwitschern, Gebäude wie aus einem Roman von Charles Dickens säumten einen großen Platz, und überall standen Bäume.

»Wo sind wir?«, fragte ich und sah mich um.

Der attraktive Fremde blickte mich an, dann deutete er auf den Eingang zu einem Park und führte sein Telefongespräch weiter.

Das hier sah überhaupt nicht nach London aus. Es erinnerte an eine Disney-Version der Stadt, wie ich sie vielleicht in Florida finden würde. Wir überquerten eine Straße mit Kopfsteinpflaster, auf der keine Autos fuhren, obwohl gerade Hauptverkehrszeit war, und betraten einen von einem schwarzen Geländer umgebenen Park. Der Rasen war sorgfältig gestutzt, und ein paar Leute saßen auf Bänken, genossen ihren Kaffee oder lasen in der Zeitung. Wo waren wir? Durch meine Spaziergänge in den letzten zwei Wochen wusste ich, dass es in London wunderschöne Parks gab. Ich war im Hyde Park und im St. James Park gewesen, und es gab etliche öffentliche Plätze, die von Gebäuden mit Blick auf eine kleine Grünfläche umgeben waren. Aber das hier? Das hier war die Steigerung von Park. Schließlich erreichten wir den Ausgang, und ich sah ein Schild, auf dem Lincoln’s Inn Fields stand. Wenn ich nach Hause kam, würde ich diesen Platz googeln. Wenn ich nach Hause kam – hatten die Kinder Narnia eigentlich je wieder verlassen? Irgendwie würde ich den Rückweg finden müssen.

Das schrille Geräusch einer Klingel erregte meine Aufmerksamkeit, aber ehe ich es lokalisieren konnte, legte Knightley mir einen Arm um die Schultern, zog mich an sich, und wich mit mir einem entgegenkommenden Radfahrer aus. Zum zweiten Mal an diesem Morgen stützte ich instinktiv die Hände auf seine Brust, um nicht hinzufallen. Wie schon zuvor in der U-Bahn fühlte er sich stark und beschützend an, und ich wünschte mir nichts anderes, als mich anzulehnen und seinen Duft einzuatmen. Ständig rettete er mich vor irgendetwas – erst in der U-Bahn, dann begleitete er mich zu meinem Vorstellungsgespräch, und jetzt sorgte er dafür, dass ich nicht von einem Fahrrad überfahren wurde. Es fuhr an uns vorbei. Ich blickte Knightley ins Gesicht, sein Blick bohrte sich in meinen.

»Danke«, flüsterte ich.

Er schwieg, rührte sich aber nicht vom Fleck und blickte mich noch immer an. Einen Moment lang glaubte ich, er würde mich küssen. Ich spürte, dass er es wollte, und ich hätte seinen Kuss sofort erwidert. Aber er tat es nicht, sondern wir standen einfach eine Weile so da. Regungslos. Wir starten einander an, und irgendwie war das noch intimer als ein Kuss.

Das Handy noch immer am Ohr, richtete er seine Aufmerksamkeit endlich wieder auf die Person am anderen Ende der Leitung. Er wandte den Blick ab, und ich löste die Hände von seiner Brust.

Wir setzten unseren Weg fort und durchquerten eine weitere Lücke zwischen den Gebäuden. Eigentlich hatte ich erwartet, erneut in den Londoner Trubel zu geraten, doch stattdessen war ich auf einmal von einer Szenerie umgeben, die an naive Malerei erinnerte. Kleine Rasenflächen und noch mehr alte Häuser aus verschiedenfarbigen Ziegeln und mit bleiverglasten Fenstern. Es sah aus wie eine Spielzeugstadt. Wir bogen scharf rechts ab, und Knightley beendete das Telefonat, ohne sich zu verabschieden, und steckte das Handy in die Manteltasche. »Wir sind da. Sagen Sie mir doch später, wie die Sache mit ihrem Handy ausgegangen ist.«

Ich hätte ihm lieber etwas anderes gesagt. Lade mich zum Essen ein. Küss mich. Irgendetwas. Ich wollte nicht, dass er einfach fortging. In New York gab es jede Menge Männer, aber keiner hatte mich je so fasziniert wie dieser Mann. Es war, als hätte ich beim Einsteigen in die U-Bahn einen Zaubertrank zu mir genommen, durch den ich mich zu diesem Knightley hingezogen fühlte. Dabei war er noch nicht mal mein Typ.

Ich bat nie einen Kerl um ein Date. Das war noch nie nötig gewesen. Aber als er sich nun zum Gehen wandte, wünschte ich, ich hätte mehr Übung darin. »Mache ich. Vielen Dank.«

Er öffnete den Mund, als wollte er noch etwas sagen, runzelte dann aber die Stirn und hatte es sich offenbar anders überlegt. Und damit stieg er ein paar Stufen hinauf und verschwand durch eine offen stehende Tür. Ich überprüfte die Angaben auf meinem Zettel. New Square Nr. 1. Genau die gleiche Adresse stand in glänzender schwarzer Farbe auf der Wand des Gebäudes. Ich hatte es geschafft. Der attraktive Fremde war in dem Gebäude verschwunden, das auch mein Ziel war. Noch ein Zeichen. Vielleicht würde ich ihn wiedersehen. Heute war mein Tag, ich hatte es gewusst.

Ich holte tief Luft und stieg auf Knightleys Spuren die Treppe hinauf.

Es war an der Zeit, sich als großartig zu erweisen.

3. KAPITEL

ALEXANDER

Das Training an diesem Morgen war heftig gewesen. Je härter ich arbeitete, desto härter trainierte ich. Ich war fest davon überzeugt, dass ich in meinem Job nur gut sein konnte, wenn ich auch physisch fit war. Und ich war fest entschlossen zu tun, was ich tun musste, um als Prozessanwalt so gut wie nur möglich zu sein. Mit dem Resultat, dass ich seit 5 Uhr auf den Beinen war, bis 6 Uhr 30 trainiert hatte und um 7 Uhr ein Konferenzgespräch mit Dubai führte. Ich hasste es, wenn ich zu spät ins Büro kam, aber an diesem Morgen ging es nicht anders. Mein Weg zur Arbeit an diesem Tag war … ungewöhnlich gewesen. Die Frau, die ich beim Aussteigen aus der U-Bahn angerempelt hatte, war wunderschön, und ich bekam das Bild, wie sie mitten auf den Lincoln’s Inn Fields zu mir aufgeblickt hatte, nicht aus dem Kopf. Ich musste mich konzentrieren. Und vielleicht Sex haben, wenn ich Zeit dafür fand. Aber nicht an diesem Abend. Da würde ich arbeiten. Ich musste Hunderte von Zeugenaussagen durchgehen und mein Eröffnungsplädoyer ausarbeiten.

In drei Tagen würde ich vor Gericht gehen, und das war das Einzige, was zählte. Ich konnte keine Zeit mit Gedanken an irgendeine Frau verschwenden.

Als ich meine E-Mails überflog und versuchte, die wichtigen aus den Hunderten von Spam-Mails in meinem Posteingang herauszufiltern, klopfte es an der Tür. Ich unterdrückte ein unwilliges Knurren. Ich hasste es, gestört zu werden – ich brauchte unbedingt ein entsprechendes Türschild.

»Herein!«, blaffte ich.

Die Tür öffnete sich, und am Klang der Schritte erkannte ich, dass es der Büroleiter war. »Mr Knightley.«

»Craig.« Ich blickte nicht vom Bildschirm meines Laptops auf. Craig war ein jovialer, charmanter Mann in den Fünfzigern. Er war in diesem Geschäft, seit er fünfzehn war, und hatte schon für meinen Vater gearbeitet. Wenn mich jemand stören durfte, dann er. Und das wusste er. Im Lauf der Jahre hatte ich ihn immer wieder gebeten, mich Alex zu nennen, aber er bestand darauf, dass alle Büroangestellten die Anwälte mit dem Nachnamen anredeten. Bei Gericht konnte es ganz schön altmodisch zugehen.

»Ich möchte Ihnen Ihre neue Assistentin vorstellen, Violet King.«

Meine Finger schwebten über der Tastatur. Ich wusste nicht, dass eine Assistentin für mich eingestellt worden war und hätte dem auch niemals zugestimmt – ich arbeitete allein. Langsam drehte ich mich um und erblickte Craig, der mit erwartungsvoll hochgezogenen Brauen vor meinem Schreibtisch stand.

»Meine was?«, fragte ich. Neben ihm tauchte eine Gestalt auf. Als ich in ihre Richtung blickte, starrte ich die wunderschöne Frau an, um die meine Gedanken kreisten, seit ich in der Kanzlei angekommen war. Was war hier los? Ich wandte den Blick ab, denn ich war überzeugt, dass Craig bemerken würde, wie sehr ich mich von ihr angezogen fühlte, wenn ich sie länger als für den Bruchteil einer Sekunde ansah.

Als ich sie an diesem Morgen auf dem Bahnsteig gesehen hatte, war mir die Luft weggeblieben. Fasziniert hatte ich beobachtet, wie sie auf mich zugeeilt war und den Bahnsteig kurz vor Eintreffen des Zuges erreichte. Sie hatte hellblaue Augen, gerötete Wangen und langes schwarzes Haar. Ich konnte mir genau vorstellen, wie ich mit den Händen darin wühlte, während ich sie über meinen Schreibtisch legte und sie vögelte. Frauen erregten selten meine Aufmerksamkeit, aber diese hier war nicht einfach nur schön. Sie hatte etwas Exotisches an sich, etwas, das mich neugierig auf sie machte. Auf unserem gemeinsamen Weg an diesem Morgen hatte ich ihre Hitze gespürt, und ich freute mich beinahe, dass ich sie bis zur Kanzlei begleiten konnte, obwohl ich mir wie ein Teenager vorkam, der nicht recht wusste, was er sagen sollte. Ich war dankbar, dass ein Anruf mich davor bewahrte, ihr zu zeigen, wie sehr sie mich faszinierte. Die Art, wie sie mit blauen Augen zu mir aufgeblickt hatte, als sie sich in der U-Bahn und dann noch einmal auf den Lincoln’s Inn Fields an meiner Brust abgestützt hatte … Mein Puls begann zu rasen – ob es an der Erinnerung lag oder daran, dass sie jetzt in meiner Nähe war, hätte ich nicht zu sagen gewusst.

Hier in meinem Büro war sie genauso wunderschön. Wirkte genauso verführerisch. Sie machte mich nervös. Ich mochte keine Überraschungen, und dass sie für mich arbeitete, war das Letzte, was ich gebrauchen konnte.

»Sie kann sofort anfangen, ist das nicht großartig?«

»Und wobei soll Miss King mir assistieren, wenn ich fragen darf?« Ich hatte noch nie von einem Anwalt gehört, der eine Assistentin hatte. Wir teilten uns Buchhaltung und Anwaltsgehilfen, und die meisten Anwälte kamen ohnehin ziemlich gut allein zurecht. Letzten Endes war jeder von uns selbstständig, und wir saßen nur in ein und derselben Kanzlei, um Ressourcen zu sparen. Wir zahlten zwar alle einen Prozentsatz unseres Einkommens für den Unterhalt dieser Prozessanwaltskanzlei, waren aber sehr auf unsere Unabhängigkeit bedacht. Eigenständig zu sein und wenig mit anderen Menschen zu tun zu haben – das gehörte zu den Dingen, die ich an meinem Job besonders mochte. Hin und wieder unternahm Craig einen Versuch, meinen Bürokram oder die Rechnungslegung zu organisieren, aber das war nie von Dauer. Ich gab nicht nach, und er gab auf.

»Sie wird Ihnen bei der Fakturierung helfen. Sie wissen doch, dass Ihr Umsatz eigentlich dreimal so hoch sein müsste.«

Ein guter Büroleiter hielt einen Prozessanwalt während seiner ganzen Karriere auf Kurs, und ich wusste, dass Craig auf mich aufpasste. Das Problem war nur, dass mich Geld nicht die Bohne interessierte. Ich verdiente eine Menge, und der Tod meines Vaters hatte mich zu einem sehr wohlhabenden Mann gemacht. Was mich interessierte, war die Arbeit als solche. Ich verschwendete nicht gern Zeit damit, Mandanten Rechnungen zu schicken und ihnen dann hinterherzulaufen, bis sie endlich bezahlten. Als die Angestellten einmal versucht hatten, mein Rechnungswesen auf den neuesten Stand zu bringen, hatten sie von mir verlangt, jede einzelne Akte durchzugehen und ihnen zu sagen, was noch in Rechnung gestellt werden müsse. Im Grunde taten sie gar nichts. Meine mangelnde Kooperationsbereitschaft und meine gelangweilten Antworten entmutigten sie rasch, und es gab haufenweise Dinge, die einfacher zu erledigen waren. Aber eine Assistentin, deren einzige Aufgabe darin bestand, mich zu nerven, würde vielleicht eine größere Herausforderung darstellen. Besonders, wenn sie so schön war wie Violet King. Die wenigen Minuten, die ich an diesem Morgen mit ihr verbracht hatte, ohne sie zu kennen, hatten mich bereits allzu sehr abgelenkt. Ich fragte mich, wie ich mich auf die Arbeit konzentrieren sollte, wenn sie die ganze Zeit in meiner Nähe war. Meine Zeit war begrenzt. Ich musste stets konzentriert bleiben.

»Sie arbeiten härter als jeder andere Anwalt, den ich kenne, und dafür sollten Sie belohnt werden«, sagte Craig.

Das konnte nicht sein Ernst sein. Craig hatte für meinen Vater gearbeitet, also wusste er, wer tatsächlich der fleißigste Anwalt war, der jemals vor Gericht erschienen war. Immer wieder war ich überrascht, die leeren Korridore zu sehen, wenn ich bis spät nachts in der Kanzlei saß. Ich hatte angenommen, dass alle Anwälte so hart arbeiteten wie mein Vater, der kaum je abends früh nach Hause gekommen war. Oftmals schaffte er es überhaupt nicht. Meine Mutter hatte uns mehr als einmal nach Lincoln’s Inn mitgenommen, um ihm ein frisches Hemd zu bringen oder mit ihm essen zu gehen. Für mich war das immer ein großes Abenteuer gewesen – ich wusste, dass mein Vater beeindruckend und seine Arbeit wichtig war, denn die hatte er immer als Grund genannt, warum er nicht nach Hause kam. Und wenn ich ihn in dieser Umgebung sah, wusste ich, dass es stimmte. Die Männer in Anzügen, die Leute, die mit lauter Akten auf dem Arm um ihn herumschwirrten und taten, was er ihnen sagte, die Art, wie mir jeder, der mir über den Weg lief, erklärte, wie talentiert mein Vater doch war und wie glücklich ich mich schätzen durfte, sein Sohn zu sein – all das erzeugte den sehnsüchtigen Wunsch in mir, genauso zu werden wie er. Schon mit acht Jahren wusste ich, dass auch ich für Lincoln’s Inn arbeiten wollte. Ich hatte mir ausgemalt, wie wir Seite an Seite arbeiten und uns vielleicht sogar ein Büro teilen würden. Er starb, bevor ich zum ersten Mal vor Gericht erschien. Unsere Karrieren hatten sich nie überschnitten.

»Sie wissen, dass ich mir aus Geld nichts mache«, antwortete ich.

»Darf ich ehrlich sein? Wenn es weitergeht wie bisher, steht bald diese Prozessanwaltskanzlei wegen Ihrer nachlässigen Buchhaltung in schlechtem Licht da, und das schadet uns allen. Wir müssen modern und dynamisch wirken, wenn wir Mandanten und aufstrebende Anwälte anziehen wollen. Alles, worum wir Sie bitten, ist, dass Sie sich von jemandem helfen lassen.« Craig sah sich im Raum um. Überall lagen Unterlagen herum. Ich stellte mir gern vor, dass mein Büro aussah wie das Miniaturmodell einer asiatischen Großstadt – Türme von Papieren, die sich bis zur Decke stapelten und verhinderten, dass Licht von außen in den Raum drang. »Und Ihre Ablage und das Archiv sind völlig außer Kontrolle geraten. Da muss dringend jemand Ordnung schaffen.«

»Ich kümmere mich darum«, sagte ich, wohl wissend, dass ich das niemals tun würde.

Craig seufzte. »Tun Sie mir einen Gefallen, und geben Sie Violet eine Chance. Sie wird drei Monate hier sein und Ihnen das Leben einfacher machen. Sie ist eine clevere, robuste Amerikanerin. Sie sollte also in der Lage sein, mit Ihnen zurechtzukommen.«

Ich antwortete nicht. Niemand sonst in der Kanzlei hätte es gewagt, so unverblümt mit mir zu reden. Ich wusste, dass mich die meisten jüngeren Angestellten fürchteten, und das gefiel mir ziemlich gut. Mir war es nur recht, wenn ich bei der Arbeit in Ruhe gelassen wurde, und deshalb kam es mir entgegen, dass ich nie in höfliche Konversation verwickelt oder mit dummen Fragen belästigt wurde.

»Ich habe zu viel zu tun, um irgendjemandem etwas zu erklären«, sagte ich, drehte mich wieder zu meinem Laptop um und vermied es sorgfältig, Violet anzusehen. An diesem Morgen war ich kurz davor gewesen, sie zu küssen. Als ich sie aus der Bahn dieses rücksichtslosen Radfahrers zog, fühlte sie sich in meinen Armen verdammt gut an, irgendwie genau passend, und ich hätte sie am liebsten überhaupt nicht mehr losgelassen. Fast spürte ich sie noch an meiner Brust, während ich hier nur einen Meter von ihr entfernt saß. Ihr Lächeln war so warm und offen gewesen, und eine Sekunde lang hatte ich vergessen, wie spät es war. Vielleicht hatte ich es mir auch nur eingebildet. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich blickte wieder zu ihr hinüber, und da war es wieder … dieses warme Lächeln, das Hitzewellen durch meinen ganzen Körper jagte. Würden ihre Lippen beim Küssen so weich sein, wie sie aussahen? Würde sie sich so an mich schmiegen, wie ich es mir vorstellte?

Ich holte tief Luft und blickte wieder Craig an.

»Ich sagte ja bereits, dass er schwierig sein würde«, meinte Craig, wohl zu meiner neuen Assistentin.

Dann war das hier also der Job, auf den sie so scharf war. Es war paradox. Hätte ich ihr den Weg zur Kanzlei nicht gezeigt, wäre sie überhaupt nicht hier.