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Vielleicht wird unsere Liebe mich heilen. Vielleicht wird sie mich aber auch endgültig zerstören.
Alles, was ich weiß, ist: Ich bin bereit, das Risiko einzugehen.
Seit drei Jahren versucht Jesse Carter vor allem eins: zu vergessen. Doch die Erinnerungen an diese eine Nacht, in der sie alles verloren hat, verfolgen sie noch immer. Es vergeht keine Sekunde, in der sie nicht daran denkt, nicht davon träumt. Nur selten verlässt sie die schützenden Wände ihres Zuhauses - am liebsten würde sie sich für immer vor der Welt verstecken. All das ändert sich jedoch, als plötzlich Roman "Bane" Protsenko in ihr Leben tritt und ihr scheinbar aus heiterem Himmel einen Job als Barista in seinem Café sowie seine Freundschaft anbietet. Jesse kennt die Gerüchte, die sich um den stadtbekannten Draufgänger ranken - es heißt, er sei ein Lügner und ein Betrüger, weshalb sie weder Interesse an seinem Angebot hat noch daran, Bane näher kennenzulernen. Doch dieser lässt nicht locker. Stück für Stück beginnt er, Jesses Schutzmauern zu durchbrechen und sie so zurück ins Leben zu holen. Und auch Jesse gelingt es immer mehr, hinter Banes Maske zu blicken. Sie erkennt, dass der Mann, der sich dahinter verbirgt, genauso gebrochen ist wie sie. Dabei ahnt sie nicht, dass der wahre Grund für Banes Annäherung ihr Herz ein für alle Mal zerstören könnte ...
"Ich liebe diese Reihe!" KYLIE SCOTT
Band 4 der SINNERS-OF-SAINT-Reihe von SPIEGEL-Bestseller-Autorin L.J. Shen
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Seitenzahl: 553
L. J. SHEN
BROKEN LOVE
Sinners of Saint
Roman
Ins Deutsche übertragen vonPatricia Woitynek
Seit drei Jahren versucht Jesse Carter vor allem eins: zu vergessen. Doch die Erinnerungen an diese eine Nacht, in der sie alles verloren hat, verfolgen sie noch immer. Es vergeht keine Sekunde, in der sie nicht daran denkt, nicht davon träumt. Nur selten verlässt sie die schützenden Wände ihres Zuhauses – am liebsten würde sie sich für immer vor der Welt verstecken. All das ändert sich jedoch, als plötzlich Roman »Bane« Protsenko in ihr Leben tritt und ihr scheinbar aus heiterem Himmel einen Job als Barista in seinem Café sowie seine Freundschaft anbietet. Jesse kennt die Gerüchte, die sich um den stadtbekannten Draufgänger ranken – es heißt, er sei ein Lügner und ein Betrüger, weshalb sie weder Interesse an seinem Ange- bot hat noch daran, Bane näher kennenzulernen. Doch dieser lässt nicht locker. Stück für Stück beginnt er, Jesses Schutzmauern zu durchbrechen und sie so zurück ins Leben zu holen. Und auch Jesse gelingt es immer mehr, hinter Banes Maske zu blicken. Sie erkennt, dass der Mann, der sich dahinter verbirgt, genauso gebrochen ist wie sie. Dabei ahnt sie nicht, dass der wahre Grund für Banes Annäherung ihr Herz ein für alle Mal zerstören könnte …
Leserhinweis:
Dieser Roman enthält Beschreibungen sexueller Gewalt, die triggern können.
Für Tijuana Turner und Amy Halter
»Can You Feel My Heart« – Bring Me the Horizon
»If You Can’t Hang« – Sleeping With Sirens
»Time to Dance« – Panic! At the Disco
»Roadgame« – Kavinsky
»Iris« – Goo Goo Dolls
»Bite My Tongue« – Meet Me At Six
»My Own Summer« – Deftones
»Famous Last Words« – My Chemical Romance
»Hideaway« – Kyko
Es heißt, keine Schneeflocke gleiche exakt einer anderen. Ein jeder dieser Eiskristalle besticht durch seine einzigartige, wunderschöne filigrane Struktur. Ein Symbol für Reinheit.
Doch das Schicksal jeder Schneeflocke, die das Glück hat, den Boden zu erreichen, ist es, von Schmutz verunstaltet zu werden. Schneeflocken lehren uns, dass wir früher oder später unrein werden, wenn wir nur lange genug leben.
Und doch wird unsere Schönheit dadurch nicht getrübt.
Damals
Ein Lügner.
Ein Gauner.
Ein gottloser Dieb.
Mein Ruf war eine Riesenwelle, die ich ritt, die jeden um mich herum unter sich begrub und sämtliche Versuche, sich an meinem Eigentum zu vergreifen, schon im Keim erstickte.
Ich war als Kiffer bekannt, aber in Wahrheit war Macht meine bevorzugte Droge. Geld bedeutete mir nichts. Es war greifbar und somit leicht zu verlieren. Für mich waren Menschen Figuren in einem Spiel, das ich schon immer meisterhaft beherrscht hatte.
Beweg die Türme übers Brett.
Wandle die Dame um, falls nötig.
Schütze den König mit allen Mitteln.
Ich war nie unaufmerksam, nie ängstlich besorgt, ließ mich niemals beirren.
Ihr könnt euch meine Überraschung vorstellen, als ich mich plötzlich mit allem auf einmal konfrontiert sah.
Sie war eine Sirene mit kohlrabenschwarzem Haar, die mich darum brachte, die größte Welle zu reiten, die ich in diesem Sommer gesehen hatte. Die meine kostbare Aufmerksamkeit ablenkte. Mir meinen gottverfluchten Atem stahl.
Geschmeidig glitt sie vom Ozean auf den Strand.
Ich setzte mich rittlings auf mein Surfboard und gaffte sie an.
Am Rand meines Blickfelds tauchten Edie und Beck auf ihren Boards neben mir auf.
»Die da gehört Emery Wallace«, warnte Edie mich. Dieb.
»Sie ist das heißeste Gerät in der ganzen Stadt«, ergänzte Beck lachend. Gauner.
»Und, was noch wichtiger ist: Sie datet nur reiche Typen.« Lügner.
Ich brachte alles Nötige mit, um sie mir zu krallen.
Ihre Haut hatte die Farbe frisch gefallenen Schnees, hell und weiß, als schiene die Sonne geradewegs durch sie hindurch. Sie verhöhnte die Natur, ihr Hintern meine geistige Gesundheit, doch es waren die Worte auf ihrem Rücken, die meinen Verstand vollends in Aufruhr versetzten.
Nein, meine Reaktion entsprang nicht ihren Kurven oder ihrem Hüftschwung, verführerisch wie ein vergifteter Apfel, sondern dem Tattoo, das ich schon vorhin bemerkt hatte, als sie näher bei mir geschwommen war, und das pfeilgerade von ihrem Nacken ihren Rücken hinablief.
Längst liebt’ ich dich, eh ich dich sah.
Puschkin.
Ich kannte nur einen einzigen Menschen, der völlig verrückt nach dem russischen Dichter war – und genau wie der berühmte Alexander sah er sich inzwischen die Radieschen von unten an.
Meine Freunde machten sich auf den Rückweg zum Ufer. Doch ich konnte mich nicht bewegen. Ich glaubte nicht an die Liebe auf den ersten Blick. Lust, vielleicht, nur war das nicht der Begriff, den ich suchte. Nein. Dieses Mädchen faszinierte mich.
»Wie heißt sie?« Ich packte Beck an seinem Knöchel und zog ihn zu mir zurück. Edie hörte auf zu paddeln und sah nach hinten, ihre Augen hüpften wie Pingpongbälle zwischen uns hin und her.
»Vergiss es, Kumpel.«
»Wie. Heißt. Sie?«, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Alter, sie ist viel zu jung für dich.«
»Ich werde mich nicht noch ein zweites Mal wiederholen.«
Beck schluckte sichtbar, er wusste verdammt genau, dass ich nicht nur herumblödelte. Falls sie über achtzehn war, hatte die Jagd begonnen.
»Jesse Carter.«
Jesse Carter würde mir gehören, noch ehe sie mich kannte.
Oder ich sie.
Bevor ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt und ihr Schicksal mit ihrem eigenen Blut umgeschrieben würde.
Auch wenn ich verlogener Drecksack das zu einem späteren Zeitpunkt unserer Geschichte nicht zugeben würde, wollte ich sie schon, bevor ich ihren geschäftlichen Nutzen erkannte.
Bevor die Wahrheit zu ihrem Käfig wurde.
Bevor die Geheimnisse ans Tageslicht kamen.
An jenem Tag surfte ich nicht.
Mein Board zerbrach.
Ich hätte ahnen müssen, dass das ein Omen war.
Und als Nächstes mein Herz an der Reihe sein würde.
Für ein Mädchen ihres Alters verstand sie es bravourös, mich zugrunde zu richten.
Damals
Es geschah in einer Vollmondnacht.
Was für ein lachhaftes, geschmackloses Klischee, oder? Ein fetter, kugelrunder, gespenstisch weißer Mond illuminierte triumphierend die Nacht, in der meiner Bestimmung, meiner Identität, meiner Haut tiefe, blutige Wunden zugefügt wurden.
Still und ungerührt hing er über mir, während ich zu ihm hinaufstarrte. Schönes ist oftmals schrecklich nutzlos.
Häng da nicht einfach so rum. Ruf die Polizei. Einen Krankenwagen. Rette mich.
Ich fragte mich, ob ich wohl sterben würde. Und falls ja, wie lange es dauern würde, bis Pam meine Abwesenheit bemerkte. Und Darren sie damit beruhigte, dass ich schon immer labil gewesen sei. »Süß«, würde er sie lispelnd beschwichtigen, »aber labil«. Wie lange, bis sie ihm zustimmte? Wie lange, bis die unbarmherzige Sonne das Kitkat auf Dads Grabstein zum Schmelzen brächte?
»Was für eine Schande«, würden sie klagen. »Sie war so ein gutes Mädchen.« Es gibt nichts Effektiveres als einen toten Teenager, damit die gesamte Gemeinschaft den Schulterschluss übt. Besonders in einer Stadt wie Todos Santos, wo sich Tragödien nur in den Zeitungen und auf CNN abspielten. Oh ja, dies hier würde ihnen definitiv ein Tuschelthema liefern. Die pikante Geschichte vom Absturz des aktuellen It-Girls.
Wie in Zeitlupe dämmerte mir die Erkenntnis, dass Emery, Henry und Nolan zur Strafe noch nicht einmal einen Klaps auf die Hand bekämen. Gemeinnützige Arbeit? So weit käme es noch. Die öffentliche Empörung würde sich, in Form von bösen Blicken und stornierten Einladungen zu den Veranstaltungen im Country Club nächstes Jahr, ausschließlich gegen mich richten. Die Außenseiterin. Die dummdreiste Sterbliche, die es gewagt hatte, sich unter den Geldadel von Todos Santos zu mischen.
Die drei würden ungeschoren davonkommen. Sie würden Partys feiern, das College besuchen, ihren Abschluss machen und ihre bescheuerten Hüte in die Luft werfen. Sie würden heiraten, Kinder zeugen, an Ehemaligentreffen teilnehmen und jedes Jahr mit ihren Freunden in Skiurlaub fahren. Sie würden ihr Leben genießen. In vollen Zügen. Der Gedanke, dass ihre Herkunft und ihr Geld sie vor einer Strafverfolgung schützten, machte mich krank. Weil mein Leben überall dort, wo es drauf ankam, vorbei war, egal, ob man mich nun tot oder lebendig von dieser Straße kratzen würde.
Für einen flüchtigen Augenblick war ich wieder die alte Jesse. Ich versuchte, optimistisch zu denken. Die Temperatur war angenehm für Februar, nicht zu warm, nicht zu kalt. Der kühle Asphalt unter mir dämpfte die Hitze, die von meinem Körper Besitz ergriffen hatte.
Vielleicht könnte ich es schaffen. Ich könnte im Ausland studieren. Darren war ein Experte darin, Probleme mit Geld aus der Welt zu schaffen. Ich könnte mich neu erfinden, vergessen, dass es je passiert war. Ließen sich solche Erinnerungen nicht mittels Hypnose unterdrücken? Ich sollte Mayra danach fragen, die Seelenklempnerin, zu der meine Eltern mich schickten, seit die Albträume angefangen hatten. Die Wissenschaft kannte keine Grenzen. Paradebeispiel: Meine vierzigjährige Mutter sah dank Botox aus wie dreiundzwanzig.
Kleine Steine bohrten sich in meinen Rücken. Mein rosaroter Spitzen-BH und mein Slip lagen zerrissen irgendwo neben mir, und obwohl mein Unterleib taub war, spürte ich etwas meinen Oberschenkel hinunterrinnen.
Noch immer sah ich blinzelnd zum Mond empor, der wie ein Scheinwerfer vom tintenschwarzen Himmel herabstrahlte und mich beklagenswerte Sterbliche verspottete.
Ich musste versuchen aufzustehen. Hilfe rufen. Mich retten. Aber die Vorstellung, dass mein Versuch scheitern könnte, lähmte mich stärker als der Schmerz. Meine Beine fühlten sich empfindungslos an, meine Hüftknochen zermalmt.
In der Ferne heulten Sirenen.
Ich kniff die Augen zusammen. Oft sah ich dann meinen Vater, als wäre sein Gesicht in die Innenseiten meiner Lider gestanzt. In meinen Träumen lebte er weiter, und das bildlicher als die Frau, die er zurückgelassen hatte. Pam rückte ständig an den Seitenrand meiner Geschichte, zu beschäftigt damit, ihre eigene zu schreiben.
Die Sirenen wurden immer lauter. Mir sackte das Herz in den Magen, wo es sich zusammenrollte wie ein geprügelter Welpe.
Nur noch ein paar Minuten, und du bist der neueste Klatsch. Ein abschreckendes Beispiel.
Die alte Jesse würde weinen. Sie würde schreien und der Polizei alles erzählen. Sich trotz der unnormalen Umstände normal verhalten. Die alte Jesse würde Rache schwören und das Richtige tun. Den feministischen Weg wählen. Sie würde sie nicht ungeschoren davonkommen lassen.
Die alte Jesse würde fühlen.
Der Krankenwagen bremste neben mir am Straßenrand ab, so nah, dass mir der Gummigeruch der heißen Reifen in die Nase drang. Dass sie Hilfe gerufen hatten, brachte mich mehr auf, als wenn sie mich meinem Schicksal überlassen hätten, weil das bewies, wie sehr sie sich trotz ihrer Tat ihrer Unangreifbarkeit bewusst waren. Neben mir wurde eine Krankentrage aufgeklappt. Eine einzelne Träne rollte über meine Wange, als ich mir die letzten Worte in Erinnerung rief, die ich gehört hatte, bevor sie mich in der Gasse zurückgelassen hatten.
Längst liebt’ ich dich, eh ich dich sah.
»Jetzt hast du uns gesehen, Hure. Hast dich wacker geschlagen.« Nolan trat mir in die Rippen.
Ich hatte mir den Spruch in dem Glauben stechen lassen, in Emery verliebt zu sein. Jetzt brannte mein Nacken so heftig, dass ich mir die Haut herunterreißen und sie zu meinen zerfetzten Klamotten schleudern wollte.
Mit qualvoller Anstrengung bedeckte ich meine Brüste mit meinem linken Arm und legte den rechten über meinen entblößten Bauch, um die Buchstaben zu verbergen, die sie hineingeritzt hatten, als wäre ich ein Halloween-Kürbis. Dabei hatten sie mich zum Zusehen gezwungen, indem sie mein Kinn mit ihren weichen, sauberen Händen gepackt hielten und meinen Hals unnatürlich nach vorn bogen. Als Bestrafung für meine schändliche Sünde.
Blut sickerte aus den Buchstaben in meinen pinkfarbenen Designerrock, sie leuchteten wie eine Neonreklame auf meiner Haut, dem Urteil und Gelächter der ganzen Welt ausgesetzt.
Die alte Jesse würde erklären und verhandeln und argumentieren.
Die alte Jesse würde versuchen, das Gesicht zu wahren.
Die alte Jesse war tot.
Heute
Im Endeffekt war es wohl so, dass mir alles komplett am Arsch vorbeiging.
Die Menschen im Allgemeinen und erst recht dieser Beliebtheitswettbewerb, den sich reiche Leute in einer Tour lieferten, weil sie von den üblichen Problemen Normalsterblicher verschont blieben, sich weder Gedanken um unbezahlte Rechnungen machen noch sich wie verantwortungsbewusste Erwachsene benehmen mussten.
Ich war der Strandgammler, der Kiffer, der Junkie – und der Drogendealer auf Bewährung. Meine Popularität hielt sich in Grenzen, andererseits hatten die Leute zu viel Angst vor mir, um Streit mit mir zu suchen. Ich hatte mich nicht bewusst für eine Karriere als Kleinkrimineller entschieden. Aber meine Mutter war nicht wohlhabend, mein Vater nie präsent gewesen, darum musste ich eben alles dransetzen, um in der reichsten Stadt Kaliforniens zu überleben und ein bisschen mehr Komfort zu haben als Kabelfernsehen und Tiefkühlgerichte zum Mittagessen.
Dann war da noch das Profi-Surftraining, mit dem ich mit fünfzehn anfing. Das kostete ebenfalls eine Stange Geld. Gleichzeitig war es das Einzige, was mich interessierte, von meiner Mutter mal abgesehen. Ansonsten ließ mich das Leben eher kalt. Darum fing ich schon früh an, Drogen zu verticken, vorwiegend Pot. Es war einfacher, als man meinen würde: Besorg dir zwei Wegwerf-Handys bei Walmart, eins für Lieferanten, eins für Kunden. Tausch sie regelmäßig aus. Tätige keine Geschäfte mit Leuten, die du nicht kennst. Quatsch mit niemandem darüber. Sei freundlich, aber bestimmt.
Auf diese Weise hatte ich mir mein Surftraining und die Highschool finanziert – und indem ich mich als Taschendieb betätigte, wann immer ich ein neues Board brauchte. Ich hatte die Angewohnheit, die Dinger zu schrotten.
So kam ich über die Runden – jedenfalls bis zu meiner Bewährungsstrafe und der Erkenntnis, dass ich nicht für den Knast geschaffen war und eine andere Einnahmequelle brauchte. Das war vor ungefähr fünf Jahren, aber nie hätte ich mir träumen lassen, dass ich irgendwann im Büro des respekteinflößendsten Kerls von ganz Todos Santos sitzen würde, um mit ihm … nun ja, Geschäfte zu machen. Legale Geschäfte, wohlgemerkt.
»Was deinen Spitznamen angeht …« Baron Spencer, von allen, die das Pech hatten, ihn zu kennen, Vicious genannt, goss grinsend vier Fingerbreit Macallan in zwei Gläser und betrachtete die goldfarbene Flüssigkeit mit einem Ausdruck, den Menschen normalerweise ihren Kindern vorbehalten.
Um Spencer zu treffen, war ich extra von Todos Santos nach Los Angeles gefahren. Was logistisch gesehen totaler Humbug war, weil wir nur zehn Minuten voneinander entfernt wohnten. Aber wenn es etwas gab, was ich in Bezug auf reiche Arschlöcher gelernt hatte, dann war es, dass sie die Selbstinszenierung liebten. Mit allem Drum und Dran. Dies war kein Freundschaftsbesuch, folglich mussten wir uns an seinem Arbeitsplatz treffen, damit ich sehen konnte, wie groß sein Eckbüro, wie scharf seine Sekretärin und wie teuer sein Whisky war.
Von mir aus hätten wir uns auch auf dem Mars treffen können, sofern ich erreichte, weswegen ich gekommen war. Meine ungeschnürten Stiefel schlugen gegeneinander, als ich die Knöchel kreuzte und den Drink ignorierte, den er mir über seinen verchromten Schreibtisch zuschob. Ich bevorzugte Wodka. Abgesehen davon vermied ich es, alkoholisiert auf meine Harley zu steigen. Im Gegensatz zu Mr Spencer hatte ich keinen Chauffeur, der mich durch die Gegend kutschierte wie einen Krüppel. Aber das Wichtigste zuerst. Er hatte mir eine Frage gestellt.
»Meinen Spitznamen?« Ich strich mir versonnen über meinen Bart.
Er bedachte mich mit einem knappen Verscheißere-mich-nicht-Nicken. »Bane weist eine auffällige Ähnlichkeit zu Vicious auf, findest du nicht?«
Nein, finde ich nicht, Blödmann.
»Warst nicht du derjenige, der dieses Spiel namens Defy erfunden hat?« Ich wippte mit meinem Stuhl auf den beiden hinteren Stuhlbeinen und kaute geräuschvoll auf meinem Zimtkaugummi herum. An dieser Stelle wäre wohl eine Erklärung angebracht: Defy war eine alte Tradition an der All Saints High, nach der Schüler einander zum Faustkampf herausforderten. Dieser Schwachsinn war auf dem Mist der Vier HotHoles gewachsen, vier Typen, die über die Schule geherrscht hatten, als gehörte sie ihren Eltern. Ironischerweise traf das gewissermaßen sogar zu. Baron Spencers Vorfahren hatten die halbe Stadt erbaut, inklusive der Highschool, deren Leitung Jaime Followhills Mutter bis vor sechs Jahren innegehabt hatte.
Vicious senkte das Kinn und musterte mich. Der Kerl hatte die Art von Grinsen drauf, die Frauen dazu animierte, seinen Namen zu seufzen, selbst wenn er auf einem anderen Kontinent weilte. Dabei war er seit seiner Hochzeit mit Emilia LeBlanc nicht mehr zu haben.
»Doch, das ist korrekt.«
»Tja, man nennt dich Vicious, weil du das Spiel ins Leben gerufen hast. Ich wiederum habe mir den Namen Bane dadurch verdient, es eliminiert zu haben.« Ich zog einen Joint aus meiner Tasche. Man musste kein Sherlock Holmes sein, um zu kombinieren, dass Vicious hier rauchte: Zu seinem Büro gehörte eine offene Veranda, auf seinem Schreibtisch befanden sich mehr Aschenbecher als Stifte.
Dann erzählte ich ihm, wie ich in der neunten Klasse zum ersten Mal zu einem Kampf herausgefordert wurde. Die diversen besonderen Regeln an der All Saints High waren mir nicht geläufig gewesen, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, kreative Möglichkeiten zu ersinnen, um das Geld für meine Schultasche und die Unterrichtsgebühren aufzutreiben. Ich schilderte, wie mich irgendein Knilch beim Mittagessen provoziert und ich mein Tablett auf seinem Schädel zerdeppert hatte. Ihm hatte das eine Gehirnerschütterung sowie den Spitznamen SpongeBob Flachkopf eingetragen. Zwei Wochen später lauerte er mir auf, sekundiert von sechs mit Baseballschlägern bewaffneten Zwölftklässlern. Ich prügelte auch sie windelweich und zerbrach als Zugabe ihre Schläger. Wir hatten alle mächtig Ärger bekommen. Diese Schlappschwänze hatten gejammert, dass ich zu hart zugeschlagen und die Regeln nicht befolgt hätte. Der Name »Bane« rührte daher, dass Rektorin Followhill versehentlich mit dem Ellbogen den Lautsprecher eingeschaltet hatte, während sie der Schulpsychologin mein Verhalten beschrieb und mich als den »Fluch ihres Daseins« bezeichnete.
Rektorin Followhill nutzte die Gelegenheit, um eine Tradition auszumerzen, zu deren Erschaffung ihr Sohn Jaime beigetragen hatte.
Natürlich war es nicht gerade hilfreich, dass einen Monat vor dem Zwischenfall die Kantine einer Privatschule in Washington Schauplatz eines Amoklaufs à la Columbine geworden war. Die Leute hatten Schiss vor reichen Kids. Doch ich wurde noch mehr gefürchtet, so viel steht fest.
Nennt es einen selbstlosen Zug von mir, jedenfalls hatte ich meinem Umfeld gute Gründe geliefert, einen Bogen um mich zu machen.
Man hatte mir einen Spitznamen verpasst, und ich setzte alles in meiner Macht Stehende daran, ihm gerecht zu werden.
Aus meiner Sicht war ich ein vaterloser russischer Immigrant, der in einer der wohlhabendsten Städte Amerikas lebte. Die Chance, mich zu integrieren, blieb mir von Anfang an verwehrt. Aber was war schon so schlimm an der Außenseiterrolle?
Grinsend lehnte Vicious sich in seinem Ledersessel zurück. Es juckte ihn nicht, dass ich Defy den Garaus gemacht hatte. Meiner Vermutung nach gab es generell nicht viel, das ihn interessierte. Er war steinreich, mit einer der schönsten Frauen weit und breit verheiratet und ein hingebungsvoller Vater. Er hatte die Schlacht und den Krieg gewonnen und jedes Hindernis aus dem Weg geräumt. Vicious musste nichts mehr beweisen, er verströmte Zufriedenheit aus jeder Pore.
Er war satt, ich dagegen hungrig. Und Hunger ist gefährlich.
»Zur Sache, Bane. Was führt dich her?«
»Ich möchte dich von einer Investition überzeugen«, antwortete ich und zog an dem Joint, bevor ich ihn Vicious reichte. Er lehnte mit einem kaum merklichen Kopfschütteln ab, sein Grinsen wurde herablassend. »Schalt ’nen Gang runter. Wir sind keine Freunde, Junge. Genau genommen kennen wir uns kaum.«
Ich ließ einen langen, dünnen Rauchfaden durch meine Nase entweichen.
»Wie du weißt, reißen sie gerade das alte Hotel am Tobago Beach ab. Es ist eine gewerbliche Nutzung des Geländes vorgesehen, nach bisheriger Planung soll dort ein Einkaufszentrum entstehen. Ende des Jahres wird eine Auktion stattfinden. Die externen Firmen, die vorhaben mitzubieten, wissen nicht, was auf sie zukommt. Sie sind weder mit dem sozialen Gefüge in Todos Santos noch mit den hiesigen Bauunternehmern vertraut. Im Gegensatz zu mir. Für eine Finanzspritze von sechs Millionen biete ich dir fünfundzwanzig Prozent Anteile an einem Surfcenter, bestehend aus einer Surfschule sowie einschlägigen Geschäften, verschiedenen Gastronomiebetrieben und auf Touristen spezialisierten Krimskramsläden. Die Kosten für den Erwerb des Grundstücks und die Abrissmaßnahmen gehen allein zu meinen Lasten, darum betrachte dies als mein erstes und letztes Angebot.«
Ich würde durch diesen Deal einen Haufen Geld verlieren, aber ich brauchte Baron Spencers Namen auf meinem Gebot, denn das würde dem Gemeinderat die Pille versüßen. Wie man sich denken kann, genoss ich nicht den allerbesten Ruf.
»Mir gehört schon ein Einkaufszentrum in Todos Santos.« Vicious leerte sein Whiskyglas, knallte es auf den Schreibtisch und schaute durch die offene Verandatür auf die Skyline von Los Angeles. »Und zwar das einzige in der Stadt. Warum sollte ich mich an einem weiteren beteiligen?«
»Richtig, aber es ist ein Luxuskaufhaus. Prada, Armani, Chanel und solches Zeug. Marken, die sich Teenager und Touristen nicht leisten können. Ich will ein Surfcenter bauen. Du vergleichst Äpfel mit Birnen.«
»Trotzdem wird es dort Geschäfte geben.«
»Mit dem Schwerpunkt Strand und Wassersport. Ich werde dir keine Konkurrenz machen.«
Vicious schenkte sich noch ein Glas ein und starrte auf die Flüssigkeit. »Jeder Mensch mit einem Herzschlag ist mein Konkurrent. Ebenso wie deiner. Vergiss das nie.«
Ich blies eine Rauchwolke gen Decke und probierte es mit einer anderen Taktik. »Also schön. Vielleicht werde ich dir ein paar Kunden abjagen. Aber heißt es nicht: Wenn du sie nicht schlagen kannst, verbünde dich mit ihnen?«
»Wer sagt, dass ich dich nicht schlagen könnte?« Vicious legte die Füße auf den Tisch und kreuzte die Knöchel. Ich starrte auf seine makellosen Schuhsohlen. Er hatte keine Ahnung, mit wem er es zu tun hatte. Sicher, er wusste von mir. Wie auch nicht? Mit meinen fünfundzwanzig Jahren war ich Eigentümer des angesagtesten Bistros von Todos Santos – des Café Diem. Kürzlich hatte ich eine am Stadtrand gelegene Pension gekauft, die ich entkernen und in ein Boutique-Hotel ummodeln ließ. Darüber hinaus kassierte ich Schutzgeld von jedem Ladenbesitzer an der Promenade und machte halbe-halbe mit meinem Kumpel Hale Rourke. Das alles hört sich lukrativ an, doch in Wahrheit gab ich mehr aus, als ich insgesamt einnahm, und so war ich unterm Strich noch immer genauso abgebrannt wie früher. Nur hatte ich jetzt mehr Mist um die Ohren, um den ich mich kümmern musste.
Mein Aufstieg zur Macht vollzog sich langsam, jedoch stetig und unaufhaltsam. Die Familie meiner Mutter war wohlhabend, sie hatte uns unsere Auswanderung in die Staaten ermöglicht, als ich ein Kleinkind gewesen war. Seither mussten wir uns allein durchschlagen. Ich verdiente meinen Lebensunterhalt mit dem Dealen von Pot, mit Erpressung und indem ich für den richtigen Preis mit den falschen Frauen schlief. Wenn ich völlig blank war auch mal mit Männern. Jeder Kontakt, den ich knüpfte, um in dem Spiel voranzukommen, beruhte auf diversen anstößigen Kurzzeitaffären und sexuellen Gefälligkeiten. Folglich genoss ich nicht gerade einen astreinen Ruf, aber das war okay für mich. Immerhin hatte ich nicht vor, für ein öffentliches Amt zu kandidieren.
»Ich muss gestehen, dass ich dazu tendiere abzulehnen, Mr Protsenko.«
»Und woher, bitte schön, rührt diese Tendenz?«
»Dein Ruf eilt dir voraus.«
»Dann klär mich auf, was er besagt.«
Er nahm die Beine vom Tisch, beugte sich vor und legte den Kopf schief, sein Blick war eisig. »Dass du ein Betrüger bist, ein faules Ei – jemand, der einem Gift ins Essen mischt – und ein gottverfluchter Dieb.«
Es brachte nichts, diese Tatsachen zu bestreiten. Multitalent, das ich war, entsprach jeder Punkt auf seiner Liste der Wahrheit.
»Woher weiß ich, dass du dein Surfcenter nicht nutzen willst, um Geld zu waschen?« Ein zuckender Kiefermuskel verriet seine Verärgerung. Ich hatte das nicht vor, aber der Kerl war definitiv scharfsinnig.
»Viel zu riskant. Geldwäsche ist eine Kunst für sich.« Wieder stieß ich eine dichte Qualmwolke aus.
»Es ist außerdem eine Straftat.«
»Darf ich dich was fragen?« Ich klopfte die Asche an dem Whiskyglas ab, das er mir kredenzt hatte, um ihm zu zeigen, was ich von seinem sechzigtausend Dollar teuren Tropfen hielt. Er zog spöttisch eine Braue hoch und wartete darauf, dass ich weitersprach.
»Warum hast du mich überhaupt eingeladen, wenn du bereits wusstest, dass du Nein sagen wirst? Ich werde als einer der Favoriten für den Erwerb des Geländes gehandelt. Das ist allgemein bekannt. Dir war klar, dass ich nicht herkommen würde, um deine hübschen Augen zu bewundern.«
Vicious schürzte die Unterlippe und tippte sich mit dem Zeigefinger ans Kinn. »Was stimmt denn nicht mit meinen Augen?«
»Zunächst einmal gehören sie einem Mann.«
»Gerüchten zufolge beschränkst du dich nicht auf nur ein Geschlecht. Jedenfalls wollte ich mir einen persönlichen Eindruck verschaffen.«
»Wovon?« Ich ließ die Stichelei an mir abprallen; Homophobie war unter meiner Würde. Er wollte mich nur zu einer Reaktion provozieren. Aber dies war weder mein erstes noch mein letztes Kräftemessen mit einem eingebildeten Schnösel. Und ich gewann immer.
»Wie mein Nachfolger aussieht.«
»Dein Nachfolger? Du siehst mich verwirrt, verlegen und betäubt vom Tönen meines Bullshit-Detektors.« Ich grinste und kratzte mir mit dem Mittelfinger die Wange.
Wir waren polare Gegensätze: ein vaterloser Abkömmling der Mittelschicht und ein reicher Erbe. Mein blondes Haar war zu einem Männerdutt frisiert, mein mit Tätowierungen bedeckter Körper steckte heute in einem Primitive-Shirt, einer schwarzen Cargohose und schlammverkrusteten Stiefeln. Vicious war von Kopf bis Fuß in Brioni gehüllt, sein Haar schwarz und glatt, seine Haut hell wie Alabaster. Er glich einem Steak im Sternerestaurant und ich dem fettigen Cheeseburger aus einem Drive-in. Das scherte mich nicht. Ich liebte Cheeseburger. Und ich war mir sicher, dass die meisten Menschen einen Burger mit doppelt Käse einer Miniportion Tatar vorziehen würden.
Vicious streckte sich in seinem Chefsessel. »Du begreifst, dass ich dir nicht guten Gewissens dabei helfen kann, in Todos Santos ein Einkaufszentrum zu bauen – ob nun wassersportorientiert oder nicht. Du würdest meinem Geschäft schaden.« Er ignorierte meine Frage, und das schmeckte mir nicht. Ich versenkte den Joint in dem Whiskyglas und stand auf.
Er schaute mich an. Seine Miene war ernst, gleichmütig und schrecklich blasiert. »Aber das heißt nicht, dass ich dir nicht die Daumen drücke, Bane. Ich werde dich nur nicht für den Krieg rüsten, in den du einzutreten planst. Weil ich ebenfalls eine Armee in dieser Schlacht habe. Wer auch immer dort am Ende eine Mall hinstellt, schnappt mir Kundschaft weg, und wenn mir jemand ins Gehege kommt, zahle ich es demjenigen mit gleicher Münze heim.«
Ich rieb meinen Bart, ließ seine Worte sacken. Natürlich hegten Vicious und seinesgleichen keine Sympathien für mich. Er stand an der Spitze. Ich war auf dem Weg dorthin. Sein Selbsterhaltungstrieb gebot es, mich auszuschalten.
Spencer senkte den Blick und kritzelte etwas auf einen goldfarbenen Notizblock, auf dem das Logo von Vision Heights Holdings – seiner Firma – prangte. »Aber ich weiß jemanden, der dich eventuell unterstützen wird. Er versucht schon seit Jahren, in Todos Santos Fuß zu fassen, sich eine Reputation aufzubauen, steckt jedoch in einer Sackgasse. Er mag hier kein glaubwürdiges Image genießen, aber er hat eine weiße Weste und jede Menge Kies.« Er schob den Zettel über den schwarz-goldenen Chromtisch, und ich nahm ihn mit meinen tätowierten, schwieligen Fingern entgegen.
Darren Morgansen, darunter eine Telefonnummer.
»Ein Ölbaron.« Er strich seine Krawatte glatt. »Doch noch wichtiger ist, dass er dich ausreden lassen wird – im Gegensatz zur überwiegenden Mehrheit der Geschäftsleute in dieser Stadt.«
Er hatte recht, und das nervte mich.
»Wieso hilfst du mir?«, fragte ich. Ich mochte Baron Spencer. Als ich beschloss, ein Gebot auf das Grundstück abzugeben, war er als Partner meine erste Wahl gewesen. Ich kannte hier noch andere vermögende, einflussreiche Leute, aber niemand war so skrupellos wie er.
»Ich gebe dir nur einen Vorsprung. Das macht die Sache interessant, und ich lasse mich gern überraschen.« Er ließ seinen Ehering um seinen Finger rotieren. »Eröffne dein Surfcenter, Bane. Ich bin gespannt. Es würde mich freuen, endlich meinen Meister zu finden.«
Bevor ich das Gebäude verließ, benutzte ich spaßeshalber noch ausgiebig die Toilette und ließ ein paar der exklusiven Kugelschreiber mit VHH-Logo mitgehen. Ach ja, gut möglich, dass ich außerdem auch noch seine Sekretärin Sue gevögelt habe. Sie mailte mir die Kontaktdaten sämtlicher Dienstleister, die für das Einkaufszentrum ihres Chefs tätig waren. Das würde sich als nützlich erweisen, sobald ich das Surfcenter eröffnete, mit dem ich mich aus meiner finanziellen Misere zu befreien und die Hypothek meiner Mutter abzulösen gedachte.
Baron Spencer glaubte, gegen mich in den Krieg zu ziehen.
Er würde feststellen, dass ich der Krieg war.
Ich traf Darren Morgansen noch am selben Abend.
Der erste Hinweis auf seinen Übereifer? Dass er mich zu sich nach Hause einlud. Wie bereits erwähnt, halten Unternehmensmagnaten Meetings so gut wie nie in ihrer privaten Umgebung ab. Morgansen hatte mit Selbstinszenierung nichts am Hut. Er sagte mir am Telefon, dass er sich freue, die Bekanntschaft eines Hauptakteurs wie mir zu machen, woraufhin ich das Treffen fast hätte platzen lassen. Ich war derjenige, der ihm Honig ums Maul schmieren sollte, nicht umgekehrt. Doch ich war bereit, über das eigenwillige Kräftespiel hinwegzusehen, wenn mir das die Möglichkeit bot, das größte Surfcenter der Welt zu erschaffen und Todos Santos zum neuen Huntington Beach zu machen.
In erster Linie sah ich in der Eröffnung des Centers die Chance, so reich zu werden wie die Leute, die auf mich herabblickten, als wäre ich Abschaum, und ich ergriff diese Gelegenheit nur zu gern. Ich will nicht lügen – ich hatte nicht damit gerechnet, auch nur halb so weit zu kommen, was den Kauf des Geländes betraf. Auf einmal hörten die Leute mir tatsächlich zu, und das brachte mich ein wenig aus dem Konzept.
Morgansen lebte in El Dorado, einer bewachten Wohnsiedlung in den Hügeln von Todos Santos mit Blick auf den Ozean. Die Nachbarschaft setzte sich aus den betuchtesten Großkotzen der Stadt zusammen. Den Spencers. Den Coles. Den Followhills. Den Wallaces. Sie hatten mehr Kohle, als man in einem einzigen Leben verdienen konnte – man musste sie erben.
Morgansens Haus entpuppte sich als ein kolonialer Herrensitz, der sich an eine Bergflanke schmiegte. Nichts inspiriert mehr dazu, von einer Klippe zu springen, als auf einer zu wohnen. Es gab einen kleinen Teich nebst Springbrunnen mit (echten) Schwänen und (künstlichen) Engeln, die Pfeile aus Wasser in Richtung Einfahrt schossen, einen Garten mit einem nierenförmigen Pool, einem Hamam und einer Sauna sowie anderen Firlefanz, bei dem ich mein rechtes Ei darauf verwettet hätte, dass keiner der Bewohner ihn je benutzte. Monströs große Pflanzen flankierten die zweiflügelige Eingangstür. Vermutlich berappte dieser Trottel jeden Monat mehr für Gartenpflege, als mich mein Hausboot gekostet hatte.
Morgansen nahm mich am Tor der Wohnanlage in Empfang; ich ließ mir nicht anmerken, dass ich längst einen elektronischen Schlüssel dafür hatte. Anschließend führte er mich auf seinem Anwesen herum, als trüge ich mich mit der Absicht, es zu kaufen. Wir schlenderten über den Rasen vor dem Haus, durch den Garten dahinter und die zwei im Erdgeschoss gelegenen Küchen. Danach stiegen wir die geschwungene Treppe in den ersten Stock hinauf. »Begleiten Sie mich in mein Büro«, lispelte er. Gott sei Dank, seufzte ich insgeheim. Endlich kamen wir zur Sache. Wir erreichten eine geschlossene Tür, er blieb stehen, klopfte sacht dagegen und lehnte die Stirn an das Holz.
»Liebes?«, flüsterte er. Seine schlaksige Gestalt, die geduckte Haltung erinnerten an einen unsicheren Teenager, gleichzeitig stank er geradezu nach Oberschicht. Alles an ihm war nullachtfünfzehn: seine braunen, lemurenartigen Augen, die knochige Nase, die hervorstach wie ein Fremdkörper, die schmalen, geschürzten Lippen, das graumelierte Haar, der fade Anzug, in dem er bedauerlicherweise aussah wie ein Bar-Mitzwa-Junge. Wie eine Nebenfigur in der Geschichte von jemand anderem. Fast verspürte ich Mitleid mit ihm. Es haftete ihm eine angeborene Durchschnittlichkeit an, die kein Geld der Welt ausradieren konnte.
Aus dem Zimmer erklang keine Antwort.
»Ich bin in meinem Büro, Engelchen. Gib mir Bescheid, wenn du etwas brauchst. Oder … oder sag es Hannah.«
Eilmeldung: Der reiche Knabe hat eine verzogene Tochter.
»Na gut. Ich gehe jetzt.« Er zögerte, lauschte in die Stille. »Nur den Flur hinunter …«
Morgansen war ein absonderliches Exemplar des »Three-Comma Club«. Seine weiche, unterwürfige Art reizte die blutrünstige Bulldogge in mir, ihn zu zermalmen wie ein Quietschtier. Wir traten in sein Büro, die Tür fiel ächzend ins Schloss. Darren strich sich das Haar aus der Stirn und wischte die Handflächen an seinen Hosenbeinen ab, bevor er sich mit einem nervösen Lachen erkundigte, was ich trinken wolle. Wodka, antwortete ich. Er betätigte die Sprechanlage auf seinem Eichenschreibtisch und ließ sich auf seinen kaschmirbezogenen Stuhl sinken. »Hannah? Wodka bitte.«
Allmählich fragte ich mich ernsthaft, wieso Baron Spencer mir die Nummer dieses Clowns gegeben hatte. War es am Ende ein Witz auf meine Kosten? Dieser Typ mochte Geld wie Heu haben – ich korrigiere: Er schwamm regelrecht darin, das bewies sein Anwesen, das die Größe des Jachthafens hatte –, gleichzeitig war er ein gottverdammtes Wrack. Ich bezweifelte, dass ein Schwächling wie er einem komplett Fremden, der dazu noch einen fragwürdigen Ruf genoss, mal eben so sechs Millionen für eine fünfundzwanzigprozentige Beteiligung zur Verfügung stellen würde. Ich verdrängte den Gedanken und machte es mir auf meinem Stuhl bequem. Seine Augen folgten meinen Bewegungen. Ich wusste, weshalb er mich taxierte, welchen Anblick ich bot.
Die Menschen fragten mich oft nach dem Grund. Warum bestand ich darauf auszusehen, als wollte ich mich um eine Rolle in Sons of Anarchy bewerben? Wozu die vielen Tattoos? Der Dutt? Der Bart? Die verlotterte Aufmachung eines Strandgammlers, die Hosen voller Surfwax-Flecken? Weil es für mich einfach keinen Sinn ergab, ihnen nachzueifern. Sie und ich, wir hatten nichts gemein. Ich war ein Außenseiter, ohne Stammbaum, klangvollen Nachnamen oder historisches Vermächtnis.
Indem ich aussah wie der Albtraum eines jeden Vaters, verkündete ich der Welt, dass ich den Zirkus nicht mitmachte.
»Sie sind eine ziemliche Berühmtheit in Todos Santos.« Morgansen blätterte durch die Seiten seines dicken Terminkalenders. Ich war mir nicht sicher, ob er von meinem Ruf als Geschäftsmann oder als Privatperson sprach. In der Stadt ging das Gerücht um, ich hätte das Café Diem und das Hotel nur gekauft, um meine Schutzgelder zu waschen, was nicht gänzlich an den Haaren herbeigezogen war. Ich vögelte jede Braut mit einem Puls und ließ mir gelegentlich, wenn ich betrunken und experimentierfreudig war, von Männern einen blasen, zudem hatte ich bezahlten Sex mit jedem, der mich der Alleinherrschaft über die Freizeitstätten von Todos Santos ein Stück näher bringen konnte. Ich beglückte die vierzigjährigen Ehefrauen von Typen, die ich auf beruflicher Ebene bewunderte, nur um ihnen eins auszuwischen, und diente mich noch älteren Damen, die mich und meine Marke sponsern könnten, als Gigolo an. Ich war eine männliche Hure im biblischen Sinn des Wortes und galt in etwa als so loyal und vertrauenswürdig wie eine Unze Kokain.
»Ich fasse das als Kompliment auf«, erwiderte ich, als im selben Moment die Tür aufging und Darrens Haushälterin mit einem Tablett erschien, auf dem sie zwei Gläser und eine Flasche Waterford Wodka balancierte. Schweigend und mit devot gesenktem Kopf schenkte sie mir ein, anschließend füllte sie für Darren ein Glas mit Whisky von der Bar hinter ihm.
»Zu Recht«, stammelte er. »Ich wollte schon seit einer ganzen Weile Kontakt zu Ihnen aufnehmen. Meine Familie und ich leben seit vier Jahren hier.«
Als wüsste ich das nicht. Todos Santos war bekannt als Enklave einer verdrossenen weißen Oberschicht, der die Abstammung wichtiger war als moralische Werte und ein unbescholtener Leumund. Die Einwohner erfuhren von jedem Neuzugang. Und wann immer jemand die Stadt verließ, brodelte die Gerüchteküche, man rätselte, was der Betreffende zu verbergen habe. Den Morgansens war es bisher gelungen, unter dem Radar zu bleiben. Was nicht zwingend positiv war. Es bedeutete, dass sie es trotz ihres Vermögens aus dem Ölgeschäft nicht geschafft hatten, enge Beziehungen zu knüpfen.
»Wie finden Sie es hier?« Ich ließ meinen Kaugummi knallen und schaute mich gelangweilt um.
»Interessant. Und ziemlich hierarchisch.«
Ich griff mir meinen Drink, leerte ihn in einem Zug und stellte das Glas zurück auf das Tablett vor Morgansen, der mir schockiert dabei zusah.
»Ein feiner Tropfen. Sollen wir jetzt zum Geschäft kommen?«
Darren zog die Stirn in Falten und bedeutete mir mit einer Handbewegung loszulegen.
Ich erzählte ihm von dem Projekt, von dem Strandabschnitt, der sich hervorragend für das Surfcenter eignen würde. Dann erläuterte ich ihm meinen genauen Plan und zeigte ihm die Entwürfe, die einer der besten Architekten in L. A. für mich angefertigt hatte. Ich schilderte ihm meine Vision und untermauerte meine Argumentation anhand einiger Statistiken, die den stetig zunehmenden Bevölkerungsanteil von Teenagern in Todos Santos belegten. Reiche Menschen liebten es, sich zu vermehren, und der Nachwuchs in Südkalifornien fuhr entweder Skateboard oder surfte, außerdem lagen wir nahe genug an Huntington Beach, San Clemente und San Diego, um ihnen ihre eingefleischten Surfer abspenstig zu machen. Ganz zu schweigen von den Profi-Wettkämpfern, die wir anlocken würden. Ich erklärte ihm, dass ich einen respektablen Namen auf meinem Gebot brauchte, um sicherzustellen, dass man es ernst nehmen würde, und er sich einfach zurücklehnen und zusehen könnte, wie sein Geld sich vermehrte. Ich verzichtete darauf zu erwähnen, dass wir Baron Spencer mitsamt seiner scheintoten Mall im Zentrum den Mittelfinger zeigen und so in den Olymp der Geschäftswelt katapultiert werden würden. Es war die Wahrheit, aber Morgansen wirkte wie einer, der sich bei der Vorstellung, jemanden gegen sich aufzubringen, vor Angst einnässen würde. Erst recht im Fall von Baron »Vicious« Spencer.
Ich hatte Erkundigungen eingezogen, bevor ich Darren anrief. Sein Großvater hatte Ölfelder in Kuwait gekauft, bevor auch andere auf die Idee kamen. Morgansen hielt das Familiengeschäft nur mit knapper Not am Laufen. Er hatte eine Frau und eine Stieftochter und eine Horde Schlipsträger, die ihm sagten, was er zu tun hatte.
»Und wie viel bräuchten Sie von mir?«, fragte er.
»Sechs Millionen«, gestand ich unverblümt. Er massierte sich den Nacken. Eine Sekunde lang dachte ich, er würde mich rausschmeißen und als Dreingabe mit einem scharfkantigen Gegenstand nach mir werfen. Er tat nichts dergleichen. Stattdessen sah er zur Seite, kratzte sich an der Wange und kippte seinen scheißteuren Scotch wie ein harter Hund, was ihn kurz das Gesicht verziehen ließ. Erst dann stellte er Blickkontakt her, einen besiegten Ausdruck in seinen Augen. »Einverstanden.«
»Einverstanden?«, echote ich, beinahe sprachlos. Einfach so? Was immer dieser Kerl einwarf, ich hätte es gern vertickt.
»Ich gebe Ihnen das Geld. Vorab schon mal drei Millionen.«
»Ich brauche keinen Vorschuss. Es gibt keine Garantie dafür, dass ich das Gelände bekomme«, stieß ich hervor. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass es eine Falle war, aber Darren wirkte so harmlos wie ein verdammter Teletubby. Der Kerl könnte niemanden übers Ohr hauen, schon gar nicht jemanden wie mich.
»Das werden Sie, wenn die meinen Namen auf dem Gebot sehen. Betrachten Sie es einfach als eine Geste guten Willens. Im Übrigen brauche ich keine Gewinnbeteiligung.«
»Sind Sie auf Droge? Weil ich mit Junkies nämlich keine Geschäfte mache. Gras ist okay, aber falls Sie auf Meth sind, muss ich das wissen.« Ich zog belustigt eine Braue hoch und tippte mir mit dem Ende meines Joints an die Wange.
Er bedachte mich mit seiner Version eines spöttischen Grinsens – mir war schon in den Mienen gottverdammter Ziegen mehr Persönlichkeit begegnet. »Ich bin nicht hinter Geld her. Davon habe ich mehr als genug. Es gibt da eine andere Sache, die ich von Ihnen möchte. Wie schon erwähnt, habe ich eine Menge über Sie gehört, Bane. Ich weiß, wer Sie sind und was Sie tun. Was ich von Ihnen will, wird mich nicht reicher machen. Sie müssen meiner Stieftochter helfen.«
Wer Sie sind.
Was Sie tun.
Heilige Scheiße, Stiefpapa Darren will, dass ich die Kleine flachlege.
Die erste Frage, die mir durch den Kopf schoss, lautete, wie hässlich dieses Mädchen wohl sein mochte. Wie Quasimodo? Angesichts der finanziellen und anderen Mittel, die ihr zur Verfügung standen, würde sie doch hoffentlich zumindest als niedlich durchgehen. Vielleicht nicht gerade als Sexbombe, aber es musste doch einen Kerl geben, der sie begehrenswert fand. Irgendeinen. Ich war fünfundzwanzig und damit in dem Alter, in dem man alles vögeln würde, inklusive eines Bleistiftspitzers. Wenn er für seine sechs Millionen Dollar erwartete, dass ich es mit seiner Stieftochter trieb, würde ich meinen Anwalt noch heute Abend den Vertrag aufsetzen lassen und nach dem Sex sogar mit ihr kuscheln, weil es mir nicht fair vorkäme, ihr für all das viele Geld nicht einen kleinen Bonus zu spendieren.
»Das geht in Ordnung.« Ich winkte ab. »Normalerweise schließe ich Sechs-Monats-Vereinbarungen, ohne eine Exklusivrechtsklausel. Zweimal pro Woche. Kondome sind nicht verhandelbar, und ich will, dass sie sich durchchecken lässt, bevor ich sie anfasse.« Ich hatte schon oft gehört, wie gut ich aussah, und ich wusste nie, wann ich meinen Schwanz als Gefälligkeit oder als Mittel zum Zweck zum Einsatz bringen musste. Eigentlich hatte ich aufgehört, neue Kundschaft anzunehmen. Da meine Rechnungen bezahlt waren und meine Mutter finanziell versorgt war, wirkte Geld schlichtweg nicht mehr als Aphrodisiakum. Allerdings hatte mir noch nie jemand so viel für meine Liebesdienste geboten. Morgansen ließ sich eindeutig nicht lumpen, wenn es darum ging, seine Stieftochter zu verhätscheln.
Darren schüttelte den Kopf, die Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Moment mal, was? Oh, Grundgütiger! Um Himmels willen nein!« Er hüstelte und wedelte hektisch mit den Händen. Ich richtete mich in meinem Stuhl auf. Es grenzte an ein Wunder, dass der Mann nicht längst einen Herzinfarkt erlitten hatte. »So meinte ich das nicht. Sie sollen nicht mit ihr schlafen. Ganz im Gegenteil, wenn es eine Klausel gibt, die ich in dem Vertrag haben möchte, dann die, dass Sie die Finger von ihr lassen. Ich will Sie, weil Sie käuflich sind und das tun, wofür Sie bezahlt werden, nicht mehr und nicht weniger. Jesse hat nicht viele Freunde. Sie hat eine Menge durchgemacht, und sie braucht jemanden. Einen Kameraden. Ich möchte, dass Sie ihr dabei helfen, wieder Selbstvertrauen zu gewinnen und ein paar Freundschaften zu schließen. Geben Sie ihr einen Job in Ihrem Café, damit sie jeden Tag aus dem Haus raus muss. Die Sache ist rein platonisch. Man darf Jesse nicht anfassen. Sie erlaubt niemandem, sie zu berühren.«
Jesse. Natürlich hat seine Stieftochter einen Namen, den er wegen seines Lispelns nicht richtig aussprechen kann. Armer Hund.
Was war ihr Problem? Sie hatte ihm noch nicht einmal geantwortet, obwohl sie offensichtlich in ihrem Zimmer war. Pech für mich, dass sie eine verwöhnte Prinzessin zu sein schien – ich würde den Handel eingehen, selbst um den Preis, mir von ihr stundenlanges Gelaber über Shoppingtouren mit der lieben Mami anhören zu müssen. Für ein paar hunderttausend Dollar wäre es mir die Sache nicht wert gewesen. Aber hier ging es um sehr viel mehr Geld und eine äußerst lukrative Investition. Jesse hatte sich soeben meine Aufmerksamkeit erkauft. Und in gewissem Maß auch meine Zuneigung.
»Was beinhaltet dieser Auftrag?«, fragte ich und zupfte an meinem Bart.
»Ihre Therapeutin meint, dass sie einen Job braucht. Irgendeinen. Heuern Sie sie an. Muntern Sie sie auf. Umwerben Sie sie. Aber keine Berührungen.« Seine zittrigen Finger tanzten über den Rand des Terminplaners. »Hauchen Sie ihr Leben ein.«
»Ist sie …« Wie sollte ich das formulieren, ohne wie ein politisch inkorrekter Wichser zu klingen? Zurückgeblieben? Irgendwie behindert? Nicht dass es eine Rolle spielte, trotzdem musste ich wissen, womit ich es zu tun hatte. Darren rutschte auf seinem Stuhl herum.
»Jesse ist ein sehr kluges Mädchen. Sie braucht nur einen kleinen Schubs zurück in die Gesellschaft.«
»Warum?«
»Warum?« Er blinzelte hastig, so als wäre ihm diese Frage noch nie in den Sinn gekommen. An seinem Kiefer zuckte ein Muskel. Er kniff sich in den Nasenrücken, schien mit den Tränen zu kämpfen. Der Typ wirkte wie ein zugedröhnter Teenager beim Coachella-Musikfestival. Er brauchte dringend eine Rückgrattransplantation, und wenn der Preis stimmte, würde ich mich bereitwillig als Spender zur Verfügung stellen. Ich würde seiner Tochter helfen und müsste mir dabei noch nicht mal wie ein Arsch vorkommen, weil Darren ja nur von mir erwartete, mit ihr ins Kino zu gehen und solchen Kram, und nicht, dass ich sie vögelte und ihr Liebesschwüre ins Ohr säuselte.
»Ich verrate Ihnen den Grund, aber Sie müssen einen Geheimhaltungsvertrag unterzeichnen.«
Reiche Leute hatten die verrücktesten Geschichten zu bieten. Wahrscheinlich stand sie auf Sodomie oder derartigen Scheiß. Geld führt zu Langeweile und Langeweile zu Abartigkeit.
»Ich habe in meinem Leben schon so viele Geheimhaltungsverträge unterschrieben, dass ich inzwischen nur noch über das Wetter rede.« Ich lehnte mich zurück, plötzlich überaus zufrieden mit mir selbst, weil ich mit diesem Kerl ins Geschäft gekommen war.
Ein Ausdruck von Hoffnung schimmerte in seinen Augen, als er den Blick auf mich richtete. Er liebte seine Stieftochter. Liebe war eine Empfindung, bei der sich Verlegenheit und Unbehagen in mir regten. Die Menschen ließen sich in ihrem Namen zu den idiotischsten Sachen hinreißen.
»Na gut. Dann haben wir eine Abmachung?«, vergewisserte er sich und atmete tief durch. Ich sah mich zum ersten Mal in seinem Büro um. Traditionell möbliert. Dunkles Eichenholz und deckenhohe Regale mit Hunderten dicker, makelloser Bücher. Ein Perserteppich und mit kamelhaarfarbener Seide bezogene Sessel. Einzig die Bar schien benutzt zu werden, davon zeugten die kläglichen, halbleeren, mit Darrens Fingerabdrücken übersäten Flaschen. Alles andere diente nur der Effekthascherei. Dieser Mann war verloren, und ich Glückspilz hatte ihn gefunden.
Das war so leicht gewesen, wie einem Baby den Schnuller zu klauen.
»Ich werde mich sechs Monate um sie kümmern, aber ich will ihre Geschichte erfahren.«
Morgansen goss sich noch einen Whisky ein, dann starrte er in das Glas wie in einen Abgrund, bevor er es leerte, als würde er in den Tod springen. Er ließ es einen Moment zwischen seinen Fingerspitzen baumeln und dann auf den Teppich fallen.
»Sie wollen die Geschichte hören?«
Ich zuckte mit der Schulter. Ich wiederholte mich niemals und würde diesem Vollpfosten zuliebe nicht damit anfangen.
Als die ersten Worte aus seinem Mund strömten, umklammerte ich die Armlehnen meines Stuhls.
Sobald mein Hirn die ersten Sätze erfasste, wurde meine Kehle trocken.
Ich hörte ihm neunzig Minuten lang zu, danach hatte ich nur eine einzige Reaktion parat. Genauer gesagt ein einziges Wort. Es brachte meine Gefühle genau auf den Punkt.
Fuck.
»Ein guter Tag für einen Striptease.« Beck lachte irre, seine nassen, langen braunen Haare flatterten im Wind, während er, bäuchlings auf seinem Brett liegend, eine hohe Welle abfuhr. Man nannte das die Adler-Position, eine Technik, die ich verabscheute. Es war, als ließe man sich von einem hinreißenden Topmodel besoffen einen runterholen. Pure Verschwendung. Im Übrigen bot jeder Tag, an dem der Strand fast leer war, die perfekte Gelegenheit, um nackt zu surfen. Entsprechend hatte praktisch jeder Meeresbewohner in Südkalifornien meinen Schwanz schon mal zu Gesicht bekommen. Grinsend beobachtete ich, wie Beck seine Shorts auszog und um sein Handgelenk wickelte. Einige Meter entfernt rauschte mein Highschool-Kumpel Hale über den Wellenkamm, während Edie, mit der ich ebenfalls seit Schulzeiten befreundet war, direkt neben mir auf ihrem Surfbrett saß und wie beduselt zum Strand schaute.
Ich folgte ihrer Blickrichtung und entdeckte ihren Ehemann Trent und dessen Tochter Luna, die mithilfe von Förmchen kunstvolle Sandburgen bauten. Edie war nicht nur meine bevorzugte, sondern auch einzige Ex. Außerdem zählte sie zu meinen engsten Freunden. Klingt kompliziert, war es aber nicht. Ich mochte Menschen wegen ihrer Persönlichkeit, daran änderte sich auch nichts, wenn ich Sex mit ihnen gehabt hatte. Edie – oder Gidget, wie ich sie seit der Highschool nannte – war zwar tabu für mich, aber immer noch ein und dieselbe Person. Sie runzelte besorgt die Stirn. Ich hockte mich rittlings auf mein Firewire Evo und schnippte gegen ihr Ohr.
»Du machst es schon wieder.«
»Was denn?«
»Dir das Hirn zermartern.«
Gidget zog die Nase kraus. »Ich bin nur ein bisschen neben der Kappe.« Sie strich ihre blonde Mähne zurück und spähte zur goldenen Küste.
»Du siehst blass aus.« Das war eine Untertreibung und es zu erwähnen nicht die feine englische Art. »Geh nach Hause. Die Wellen sind nächstes Mal immer noch da.«
Sie drehte den Kopf nach hinten. »He, Beck! Meine Tochter ist am Strand. Zieh gefälligst deine Hose wieder an, du Freak.«
Es gefiel mir, dass sie Luna als ihre Tochter bezeichnete. Obwohl sie sich erst ein paar Jahre kannten, waren die drei für mich der Inbegriff einer Bilderbuchfamilie.
»Wie läuft’s bei dir? Alles okay?« Edie ließ die Fingerspitzen über die Wasseroberfläche gleiten.
»Könnte gar nicht besser sein.«
»Und du benutzt weiterhin Kondome?« Sie zog eine feuchte Braue hoch. Diese Frage hatte sie mir seit meinem Karrierestart vor fünf Jahren schon oft gestellt. Ich unterdrückte ein Augenrollen und versetzte ihrem Board mit meinem Fuß einen Stups. »Du brichst die Wellen, Gidget. Surf sie oder verzieh dich.«
Ich sah zu, wie sie zurück zum Strand paddelte, bevor ich mich wieder Beck und Hale zuwandte, die nun beide, kaum eine Armlänge von mir entfernt, auf ihren Brettern saßen.
»Die Show ist vorbei.« Ich spuckte ins Wasser. Beck sprang in den Stand – der Kerl hatte die Balance eines Yogalehrers – und zog diese ärgerliche Nummer ab, bei der er aufreizend das Becken kreisen ließ, was an sexuelle Belästigung grenzte. Abgesehen von den langen braunen Haaren erinnerte er ein bisschen an den jungen Matt Damon. Er stieß theatralisch die Faust in die Luft und schmetterte den Queen-Song »The Show Must Go On«.
Ich hatte Beck unter meine Fittiche genommen, um ihn zu einem Profisurfer auszubilden, zu dessen Wettkämpfen die Leute in Scharen herbeiströmen würden. Er war so talentiert wie Kelly Slater und gleichzeitig faul wie Homer Simpson, darum würde er seinen nächsten Contest erst Ende September bestreiten. Ich war so ziemlich der einzige Mensch, vor dem er Angst hatte und somit auch der einzige, der es schaffen könnte, ihn jeden Morgen um fünf aus dem Bett zu scheuchen.
Hale schüttelte den Kopf. »Rasier dich mal, du Höhlenmensch. Dein Schritt sieht aus wie Phil Spector.« Er zeigte auf Becks Genitalien. Beck lachte, und sein Schwanz wippte wie Haare in einer Shampoowerbung. Hale drehte sich wieder zu mir her, alle drei saßen wir jetzt wie die letzten Anfänger auf unseren Boards und ruinierten die Wellen. Echt irre.
»Diesen Monat drehe ich die Runde, richtig?« So nannten wir unsere Besuche in den Geschäften an der Promenade, um Schutzgelder zu kassieren.
»Richtig.«
»Kann ich sonst noch was tun?« Hale legte sich mit dem Bauch auf sein Brett. Er hatte rote Haare, grüne Augen und die Seele eines selbstzerstörerischen Holden Caulfield, den man in die künstliche Stadt Todos Santos verpflanzt hatte. Und er hatte noch etwas, das ich nicht besaß: überfürsorgliche Eltern. Er würde bald seinen Master in Philosophie machen und in die Fußstapfen seiner Alten treten, indem er an einer Hochschule lehrte. Sie wollten, dass er die oberflächlichen Südkalifornier in denkende Wesen verwandelte. Nur hatte Hale kein Interesse an solch einer Karriere. Er wollte ein wildes Leben führen, so wie ich.
»Sei ein artiger Junge und erledige deine Hausaufgaben.« Ich lachte.
Er spritzte mich nass wie ein Fünfjähriger. »Ich möchte mehr Verantwortung übernehmen, Teil von SurfCity sein.«
Hale und ich teilten die Schutzgelder gleichmäßig unter uns auf, was für mich okay war, weil er die ganze Lauferei übernahm. Aber er drängte sich immer mehr in den Vordergrund. Dabei war das Surfcenter meine Idee, mein Baby, mein Traum. Niemand würde ein Stück davon abbekommen.
»Es ist mir ernst damit«, maulte er.
»Mir auch.« Ich blickte auf und beobachtete, wie der nackte Beck mitsamt seinem haarigen Schritt davonpaddelte. »Ich brauche keine weitere Hilfe.«
»Ich habe Geld und könnte in das Projekt investieren.«
»Es wäre ein besserer Beitrag, mir von der Pelle zu rücken und mich surfen zu lassen.«
»Wieso nicht? Offensichtlich brauchst du einen Geldgeber. Hast du jemand anderen aufgetrieben?«
Ich erzählte ihm nichts von Darren und Jesse, weil ich zum einen nicht wusste, wie sich diese Sache entwickeln würde, und ich Hale zum anderen zutraute, mir nur so aus Jux dazwischenzufunken. Er war vom selben Schlag wie die berüchtigten Vier HotHoles. Hin und wieder zerschlug er etwas, nur weil er das krachende Geräusch so mochte.
»Das geht dich nichts an.«
»Du bist echt schwer zu durchschauen, Protsenko.«
»Oder …« Ich senkte das Kinn und lächelte. »Vielleicht hast du einfach nur ein Brett vor dem Kopf, Hale.« Seine Nasenflügel blähten sich ulkig. Er dampfte auf seinem Surfbrett ab, knallte mir quasi die Tür vor der Nase zu. Ich lachte. Wenige Minuten später tauchte Beck neben mir auf, seine Brust hob und senkte sich vom Adrenalinschub.
»Was haben die heute bloß alle? Gidget zickt rum, und Hale spielt die beleidigte Leberwurst. Machst du auf böser Onkel?«
Grinsend schaute ich Hale nach, doch in Gedanken war ich bei SurfCity.
»Also morgen um dieselbe Zeit?« Beck tat, als wollte er mich in den Arm boxen, doch am Ende hatte er nicht die Eier dazu.
»Ja. Lass uns früh loslegen; ich habe für den Nachmittag was geplant.«
Mein Plan hatte einen Namen, eine Vita und eine Frist.
Mein Plan war ein neunzehnjähriges Mädchen.
Was ich jedoch nicht wusste, war, dass mein Plan mir in spektakulärer Weise um die Ohren fliegen und dabei jenes krachende Geräusch erzeugen würde, auf das Hale so sehr abfuhr.
Das Erste, womit ich mich vertraut machte, war Jesse Carters Alltagsroutine. Ich benutze diesen Ausdruck in Ermangelung eines besseren, weil dieses Mädchen nämlich nicht gerade versessen darauf war, das Haus, ihr Zimmer oder auch nur ihr Bett zu verlassen. Ihr Name kam mir vage bekannt vor, doch das wunderte mich nicht weiter. Dies war eine Kleinstadt. Vermutlich hatten sich unsere Wege schon mal gekreuzt. Vielleicht hatte ich sogar irgendwann mal was mit ihr gehabt.
Was dem Wort »prekär« eine völlig neue Bedeutung verleihen würde.
Darren erzählte mir, dass Jesse mit zwölf ihren Vater verloren und sie das völlig aus der Bahn geworfen hatte, noch bevor diese Dreckssäcke ihr den Rest gaben. Eine scheinbar zufällige Begegnung mit ihr herbeizuführen, war ihm zufolge in etwa so schwierig, wie einem Schwein das Walzertanzen beizubringen.
»Sie traut sich nicht oft vor die Tür, darum müssen Sie ein Schlupfloch in ihre Welt suchen«, sagte er am Telefon. »Sie geht donnerstags in der Innenstadt zur Therapie und läuft täglich mittags und gegen drei Uhr früh auf dem Joggingpfad in El Dorado.«
Zweimal jeden verdammten Tag? Nicht meine Angelegenheit.
»Ungewöhnliche Trainingszeiten«, bemerkte ich.
»Weniger Menschen.« Ja, klar.
Ich notierte mir alles auf einem Zettel, wobei ich überlegte, wo zur Hölle ich besagtes Schlupfloch finden sollte.
»Was noch?« Ich ließ meinen Kaugummi dicht am Hörer knallen.
»Sie besucht regelmäßig unsere Nachbarin, Mrs Belfort. Die ist schon über achtzig und leidet an Alzheimer.«
Jesse Carter führte ein interessantes Leben, so viel stand fest. Und ich war der verdammte Glückspilz, der sie aus der Reserve locken sollte.
»War’s das?«, fragte ich.
»Ja, das war alles.« Er seufzte.
»Sonst nichts? Kein fester Freund oder eine beste Freundin? Keine Einkaufsorgien mit ihrer Mami bei Balmain?« Das gab mir sehr wenig Handlungsspielraum. Ich konnte schlecht aus heiterem Himmel bei ihrer Nachbarin hereinschneien und Jesse dort »zufällig« über den Weg laufen. Na ja, theoretisch konnte ich das schon, falls ich Wert darauf legte, verhaftet zu werden.
»Nein.« Darren schluckte hörbar. »Sie hat niemanden.«
Ich linste auf meinen Notizzettel, auf das frustrierend Wenige, womit ich arbeiten konnte. Dieses Mädchen schien kein Leben jenseits der schützenden Wände ihres Zuhauses haben zu wollen. Da war noch eine letzte Sache, die ich von Darren brauchte. Er hatte den Vertrag bereits unterzeichnet, alles war in trockenen Tüchern, der Startschuss gefallen. Er hatte auf zwei Klauseln bestanden, die in Fettschrift herausstachen. Erstens: Jesse Carter durfte unter gar keinen Umständen jemals von diesem Deal erfahren. Zweitens: Ich würde unter gar keinen Umständen jemals eine sexuelle Beziehung mit ihr anfangen. »Verstoßen Sie auch nur gegen eine der beiden Klauseln, ist die Vereinbarung vom Tisch.«
Da Darren auf mich den Eindruck eines harmlosen Würstchens machte, das keiner Fliege etwas zuleide tun könnte, hatte ich den Vertrag in Wahrheit nur überflogen.
»Mailen Sie mir ein aktuelles Foto von ihr. Ich muss wissen, wie sie aussieht, damit ich mich nicht versehentlich an die Falsche ranmache.«
»Sie werden sich nicht an sie ranmachen«, betonte er. »Sondern ihr helfen.«
Wortklauberei, ein Lieblingszeitvertreib der westlichen Zivilisation. Es spielte keine Rolle, wie ich es anstellte, solange ich Jesse Carter nur aus dem verdammten Haus lockte. Ich versuchte erst gar nicht, sie im Internet aufzuspüren. Falls ich dieses Mädchen richtig einschätzte – und davon ging ich aus –, war sie weder bei Facebook, Snapchat noch bei Instagram angemeldet. Sie hatte von der Bildfläche verschwinden wollen und es in die Tat umgesetzt.
Ich würde sie zurück in die Gesellschaft zerren.
Allein oder mitsamt ihren Dämonen.
Mir persönlich war das schnurzegal.
Das Foto, das Darren mir schickte, war grobkörniger als der Sand am Tobago Beach, ein klares Bild von Jesse lieferte es nicht. Allem Anschein nach hatte er sie geknipst, als sie gerade nicht herschaute, was meinen Spanner-Alarm mehrmals schrillen ließ. Sie saß auf einer mit Gobelinstoff bezogenen Bank und hatte die Nase in ein Exemplar von Alexander Puschkins Die Hauptmannstochter vergraben. Ich sah nur, dass sie schwarze Haare, schneeweiße Haut und lange Wimpern hatte. Mich überkam das sonderbare Gefühl, sie schon einmal irgendwo gesehen zu haben, aber ich drängte es in den hintersten Winkel meines Geistes. Selbst wenn dem so wäre, war sie nun eine rein geschäftliche Angelegenheit.
Nichts weiter.
Die Art von Deal, den ich auf keinen Fall platzen lassen wollte.
Besonders, da ich bereits fünfhunderttausend der drei Millionen Dollar, die Darren auf mein Konto überwiesen hatte, für den Import italienischer Möbel für mein neues Boutique-Hotel verpulvert hatte. Ups!
Jesse aufzulauern, wenn sie einen Termin bei ihrer Therapeutin hatte, war meiner Einschätzung nach die beste Taktik. Also setzte ich mich in ein Café am Liberty Park und spähte durch die Glasscheibe zu dem eleganten Gebäude, in dem sich die Praxis befand. Sie parkte ihren Range Rover direkt vor dem Eingang und stieg aus. Ihre hängenden Schultern sahen aus wie gebrochene Flügel, ihre kummervollen Augen verrieten die gepeinigte Seele.
Sie war keineswegs hässlich wie Quasimodo, das war der erste Gedanke, der mir bei ihrem Anblick durch den Kopf schoss. Jesse war bildschön, und das war noch die Untertreibung des Jahrhunderts.
Sie musste nicht erst ihre dunkle Mähne im Nacken zusammenfassen und das Puschkin-Tattoo enthüllen, damit ich mich erinnerte, wo ich sie schon einmal gesehen hatte. So ein Mädchen vergisst man nicht. Es war vor Jahren am Strand gewesen, aber ich wusste noch ganz genau, wie übermächtig mein Bedürfnis gewesen war, sie zu erobern. Wie sehr es mich angekotzt hatte, die Fummelattacken ihres milchgesichtigen Freundes mitanzusehen, kaum dass sie sich in ihrem winzigen roten Bikini neben ihn in den Sand gefläzt hatte. Zum Glück hatte ich mich beherrscht und sie ihm nicht ausgespannt.
Jetzt war sie sozusagen eine Kreditsicherheit, und ich würde sie nicht einmal mit der Kneifzange anfassen.
Jesse trug unförmige Jeans, die wohl ihre betörend langen Beine tarnen sollten, ein orangerotes Shirt – lang, weit und deprimierend züchtig – und darüber eine offene schwarze Kapuzenjacke. Sie hatte eine Baseballkappe der Raiders auf – ein Mädchen mit Geschmack –, und die Sonnenbrille, die sie krampfhaft in der Hand hielt, war groß genug, um ihr halbes Gesicht zu bedecken. Sie wollte eindeutig so wenig Aufmerksamkeit wie möglich erregen. Pech für sie, dass ich für sechs Millionen ihrer Existenz nicht nur Beachtung schenken, sondern sozusagen einen Schrein errichten würde, um ihr zu huldigen.
Mit gesenktem Kopf und jeden Augenkontakt meidend, verschwand sie im Gebäude. Die Therapiesitzung würde eine Stunde dauern. Das ließ mir mehr als reichlich Zeit, um mich zu ihrem Auto zu schleichen, das Ventil eines Hinterreifens zu öffnen und zuzusehen, wie zischend die Luft langsam daraus entwich. Nach vollbrachter Tat lief ich die zwei Straßenblocks zu meinem eigenen Wagen – ein steinzeitlicher roter Ford Pick-up, den ich selten benutzte – und parkte ihn gleich hinter ihrem Range Rover.
Eine Stunde später verließ Jesse wie aufs Stichwort das Gebäude und eilte zu ihrem Fahrzeug. Scharfsinnig, wie sie war, bemerkte sie den platten Reifen noch vor dem Einsteigen. Sie ging seufzend in die Hocke, dann schüttelte sie den Kopf. Ich öffnete meine Autotür und sprang heraus, wahrte jedoch mehrere Meter Abstand. Laut Darren mochte sie es nicht, wenn Männer ihr zu nahe kamen. Verständlich.