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Als Heilerziehung noch ein ganz neuer Begriff war, werden 60 Jungen mit geistiger Behinderung auf eine Burg geschickt, wo sie ein Heim und eine Chance bekommen sollen. Doch fehlen nach 1945 jegliche Richtwerte. In einer Zeit, wo die menschenverachtende Haltung des Nationalsozialismus noch überall nachwirkt, scheint es für die motivierte, herzoffene Martha schier unmöglich zu sein, Raum und Hoffnung für die Jungen zu schaffen, welche auf der Burg ein klägliches Dasein fristen. Die junge Kinderkrankenschwester und ihre Freundin glauben jedoch an Menschlichkeit und an die Jungen. Sie verleihen ihnen eine Stimme und geben nicht auf. Doch gegen welche Machtstrukturen sie ankommen müssen, scheint unendlich.
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Seitenzahl: 466
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Leben zwischen Gewalt und Hoffnung
Roman nach einer wahren Geschichtevon
Monika Kiel-Hinrichsen
NOVALIS
REIHE BELLETRISTIK
Bibliographische Angaben der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2023 Novalis Verlag, D-50827 Köln
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Nathalie Marchioni
Umschlaggestaltung: Kate Cahill
Grafische Gestaltung / Satz: Florian v. Wissel
ISBN 978-3-941664-82-1
eISBN 978-3-941664-87-6
Vorwort
Teil 1: Aufbruch ins Ungewisse
Helenen-Stiftung, Dezember 2021
Hotel Burg Wernberg, Frühjahr 2014
Nordsee, Januar 1957
Wernberg, Sommer 1963
Cuxhaven, Sommer 1963
Tschechoslowakei, Herbst 1963
Cuxhaven, Frühjahr 1964
Burg Wernberg, Mai 1964
Cuxhaven, April 1964
Cuxhaven, Mai 1964
Burg Wernberg, 10. Mai 1964
Teil 2: Schattendasein auf der Burg
Burg Wernberg, Mai 1964
Burg Wernberg, Sommer 1965
Cuxhaven, Juli 1965
Burg Wernberg, Juli 1965
Wernberg, Sommer 1965
Burg Wernberg, November 1966
Burg Wernberg, Frühjahr 1967
Prag, November 1968
Burg Wernberg, November 1968
Burg Wernberg, Sommer 1969
Burg Wernberg, 1970 / 1971
Burg Wernberg, Sommer 1971
Burg Wernberg, Dezember 1971
Heilige Nacht
Weihnachtstage
Burg Wernberg, 1972
Burg Wernberg, Frühjahr 1974
Burg Wernberg, Frühjahr 1975
Burg Wernberg, Herbst 1975
Burg Wernberg, Januar 1976
Burg Wernberg, Herbst 1976
Teil 3: Auf der Anklagebank
Burg Wernberg, Ende 1976
Burg Wernberg, Vor Gericht, 1977
Neue Zeiten
Großkönigsförde, September 1979
Burg Wernberg, 2014
Hotel Burg Wernberg, Winter 2017
Helenen-Stiftung, Dezember 2021
Epilog
Nachwort
Danksagung
Anhang
Literaturnachweise
Mit diesem Buch sende ich den Wunsch in die Welt, dass alle Menschen mit Beeinträchtigung liebevolle Begleitung erfahren mögen.
Prof. Dr. Bernhard Schmalenbach
Institutsleitung Heilpädagogik und Sozialtherapie, Alanus Hochschule Alfter
Die Geschichte der Unterbringung von Kindern und Jugendlichen mit einer ‚geistigen Behinderung‘ in Heimen, Instituten und Kliniken im Nachkriegsdeutschland ist noch nicht geschrieben. So bleibt die Lebenssituation gerade derer verborgen, die in den 50er bis frühen 70er Jahren in einer Einrichtung leben mussten, als es noch keine Schulpflicht für alle Kinder und Jugendlichen gab. In dieser Zeit wurden an einer großen Zahl von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in Heimen und auf Stationen Versuche mit Medikamenten durchgeführt. Erst seit Kurzem widmen sich Forschungsprojekte diesem fragwürdigen Vorgehen. Einzelne Berichte und Reportagen aus beiden Teilen Deutschlands bringen gravierende Missstände ans Licht. Hier zeigt sich an vielen (wenngleich nicht an allen) Beispielen, dass trotz der damals geäußerten Distanzierung von der Euthanasie der NS-Zeit, die ihr zugrunde liegende Mentalität vielfach in Kraft blieb. Diese verhinderte die Wahrnehmung von (jeder) Individualität und die Achtung ihrer Menschenrechte. Damit konnten die Betroffenen, wenn überhaupt, ihr eigenes Leben nur in sehr beschränkter Form führen. Ihren Beitrag für andere Menschen sowie für unsere Gesellschaft zu geben, blieb ihnen versagt.
Monika Kiel-Hinrichsen verbindet in diesem Buch ihre persönliche Betroffenheit als Schwester eines der hier porträtierten Kinder mit gründlicher Recherche und gestaltet dies literarisch aus. Sie erzählt von den menschenunwürdigen Umständen auf Burg Wernberg, einer totalitären Institution bzw. geschlossenen Anstalt, welche in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts tatsächlich existiert hat. Dabei stellt sie die Schicksale einzelner Kinder und ihrer Eltern, die Handlungen der Betreuerinnen und Betreuer und der verantwortlichen Personen innerhalb und außerhalb der Einrichtung ins Zentrum ihrer Geschichte. Diese Form der Beschreibung gibt den LeserInnen die Möglichkeit, die Geschehnisse nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern sich auch mit ihnen auseinanderzusetzen: mit den Motiven der Beteiligten, dem langwierigen Prozess der Bekämpfung und letztlich der Schließung der Institution. Gesellschaftliche und politische Zusammenhänge treten ebenso zutage wie institutionelle Manipulationen und die Entscheidungsmomente von Individuen, sich einer misshandelnden und verwahrlosenden Praxis in den Weg zu stellen. Die Autorin nimmt auch die verzweifelten Versuche der Kinder in den Blick, sich zu wehren, sich dem unterwürfigen Gehorsam zu verweigern oder gar zu flüchten. Die literarische Form dieses Buches ermöglicht es uns LeserInnen, dem nachzugehen, was diese Kinder und Jugendlichen für andere (hätten) geben können und woran sie systematisch und nachhaltig gehindert worden sind.
Ihr Leben in diesen untragbaren und unerträglichen Zuständen steht nicht nur im Schatten gesellschaftlicher Aufmerksamkeit, es manifestiert auch den Schatten einer Gesellschaft und der mit ihr einhergehenden Strukturen und Bewusstseinsformen. Gerade der Zusammenhang von Werten und Einstellungen, Strukturen und individuellen Handlungen wird in diesem Buch nachvollziehbar. Die LeserInnen können auch erleben, wie dieses Unrecht die Familien überschattete, welche ihre Kinder und Geschwister, häufig nichts Böses ahnend, in die Obhut der Einrichtung gegeben hatten.
Beim Lesen dieses auf eingehendes Quellenstudium und Interviews mit den damaligen AkteurInnen beruhenden Tatsachenromans wird deutlich, wie wichtig es ist, dass das Leiden, die Kämpfe und auch die Gegenwehr der Kinder und Jugendlichen zur Darstellung kommen. Es ist an der Zeit, dass sie eine Stimme bekommen und für uns Gestalt annehmen. So etwas ist möglich durch Erfahrungsberichte und Biografien, aber auch durch präzise und einfühlende Beschreibungen, wie wir sie in diesem Buch finden. Dank dieses Romans, basierend auf einer wahren Geschichte, können wir LeserInnen über das historische Geschehen hinaus für die Gegenwart vieles lernen.
Johann sitzt auf seiner Bettkante und müht sich, in seine schweren, schwarzen Schuhe zu kommen. Eigentlich sind diese viel zu massiv für seine kleinen Füße. Doch ohne sie und seinen Rollator könnte er schon lange nicht mehr sein Gleichgewicht halten, geschweige denn sich selbstständig bewegen. Geduldig zieht er den Reißverschluss seines orthopädischen Schuhwerks hoch, stützt sich mit beiden Händen an der Bettkante ab, um Schwung zu holen und in die Aufrichte zu kommen.
Alle Mitbewohner im Heim erkennen Johann bereits an seinem schlurfenden Gang und dem nicht weniger langsamen mit Speedcontrol ausstaffierten Rollator. Seine Füße anzuheben, würde ihn viel zu viel Kraft kosten.
Das wilde Durcheinander an kreischenden Stimmen auf dem Flur lässt ihn heute schneller als gewöhnlich zum Aufenthaltsraum schlurfen. Aufgeregt kommt ihm eine Bewohnerin mit vor sich drehenden Händen auf dem langen, mit grauem Linoleum ausgelegten Flur entgegen.
„Johann, testen. Allemann! Zunge rausstrecken“, brüllt sie ihm gestikulierend und dabei ihre eigene Zunge vor sich hertragend entgegen.
„Nee, will nicht“, nuschelt Johann und zeigt ihr mit seinen verknöcherten Fingern einen Vogel.
„Doch, Du musst!“ Sie beißt sich wütend in den Handrücken und schnauft laut.
Ein regelmäßiges Ritual in der Einrichtung: Tests, Mundschutz, Impfungen und Schließungen.
Je näher Johann dem Tagesraum kommt, desto lauter wird es um ihn herum. Ein Mitbewohner bewegt aufgeregt seinen Oberkörper vor und zurück und wiederholt dabei rhythmisch „Co-ro-na, Co-ro-na“. Das macht Johann wütend. Er fuchtelt ihm drohend vor dem Gesicht herum und gibt ihm unmissverständlich zu verstehen, dass er still sein soll. Er will kein Corona mehr, denn das bedeutet, dass seine Schwester nicht kommen kann, die Werkstätten geschlossen sind und er nicht mit Timo im Chor singen darf. So war es jedenfalls im Frühjahr. Auch wenn er nicht mehr so genau weiß, wann es eigentlich Frühjahr war.
Elena, langjährige Heilerzieherin im Heim, deutet auf den Test, der vor der jungen Frau auf dem Tisch liegt. Positiv!
„Ihr geht jetzt jeder wieder auf euer Zimmer. Solange bis es eine andere Ansage gibt. Klar?“
Es folgt ein solches Murren, Kreischen und Stöhnen, dass sie laut „Ruhe!“ rufen muss.
„Ich telefoniere mit der Verwaltung und dann sehen wir weiter. Ihr müsst mir jetzt alle mithelfen und das macht ihr, indem ihr erstmal in eure Zimmer geht.“
Und weil Elena von fast allen die Lieblingsbetreuerin ist, wird es mit einem Schlag still.
Johann schlurft in seinen Schlafraum zurück, schaltet seinen CD-Player an. „Junge komm bald wieder, bald wieder nach Haus“ schmettert Freddy Quinn mit seinem tiefen Bass aus dem Lautsprecher und lässt ihn für einen Moment Corona vergessen.
Am Mittag steht fest: Der zweite Test ist auch positiv. Die Mitbewohnerin muss in Quarantäne. Dies gestaltet sich nicht so einfach, denn sie lebt gemeinsam mit Tilla in einem Zimmer. Bei wem könnte diese vorübergehend einziehen?
Ein Lächeln huscht über Elenas Gesicht. Johann! Er hat das größte Zimmer von allen und ein freundlicher Mann ist er außerdem. Von dem Gedanken beflügelt ruft sie seine Schwester an. Doch diese reagiert verhalten. Johann soll es selbst entscheiden. Wenn er zustimmt, kann Tilla bei ihm schlafen. Alle atmen auf. Johann sagt freudig zu. Kurze Zeit später sitzt er in seinem Sessel und beobachtet, wie zwei Praktikanten Platz in seinem Zimmer schaffen und Tillas Bett in der freigewordenen Ecke aufbauen.
Johann hat in diesem Jahr seinen 64. Geburtstag gefeiert. Seit 46 Jahren lebt er in der Einrichtung, wo er nach zwölf Jahren auf der Burg eine neue Heimat gefunden hat. Er hat viele Stationen in der Stiftung durchlaufen. Heute gehört Johann zu den Senioren in seiner Gruppe, dabei wirkt er noch immer kindlich, kaum einer verständlichen Sprache mächtig und motorisch unbeholfener denn je. Aber sein sonniges Wesen hat ihm überall in der Einrichtung die Herzenstüren geöffnet.
Tilla liegt eingeschüchtert in ihrem Bett. Sie versteht nicht so recht, warum dieses plötzlich in Johanns Zimmer steht. Tilla muss, auch wenn sie schon lange erwachsen ist, ein bisschen weinen. Leise steht Johann auf und schlurft vorsichtig, sich an der Bettkante festhaltend, zu ihr.
„Musst nicht weinen, alles gut. Bin da.“
Tilla atmet tief durch und dreht sich auf die Seite. Kurze Zeit später hört Johann ihr leises Schnorcheln. Er ist froh und ein wenig stolz, dass er helfen konnte. Und es ist tatsächlich schön, nicht immer allein zu schlafen.
Aber am nächsten Tag zieht Tilla in ein kurzfristig frei gewordenes Einzelzimmer um und alles geht wieder seinen gewohnten Gang.
Elena schließt Johanns Zimmertür hinter sich.
Was vor wenigen Wochen für seine Mitbewohnerin galt, trifft jetzt auch auf Johann zu. Quarantäne!
Kein Besuch im Zimmer, keine Teilnahme am täglichen Leben der anderen. Immer wieder wird ihm erklärt, dass er krank sei und kleine Tierchen in sich habe, mit denen er andere anstecken könne.
„Oh nein, will ich nicht. Arbeiten gehen, Schwester soll kommen. Schön anziehen, essen gehen.“
Johann ist außer sich. Fühlt sich ausgegrenzt, allein! Immer wieder wird den anderen verboten, zu Johann zu gehen. Er muss auf seinem Zimmer essen und bekommt einen Toilettenstuhl, um seine Notdurft zu verrichten. Elena sieht aus wie ein Gespenst in ihrer Schutzkleidung, die sie seit Wochen trägt. Er kann ihren Mund nicht sehen, geschweige denn alles, was sie sagt, verstehen. An ihren Augen liest er ihre Strenge und das Unerbittliche ab: Allein bleiben.
Johann fühlt sich eingesperrt, gefangen in sich selbst. Er schreit, weint und schlägt mit der Faust gegen seine Zimmertür. Ohne Erfolg!
Und dann, immer wenn die Ohnmacht am größten wird, richtet er sie gegen sich selbst. Mit wut- und schmerzverzerrter Miene kratzt er sich durch sein Gesicht, über seine Arme, seine Brust, bis es blutet. Und dann kommt die Angst vor den Konsequenzen. Auch, wenn er schon eine Ewigkeit keine mehr zu spüren bekommen hat.
Es wird still in seinem Zimmer. Erschöpft und apathisch liegt Johann auf seinem Bett. Starrt in die Ecke. Plötzlich hat der Raum keine Fenster mehr und das freundlich abgetönte Weiß der Wände wird grau und schmutzig. Seine Hände fühlen sich an wie festgezurrt. Er kann sich nicht mehr bewegen. Ihm wird kalt. In ihm breitet sich eine große Leere aus. Er kann sie nicht benennen, weiß nur tief in sich drinnen, dass er dieses Gefühl von irgendwoher kennt.
Sie späht durch die leicht geöffnete Eingangstür des Burghotels, um die ersten frühlingshaften Sonnenstrahlen zu erhaschen, als sie das Paar über die Zugbrücke kommen sieht. Er, mit grauen Locken und freundlichen Falten im Gesicht hat sie, etwas jünger mit roten Haaren und Sommersprossen, untergehakt. Etwas unschlüssig kommen sie auf den Empfangstresen zu.
Die Rezeptionistin legt ihre Unterlagen beiseite und begrüßt ihre Gäste. Als er zu sprechen beginnt, fühlt sie sich in seiner festen und warmen Stimme gleich gut aufgehoben.
„Wir waren auf Ihrer Webseite und überlegen, ob wir den sechzigsten Geburtstag meiner Frau im nächsten Jahr von Ihnen ausrichten lassen. So etwas bieten Sie doch an, oder?“ Während er spricht, blickt seine Frau starr auf den Boden, als wolle sie am liebsten gar nicht hier sein.
„Selbstverständlich, gerne. Wir haben da verschiedene Räumlichkeiten im Angebot. Sie wollen sicher auch übernachten?“
„Einen Teil der Gäste würden wir gerne bei Ihnen unterbringen. Wäre es möglich, eines Ihrer Zimmer zu sehen?“
„Sehr gerne. Ich schaue einmal nach, welches gerade frei ist und für Sie attraktiv sein könnte.“
Bei dem Wort „attraktiv“ schnellt der Blick der Frau nach oben. Ungläubig, fast schon erschrocken schaut sie die Rezeptionistin für einen kurzen Moment an. Irritiert wendet diese sich dem Belegungsplan im Rechner zu.
„Ah, ja, sehr gut. Ich kann Ihnen das wunderschöne, herrschaftliche Zimmer der Kategorie Landgraf zeigen“, strahlt sie die Besucher begeistert an und wendet sich mit einer einladenden Geste dem modernen Fahrstuhl zu.
Während sie im zweiten Stock lautlos über den mit weinrotem Teppichboden ausgelegten Flur gehen, kommen sie an der offenen Tür zu einem fensterlosen Raum vorbei. Abrupt bleibt die Frau stehen. Still starrt sie in den in sanftes Licht getauchten Raum.
„Das ist unser Ruhe-Raum, hier können Sie sich zurückziehen, die Stille genießen. Die Liegen sind super bequem. Buchen Sie eine Massage dazu, wenn Sie wollen.“
Während sie weiter über das originale Mauerwerk, welches man hat stehen lassen, und die zusätzlichen Holzträger schwärmt, die dem Raum die nötige Wärme verleihen, sieht sie wie die Frau zunehmend blasser wird und sich am Türrahmen festhält.
„Das Mobiliar ist aus hochwertigem Material“, schließt die Empfangsdame ihren Bericht, während sie das Zimmer Landgraf gegenüber aufschließt und das Paar mit einladender Geste in den Raum führt.
„Werfen Sie gerne einmal einen Blick ins Tal.“
Die beiden gehen ans Fenster. Plötzlich beginnt die Frau zu weinen. Er legt liebevoll den Arm um sie und reicht ihr sein Stofftaschentuch.
Für eine endlos erscheinende Minute hört die Rezeptionistin nur das leise Schluchzen in der Stille der trutzigen Burg. Die dicken Wände dämpfen jegliches Geräusch aus den Nebenzimmern.
„Möchten Sie auch noch eine unserer Suiten sehen?“, versucht die junge Frau sich aus der unangenehmen Stille zu retten. „Wir haben da zum Beispiel die Grafensuite die ebenfalls durch die harmonische Verbindung der Einrichtung mit den Natursteinmauern besticht.“
„Gerne, wenn wir einen kurzen Blick hineinwerfen dürften?“, sagt der Mann mit einem Lächeln, während er seine Frau liebevoll vom Fenster wegführt.
Während die Rezeptionistin weiter über das liebevolle Ambiente des Hotels schwärmt, überlegt sie, was mit der Frau los sein könnte. Die Bedürfnisse ihrer Gäste bis ins Kleinste wahrzunehmen, darin ist sie richtig gut. Aber hier kommt sie nicht weiter. Vielleicht haben die Zwei einfach eine Unstimmigkeit vorher gehabt?
Über den Flur geht es in den Festsaaltrakt. Schwere Teppiche liegen auch hier auf dem alten, liebevoll restaurierten Holzboden. Fürstliche Möbel schmücken den Raum. Ahnenbilder hängen an der Wand.
„Gerade in diesem Trakt haben wir versucht, vieles zu erhalten“, versucht sie die Frau etwas von ihren Emotionen abzulenken. „Hier zum Beispiel das alte Kaminzimmer. Das Ambiente wird besonders gerne in der kälteren Jahreszeit genutzt. Wann soll denn der runde Geburtstag gefeiert werden?“
„Im Februar.“
Es ist das erste Mal, dass die Frau selbst spricht. Mit leiser Stimme und Tränen in den Augen.
„Wir werden uns beratschlagen“, sagt ihr Mann mit einem fürsorglichen Blick zu seiner Frau.
„Vielen Dank für Ihre freundliche Führung.“
„Gerne“ lächelt die junge Frau. Ein wenig verwundert über das abrupte Ende, begleitet sie die beiden bis zur Rezeption zurück. Auf dem Weg beschließt sie zu schweigen, um die Schönheit der Burg wirken zu lassen. Am Tresen angekommen reicht sie dem Paar die Werbemappe des Hotels.
„Es war mir ein Vergnügen, Sie durch unsere schöne Burg zu führen. Überlegen Sie es sich in aller Ruhe, und wenn Sie Fragen haben sollten, rufen Sie mich gerne an“, spult sie ihren Standardspruch ab. Dann hört sie sich zur Frau hingewendet sagen: „Und für Sie alles Gute.“
Nachdenklich blickt sie dem Paar in der Frühlingssonne nach.
Der Wetterdienst hatte zum wiederholten Male Orkanböen mit Windstärke 12 13 angesagt. Wild peitschten die Wellen gegen die Deichbefestigungen. Feuerwehr und Deichaufsicht befürchteten, dass die Deiche mit zunehmender Flut brechen könnten. Alle Männer, die zur Verfügung standen, waren heute angetreten, um Sandsäcke zu den Deichen zu schleppen. Zum Schutz, dass diese nicht brachen.
Die letzte Unwetterwarnung kam vor drei Stunden durchs Radio. Helene Berger schaute seitdem alle fünfzehn Minuten auf die Uhr. Kurz vor den Wetternachrichten setzten ihre Wehen ein. Mitternacht war vorbei.
Sie ging ins Schlafzimmer, um ihre kleine Tochter zu wecken. Martina hatte einen tiefen Schlaf. Sie nahm sie aus dem Bettchen auf ihren Arm und redete sanft auf sie ein, bis sie wach wurde.
Martina begann kläglich zu weinen, als ihre Mutter sie in die Winterjacke zwängte und ihr die Schuhe über die Füße zog. Kleidung und Windeln hatte sie bereits am Abend aus einer Vorahnung heraus in einen Beutel gepackt. Helene machte sich auf den Weg zu den Großeltern ins gegenüberliegende Etagenhaus. Schweißnass stand sie im dritten Stock vor der Wohnungstür und schellte. Die schrille Klingel war nicht zu überhören. Verschlafen öffnete die Großmutter die Haustür.
„Geht es los, Helene? Hast Du alles gepackt? Mein Gott, hoffentlich geht alles gut? Wenn ich nur an die letzte Geburt denke? Soll Willi dich begleiten?“
Helene schüttelte energisch den Kopf.
„Jetzt mach mich nicht nervös. Ist schon schlimm genug, dass der Karl nicht da ist.“
„Oma, Arm.“
Martina streckte der Großmutter ihre kleinen Ärmchen entgegen. Wenig später lag sie gemütlich mit ihr unter der dicken Federdecke im Bett.
Zu Fuß machte sich Helene auf den Weg ins Städtische Krankenhaus. An ein Taxi war heute Nacht gar nicht zu denken. Sie kämpfte gegen den Sturm an. Bei jeder Wehe musste sie stehen bleiben. Tränen liefen ihr über die Wangen. Warum musste Karl auch gerade jetzt auf See sein?
Endlich ragte das Krankenhaus aus der Dunkelheit hervor. Nur noch ein kleines Stück, Helene, halte durch! Schmerzverzerrt hielt sie sich wenig später am Geländer des Eingangs fest und merkte, wie ihr etwas feucht die Beine hinunterlief. Jetzt wurde es Zeit, das spürte sie!
Der Pförtner spähte aus seiner Fensteröffnung hervor. Er erfasste die Situation mit einem Blick. Ein Griff zum schwarzen Telefonhörer genügte, und schon war er mit dem Kreißsaal verbunden.
„Schwester, hier steht eine junge Frau mit heftigen Wehen.
Ich glaub, es eilt.“
„Bin gleich da.“
Wenige Minuten später rollte die Hebamme mit dem Krankenstuhl heran. Helene hing mit schmerzverzerrtem Gesicht am Geländer. Sie unterdrückte ihr Bedürfnis zu schreien.
„Ganz ruhig, junge Frau. Wir kriegen das schon hin.“
„Ich kann nicht mehr. Tun Sie doch was“, bettelte Helene die Hebamme an.
Die Wehen dauerten Stunden. Immer wieder wurde sie mit Chloroform ruhiggestellt. Der diensthabende Arzt war vor einer Stunde zu einer Notoperation gerufen worden.
Helenes Muttermund war sieben Zentimeter weit geöffnet, doch die Geburt kam nicht in Gang. Unruhig fuhr sich die Hebamme mit der Hand durchs Gesicht. Die Herztöne des Kindes wurden schwächer. Am liebsten würde sie einen Kaiserschnitt machen lassen. Sie wollte noch einen letzten Versuch wagen. Dazu musste sie sich auf Helenes Bauch legen und versuchen, das Kind in den Geburtskanal zu schieben. Helene schrie verzweifelt und biss vor Schmerzen immer wieder in das Handtuch, das zum Abwischen des Schweißes neben ihr lag. Sie wollte sterben.
Endlich begann der Muttermund sich vollständig zu öffnen, und die Presswehen setzten ein. Innerhalb einer halben Stunde gebar Helene einen kleinen Jungen. Die Hebamme wand das Kind aus der Nabelschnur, die sich zweimal um seinen Hals gewickelt hatte. Schlaff lag es in ihren Händen und atmete nicht. Hektisch klopfte sie den Säugling ab und hoffte inständig, dass der Kleine seinen ersten Schrei von sich geben würde. Genau in dem Moment betrat der Arzt den Kreißsaal. Er erkannte sofort die Situation, riss ihr den Jungen aus den Händen und rannte mit ihm zum Beatmungsgerät. Wenige Augenblicke später begann er zu schreien.
Benommen und erleichtert lehnte Helene sich im Kreißbett zurück. Sie und ihr Baby hatten es geschafft. Sie hatte einen Sohn geboren. Tränen liefen ihr über die Wangen. Diese Nacht kam ihr wie ein Albtraum vor. Dass sie es hochschwanger geschafft hatte, trotz des Sturms sicher in der Klinik anzukommen, grenzte schon bald an ein Wunder. Was würde das für ein Kind sein, das sich dermaßen mit ihr ins Leben kämpfen musste.
Der Arzt riss sie aus ihren Gedanken, indem er ihr den Kleinen in die Arme legte. Ein kleines schmächtiges Wesen blickte sie für einen winzigen Moment an. Dann schloss der Kleine seine Lider und schlief ein.
„Wie soll er denn heißen?“
„Johann.“
Die Tschechoslowakei, dominiert von der stalinistisch geprägten Führungsspitze der Kommunistischen Partei, befand sich in einer tiefgreifenden ökonomischen und gesellschaftlichen Krise. Immer mehr reformerische Stimmen forderten eine Befreiung der Betriebe von der sozialistischen Führung. Die Bevölkerung wünschte sich einen Abbau der Bürokratie und die Zulassung autonomer Gewerkschaften sowie endlich auch privat geführte Kleinbetriebe und Zusammenschlüsse mit westlichen Unternehmen.
Agnes und Harald Nastrewa spielten schon länger mit dem Gedanken, die Tschechoslowakei zu verlassen. Deshalb hatten sie vor einigen Wochen eine Besuchsreise nach Westdeutschland beantragt. Ein guter Freund und Landsmann lud zu seinem Aufstieg vom Arzt zum Medizinalrat ein. Seit 1948 lebte er in Deutschland und hatte die Karriereleiter im Gesundheitssektor betreten.
Die Grenzüberfahrt ging komplikationslos vor sich. Ein kurzer Blick des Grenzbeamten auf ihr Zweitagesvisum, dann winkte er sie durch. Sie befanden sich auf deutscher Seite.
In einer Stunde waren sie beim „Weißen Bären“. Als sie auf den Parkplatz des Gasthauses vorfuhren, kam Agnes Nastrewa sich mit ihrem alten Auto ein wenig armselig vor. Ein schicker Mercedes stand neben dem anderen.
Sie straffte sich innerlich und hakte sich bei Harald ein. Der gab ihr die nötige Sicherheit, die sie gleich brauchen würde, um dem westlichen Dünkel standzuhalten.
Medizinalrat Adolf Gassner hatte einflussreiche Freunde aus Politik, Wirtschaft und Gesundheitswesen eingeladen. Die Tafel war mit weißen, gestärkten Tischtüchern und Servietten, Silberbesteck und Kristallgläsern eingedeckt. Agnes und Harald Nastrewa saßen zu ihrem Erstaunen direkt neben dem Gastgeber, was ihnen die Kommunikation sehr erleichterte. Sie sprachen zwar beide deutsch, aber es galt immer wieder, eine Hemmschwelle zu überwinden.
Gemeinsam mit seiner Frau hatte Adolf Gassner einen gediegenen Menüplan zusammengestellt. Vorweg gab es eine Suppe, dann Hirschragout mit Knödeln und Rotkraut und anschließend Vanilleeis mit heißen Himbeeren. Man munkelte, den Hirsch hätte er während seiner letzten Jagd selbst erlegt.
Das Essen schmeckte vorzüglich.
„Gute, deutsche Hausmannskost“, flüsterte Harald Agnes ins Ohr.
Beim Mokka ließ Adolf Gassner die Neuigkeit heraus. Er sprach Agnes und Harald in ihrer tschechischen Muttersprache an, was dafür sorgte, dass einige Kollegen neugierig zu ihnen hinüberblickten. Er war ihnen bisher als deutschsprachiger Kollege bekannt.
„Ihr müsst unbedingt auf dem Rückweg über die kleine Ortschaft Wernberg fahren. Liegt fast an der Grenze zur Heimat. Ihr seid doch auf der Suche nach einem Projekt. Ich sage Euch, dass könnte was sein. Ihr werdet es gar nicht verfehlen. Die alte Burg springt Euch sofort ins Auge.“
„Was sollen wir denn mit einer Burg? Etwa von einer Ruine in die nächste rutschen?“, fragte Agnes konsterniert.
Sie war entsetzt über die Idee. Lebten sie doch bereits in der Tschechoslowakei mit ihrer Tochter Anna auf einem verfallenen Gutsgehöft, das allerdings in Staatsbesitz war.
Doch schnell fasste sie sich wieder und hakte mit versöhnlicher Stimme nach:
„Nein, im Ernst, was hat das mit der Burg auf sich?“
„Also, ich habe gehört, dass die Burg Wernberg für soziale Zwecke zu verpachten sein soll. Vor einer Woche lag bei uns ein Rundschreiben, das an alle Jugend- und Gesundheitsämter ging, auf meinem Schreibtisch. In Niedersachsen ist der Notstand ausgebrochen. Sie haben dort so viele Unterbringungsanfragen für behinderte Kinder, dass die Behörden diese im eigenen Bundesland nicht mehr abdecken können. Das wäre doch die Gelegenheit für Euch, einen Antrag auf Ausreise zu stellen. Mit solch einem Projekt an der Angel.“
„Und was soll ich mit denen tun? Ich bin Geschäftsfrau und keine Pädagogin.“
„Das lass mal meine Sorge sein. Ich habe da so meine Ideen und Verbindungen. Das kriegen wir schon hin.“
Medizinalrat Gassner zwinkerte ihr zu und schaute Harald dabei auffordernd an. Was das bedeutete, wusste Agnes nur zu gut. Ihr Freund war schon immer der Meinung gewesen, dass Harald mehr die Initiative übernehmen sollte, sie in ihren Projekten zu unterstützen. Aber viel war nicht von ihm zu erwarten, bei seinem Phlegma. Einerseits war ihr das ganz recht so, sie hatte gerne das Zepter in der Hand. Ihr aber mal den Rücken zu stärken, damit sie endlich aus der Tschechoslowakei rauskommen können, würde sie dann doch begrüßen.
Helene freute sich seit Tagen darauf, mit Johann und Martina an den Strand zu gehen. Sie musste dafür zwar einige Kilometer Fußmarsch auf sich nehmen, doch das Meer und der feine Sandstrand würden sie dafür belohnen.
Es war strahlender Sonnenschein. Die Flutwellen rollten unaufhörlich übers Watt, sodass die Kinder schon bald baden konnten. Martina baute emsig an einer Sandburg. Immer wieder lief sie mit ihrer kleinen Gießkanne zum Spülsaum und holte neues Wasser, um sie zu benässen. Dann klopfte sie mit beiden Händen den Sand fest.
„Mama, darf ich Muscheln suchen gehen?“, fragte sie aufgeregt.
„Ja, aber lauf nicht zu weit weg. Hier hast Du eine Tüte zum Sammeln.“
Martina suchte mit gesenktem Kopf und konzentriertem Blick im Schlick des Watts nach Seeschätzen für ihre Sandburg.
Johann war im Januar sechs Jahre alt geworden. Zwar konnte er, wenn er sich an der Karre festhielt, stehen, aber gehen konnte er nur mit Helenes Hilfe. So saß er versonnen auf der Stranddecke und krabbelte zaghaft durch den Sand. Am liebsten matschte er mit seinen Händen im Watt und patschte freudig in die Pfützen des Spülsaums. Kam ein Strandwanderer vorbei und blieb stehen, strahlte Johann ihn mit seinen hellblauen Augen an.
Während Martina Muscheln und Treibholz sammelte, hielt Helene Ausschau nach ihrer Schwester. Sie freute sich auf die gemeinsamen Stunden mit ihr am Strand. Seit Karl im April letzten Jahres auf einem Fischkutter kurz vor Island tödlich verunglückt war, hatte Helene wieder verstärkt Kontakt zu ihr aufgenommen.
Wenn sie an den Moment dachte, als der Mitarbeiter vom Seeschifffahrtsamt plötzlich vor ihrer Wohnungstür stand, kamen ihr noch immer die Tränen.
„Frau Berger, ich habe schlechte Nachrichten. Es gab ein Schiffsunglück. Unwettermeldung vor Island. Ihr Mann war noch in der Kombüse, um das Mittagessen für die Mannschaft vorzubereiten, als der Orkan ausbrach.“ Unfassbar, was er da sagte. Mein Karl, ein Opfer des Unwetters? Sie hatte ihn ungläubig angeschaut.
„Er muss beim Austreten über die Reling gestürzt sein. Einige aus der Mannschaft haben sein Schreien gehört. Der Steuermann hat sofort reagiert. Getan, was unter diesen Wetterbedingungen möglich war. Den Kurs geändert, allesamt haben vom Schiff aus einen Suchtrupp gebildet. Leider ohne Erfolg. Ihr Mann ist verschollen!“
„Aber das kann doch nicht sein, man muss ihn doch gefunden haben. Ein Mensch verschwindet doch nicht mir nichts dir nichts im Meer?“
Der Nachrichtenüberbringer hatte mit den Schultern gezuckt und darauf nichts weiter zu sagen gewusst. Beklommen hatte er sich verabschiedet.
Fassungslos, wieder und wieder hatte Helene den Bericht vom Seeschifffahrtsamt lesen müssen.
Seitdem war ein gutes Jahr vergangen. Nun musste Helene sich Gedanken machen, wie das Leben weitergehen sollte. Die Halbwaisenrente der Kinder und ihre kleine Witwenrente reichten vorne und hinten nicht. Sie würde sich eine Arbeit suchen müssen. Aber durch Johanns Behinderung war sie ans Haus gefesselt.
In den ersten Monaten hatte sie es nicht bemerkt. Doch als er keine Anstalten machte, sich zu drehen oder hinzusetzen, und dann die Anfälle hinzukamen, wusste sie, dass etwas in seiner Entwicklung nicht stimmte.
Helenes Schwester riss sie aus ihren dunklen Gedanken. Sie winkte ihr gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter vom Deich herunter zu. Freudig winkte Helene zurück.
Martina lief ihnen mit ihrer halbvollen Tüte voller Schätze entgegen. Stolz hielt sie ihrer Cousine einige Muscheln zum Verzieren der Sandburg hin. Die beiden Mädchen rannten die Deichschräge hinunter und ließen sich in den Sand plumpsen. Während ihre Cousine die Burg verzierte, schaufelte Martina emsig einen Burggraben aus.
Helene zog die Stranddecke stramm und fegte mit der Hand den Sand herunter. Die Thermoskanne knirschte bereits beim Aufschrauben. Sie schenkte ihrer Schwester und sich einen Becher Kaffee ein und öffnete die Dose mit Leibniz-Keksen. Sofort stürmten die Mädchen herbei und griffen hinein. Auch Johann kam herangekrabbelt.
„Hallo Johann, Du bist ja groß geworden.“
Seine Tante strich ihm sanft über seinen Blondschopf.
„Elsbeth, ich war in der letzten Woche beim Sozialamt und habe mich nach einer Heimunterbringung für Johann erkundigt. Ich fühle mich gerade wie eine Rabenmutter“, klagte Helene.
„Das musst Du nicht! Denk mal, was Du in den letzten Jahren alles für ihn getan hast, dass er bei euch bleiben konnte. Und erinnere Dich, wie entlastend es für Dich und Martina war, als er zur Abklärung die vier Wochen in den Alsterdorfer Anstalten war“, versuchte Elsbeth sie zu beruhigen.
„Ich weiß, aber er ist doch so hilflos und auf mich angewiesen. Außerdem haben sie auf dem Sozialamt sowieso gesagt, dass es keine freien Plätze in der Umgebung gibt. Die Heime sind alle belegt. Auch fällt er durch alle Raster. Entweder ist er zu wenig behindert oder zu stark. Von Ostfriesland bis nach Bremen ist nichts zu machen. Ich wusste gar nicht, dass es so viele Heime und um ehrlich zu sein, auch nicht, dass es so viele behinderte Kinder gibt.“
„Ja, das wundert mich auch. Hast du schon mal von dem Verein Lebenshilfe gehört? Die sind gerade dabei, sich zu gründen.“
„Die hat der Sozialarbeiter erwähnt. Sie können nur eine Teilzeit-Tagesbetreuung anbieten. Aber er hat mir von einem neuen Projekt erzählt. In Oberbayern, an der tschechischen Grenze. Genaueres wollte er mir jedoch noch nicht sagen.“
„Oberbayern? Soweit weg? Meine Güte, da verlierst Du ja den Kontakt zu Johann.“ Der Satz tat Elsbeth sofort leid. Sie wollte ihr doch kein schlechtes Gewissen bereiten.
Aber die Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Helene begann zu weinen und schaute verzweifelt zu ihrem Sohn hinüber. Was sollte nur aus ihm werden? Aber die Vorstellung mit ihren achtundzwanzig Jahren wegen Johann allein bleiben zu müssen, setzte ihr genauso zu. Welcher Mann würde denn eine Frau mit einem behinderten Kind wollen?
Agnes und Harald Nastrewa standen auf dem Marktplatz inmitten des kleinen Städtchens Wernberg. Die tausend Jahre alte Burg lag auf einer Anhöhe und ragte aus dem Naabtal mit seinen Mischwäldern hervor. Sie hielt staunend die Luft an.
„Harald, ich fasse es nicht. Bitte fahr mal ganz nach oben.“ Agnes deutete mit dem Zeigefinger auf die Burg.
„Ich bin nicht sicher, ob ich bis hoch komme. Aber ich versuche es.“ Harald musste mit einem schattigen Parkplatz am Waldrand vorliebnehmen. Der Weg war zu bewachsen. Mühsam erklommen sie die Anhöhe, überall hohes Gras und Disteln.
„Du Harald, ich glaube hier war ewig keiner mehr. So viel Wildnis. Schau mal dort, eine echte Zugbrücke.“
Sie marschierten über die alte Zugbrücke und gelangten in den Burginnenhof, in dessen Mitte ein alter Burgbrunnen von einer beeindruckenden Tiefe gemauert war. „Hallo“, rief Agnes laut in den Brunnen hinein. Ihre Stimme verhallte darin. Sogar eine kleine Kapelle gab es. Agnes ruckelte an dem alten schmiedeeisernen Türgriff. Verschlossen! Vor ihnen lag eine Burg mit Geschichte, das wurde ihnen klar.
„Wenn Mauern reden könnten. Was hätten diese uns wohl zu erzählen? Ich muss mich unbedingt mit der Chronik der Burg befassen. Was für eine wahnwitzige Idee von Adolf Gassner. Mir wird ganz seltsam zumute. Ich sehe uns schon die Räume einrichten. Schau mal, hier könnte unser Trakt sein.“
Sie zeigte auf den Burgteil, der an die Kapelle angeschlossen war.
„Stell Dir vor, eine eigene Kapelle.“
„Agnes, jetzt lass uns erst mal nach Hause fahren und darüber schlafen. So ein Schritt will doch wohlbedacht sein.“
„Du hast ja Recht, Harald. Aber gleich morgen muss ich mit Adolf telefonieren. Ich bin total neugierig geworden, was für ein Angebot er auf seinem Schreibtisch liegen hat.“
Agnes Nastrewa hatte in den nächsten Tagen in verschiedensten Chroniken über die Burg Wernberg recherchiert und Informationen gesammelt. Dabei kam sie aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.
„Hör doch mal, Harald, was hier steht.“
Die Erstnennung der Burg Wernberg erfolgte 1280. Als sie von den Landgrafen von Leuchtenberg an Konrad von Paulsdorf verkauft wurde. Dieser überschrieb die Burg noch im selben Jahr wohl als Heiratsgut seinem Schwiegersohn Heinrich Notthafft von Wildstein, der sich nun „von Wernberg“ nannte ….
„Keine Sorge, ich lese Dir jetzt nicht die ganze Geschichte vor, nur das, was spannend für unser Projekt ist. Hör mal weiter.“
Von 1805 bis 1822 befand sich das Rechnungsamt Nabburg auf der Burg. Danach wurde sie kurzzeitig königliches Forstamt und Zweigstelle der Gefangenenanstalt Ebrach. 1860 brachte man auf der Burg eine „Beschäftigungsanstalt für gefallene weibliche Personen“ und eine „Rettungsanstalt für schulpflichtige verwahrloste Mädchen“ unter der Obhut der Schwestern des Klosters vom Guten Hirten in München unter. Die Wasserknappheit auf der Burg und der schlechte Ruf als ehemalige Gefangenenanstalt beendeten 1866 diese Unterbringung.
„Eine Rettungsanstalt war es vor hundert Jahren bereits schon einmal. Harald, wenn das kein gutes Omen ist.“
Sie legte die Abschriften sauber gefaltet in die Schublade ihres alten Sekretärs zurück. Harald kratzte sich bedächtig den Kopf.
„Irgendwie macht mir die Größe des Projekts ein wenig Bauchweh. Ist das nicht eine Nummer zu groß für uns? Von Vorteil wäre allerdings, dass wir die deutsche Sprache beherrschen und Du Dich gut mit Zahlen auskennst.“ Ja, davon verstand seine Agnes etwas, das wusste er aus vergangenen Zeiten.
„Naja, ein Versuch, mit den Ämtern ins Gespräch zu kommen, wäre es auf jeden Fall wert“, pflichtete er Agnes Euphorie bei.
Agnes fiel ihrem Mann um den Hals.
„Harald, das ist unsere Chance, dem Regime hier den Rücken zu kehren!“
Martina und Johann schliefen heute Nacht bei Elsbeth.
Endlich einmal frei, dachte Helene.
Sie trug ihr extra für diesen Abend selbstgenähtes Kleid. Eines mit Punkten, die gerade modern waren, und dazu die roten Pumps mit den Pfennigabsätzen. Ihre Haare hatte sie kräftig toupiert und mit Haarspray zum Sitzen gebracht. Schließlich sollte die Frisur die Nacht über halten. Aufgeregt war sie, wie ein junger Backfisch. Dass sie Mutter zweier Kinder war, musste sie ja nicht gleich jedem auf die Nase binden.
Als sie die Bar betrat, spielte eine Band im Stil von James Last. Die Musiker lockten die Menschen mit ihrem Swing auf die Tanzfläche. Es juckte ihr geradezu in den Füßen. So lange hatte sie nicht mehr getanzt.
Helene entdeckte den schneidigen Typen in der Marineuniform gleich beim Reinkommen. Seine feinen Züge, das Haar wellig aus dem Gesicht gekämmt, fielen ihr sofort ins Auge. Sie suchte sich einen Platz in seiner Nähe. Dummerweise kam schnurstracks ein Freund ihres Bruders auf sie zu.
„Hallo Helene, wie schön, Dich hier zu sehen. Schenkst Du mir den nächsten Tanz?“
Am liebsten würde sie ihm einen Korb geben. Sie wollte frei sein! Aber sie wusste ja gar nicht, ob er sie überhaupt auffordern würde.
Sie ließ sich von Herbert über die Tanzfläche führen und genoss die Leichtigkeit in seinen Armen.
„Helene, Du siehst bezaubernd aus. Hat Dir das heute schon jemand gesagt?“
„Nein, nicht so direkt. Danke.“
Karl war jetzt bereits zwei Jahre tot. Kurz spürte sie Schuldgefühle in sich aufsteigen. Nein! Heute war sie, und nur sie dran.
Nach drei Tänzen brachte Herbert sie zu ihrem Platz zurück. Verlegen trank sie einen Schluck ihrer Coca Cola. Ein neues Getränk aus Amerika. Den Marineoffizier hatte sie nun leider im Rücken. Aber ihr schien es, als brannten seine Blicke fast darauf. Oder bildete sie sich das nur ein?
Als die Band „Blue Eyes“ anstimmte, berührte sie jemand zart am Arm.
„Darf ich um den nächsten Tanz bitten?“
Ihr Herz schlug fast bis zum Halse. Also hatte sie sich nicht geirrt, er hatte auch sie angeschaut. Sie blickte ihm in seine stahlblauen Augen und reichte ihm die Hand.
Es blieb nicht bei diesem einen Tanz. Sie waren gar nicht wieder auseinanderzubringen. Bei einem langsamen Walzer kamen sie sich so nahe, dass sie sein Rasierwasser riechen konnte.
Sie hätte die ganze Nacht so weitertanzen mögen. Aber Helene hatte ihrer Schwester versprochen gegen ein Uhr bei ihr zu sein, falls etwas mit Johann sein würde. Andreas bot ihr an, sie mit seinem VW-Käfer nach Hause zu fahren. Leicht beschwipst verließen sie die Bar. Er legte vorsichtig den Arm um ihre Schulter und Helene widersprach nicht. Ja, sie genoss seine Nähe, seinen Geruch. Andreas öffnete ihr galant die Beifahrertür, um dann beschwingt um das Auto herum zu gehen und auf dem Fahrersitz Platz zu nehmen. Sie mussten nur ein kurzes Stück fahren, da es bis zu ihrer Schwester nicht weit war.
„Magst Du bitte an der Ecke dort anhalten, ich gehe das letzte Stück zu Fuß“, bat Helene.
Sie wollte nicht, dass ihre Schwester, aber besonders ihr Schwager, sie aus seinem Auto steigen sah. Helene fürchtete die dummen, manchmal etwas anzüglichen Sprüche.
Andreas parkte den Wagen und drehte den Schlüssel nach links. Stille im Auto. Als er sich zu ihr hinüber neigte, begann ihr Herz wie wild zu pochen. Sie hatte sich doch nicht etwa in diesen Mann verliebt?
„Darf ich Dich wiedersehen? Soll ich Dich noch ein Stück begleiten?“, fragte Andreas.
Helene schüttelte energisch den Kopf. Wiedersehen ja, aber für heute musste es genug sein.
„Kann ich Dich anrufen?“ Andreas ließ nicht locker.
„Ich habe kein Telefon. Wenn Du mir Deine Nummer gibst, rufe ich Dich aus der Telefonzelle an. Am nächsten Wochenende, wenn Du magst.“
Sie brauchte Zeit, um über den Abend, ihren aufgewühlten Zustand und vor allen Dingen über ihre Lebenssituation nachzudenken.
Wenige Wochen später brachte Helene die Kinder wieder zum Übernachten zu ihrer Schwester. Dieses Mal schliefen sie allein dort. Heute blieb Helene noch auf einen Tee bei Elsbeth sitzen. Sie musste ihr unbedingt von dem letzten Gespräch mit dem Sozialarbeiter berichten.
„Du, der hat mir den Platz für Johann geradezu aufgedrängt. Er meinte, es wäre die Chance, dass er sinnvoll gefördert werden könnte. Eine Heilpädagogische Anstalt soll es sein. Allerdings meinte er, die wäre in einer Trutzburg untergebracht. Alles gerade neu renoviert. Sie soll im Mai eröffnet werden.“
„In einer Burg? Oh Gott, was für eine Vorstellung! Aber besser in einer Burg als in einer Baracke. Was lässt Dich noch zögern?“
„Die Vorstellung, mich von Johann trennen zu müssen. Und was wird Martina dazu sagen? Die Kinder sind doch so eng miteinander verbunden.“
„Helene, Du musst jetzt auch mal an Dich denken. Willst Du ewig in dem einen Zimmer mit den Kindern leben? Und Andreas, was hat er eigentlich dazu gesagt, dass Du zwei Kinder hast? Hast Du ihm von Johanns Besonderheit erzählt?“
„Ja, nein, nicht direkt. Ich habe mich noch ein wenig herausgewunden. Aber er weiß, dass ich zwei Kinder habe. Andreas hat gemeint, das störe ihn nicht. Er käme selbst aus einer großen Familie. Oh, Elsbeth, manchmal fasse ich mein Glück noch gar nicht.“ Ihre Stimme überschlug sich fast vor Freude.
Sollte sie es auch einmal so gut haben wie Elsbeth? Ein kleines Haus mit Garten, eine richtige Familie, vielleicht noch einmal ein Kind gemeinsam mit Andreas? Jetzt musste sie aber ihre Fantasie zügeln. Wie konnte sie an ein weiteres Kind denken und im gleichen Atemzug daran, den Johann wegzugeben.
„Jedenfalls hat der Sozialarbeiter gemeint, dass ich mich innerhalb der kommenden Woche entscheiden muss, weil der Platz sonst an eine andere Familie gehen würde. Was soll ich nur tun?“
„Was spricht denn dafür? Wann soll er überhaupt dorthin?“, fragte Elsbeth nach.
„Gleich im Mai soll es losgehen. Ja, was spricht dafür? Also, was mich beeindruckt hat, ist die Förderung der Kinder dort. Johann kann immer noch nicht sprechen, trocken habe ich ihn auch noch nicht bekommen. Und er wäre unter seinesgleichen. Keiner würde ihn mehr so anstarren und hänseln wie hier in der Stadt.“
Helene begann während des Gespräches, den Gedanken an eine Heimunterbringung gar nicht mehr so abwegig zu finden. Plötzlich fielen ihr immer mehr Gesichtspunkte ein, die dafür sprachen.
„Er wäre auch nicht der Einzige aus dem Umkreis. Und sie würden ihn in den Ferien zu uns bringen. Besuchen könnte ich ihn mit Martina jederzeit. Außerdem könnte ich endlich einer Arbeit nachgehen und müsste dem Sozialamt nicht länger auf der Tasche liegen.“
Elsbeth nickte ihr aufmunternd zu.
„So, jetzt mach Dich auf den Weg in deine kleine Freiheit. Genieße den Abend und die Nacht mit Andreas. Ich würde ihn ja gerne mal kennenlernen.“
Sie zwinkerte ihr zu und scheuchte Helene fast zur Tür hinaus.
„Lass mir noch ein wenig Zeit. Ein Schritt nach dem anderen, ja?!“
Mit Vorfreude auf ihren freien Abend schwang sie sich auf ihr altes, rostiges Fahrrad und radelte zu Andreas.
Agnes Nastrewa hatte es mit Adolf Gassners Unterstützung geschafft, den Pachtvertrag für die Burg Wernberg zu bekommen. Es war genauso, wie sie es sich gedacht hatte. Eine Heilpädagogische Anstalt passte gut zur Chronik der Burg. Besonders nach den dunklen Jahren des Nationalsozialismus, in denen Menschen mit Behinderung zu Tausenden Opfer von Euthanasieverbrechen geworden waren, da schrieb man sich jetzt gerne eine Wiedergutmachung auf die politische Fahne.
Mit den Behörden in Niedersachsen ging es allerdings nicht ganz so einfach, sie von ihrer Qualifikation als Heimleitung zu überzeugen. Doch Adolf Gassners Redekunst und seine guten Beziehungen taten ihr Nötiges. Im letzten Gespräch mit dem Landessozialamt hatte Agnes versichern müssen, genügend pädagogisch ausgebildetes Personal einzustellen. Die Kinder sollten ausreichend gefördert werden. Aber genügend Personal zu finden, schien kein Problem im Bayrischen Landkreis zu sein. In Kürze hatten sich jede Menge Bewerbungen auf ihrem Schreibtisch angesammelt. Die meisten von ihnen waren Kinderpflegerinnen.
In den letzten Monaten liefen die Handwerker täglich auf der Burg ein und aus. Zum Schluss mussten sie sogar am Wochenende arbeiten, damit alles termingerecht fertig wurde. Für die Räume der Kinder hatte Agnes Nastrewa die Ansprüche nicht allzu hoch geschraubt. Aber in ihrem Trakt sollte es schön werden. Schließlich wollten sie jetzt ihren Lebensmittelpunkt auf die Burg verlegen.
Das schwere Eichenmobiliar hatten sie übernehmen können. Auch die Ahnenbilder vom Grafen Schall-Riaucour blieben an den Wänden hängen. Schließlich war diese Familie noch der rechtmäßige Besitzer und darüberhinaus gaben sie auch etwas her.
Gerade kam Harald mit dem jungen Schlosser Kurt, dem zukünftigen Hausmeister der Anstalt, aus dem Haupttrakt die Steinstufen herunter. Sie hatten gemeinsam im ersten Stock die Betten für die anreisenden Kinder aufgestellt. Nun fehlten nur noch die Tische und Stühle. Eine Spende, die sie von einer alten Hauptschule aus dem Nachbarort bekommen hatten. Vom Landessozialamt gab es zwar einen ausreichenden Etat für die Grundausstattung, aber sie hatte in ihrer alten Heimat das Sparen gelernt.
„Die Tische wackeln alle ziemlich stark und sind ordentlich verkratzt. Willst Du nicht doch neue in Auftrag geben?“, gab Harald zu bedenken.
Sie winkte entschieden ab.
„Ihr könnt sie ja noch abschleifen. Dann macht es einen besseren Eindruck. Für die Eröffnung muss erst mal alles schön hergerichtet sein. Nicht dass wir uns gleich zu Beginn blamieren. Kurt können Sie das übernehmen?“
Der junge Hausmeister nickt ihr beflissen zu.
Sie hatte die Verträge für die ersten Pflegekräfte fertig gemacht. Diese sollten in der kommenden Woche zum Monatsersten ihren Dienst antreten. Bis dahin mussten die Räume noch einen letzten Schliff bekommen, damit die ersten Kinder am 10. Mai anreisen konnten.
„Schau, Harald, wir haben tatsächlich eine Spende von den VW-Werken aus Wolfsburg erhalten. Das liegt wohl auch in Niedersachsen. Unser erster Bus. Morgen soll er gebracht werden. Dafür wollen sie natürlich einen Bericht in der Zeitung haben. Er ist zwar nicht mehr neu, aber damit können wir die Kinder wunderbar abholen.“
„Weißt Du schon, wer sie holen wird?“
Adolf Gassner hat mich angesprochen, ob wir eine junge Praktikantin, die sich auf dem Gesundheitsamt beworben hat, gebrauchen können? Wäre doch gut, die würden zu zweit fahren. Wie viele sind es denn fürs Erste?“, wollte Harald wissen.
„Wir müssen mehrere Fahrten machen. Einige Eltern wollen ihre Kinder auch selbst zu uns bringen. Bis Ende Mai sollen wir dreißig aufgenommen haben. An wen hast Du denn gedacht?“, fragte Agnes neugierig nach.
„Ich dachte, dass der Kurt das gut schaffen könnte. Es sollte schon ein Mann fahren. Männer halten länger durch und sind auch besser im Durchgreifen bei Schwierigkeiten. Es ist schließlich eine lange Fahrt bis an die Nordsee.“
„Ja, da hast Du recht. Ich muss mir die Adressen von den Sozialämtern heraussuchen und die Eltern anschreiben. Kümmerst Du Dich um den Fahrtenplan?“ Sie wartete seine Antwort gar nicht ab und wandte sich Kurt zu.
„Und wie steht es denn mit Ihnen, Kurt? Können Sie sich eine Fahrt ans Meer vorstellen? Mit einer netten Praktikantin dabei?“
Sie zwinkerte ihm ein wenig anzüglich zu.
„Das mach ich gern Frau Chefin. Ich kann Ihrem Mann auch bei der Planung helfen“, bot Kurt sich an.
Agnes Nastrewa ging über den überdachten Durchgang im ersten Stock zurück in ihr Büro, um Adolf Gassner wegen der Praktikantin anzurufen. Sie war gespannt, ob diese sich eine Busbegleitung zutrauen würde. Überhaupt musste sie erst einmal wissen, wie alt sie war.
Es gab noch so viel für die nächsten Wochen zu bedenken, sollte die Eröffnung ein gelungener Eintritt in die Öffentlichkeit werden. Auch darüber musste sie unbedingt mit Adolf sprechen. Er hatte bereits eine Liste von Persönlichkeiten zusammengestellt. Als sie neulich von ihm den Namen vom Bundestagsabgeordneten hörte, blieb ihr fast der Atem stehen.
Ihr alter Freund Adolf Gassner wollte auch etwas von dem Rampenlicht haben, wie ihr schien.
Jeder Tag war für Helene eine Tortur. Sie hatte sich entschieden, Johann in die Heilpädagogische Anstalt in die Oberpfalz zu geben. Seit dieser Entscheidung schlief sie kaum eine Nacht durch. Manchmal wachte sie schweißgebadet aus einem Albtraum auf.
Sie hatte Johann an der Hand, geriet in eine Menschenmenge und plötzlich wurde er ihr weggerissen. Sie wollte durch die Menschenmenge hindurch seinen Namen rufen, doch immer wieder versagte ihre Stimme und es kam kein Laut heraus. Sie kämpfte sich durch, um Johann zu finden. Doch ohne Erfolg. Er war spurlos verschwunden!
Meist wachte sie von ihren eigenen Tränen auf und gewahrte dann ihren Sohn ruhig schlafend neben sich. Ihr schien, als bekam sie in den Träumen einen Vorgeschmack auf die Zeit nach dem 10. Mai.
Am Morgen dieses Tages hatte sie Johann mit kleinem Gepäck und einem Lieblingsspielzeug bereit zur Abholung zu halten. Der Sozialarbeiter war mit ihr in der vergangenen Woche den Heimvertrag durchgegangen. Sie hatte ihn unterschrieben.
Immer wieder hatte Helene mit ihrer Schwester Elsbeth alles durchgesprochen und war zu dem Schluss gekommen, dass es das Beste für Johann sei, da er dort gefördert werden und so mehr Chancen auf Eigenständigkeit erhalten würde. Auch für Johanns Schwester würde es eine Entlastung bedeuten. Sie hatte ihrer Mutter in den letzten Jahren schon genug zur Seite stehen müssen. Martina war für ihr Alter ein viel zu ernstes Mädchen geworden und Helene wünschte ihr mehr Unbeschwertheit und Zeit mit Freundinnen.
Und zu guter Letzt ging es auch um ihre eigene Zukunft. Sie hatte in Andreas einen liebevollen Partner gefunden und sehnte sich nach mehr Zeit und am liebsten auch einem Familienglück mit ihm.
Als sie ihm von ihren beiden Kindern erzählte, reagierte er nicht schockiert, sondern aufgeschlossen und zugewandt. Doch als sie später gemeinsam mit Martina und Johann im Deichcafé Eis essen waren, bemerkte sie, dass Andreas im Umgang mit Johann sehr befangen war. Seine Behinderung schien ihn doch zu verunsichern.
In ihrem tiefsten Innern wusste Helene, dass ein gemeinsames Leben mit Johann eine zu große Herausforderung für ihre Beziehung sein würde. Diese Erkenntnis hatte ihr letztendlich die Kraft gegeben, den Vertrag zu unterschreiben.
Am frühen Morgen des 9. Mai fuhr der weiße VW-Bus mit der neuen Praktikantin Martha und dem Hilfspfleger Kurt, wie ihn die Chefin mit Beginn dieser Fahrt nannte, vom angrenzenden Burgparkplatz Richtung Norden ab.
Auf die Empfehlung von Adolf Gassner hatte Agnes Nastrewa eine bodenständige Siebzehnjährige an die Hand bekommen. Wie sich im ersten Gespräch herausstellte, war sie als Tochter einer Deutschen in der Tschechoslowakei geboren. Damit hatte sie schon gleich Pluspunkte bei der Chefin gesammelt. Und da sie noch nicht genau wusste, welchen Beruf sie erlernen wollte, konnte das Praktikum auf jeden Fall hilfreich für sie sein.
Die Chefin händigte ihnen die Adressenlisten aus und gab letzte Instruktionen. Sie sollten auf jeden Fall am nächsten Tag vor Einbruch der Dunkelheit mit den Kindern wieder auf der Burg sein.
Martha stellte das von der neuen Köchin Frau Ertl frisch zubereitete Vesperpaket auf den Rücksitz des Busses und nahm auf dem Beifahrersitz Platz.
Sie breitete die Landkarte auf ihrem Schoß aus, um sie besser studieren zu können.
„Wir fahren über Nürnberg an Amberg vorbei und dann am Oberpfälzer Wald entlang. Das ist bestimmt eine schöne Route. Sind Sie diese Strecke schon einmal gefahren?“, fragte sie Kurt. Dieser war etwas angespannt, denn zugegebenermaßen war er bisher über Ulm nicht hinausgekommen. Von dort kam seine Frau.
„Nur ein Stück, der ganze Rest wird auch neu für mich sein. Und Du? Ich darf doch noch Du sagen, oder? Bist ja gerade erst der Schulbank entwischt.“
„Ja, gerne. Das Sie klingt mir tatsächlich noch fremd. – Ich bin mal in Fulda gewesen. Aber da sind wir mit dem Zug hingefahren. Soll ich Ihnen die Richtungen ansagen?“
„Mach das. Kann ja nicht schaden. Ich hab die Karte zwar vorher auch studiert, aber doppelt hält besser.“
Kurt fuhr fast 120 Stundenkilometer, der Bus wackelte hin und her, sodass Martha schläfrig wurde und vor sich hindöste. In Kassel fuhr er einen Rastplatz an. Martha verteilte die Brote auf dem Steintisch, schenkte ihm einen Kaffee und sich einen Tee ein.
„Ganz schön mager belegt die Brote.“ Kurt hob die Brothälften auseinander. „Die Leberwurst muss man suchen.“
„Hm, die Fleischwurst ist auch dünn geschnitten. Aber es stillt den Hunger.“
„Was denkst Du eigentlich darüber, dass wir die Bälger jetzt ganz aus dem Norden zu uns in die Oberpfalz holen? Können sie die nicht selbst unterbringen?“
„Ich habe von der Chefin gehört, dass sie nicht genügend Heime haben. Ist aber tatsächlich ganz schön weit weg für die Kinder. Wenn ich mir vorstelle, mein Bruder würde so weit entfernt in ein Heim kommen. Uh, das fände ich ziemlich schrecklich.“
„Ich weiß nicht, viele von denen sollen ja richtig blöd im Kopf sein. Idioten hat die Chefin gesagt. Da hatte man vor zwanzig Jahren ganz andere Lösungen.“
Kurt lachte über seine eigenen Worte. Doch ein Blick in Marthas Gesicht zeigte ihm, dass er danebengegriffen hatte.
„Auf geht’s!“, unterbrach er die peinliche Stille.
Sie packten die Reste in die Brotdosen zurück, verschraubten die Warmhaltekannen und bestiegen den Bus um weiter in Richtung A 7 Hannover / Bremen zu fahren.
Am späten Nachmittag fuhren sie durch die niedersächsische Landschaft auf der B73 Richtung Cuxhaven. Bis zur ersten Familie waren es nur noch ein paar Kilometer. Sie sollten bis Zur Nordseeperle, ein Hotel nahe am Strand gelegen, fahren. Vor ihnen lag ein riesiges Wattenmeer. So etwas hatten Martha und Kurt noch nie gesehen. Am Horizont fuhren große Fischdampfer vorbei und weit und breit war kein Wasser zu sehen. Hier würden sie heute übernachten, denn für eine Rückfahrt mit den Kindern war es viel zu spät.
Sie betraten das Hotel und Kurt klopfte an die Tür, privat stand darauf. Ein etwas schlitzäugiger Junge öffnete ihnen mit einem breiten Lachen und nuschelte sie an.
„Wollt ihr mich abholen?“
Das hatte Kurt nun nicht erwartet, dass der Junge bereits auf sie wartete und freiwillig mitgehen würde. Mensch, der sah dem Maxl aus Wernberg ähnlich, wie aus dem Gesicht geschnitten.
Peter hatte blitzende Augen. Sein Mund stand immer ein bisschen offen und seine Zunge lag leicht auf seinen Lippen. Martha fielen sofort seine dicklichen Hände mit den kurzen Fingern auf.
Peter war der Sonnenschein in der Nordseeperle. Von dem Personal und den meisten Gästen wurde er gemocht. Besonders die Stammgäste, die jede Saison wiederkamen, waren auch gewillt, sich von ihm drücken und küssen zu lassen. Eine Eigenart, die anderen entweder das Herz öffnete oder abstoßend auf sie wirkte.
Peters Eltern hatten noch eine jüngere Tochter. Sie war gerade Ostern in die erste Klasse gekommen und ihr ganzer Stolz. Anders bei Peter. Er war viel krank gewesen und wurde schon mehrmals wegen seines Herzfehlers operiert. Die Ärzte hatten sie immer wieder darauf hingewiesen, dass Peters Lebenserwartung kurz sein könnte.
Doch inzwischen war er acht Jahre alt und wuchs allmählich aus dem niedlichen Alter heraus. Sie hatten sich um eine naheliegende Betreuung für ihn bemüht – erfolglos. Eine Beschulung war noch nicht in Aussicht, lediglich die Lebenshilfe bot für geistig behinderte Kinder ein paar Stunden Betreuung an. Das reichte ihnen nicht. So war ihnen das Angebot von der Burg Wernberg ganz recht gekommen. Im Winter würden sie ihn ja zu sich holen können. Am schlimmsten war für sie stets die Saison von Mai bis Oktober. In dieser Zeit stand er geradezu jedem im Weg. Immerzu wollte er mithelfen und mit den Gästen reden. Aber je älter er wurde, desto problematischer zeigte sich die Situation für sie im Hotel. Er konnte einfach nicht mehr so mitlaufen. Die Eltern hofften, dass Peter sich mit seinem freundlichen Wesen schnell woanders einleben würde. Doch leicht fiel ihnen diese Entscheidung nicht.
Kurt schaute Peter an und überlegte, ob er ihn überhaupt verstehen würde. Er entschloss sich, ihn direkt anzusprechen.
„Ja, Du hast Recht, wir wollen Dich abholen. Aber erst morgen früh. Sind Deine Eltern zu sprechen?“
Peter nickte eifrig und verschwand durch die Schwingtür.
„Mama, Papa, ich geh verreisen. Komm mal“, nuschelte er.
Peters Mutter kam leichten Schrittes aus dem Frühstücksraum des Hotels, den sie bereits für den nächsten Morgen eingedeckt hatte.
„Herzlich willkommen an der Nordsee. Haben Sie eine gute Fahrt gehabt? Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“
„Nein danke, sehr freundlich. Wir hatten gerade kurz vor Cuxhaven unsere letzte Pause. Schön haben Sie es hier“, ergriff Kurt das Wort.
„Das stimmt. Waren Sie schon einmal an der See?“, fragte Peters Mutter.
Beide schüttelten den Kopf.
„Sie sind sicher müde von der langen Fahrt. Ich zeige Ihnen gleich ihre Zimmer. Leider habe ich keines mit Meerblick mehr frei“, bedauerte sie.
Während Kurt sich sofort schlafen legte, um am nächsten Morgen für die Heimfahrt fit zu sein, lockte Martha das Meer. Sie zog Schuhe und Strümpfe aus und ging barfuß durch den feinen Sandstrand bis zum Watt. Der matschige Meerboden quoll durch ihre Zehen und bei jedem Schritt musste sie gefasst sein, auf eine Muschel oder Wattwurmhäufchen zu treten. Ein bisschen ekelig, aber auch lustig fühlte es sich an. Peters Mutter hatte sie gewarnt, auf keinen Fall weiter hinaus ins Watt zu laufen, da die Flut erwartet wurde. So blieb sie vorne am Spülsaum und spielte mit den Füßen im Wasser. Herrlich, richtig ein bisschen Urlaubsgefühle. Martha bummelte noch ein bisschen an der Strandpromenade und kaufte für ihre Freundin ein kleines Souvenir von der Strandbude. Mit einem Eis setzte sie sich in den Sand und verfolgte den Sonnenuntergang. Wie ein riesiger roter Ball verschwand die Sonne am fernen Horizont im Meer. So etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen.
Wenig später lag auch Martha tief beeindruckt, aber ziemlich erschöpft in ihrem Hotelbett. Bis jetzt war die Entscheidung, die Tour zu begleiten, gar nicht so schlecht, stellte sie zufrieden fest.
Doch bereits am nächsten Morgen spürte Martha zunehmend die Tragweite der bevorstehenden Ereignisse. Peter lief unruhig im Frühstücksraum herum. Allen musste er noch einmal die Hand geben. Dabei zeigte er fröhlich mit dem Zeigefinger auf sich.
„Ich geh verreisen.“
Er hatte Reiseerfahrung mit seinen Eltern. Jeden Winter besuchten sie mit ihrem Opel Kadett die Großeltern in Berlin.
Dann wurden auch immer die Koffer gepackt, Unmengen von Broten geschmiert und es fühlte sich genauso aufregend an.
Peters Mutter rief zur Eile, da Kurt bereits am Bus wartete. Sie hatte für die lange Fahrt einen riesigen Korb mit Proviant gefüllt. Kalte Koteletts, hartgekochte Eier, jede Menge Brote und einen Marmorkuchen hatte sie von der Köchin backen lassen. Ihrem Peter und den anderen sollte es während der Fahrt an nichts mangeln.
„Haben’s seine Sachen bereit? Wir haben noch eine lange Tour vor uns“, rief Kurt ungeduldig vom Bus herüber.
Die Mutter nahm Peter an die Hand und ging mit ihm zum Parkplatz. Sein Vater trug den Proviantkorb und seinen Koffer.
Beiden klopfte das Herz zum Zerspringen. Kurt öffnete entschlossen die Schiebetür vom Bus und ließ Martha mit Peter auf den Rücksitzen Platz nehmen.
Peters Vater verstaute das wenige Gepäck seines Sohnes im Kofferraum, beugte sich zu Peter in den Bus und drückte ihn noch einmal kräftig an seine Brust.
„Du schaffst das schon, Peter“, flüsterte er ihm mit belegter Stimme ins Ohr.