Café Vienna - Grace Falter - E-Book

Café Vienna E-Book

Grace Falter

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Beschreibung

Drei Freundinnen. Drei Liebesgeschichten. Ein Traum. Sam ist davon überzeugt, in dem Briten Scott den Einen gefunden zu haben. Doch ihr Urlaub endet und ihre Wege scheinen sich für immer zu trennen. Ellie schwärmt seit einer Ewigkeit von ihrem Kollegen Matthew und bekommt in Wien endlich ihre Chance. Ihre Romanze nimmt jedoch ein jähes Ende, als sie heimkehrt und die Realität sie einholt. Lulu ist glücklich mit Tom, aber einem Urlaubsflirt nie abgeneigt. Ihr loses Mundwerk und das Spiel mit dem Feuer sind ihr auch noch nie zum Verhängnis geworden. Bis jetzt. Allen Hürden zum Trotz verlieren die drei Frauen etwas nie aus den Augen: ihren Traum von einem gemeinsamen Kaffeehaus. Café Vienna - ein Roman über Freundschaft, Liebe und den Mut, seinem Herzen zu folgen.

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Alle Charaktere und Vorfälle in diesem Roman sind das Werk der Autorin und rein fiktiv.

„A good friend is like a four leaf clover. Hard to find and lucky to have.“ - Irish Proverb

Für Hecki und Biggi – mein Kleeblatt, meine Inspiration.

Und für meine Familie.

Mit großem Dank an Ben Addison für das Coverbild.

Inhaltsverzeichnis

Playlist

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Playlist

Vienna – Billy Joel

Ticket To Ride – The Beatles

Run To The Hills – Iron Maiden

Red Balloon – The Small Faces

I Feel Free – Cream

Dragonfly – Fleetwood Mac

Singing In The Rain – Gene Kelly

The Nanny Named Fran – The Callaway Sisters

My Special Angel – Bobby Helms

Don't Worry Baby – The Beach Boys

The Jean Genie – David Bowie

Rocket Man – Elton John

Running Down A Dream – Tom Petty

Dancing In The Dark – Bruce Springsteen

It's Over – Roy Orbison

I Heard It Through The Grapevine – Marvin Gaye

Elusive Butterfly – Bob Lind

24 Hours From Tulsa – Gene Pitney

I've Got To Have You – The Walker Brothers

Prolog

Sam hatte sich verliebt.

Was für ein Schlamassel.

Sie hatte immer an die wahre Liebe geglaubt, an den einen Mann, der für sie bestimmt war. Ihrem Seelenverwandten. Dass sie ihn im Urlaub kennenlernte hatte sie nicht erwartet. Vor allem hatte sie nicht erwartet, dass er auf einem anderen Kontinent lebte und sie nicht zusammen sein konnten. Scott St. John hatte sie nicht erwartet.

„Sam? Wir gehen kurz in die Galley1, okay?“

Ellies Stimme neben ihr war sanft, doch Sam bekam nur ein schwaches Nicken zustande. Sie öffnete nicht einmal die Augen um ihre Freundin anzusehen. Solch ein Verhalten passte nicht zu ihr und doch konnte Sam nichts dagegen tun. Sie hatte ihr Herz bei Scott in Wien gelassen.

Und nun flogen sie zurück nach Chicago. Nach Hause. Und sie würde Scott nie wieder sehen.

Bei dem Gedanken schmerzte ihr gesamter Brustkorb. Nie zuvor hatte Liebeskummer solch physische Beschwerden in ihr ausgelöst. Wie konnten ein paar Tage Bekanntschaft solch ein stechendes Gefühl hinterlassen? Und was tat sie nun mit all der Liebe, die sie ein Leben lang für ihn aufgespart hatte?

Unter ihren geschlossenen Lidern sammelten sich heiße Tränen. Ein paar quollen heraus und rannen lautlos ihre Wangen hinunter.

Hastig wischte Sam sie fort. Sie wollte nicht weinen, nicht in der Öffentlichkeit. Nicht vor Ellie und Lulu, die bestimmt gleich zurückkamen. Ellie würde sie voller Mitgefühl an sich drücken und ihr Trost schenken wollen und Lulu hatte bestimmt einen lockeren Spruch auf der Zunge um sie aufzuheitern. Beides würde sie nur noch härter zum Weinen bringen.

Missmutig schob sie die Fensterblende ein Stück hoch. Sofort wurde sie von einem stahlblauen Himmel über einer grellweißen Wolkendecke geblendet. Langstreckenflüge bei Tag waren eine Qual, vor allem wenn man Richtung Westen in der Zeit zurückflog und in Economy saß. Vielleicht waren sie als Airline-Angestellte aber einfach nur verwöhnt.

Scott zum Beispiel hatte Flugangst. Ein Grund mehr, weshalb eine Beziehung auf Distanz niemals funktionieren würde. Und dennoch... Sie hätten es wenigstens versuchen können. Hätten noch einmal darüber sprechen sollen. Aber er hatte geschlafen und sie ihn nicht wecken wollen. Also war sie gegangen. Sie hatte sich hinausgeschlichen als wäre er nur ein schlechter One-Night-Stand. Dabei war alles, was er tat, alles, was er ihr zuflüsterte, selbstlos und liebevoll gewesen. Die Nacht mit ihm hatte ihr gezeigt, dass sie niemals wieder mit jemand anderem zusammen sein wollte. Ihr Körper, ihr Herz, ihre Seele gehörten ihm. Für immer.

Krampfhaft versuchte sie ihren Gedanken eine andere Richtung zu geben, während das Flugzeug sie heim nach Chicago brachte und die Distanz zwischen ihnen mit jeder Meile größer wurde.

Doch es war zwecklos.

Alles, was sie sah und alles, was sie fühlte, war Scotts Gesicht und der Schmerz in ihrer Brust.

1 Galley: Bordküche eines Flugzeuges

Kapitel 1

Der Radiowecker ging um kurz vor vier in der Früh.

Samantha Morgan wurde aus einer traumlosen Nacht gerissen und blieb noch eine Weile reglos unter der warmen Bettdecke liegen, während sie versuchte, die Stimme Adèles zu ignorieren.

Es waren mehr die hohen Tonlagen der Sängerin als die Uhrzeit, die Sam quälten, denn dank ihrer Arbeit am O'Hare Flughafen war sie das frühe Aufstehen gewöhnt. Sie blieb nur gerne ein paar Minuten länger liegen und lauschte den Vier-Uhr-Nachrichten. Man wusste schließlich nie, ob ein Schneesturm Chicago lahm gelegt hatte und man besser daran tat, zu Hause zu bleiben anstatt sich all den Flugannullierungen zu stellen. Sie war ein freundlicher und zuvorkommender Mensch und liebte ihre Arbeit, aber die feindseligen Beschimpfungen mancher Passagiere waren hin und wieder unmöglich zu ertragen und kratzten an ihrem Selbstbewusstsein. Hinzu kam die Tatsache, dass sie mit dreiunddreißig noch immer alleine lebte und von einem Mann noch nie ehrlich geliebt wurde. Das steigerte nicht gerade ihr Selbstwertgefühl.

Dabei war es nicht einmal so, dass sie niemand begehrte. Solche Männer gab es genug. Doch Sam wollte nicht irgendeinen Mann. Sie wollte mehr. Sie wollte mit jemandem zusammen sein, der ihr Herz kannte. Den Einen, der ihr vom Schicksal vorbestimmt war. Sie wollte ihren Seelenverwandten. Und sie war überzeugt, dass es ihn gab. Sie mussten sich nur finden. Und bis es soweit war, lauschte sie halt den Vier-Uhr-Nachrichten.

Nachdem die Wetterfee keinen Schneesturm prophezeit hatte, sprang Sam auf die Füße und ging ins Bad. Sie war morgens meist gut gelaunt, aber an diesem besonderen Tag war sie beinahe übermütig. Denn anstatt wie sonst zum Flughafen zu fahren weil sie arbeiten musste, fuhr sie heute zum Flughafen um eine Reise anzutreten.

Der Urlaub mit ihren zwei Freundinnen war schon lange geplant, und in wenigen Stunden ging es für sie ins österreichische Wien – Geburtsort des gleichnamigen Schnitzels und Mekka der Kaffeehäuser. Diese charmanten Cafés waren auch der Grund für ihre Reise. Lulu und Ellie waren sicherlich ebenso aufgeregt wie sie.

Seit acht Jahren waren die drei Frauen unzertrennlich. Das Schicksal hatte das Trio als Arbeitskollegen zusammengeführt und sofort eine tiefe Freundschaft entstehen lassen, die jeden Sturm standhielt. Und wenn in Wien alles gut lief, würden sie auch in Zukunft jedes Unwetter gemeinsam überstehen können – und müssen. Ihr gemeinsamer Traum verlangte Kommunikation, gegenseitigen Respekt und viel Herz.

Ihr Smartphone durchbrach die Stille der Wohnung, als sie eine Stunde später und perfekt zurechtgemacht wie jeden Tag ihren Mantel überzog. Die Nachricht in der WhatsApp-Gruppe war von Lulu.

Bin bereit für einen Wiener Walzer!

Sam lachte und schob das Handy zurück in den beigen Wollmantel. Der Schlüssel zu ihrem restaurierten 74er Plymouth Barracuda lag bereit.

Der rote Wagen stand in der Tiefgarage auf seinem üblichen Stellplatz. Sie schloss den Kofferraum manuell auf und hievte ihr Gepäck hinein, bevor sie hinter das Steuer glitt und den Motor startete. Wie jeden Morgen befürchtete sie, das halbe Wohnhaus zu wecken, aber sie liebte ihren Oldtimer und hätte ihn gegen keinen anderen Wagen eingetauscht.

Gutgelaunt drehte sie die Musik auf und fuhr mit knatterndem Auspuff aus der Tiefgarage.

Es war Dezember, stockfinster und keine Menschenseele zu sehen. Sam mochte diese allmorgendliche Einsamkeit in ihrer Nachbarschaft.

Und während sie nach O'Hare fuhr – dieselbe Strecke wie jeden Morgen und nur an diesem Tag aus einem anderen Grund – sang sie lauthals Ticket To Ride von den Beatles mit.

Auch sie war bereit für einen Wiener Walzer.

~

Isabelle Harper, von ihren Freunden bloß Ellie genannt, stand an diesem Morgen der schwierigsten Aufgabe seit Erfindung des Flugzeuges gegenüber: ihrer vierjährigen Tochter Madison auf Wiedersehen sagen.

Eine ganze Woche lang, sieben volle Tage, würde das junge Mädchen unter der Fuchtel ihrer Großmutter stehen. Ellie musste zugeben, dass ihr der Gedanke wie üblich nicht sehr behagte. Doch ein einziges Mal im Jahr musste dieser Urlaub mit ihren Freundinnen sein. Ein einziges Mal musste sie ihrer gewohnten Umgebung entfliehen und mal keine Verantwortung tragen müssen. Einfach sie selbst sein.

Was nicht hieß, dass es ihr nicht schwer viel. Oder dass sie kein schlechtes Gewissen hatte, ihrer Mutter das Kind zu überlassen. Leider hatte sie keine andere Wahl. Madisons untreuer Vater glänzte seit ihrer Geburt mit Abwesenheit und war keinen müden Gedanken wert und Ellies Bruder hatte bereits alle Hände voll zu tun mit seiner Tochter und einem Neugeborenen. Demnach blieb nur Helen Harper. Sie würde vermutlich die halbe Wohnung umräumen, damit sie bis zur Sterilisation alles blitzblank putzen konnte, aber das sollte Ellie nur recht sein. Es war ein altbekanntes Spiel.

„Warum musst du schon wieder gehen?“

Bei der süßen Stimme drehte Ellie sich vom Badezimmerspiegel fort. Dort stand ihr kleines Ebenbild in der Tür. Müde drückte sie ihren Stoffdinosaurier an den rosa Schlafanzug.

„Oh Süße...“ Ellie kniete vor ihr nieder und strich ihr das zerzauste, goldblonde Haar aus der Stirn. „Du weißt doch, dass ich einmal im Jahr mit Lulu und Sam wegfahre. Oma passt solange auf dich auf. Das wird bestimmt lustig! Ihr werdet eine Menge Spaß haben.“

„Sie wird nur putzen“, jammerte Madison und rieb sich mit der kleinen Faust den Schlaf aus den Augen.

„Ja, das stimmt wohl. Ich bringe dir etwas aus Wien mit, wenn du mir versprichst, die eine Woche mit Oma durchzuhalten. Ist das ein Deal?“

„Bekomme ich eine Schneekugel?“

Ellies Herz schmolz bei dem Anblick der großen Augen, die so sehr den ihren glichen. „Natürlich bringe ich dir eine Schneekugel mit! Und jetzt ab ins Bett mit dir, süße Maus.“

Sie liebte ihre Tochter mehr als alles andere auf der Welt und Ellie hasste es, sie verlassen zu müssen, aber sie liebte auch ihre Freundinnen und ihre Freiheit, die sie nur noch selten genießen konnte. Sie war siebenunddreißig Jahre alt, alleinerziehend und seit vier Jahren ohne Partner. Sie hatte vollkommen vergessen, wie es war, von einem Mann begehrt und geliebt zu werden. Sie kannte nur noch Kindergeburtstage, schmutzige Wäsche, beschmierte Wände und Scheiben, verknotete Haare und Weinen. Bis auf die wenigen Stunden, an denen sie schlief oder arbeitete, musste sie zuhören, spielen, sich in Geduld üben, erklären und funktionieren. Doch so aufreibend es auch war, eine Tochter allein großzuziehen, Ellie hätte es nicht missen wollen. Es wäre nur ganz schön gewesen, all dies mit einem Mann zu teilen. Wie in einer richtigen Familie.

„Du musst los.“

Ihre Mutter stand hinter ihr, die eisblauen Augen blickten sie beinahe vorwurfsvoll an.

„Madison wird ständig nach dir fragen, das ist dir hoffentlich bewusst.“

„Ich weiß“, seufzte Ellie und zog den Reißverschluss ihrer Winterjacke bis oben hin zu, so dass nur noch ihr Mund zu sehen war und sie keinen Schal mehr brauchte. „Ich rufe sie jeden Tag an.“

„Konntest du dir nicht die Haare kämmen?“

Ellie griff in ihr schweres, glattes Haar. Verknotet wie üblich. „Mach ich gleich, ich bin spät dran. Bis bald, Mama.“

Sie gab der Älteren einen Kuss auf die Wange, ergriff den Henkel ihres Koffers und trat in den beleuchteten Hausflur. Beim Aufzug drehte Ellie sich noch einmal um, doch ihre Mutter hatte die Wohnungstür bereits geschlossen.

Wie jedes Jahr hatte sie nicht gewartet, bis ihre Tochter in den Lift gestiegen war.

Wie jedes Jahr hatte sie ihr keine schöne Zeit gewünscht.

Ellie wusste nicht, wieso, aber die Hartherzigkeit ihrer Mutter traf sie immer wieder aufs Neue. Dabei war Helen Harper selbst eine alleinerziehende und hart arbeitende Mutter gewesen; Ellie und ihr Bruder waren praktisch bei der Großmutter aufgewachsen. Warum also konnte sie sich nicht ein wenig für ihre Tochter freuen und mehr Verständnis aufbringen?

Ihr Handy bimmelte. Eine WhatsApp. Mit einem Lächeln kramte sie das alte iPhone aus der Jackentasche.

Bin bereit für einen Wiener Walzer!

„Ich auch“, sagte Ellie und fühlte sich gleich besser. „Ich auch.“

~

Als Lulu Jones aus dem Badezimmer kam, erfüllte der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee die Wohnung. Lächelnd und nur mit einem Handtuch um den kurvigen Körper geschlungen, betrat sie die Küche und erwischte ihren Freund dabei, wie er mit einer Schablone ein Kakaoherz auf den Milchschaum zauberte.

„Was sehen meine scharfen Augen da?“

„Hey, guten Morgen.“

Tom drehte sich mit einem umwerfenden Grinsen zu ihr um. Er sah wie immer zum Anbeißen gut aus. Auch um diese Uhrzeit mit nicht mehr als seinem dunkelgrünen Bademantel bekleidet, die schwarzen Haare durcheinander und die dunkelbraunen Augen müde von einer kurzen Nacht. Toms Aussehen und seine schlanke, trainierte Figur waren eine Mischung zwischen noch jungenhaft aber männlich und ganz leicht angegraut – eine Kombination, die Lulu als unwiderstehlich empfand. Auch seinen Dauerfünftagebart liebte sie über alles.

„Ich habe dir Kaffee gemacht.“ Er präsentierte ihr die Tasse auf einer flachen Hand.

„Du weißt doch, dass ich den Cappuccino aus unserem Apparat nicht mag. Der Schaum schmeckt irgendwie fade.“ Sie wollte nicht undankbar klingen, denn es war vier Uhr in der Früh und er brauchte vor sieben eigentlich nicht aufstehen. Also nahm sie die Tasse entgegen. „Aber danke, lieb von dir.“

„Ich weiß, ich kaufe diese Woche eine neue.“ Er verdrehte lächelnd die Augen und beugte sich zu ihr hinunter um sie zum ersten Mal an diesem Morgen zu küssen. „Habe ich dir heute schon gesagt, wie sehr ich dich liebe?“

„Noch nicht...“, murmelte sie zwischen seinen Küssen, stellte die Tasse ab und öffnete den Gürtel seines Bademantels. Er stöhnte auf, als sie fand wonach sie suchte. „Wirst du mich vermissen?“

„Oh ja.“

Im nächsten Augenblick fiel das Handtuch von ihr ab. Und ehe Tom sich versah, hatte sie ihn zu Boden gedrückt und saß wild reitend auf ihm, bis sie beide die Beherrschung verloren.

„Ich hoffe, das hält mich in Erinnerung.“ Sie gab ihm einen dieser Küsse, die in ihm den Wunsch nach mehr weckten. Doch Lulu stand schon wieder auf und begann damit, den Milchschaum mit einem Löffel abzutragen und ins Spülbecken zu kippen.

„Bist du sicher, dass ich dich nicht doch lieber zum Flughafen fahren soll?“

Er hatte den Bademantel wieder zugezogen und sah sie nun mit diesem fürsorglichen Stirnrunzeln an, das sein Gesicht noch attraktiver machte als es ohnehin schon war. Die glänzenden Augen waren voller Liebe.

„Danke, das brauchst du nicht“, erwiderte sie. „Gleich bist du mich los, dann kannst du wieder ins Bett und noch ein paar Stunden schlafen.“

Lächelnd legte Tom die Arme um ihre Taille und küsste ihren Hals. „Vielleicht möchte ich aber gar nicht schlafen...“

„Wenn wir wieder anfangen, verpasse ich meine Bahn.“

„Dann müsste ich dich ja doch fahren. Win-win.“

„Nein, das brauchst du wirklich nicht.“ Sie machte sich von ihm los und ging mit ihrer Tasse in der Hand davon. „Außerdem fahre ich gerne mit der Bahn. Die halbe männliche Belegschaft nimmt den Zug, das ist immer spannend.“

„Lu...“ Tom stand nur da und sah ihr seufzend nach. Er kannte Lulu und war sich ihrer Freude am Flirten durchaus bewusst. Seine Eifersucht hielt sich auch in Grenzen, denn er liebte sie und vertraute ihr. Nur manchmal und vor allem, wenn sie mit ihren Freundinnen in den Urlaub fuhr, nagten kleine Zweifel an ihm. Sam und Ellie waren schließlich seit einer halben Ewigkeit Single und Lulu mit ihrer aufgeschlossenen Art blieb niemals im Hotelzimmer zurück, wenn sie ausgingen um sich zu amüsieren und vielleicht auch den einen oder anderen Mann kennenlernten.

„Schatz?“

Ihre Stimme holte ihn aus seinen Gedanken. „Ja?“

„Habe ich irgendwo ein Loch? Komm doch mal!“

Sie stand im Badezimmer vor dem Spiegel und stylte sich gerade die blonden Locken. Die Unordentlichkeit war kein Zufall. Sie knetete, sprühte Haarspray überall hin und versuchte zu erkennen, ob am Hinterkopf alles seine Ordnung hatte.

Tom lehnte mit verschränkten Armen am Türrahmen und sah zu, wie sie ihr Make-up auftrug. Obgleich er sie seit über sechs Jahren fast jeden Tag gesehen hatte, fand er die Verwandlung noch immer faszinierend. Ein paar Farbkleckse und die Mandelaugen wirkten plötzlich größer und ließen die grünen Sprenkel in der braunen Iris hervortreten. Auch ihr Teint erschien durch zarten Bräunungspuder auf einmal frischer und erweckte den Eindruck, als käme sie direkt aus dem Sommerurlaub. Zehn Minuten brauchte sie für diese Transformation. Ein Wunder an sich, fand er immer.

Lulu fand es eher nervtötend so beobachtet zu werden. „Geh mir doch mal meinen Mantel holen, ja?“

Das tat er. Und natürlich half er ihr hinein. Tom war stets sehr aufmerksam und Lulu liebte ihn wahrhaftig von Herzen. Nur manchmal war sie froh, wenn sie zur Arbeit fahren und seiner Fürsorge für ein paar Stunden entgehen konnte. Sie war immer offen und ehrlich zu ihm, und sie sagte ihm auch, wenn sie etwas störte, aber wie konnte sie ihn bitten nicht immer so verdammt... nett zu sein? Sie freute sich schon jetzt auf die Nächte, in denen sie mit Ellie und Sam auf Männerjagd ging.

„Tschüss, Schatz. Du kannst dir ruhig ein oder zwei Mädels einladen, während ich weg bin. Du sollst dich ja schließlich nicht langweilen.“

„Du bist verrückt, aber ich liebe dich trotzdem. Vergiss mich nicht.“

„Also ich weiß nicht, ob ich Zeit haben werde an dich zu denken.“ Doch sie grinste dabei und küsste ihn ein letztes Mal an der offenen Wohnungstüre. „Aber ich liebe dich auch. Bis die Tage.“

„Pass auf dich auf. Und benimm dich!“

Lulu winkte ihm noch einmal zu und betrat nach einem Luftkuss seinerseits den Aufzug. In der Kabine ließ sie sich gegen die Innenwand zurückfallen.

Manchmal war es anstrengend mit ihm. Tom Preston war ein Mann, den sich jede Frau zum Partner und jede Mutter zum Schwiegersohn wünschte. Und genau das machte Lulu hin und wieder verrückt. Es konnte doch niemand so perfekt sein! Sie freute sich bereits auf die armen Gestalten in den Bars von Wien, mit denen sie spielen konnte.

Sie kramte ihr Smartphone aus dem schwarzen Ledersack.

Ja, sie freute sich auf Wien. Einmal im Jahr ausbrechen und Dinge tun, die ihr ein Gefühl von Freiheit gaben.

Mit einem Grinsen tippte sie: Bin bereit für einen Wiener Walzer!

Kapitel 2

Majestätisch erhob sich eine Boeing 747 von United Airlines lautstark in den noch dunklen Morgenhimmel.

Das Dröhnen der Flugzeuge war für Sam jede Minute eines jeden Tages wie Musik in den Ohren. Sie liebte ihren Job als Schichtleiterin der Sicherheitsabteilung und hätte liebend gern ihre gesamte Arbeitszeit damit verbracht, auf dem Vorfeld Flugzeuge zu bewachen, Kerosin einzuatmen und die Starts und Landungen zu verfolgen. Leider beinhaltete ihre viel umfassende Tätigkeit auch gelegentliche Schichten am Check-in, und Passagiere raubten ihr manchmal schlichtweg den letzten Nerv. Dennoch hätte Sam niemals woanders arbeiten wollen. Und wenn diese bevorstehende Reise mit ihren Freundinnen wahrhaftig von Erfolg gekrönt wurde und sie ihren Traum würden erfüllen können, so würde Sam doch niemals ganz gehen können. Ein Teil von ihr würde immer in O'Hare arbeiten wollen. Der Flughafen hatte einfach seinen eigenen Rhythmus und eine schlichtweg ansteckende Atmosphäre. Zudem liebte Sam die Stimmung unter den Kollegen. Sie waren wie eine große Familie.

„Süße!“

Ellie kam mit wehendem, goldblondem Haar angelaufen. Sie streckte bereits die Arme nach ihrer jüngeren Freundin aus, um sie in eine herzliche Umarmung zu ziehen.

„Ich freu mich!“

„Ich mich auch, das kannst du dir nicht vorstellen.“ Sam dachte an die Einsamkeit in ihrer Wohnung und lächelte ihre Freundin an. „Wie war der Abschied von Maddie?“

„Ich soll ihr eine Schneekugel mitbringen und sie jeden Tag anrufen. Die süße Maus.“ Ellies Lächeln verschwand, als ihre Gedanken zu einer anderen Person wanderten. „Meine Mutter hingegen musste mir mal wieder ein schlechtes Gewissen einreden. Warum kann sie sich nicht für mich freuen, wenn wir wegfliegen?“

„Das hat sie doch noch nie. Überrascht?“

„Nicht wirklich.“

„Konnte dein Bruder sie nicht für eine Woche nehmen? Die Mädchen hätten sich sicherlich gefreut.“

„Emily wäre aus dem Häuschen ihre Cousine da zu haben, aber mit dem neuen Baby konnte ich das Jake und Dana nicht antun.“

„Stimmt ja auch. Wie macht sich Colin?“

„Er wächst und gedeiht.“ Der Gedanke an ihren jungen Neffen hob Ellies Laune, obgleich sie noch nie ein Freund von Trübsal gewesen war. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir das hier tun, Sammy. Wir fliegen nach Wien!“

„Da bin ich dabei!“

Lachend sahen sie auf und entdeckten die blond gelockte Lulu mit dem üblichen Grinsen und dem frechen Glitzern in den grünbraunen Augen. Sie drückten sie herzlich an sich.

„Es geht nach Vienna, da treffen wir eine Menge Männer...“, singsangte Lulu, als sie sich am Check-in in die Priority-Spur einreihten.

„Der arme Tom...“

„Was heißt hier arm? Wir haben eben noch eine schnelle Nummer auf dem Küchenboden geschoben und – Was denn?“ Sie wandte sich an die ältere, adrett gekleidete Passagierin vor sich, die sich empört umgedreht hatte. „Sie haben wohl keinen Sex, wie?“

„Lu!“, schalt Ellie, während Sam zu nichts als einem fassungslosen Lachen imstande war.

„Was ist?“ Sie sah ihre Freundinnen unschuldig an. „Hat doch geholfen oder nicht? Seht doch, sie geht.“

Entsetzt über Lulus Verhalten glotzte Ellie nur Sam an, die wie erwartet ebenso verstört zurück starrte. Lulu amüsierte sich über diesen gewohnten Austausch.

Dann waren sie an der Reihe.

Sam grüßte ihre koreanische Kollegin mit den Sommersprossen. „Hi, Soo-Yeun!“

„Ihr drei habt schon wieder zusammen Urlaub? Wer hat das genehmigt?“ Soo-Yeun nahm scherzend die Pässe entgegen und begann sie nacheinander in den Computer einzulesen. „Wie lange bleibt ihr denn dieses Jahr? Wieder eine Woche?“

Sam nickte. „Wie sieht es denn in der Businessklasse aus? Als ich mir gestern die Buchungszahlen angeschaut habe, war noch genug frei.“

„Sollte passen“, meinte sie, während ihre Finger über das Keyboard flogen. „Wir haben heute nur einen weiteren Standby gelistet und die Business ist nicht voll. Wie viele Koffer habt ihr?“

„Jeder einen.“ Sam begann ein Gepäckstück nach dem anderen auf das Band zu stellen. Wie Touristen, die nur alle fünf Jahre in die Ferien flogen, überprüfte Lulu deren Gewicht. Sams Koffer wog natürlich am meisten.

„Na, wieder das halbe Badezimmer mitgenommen?“

„Wie seid ihr überhaupt auf Wien gekommen?“, erkundigte Soo-Yeun sich, während sie das Gepäck mit den nötigen Anhängern versorgte.

„Wir wollten immer mal in die Schweiz“, erklärte Lulu, woraufhin sie allgemeinen Spott erntete. Schnell korrigierte sie sich. „Nach Österreich. Sagte ich doch.“

„Hier, meldet euch bei A89.“ Sie legte ihnen die provisorischen Bordkarten hin. Als Mitarbeiter und somit als Standby-Reisende bekamen sie ihre festen Sitzplätze erst am Abfluggate zugewiesen. „Viel Spaß euch! Und benimm dich, Lulu!“

Soo-Yeun winkte ihnen lachend hinterher und wandte sich dem nächsten Passagier zu. Dabei handelte es sich um den weiteren Standby-Gast, von dem sie gerade noch gesprochen hatte. Laut seinem Firmenausweis war er Kapitän der Flotte, ihr jedoch völlig unbekannt.

Dies beruhte auf Gegenseitigkeit.

Matthew Murray kannte jedoch die drei Frauen, die sich gerade gut gelaunt davon tummelten. Mit einem Lächeln blickte er ihnen nach, während er auf seine Bordkarte wartete.

Die drei Blondinen hatten schon oft sein Flugzeug bewacht und er mochte sie, denn sie versprühten stets Freude und brachten ihm Glück. Jedenfalls hatte er noch nie einen schlechten Flug gehabt, wenn er sich vor dem Start mit ihnen unterhalten hatte. Und für einen abergläubischen Kapitän in der Luftfahrtbranche war dies existenziell.

Sie waren sein Kleeblatt und eine von ihnen würde hoffentlich sehr bald mehr sein als das.

~

Sie wollten ein Café eröffnen.

Ein Kaffeehaus, wie sie es früher einmal gegeben hatte und das an den Charme vergangener Zeiten erinnerte. Mit Ohrensesseln, Kronleuchtern und selbstgebackenen Kuchen, in dem man von Frühstück bis hin zu Mittagessen oder hochprozentigen Drinks am Abend alles bekam, was das Herz begehrte.

Zu Beginn waren es nur Hirngespinste dreier Freundinnen gewesen, aber mit den Jahren hatten sich diese Visionen zu einem Traum zusammen geschlossen. Bislang hatten sie ihr Vorhaben für sich behalten, dabei hatten sie bereits einen Businessplan ausgearbeitet und auch ein perfektes Objekt in der Innenstadt gefunden. Erst vor zwei Tagen gaben sie ein Angebot ab. Der Besitzer versprach ihnen, mit seiner Entscheidung bis Ende nächster Woche zu warten, wissend, dass sie noch eine Bank suchten, die das Ganze finanzierte.

Es waren auch noch zwei Finanzierungsgespräche für die kommende Woche geplant, und obwohl sie von den bisherigen Banken bislang nur Absagen kassiert hatten, waren die drei Frauen zuversichtlich. Zudem hatten sie in Wien einen seltenen Termin bei einem international bekannten Kreditinstitut ergattern können – eine Tatsache, die sie positiv stimmte.

„Oder wir gehen auf gofundme.com und biedern uns da an“, sagte Sam nüchtern, als sie sich am Gate meldeten um ihre endgültigen Sitzplätze zu bekommen. Wie bereits erhofft, gab es in der Businessklasse genügend Platz, und sich über die Tatsache freuend, dass sie obendrein auch noch nebeneinander saßen, besuchten sie den nächsten Kaffeestand.

Als sie schließlich durch den Duty Free schlenderten, hörten sie die Durchsage mit ihren Namen.

„Passagiere Harper, Jones und Morgan bitte umgehend zu Gate A89, der Flug wird geschlossen. Harper, Jones und Morgan, bitte!“

Sie lachten lauthals und eilten hinüber.

Teamleiter Robert stand nur da und erwartete sie bereits mit einem Blick, in dem sich sein eigener Wahnsinn und Amüsement über seine Mitarbeiterinnen die Waage hielten.

„Oh, ihr drei macht mich fertig...“

„Das passt ja“, kicherte Lulu und scannte ihre Bordkarte am Lesegerät. „Wir arbeiten hier und ihr müsst uns auch noch ausrufen!“

„Rein mit euch.“ Robert schüttelte nur den Kopf und rief den drei Frauen hinterher, als sie bereits die Brücke hinuntereilten: „Und benimm dich, Lulu!“

„Warum sagt das nur jeder?“

„Oh, ihr seid es...“ Purserin Lynn stand in der Flugzeugtür und wackelte mit dem langen, dünnen Finger. Mit ihren stark toupierten, in alle Richtungen abstehenden Haaren erinnerte sie Sam immer an einen Pfau. „Ich hätte es wissen müssen!“

Kichernd polterten sie durch den Gang zu ihren Plätzen in der fünften Reihe der Businessklasse. Sie brauchten nur zwei Minuten, bis sie alles verstaut und sich eingerichtet hatten und waren noch immer vergnügt über ihren Endspurt.

Nur Sam zeigte sich wie üblich peinlich berührt und vernünftig. Sie konnte sich an keinen Arbeitstag erinnern, an dem sie Passagiere nicht für ihre Unpünktlichkeit verfluchte.

„Wir müssten es echt besser wissen ... Oder ich jedenfalls ... Ich meine, wir wurden ausgerufen. Wie peinlich ist das bitte?“

„Jetzt entspann dich mal, Sammy! So findest du ja nie einen Kerl.“

Sam verdrehte bei Lulus Worten nur die Augen. Sie wusste, was nun kam.

Und wie erwartet stimmte Ellie zu: „Genau. Warum triffst du dich eigentlich nicht mal mit Phil? Diese grünen Augen...“

„Blaue Augen“, korrigierte Sam die Älteste.

„Was auch immer. Wäre der nichts für dich?“

Sie dachte kurz über ihren Teilzeitkollegen nach, der Journalismus studierte und um einige Jahre jünger war. Sie konnte nicht leugnen, dass sie Phil mochte. Er war attraktiv und brachte sie mit seiner Schusseligkeit ständig zum Lachen. Zudem war er gescheit und anständig. Doch da passierte nichts zwischen ihnen. Kein Flirten, kein Anvertrauen privater Dinge. Da war nichts als Kollegialität.

„Er ist zu jung“, erklärte sie schließlich, weil sie keine Energie für mehr hatte.

„Er ist siebenundzwanzig!“

„Siehst du? Was soll ich mit jemanden, der sechs Jahre jünger ist?“

„Was sind schon sechs Jahre? Außerdem wirkt er erwachsener.“

„Alt werden kann er ja bei dir!“, gluckste Lulu belustigt, bevor sie sich an Ellie wandte. „Und was ist mit dir? Du bist ja auch nicht gerade aktiv auf Männersuche.“

„Bei mir ist es schwieriger. Ich brauche einen Vater für Maddie. Jemanden, der bleibt. Jemand Standhaftes, etwas Festes. Das ist etwas anderes.“

„Wo ist das etwas anderes?“, erwiderte Sam von ihrem Platz am Fenster aus. „Ich möchte doch auch jemanden, der bleibt.“

„Er kommt aber nicht zu dir nach Hause und klopft an deine Tür. Es sei denn, dein Traummann ist der Postbote!“

„Er wird mich schon finden“, sinnierte Sam und ignorierte den Anflug von Belustigung in Lulus Aussage. „Ich werde ihn sehen und es wissen. Irgendwie werde ich es merken. Ich weiß es einfach.“

„Dein Vertrauen möchte ich mal haben“, seufzte Ellie.

Sam hob die Schultern und widmete sich der Menükarte in ihrer Sitztasche, während Ellie und Lulu einen kurzen Blick tauschten. Sie kannten ihre jüngere Freundin zu gut und hatten sich ihre romantischen Hoffnungen schon oft angehört. Sam glaubte an die Liebe auf den ersten Blick und wollte ihren Traummann finden, weil es Schicksal war und nicht weil sie verkuppelt wurde. Ellie konnte es ihr nicht verübeln. Auch sie wollte glauben, dass es den Einen für sie gab, aber mit siebenunddreißig Jahren, einem vierjährigen Kind zu Hause und nach fast vier Jahren Einsamkeit konnte dieser Glaube einem schon mal abhanden kommen.

Eine Flugbegleiterin deutete in ihrer Ansage nun darauf hin, die Sicherheitsgurte anzulegen, den Sitz in eine aufrechte Position zu bringen und die elektronischen Geräte auszuschalten. Wenige Minuten später rollte die Boeing 777 auch schon vorwärts, bis sie schließlich an der Startbahn anhielt. Kurz darauf beschleunigte sie. Die Düsen jaulten auf, die Maschine erzitterte, die 'Triple 7' schoss vorwärts. Die Passagiere wurden in ihre Sitze gedrückt bis sie jeglichem Gesetz der Schwerkraft zum Trotz abhob und zwischen die Wolken glitt.

Als das Essen serviert wurde, entschieden die drei Frauen sich dazu, denselben Film zu schauen. Und obwohl auch neue Blockbuster sowie die letzten Hitserien von Netflix zur Auswahl standen, zogen sie den älteren Sweet Home Alabama mit Reese Witherspoon und Patrick Dempsey in den Hauptrollen vor.

„Oh, ist er nicht einfach perfekt...“ Ellie fasste sich ergriffen ans Herz, als Andrew Henning seine ahnungslose Angebetete durch den Hintereingang und schließlich in den Vorführraum von Tiffany's führte, um ihr eine Vielzahl von Verlobungsringen anzubieten. Er umfasste die gesamte Auslegung mit einer einzigen Handbewegung.

„Such dir einen aus.“

„Such dir einen aus!“ Sam und Ellie schmolzen praktisch dahin, während Lulu nur lachend die Augen verdrehte.

„Ab morgen sind solche Filme für euch tabu. Niemand bekommt so einen Ring. Das weckt ja nur falsche Hoffnungen.“

~

Der Flug schien eine Ewigkeit zu dauern.

Ellie wusste, dass ein Flugzeug über alle möglichen Navigationsgeräte verfügte, aber nach neun Stunden hatte sie allmählich das Gefühl, der Pilot hatte sich verirrt und sie würden niemals ankommen.

„Wann sind wir da?“, fragte sie und schielte auf Sams Bildschirm.

„Laut Karte kann es nicht mehr lange dauern.“ Sam hatte den letzten Film zu Ende geschaut und auf Flugstatus umgestellt. „Ich denke, wir sind gegen elf Uhr im Hotel.“

„Wieso konnten wir nicht den Abendflug nehmen, so dass wir morgen früh erst ankommen? Eigentlich ist der Tag ja im Eimer.“

„Weil unser Termin bei der Bank schon morgen früh um zehn ist“, erinnerte Sam Lulu. „Und ich musste gestern noch arbeiten. Das war der einzige Flug, den wir nehmen konnten.“

„Diese Zeitverschiebung...“ Lulu verdrehte die Augen und bestellte einen Kaffee, als der Getränketrolley auf ihrer Höhe anhielt. „Wenigstens sind wir dann morgen fit im Schritt! Und weshalb nochmal gehen wir ausgerechnet zu dieser Bank?“

„Es ist ein internationales Kreditinstitut“, erklärte Sam ein wenig ungeduldig. Als Organisatorin der Gruppe hatte sie bereits vor Monaten alles durchgeplant und gebucht. Manchmal fragte sie sich, was Ellie und Lulu ohne sie machen würden. „Ich dachte, es ist ein Versuch wert, wenn wir schon einmal in Wien sind. Schaden kann es jedenfalls nicht.“

„Ich verstehe immer noch nicht, weshalb all die Banken bisher gegen unsere Idee sind“, überlegte Ellie. „Ich meine, sollen wir etwa den Billionsten Starbucks eröffnen?“

„Vielleicht sollte es bislang einfach nicht sein“, antwortete die Jüngste beinahe weise. „Wer weiß schon, warum manche Dinge nicht funktionieren.“

„Es wird schon klappen“, rief Lulu von ihrem Gangplatz hinüber. „Und jetzt Schluss damit. Lasst uns einfach unseren Urlaub genießen, ja? Wir machen uns doch total verrückt.“

„Aber was ist, wenn die Bank in Wien auch ablehnt? Haben wir einen Plan? Inspector Barnaby hat immer einen Plan.“

„Mensch Ellie, wir sind hier doch nicht bei Midsommer Murders.“

Sam war dankbar für Lulus Einspruch und schaute in den endlosen Himmel hinauf. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was passierte, wenn auch dieses Geldinstitut ablehnte. Kein Kredit hieß kein Startkapital. Was wiederum bedeutete, sie würden das Grundstück nicht bezahlen können, dem Besitzer absagen und ihren Traum von einem Café auf unbestimmte Zeit verschieben müssen.

Sie schloss für einen Moment die Augen und schickte ein schnelles Stoßgebet mit der Bitte um Unterstützung in den Himmel. Sie war noch nie ein sehr religiöser Mensch gewesen, aber trotz Landeanflug befanden sie sich noch immer ziemlich weit oben und vielleicht kam ihr Hilfegesuch ja noch an.

Eine halbe Stunde später hatten sie ihre endgültige Parkposition endlich erreicht. Sam blieb noch entspannt sitzen, wissend, dass das Aussteigen dauerte. Lulu hingegen kramte über ihnen bereits nach ihrem Ledersack. Sie fand Ellies schwarze Jacke und reichte sie ihr, bekam Sams schwere Designertasche zu fassen und tastete dann weiter nach der ihren.

„Wo ist denn mein Sack?“

Ellie machte einen kleinen Schritt zurück und stemmte den Fuß auf den Sitz, nur um sich dann am Gepäckfach hochzuziehen und geradewegs hineinsehen zu können. Sie entdeckte den Ledersack ganz hinten in der Ecke. „Die Gepäckfächer durchsuchen müsstest du eigentlich können, Lu.“

„Du weißt doch, wie ich arbeite!“

„Als dein Teamleiter habe ich das jetzt nicht gehört“, lachte Sam und setzte sich auf die breite Armlehne in den Gang, der sich allmählich mit ungeduldigen Passagieren füllte. Man wartete noch immer, dass die Fluggastbrücke herangefahren und die Tür geöffnet wurde.

„Was ist jetzt mit einem Plan B?“

„Oh Ellie!“, stöhnte Lulu, als die Älteste erneut anfing.

„Ich möchte nur nicht, dass unser Café schließen muss, bevor es überhaupt eröffnet hat. Was machen wir, wenn wir keinen Kredit bekommen? Ich meine, nirgendwo?“

Vielleicht verschlossen sie einfach nur ihre Gedanken vor dieser Möglichkeit, dachte Sam und gab zähneknirschend und schweren Herzens zu: „Dann wird unser Traum immer einer bleiben. Ich jedenfalls habe keinen Plan B.“

„Ich könnte euer Plan B sein.“

Ellie kannte diese Stimme. Der dazugehörige Mann verfolgte sie seit ihrem ersten Arbeitstag in ihren Träumen. Und auch nun glaubte sie zu träumen, als sie sich umdrehte und ihn hinter sich im Gang stehen sah.

Es war Matthew Murray. Ihr Lieblingspilot.

Sie schwärmte seit Jahren von ihm. Es war nicht nur seine perfekt sitzende, blaue Uniform mit den vier Streifen eines Kapitäns an den Manschetten, die er normalerweise trug und Eindruck auf sie machte, sondern vielmehr seine Ausstrahlung und sein positives und sympathisches Wesen, das Ellie dahinschmelzen ließ. Trotz seiner Position und dem offensichtlich blendenden Aussehen war er keineswegs arrogant oder überheblich. Er war natürlich, charmant und gutherzig. Er hatte Charisma. Seine großen, blaugrünen Augen im markanten, stets gebräunten Gesicht erinnerten an die Weiten des Meeres, sein Lächeln hätte selbst Eisberge zum Schmelzen gebracht.

Und Ellies Herz war schon vor Jahren geschmolzen. Sie vergötterte Matthew Murray.

Nur wie üblich, wenn er vor ihr stand, brachte sie auch dieses Mal kaum eine Silbe über die Lippen. Sie starrte ihn nur an, unfähig zu begreifen, woher er auf einmal kam.

„Das gibt es doch nicht!“, polterte dafür Lulu. „Matt Murray! Warst du unser Captain?“

„Nein, ich bin privat unterwegs“, erklärte er mit einem Lächeln in Richtung Ellie. „Schön, meine Lieblingssecurity zu treffen. Was verschlägt euch nach Wien?“

Sam warf einen kurzen Blick zu ihr hinüber. Sie hatte ihre Sprache noch immer nicht wiedergefunden.

„Wir haben Urlaub“, antwortete sie an Ellies Stelle. „Bei der Gelegenheit wollen wir uns die Kaffeehäuser hier ansehen. Ein paar Ideen sammeln für das Café, das wir hoffentlich bald eröffnen.“

„Ihr wollt ein Café eröffnen? Und an was hapert es?“

„An dem Geld. Wir hoffen, hier einen Kredit zu bekommen. In Chicago hatten wir bislang kein Glück.“

Die Passagiere begannen allmählich auszusteigen und der Gang leerte sich auf einmal schneller als es ihnen allen lieb war.

Rasch kramte Matthew aus der Tasche seines Winterparkas eine Karte und reichte sie Ellie. Es war seine Visitenkarte, wie sie nach einem kurzen Blick darauf feststellte. Mit seiner Telefonnummer. Sie hätte auf der Stelle glücklich sterben können.

„D-danke“, bekam sie heraus, hob den Kopf und begegnete diesen großen Augen in den Farben der Südsee. Eine Wärme lag in ihnen, wie Ellie es bei noch keinem anderen Mann zuvor gesehen hatte.

Auch Matthew schien fasziniert und setzte für eine Antwort an, als jemand seinen Namen rief.

Der Copilot stand in der Tür zum Cockpit und winkte ihn herüber.

Mit einem bedauernden Lächeln wandte er sich zurück an Ellie. „Ruft mich doch an. Ich besuche hier einen Freund, also finden wir sicherlich einen Tag, an dem wir zusammen kommen können. Vielleicht bin ich ja wirklich euer Plan B.“

„Okay“, antwortete Ellie lahm, während Lulu und Sam nur grinsend dastanden und den Austausch der beiden verfolgten. Die Anziehungskraft zwischen ihnen war offensichtlich.

Sie sahen Matthew davongehen und erschraken beinahe, als Ellies Hände vorschossen und die ihren packten.

„Kneift mich!“

Lulu und Sam kniffen sie.

„H-Hilfe. Hat Matthew Murray wirklich zehn Stunden vor uns gesessen? Zehn Flugstunden?!“

„Deine Worte kamen so flüssig wie üblich“, belustigte sich Lulu.

„Peinlich, oder?“ Ellie legte sich vor Scham die Hand über die Augen. „Meine Güte, wie alt bin ich eigentlich?“

„Und er hat dir seine Visitenkarte gegeben“, betonte Sam. „Also wehe, du rufst ihn nicht an. Sonst macht Lulu das und das willst du nicht wirklich.“

Schritt für Schritt folgten sie den anderen Passagieren hinaus in die Kälte und die Fluggastbrücke hinauf. Nach ihrem zehnstündigen Kokon war der Temperaturunterschied enorm. Mit klappernden Zähnen zogen sie hastig ihre Mäntel über, bevor sie sich auf den Weg zur Einreise und der Gepäckausgabe machten.

Es dauerte eine weitere halbe Stunde, bis sie endlich bei der Passkontrolle vorbei waren und am Kofferband auf ihr Gepäck warteten. Menschen aus allen Herrenländern tummelten sich um das rotierende Band, doch von Matthew war keine Spur.

„Vielleicht hat der gar nichts aufgegeben? Als Pilot reist er sicherlich leicht ...“, überlegte Ellie laut und hielt nach ihm Ausschau.

„Wahrscheinlich fährt er eh im Crewbus mit“, erwiderte Lulu und schnellte vor, als ihr Koffer vorbeiglitt.

Sam hingegen empfand Matthews Abwesenheit momentan eher als Erleichterung. Sie hätte vermutlich das Heimlich-Manöver anwenden müssen, hätte Ellie ihre Zunge ein weiteres Mal verschluckt.

Was verrückt war, fand sie, denn ihre ältere Freundin war eine wundervolle und bildhübsche Frau, die es verdiente, an der Seite eines solch attraktiven Mannes gesehen zu werden. Das lag nicht allein an ihrer goldenen Haarflut mit dem kompakten Rundpony und den großen, eisblauen Augen, sondern an dem bezaubernden Lächeln und ihrer Herzensgüte. Ellie gehörte zu der Sorte Menschen, die ihre eigene bittere Enttäuschung in Nächstenliebe und Menschlichkeit umgewandelt hatte. Einfach weil niemand das durchmachen und empfinden sollte, was sie erlebt hatte. Ihr Herzschmerz hatte sie noch mitfühlender, noch verständnisvoller gemacht. Aber auch skeptisch und unsicher, was Männer und ihre Absichten anging. Sam erstaunte es immer wieder, wie sehr die Untreue ihres Ex-Mannes Ellies Selbstwertgefühl zerschlagen hatte.

Vielleicht war also ein Matthew Murray genau das, was sie brauchte.

Kapitel 3

Das Vienna Marriott befand sich im Herzen von Wien, direkt am historischen Parkring gegenüber dem Stadtpark gelegen. Die ausgezeichnete Lage erlaubte es, die Stadt zu Fuß zu erkunden – eine Tatsache, auf die Sam bei der Buchung Wert gelegt hatte. Der Stephansdom und die Einkaufsmeile zum Beispiel waren ebenfalls nur wenige Gehminuten entfernt. Zudem hatte Sam sich schnell für die fünf Sterne begeistern können, die ihr Dreibettzimmer in eine kleine Oase verwandelte.

„Der geht mit mir nach Hause!“ Lulu hatte die Bademäntel entdeckt, als Sam in die Hände klatschend von der Toilette zurückkehrte.

„Wir haben einen beheizten Fußboden im Bad!“

„Also Sammy, manchmal verstehe ich deinen Wunsch nach Luxus ja nicht, aber dieses Mal kann ich dir nur zustimmen! Was für ein schönes Hotel!“

„Was heißt denn hier Luxus? Ich möchte einfach komfortabel reisen, das ist alles. Ich bin zu alt für schlechte Betten und sarggroße Duschen, in denen einem der Vorhang am Arsch klebt.“

„Ja, du bist ja auch schon sehr alt.“

„Was willst du damit sagen? Na warte...“ Sam sprang aufs Bett und warf Lulu um. Mit zur Abwehr erhobenen Händen schrie die kichernd auf, als die Dreiunddreißigjährige sie überall zu kitzeln begann. Ellie konnte sich nicht mehr halten vor Lachen und machte mit.

Es dauerte eine weitere halbe Stunde, bis sie sich endlich schlafen legten. Sam wählte freiwillig das Zustellbett zu Fuße der King-Size-Matratze, die sich Lulu und Ellie teilten. Hauptsache, sie schlief allein und hatte ihre Ruhe.

Manchmal fragte sie sich, wie sie jemals mit einem Partner neben sich Schlaf finden sollte. Sie war es gewohnt, das Bett für sich allein zu haben und nutzte in jedem Urlaub mit ihren Freundinnen Ohrstöpsel und Schlafmaske. Irgendwie hoffte sie einfach, dass es mit dem Richtigen an ihrer Seite funktionieren würde.

Sie hatten sich gerade eine Gute Nacht gewünscht, als Ellies Stimme noch einmal die Dunkelheit durchbrach.

„Soll ich Matt Murray morgen wirklich anrufen?“

Sam konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Anscheinend wollte er doch, dass du ihn anrufst, sonst hätte er uns seine Karte gegeben und nicht der Frau, der es die Sprache verschlagen hat.“

„Vielleicht war es nur Zufall?“

Lulu ließ ein gedämpftes Stöhnen hören. Sie hatte ihren Kopf unter der Bettdecke vergraben und tauchte nun wieder auf. „Zufälle gibt es nicht, El. Er steht auf dich, das war doch offensichtlich.“

„Ach, quatsch!“ Doch allein der Gedanke ließ ihr Herz flattern. „Der kann doch jede haben. Wieso mich?“

„Ist doch kein Wunder“, fand Sam und schob sich die Schlafmaske über die Augen. „Du bist so hübsch und so ein toller Mensch. Er kann sich doch glücklich schätzen, wenn er jemanden wie dich abkriegt. Egal, wie gut er aussieht.“

„Richtig“, stimmte Lulu ein. „Wenn überhaupt bist du zu gut für ihn. Außerdem geht der genauso auf Klo wie wir alle, da nützen ihm seine vier Streifen auch nichts.“

„Oh, ich liebe euch. Ihr seid so süß.“ Ellie lächelte in die Dunkelheit. Sie wagte kaum auf Matthews Zuneigung zu hoffen, wünschte sich aber momentan nichts sehnlicher.

Sich fragend, neugierig und aufgeregt zugleich, was ihr das Schicksal noch bescheren würde, schlief sie schließlich ein und träumte von ihrem Lieblingspiloten.

~

Run To The Hills von Iron Maiden galoppierte aus Sams Handywecker und ließ die drei Frauen am nächsten Morgen senkrecht im Bett stehen.

„Wir haben eineinhalb Stunden!“, rief Sam und sprang auf die Füße. „Ich gehe als erste ins Bad, ich brauche am längsten!“

„Oi...“ Lulu versteckte sich wieder unter der Decke. „Ich hatte ganz vergessen, wie diszipliniert Sam sein kann.“

„Der Song hat was...“, überlegte Ellie und sang schief und falsch mit.

Lulu stieß sie an. Zum einen versuchte sie den furchtbaren Gesang zu unterbinden, zum anderen wollte sie ihren obligatorischen Morgenkaffee. „Mach mal Kaffee. Und das Gebrüll aus.“

Lulu war der Nespresso-Maschine zwar näher, doch das bemerkte Ellie gar nicht. Sie quälte sich nur aus dem Bett ohne einen weiteren Gedanken an die Aufforderung zu verschwenden.

Eigentlich war es wie immer: ein leichter Befehlston schlich sich in Lulus fröhliche Stimme, Ellie oder Sam handelten und bemerkten erst nach der Tat, dass sie mal wieder Lulus Bequemlichkeit unterstützt hatten. Sie rügten ihre Freundin stets in gespielter Empörung, was immer allgemeine Heiterkeit mit sich brachte. Dieses Mal war es nicht anders.

„Nee, ist klar!“, kommentierte Ellie bloß und schob die Kapsel in die Maschine. „Du faule Socke!“

Eine Viertelstunde später tauschten Sam und Lulu die Plätze im Bad, und während Ellie wie immer eine Ewigkeit für ihren eigenen Kaffee brauchte, schaltete Sam die Musik auf ihrem Handy ein und begann sich herzurichten.

Ellie betrachtete sie dabei.

Obgleich Sam manchmal unnahbar auf andere wirkte, so wussten ihre Freundinnen doch wie sensibel sie war und wie oft andere ihre Gutmütigkeit in der Vergangenheit ausgenutzt hatten. Ihre unerreichbar wirkende Schale, scheinbar undurchdringlich nach frühen Enttäuschungen und Verlusten im jungen Teenageralter, war letztendlich nur ein Schutz um ihre überaus empfindliche Seele zu schützen.

Vielleicht legte sie deshalb so großen Wert auf ihr Äußeres, dachte Ellie nun, als Sam ihr Make-up auftrug. Dass sie sich schminkte, war für die meisten offensichtlich, doch sie hatte ein gewisses Händchen dafür, es stets natürlich aussehen zu lassen. So waren die falschen Wimpern nie zu schwer, der schwarz geschwungene Lidstrich selten zu dick, aber immer perfekt, und der sporadische Lidschatten nur zu besonderen Anlässen rauchig. Alles an ihr war gepflegt und wirkte bezaubernd, angefangen vom tiefen Seitenscheitel der geglätteten Frisur bis hinunter zu den stets pedikürten Füßen.

„Du hast dir die Haare gewaschen?! Das dauert doch jetzt ewig!“

Ellie schrak von ihrer Beobachtung auf, als Lulu mit nassen Haaren zurückkehrte und Sams Theatralik mit einer Handbewegung abtat.

„Quatsch, das geht rucki zucki. Ellie, du bist dran.“ Sie stöpselte ihren Fön mit dem Diffuser ein, warf den Kopf nach vorn und begann ihre nassen Locken zu kneten.

„Roger.“ Ellie ließ ihre noch halbvolle Tasse stehen und machte sich an die Arbeit. Als sie zurückkehrte, war Sam noch immer nicht mit ihrem Make-up fertig. Dafür schien jedoch Lulu bereit zum Aufbruch.

„Gut schaust du aus, Süße!“, rief Ellie und lobte den schwarzen Strickpullover mit tiefem, beidseitigem V-Ausschnitt. Wenn jemand Neid unter Freundinnen nicht kannte, dann war sie es.

„Wir wollen dem Banktypen ja einen Kredit aus dem Ärmel schütteln“, erklärte Lulu augenzwinkernd. Sie wandte sich an die Jüngste. Sie legte gerade die Pinzette fort, mit der sie ihre falschen Wimpern befestigte. „Endlich fertig, Sammy?“

„Ja, noch eben die Haare...“

Ellie und Lulu tauschten einen Blick. Die eine blickte verständnisvoll, die andere eher unruhig. Doch Lulu war schnell dabei ihrer Ungeduld ein anderes Ventil zu geben. Mit einem Lippenstift stürmte sie auf Ellie zu.

„Bei dir fehlt was.“

„Da fehlt gar nichts! Ich bin schon geschminkt, habe ich gerade im Bad gemacht.“

Erfolglos. Lulu hatte den dunkelroten Lippenstift bereits angesetzt. Ellie ließ die Farbe über sich ergehen und presste dann die vollen Lippen aufeinander, so wie Lulu es forderte. Dann betrachtete ihre Freundin die Verwandlung kritisch. Zufrieden schnalzte sie mit der Zunge.

„Ein wenig Farbe macht so viel aus! Fertig, Sammy?“

Sam griff gerade zum hundertsten Mal zur Bürste, bevor sie Haarpuder in den Ansatz rieb um ein wenig Volumen zu zaubern.

„Jetzt komm schon, Sam! Deine Haare liegen gut!“ Dennoch konnte Lulu sich ein amüsiertes Kichern nicht verkneifen, während sie nach Sams beigen Wollmantel griff und ihn ihr in die Arme drückte. „Ich hoffe, dein zukünftiger Mann hat viel Geduld.“

„Natürlich hat er das“, versicherte Sam ihr selbstverständlich.

Die beiden älteren tauschten erneut einen Blick. Sie wussten, dass sie auf den Richtigen wartete. Auf ihren Seelenverwandten. Sam hatte solch präzise Vorstellungen – jedenfalls von ihren Gefühlen beim ersten Kennenlernen –, dass sie keinem Mann eine Chance gab, der nicht beim ersten Blickkontakt die gewünschte Reaktion in ihr auslöste. Es waren die märchenhaften Wünsche einer selbstbewussten und eigenständigen Frau, die fest davon überzeugt war diese außergewöhnlich seltene Verbindung sofort zu spüren, würde sie sich unverhofft präsentieren. Jedenfalls war jeglicher Verkupplungsversuch bislang teilnahmslos gescheitert und Sam seit langer Zeit alleine. Doch sie scheute die Einsamkeit nicht. Und das war gefährlich. Lulu und Ellie waren der Meinung, dass es mit den Jahren ohnehin immer schwieriger wurde, jemanden in seinen Alltag – in sein Herz – zu lassen. Sie konnten nur hoffen, dass es für Sam nicht bereits zu spät war.

Und dass Sams Prinz nicht mehr zu lange auf sich warten ließ.

Falls es ihn überhaupt gab.

~

Ellie starrte auf die weiße Visitenkarte in ihrer Hand.

Sanft strich sie mit dem Daumen über den geprägten Namen. Matthew M. Murray. Rechts oben glänzte das Firmenlogo von United Airlines.

Sie fragte sich, wie er ihnen helfen wollte. Was konnte ein Matthew M. Murray schon tun, um ihren Traum von einem Café in Chicago zu verwirklichen? Es finanzieren? Er mochte Kapitän einer Fluggesellschaft sein und gutes Geld verdienen, aber die Summe, die sie benötigten, konnten nur wenige Menschen ohne Hilfe aufbringen. Vielleicht Dagobert Duck.

Sie saßen beim Brunch im sehr pinken Café Aida in der Nähe des Doms, enttäuscht und niedergeschlagen. Die Stimmung war auf dem Nullpunkt. Ihr Gespräch mit dem arrogantesten und desinteressiertesten Bankangestellten, den sie in ihrer Suche nach einem Kredit bis dato hatten kennenlernen dürfen, hatte nicht das gewünschte Ergebnis gebracht.

Lulu versuchte ihr bestes die Situation aufzulockern, doch Ellie und Sam brachten immer nur ein müdes Lächeln zustande. Jede Hoffnung schien verloren.

„Vielleicht sagt ja noch eine der kleinen Banken in Chicago zu“, versuchte sie es. „Zwei Termine haben wir doch noch.“

Sam stocherte in ihrem Spiegelei herum und sah zu, wie sich das Eigelb über den Teller ergoss. „Ich glaube nicht. Wenn die größeren Banken schon ablehnen und jetzt auch noch diese hier ... Wieso sollten uns andere finanzieren wollen?“

„Vielleicht brauchen sie Kunden? Oder Werbung?“

Auch Ellie schüttelte immer wieder den Kopf. Nach einem schweren Seufzen fällte sie ihre Entscheidung.

Es musste sein.

Nicht nur, weil sie sich zu ihm hingezogen fühlte, sondern weil er seine Hilfe angeboten hatte. Sie brauchten ihn. Und sie musste wissen, was sein Plan war.

„Was tust du denn da?“ Lulu lachte auf, als sie mit entschlossener Miene Matthews Nummer von der Visitenkarte ablas und in ihr iPhone hämmerte.

„Du rufst ihn tatsächlich an?“

Ellie schenkte sich eine Antwort auf Sams ohnehin rhetorische Frage und lauschte dem Freizeichen. Sie gab sich ruhig und beherrscht, so als wäre es ein Kinderspiel ihren Traummann und Lieblingspiloten anzurufen. Doch das Herz klopfte ihr bis in den Hals. Wenn er nicht sofort abnahm, so befürchtete Ellie, würde es ihr vor Aufregung noch hinausspringen.

„Hallo?“

Die Stimme klang freundlich und sehr vertraut. Ellie war einer Ohnmacht nahe. Natürlich fand sie keine Worte, nicht einmal ein Gruß wollte ihr einfallen. Sie öffnete und schloss den Mund nur wie ein dummer Fisch. Als sie das Handy Lulu hinhielt, klatschte Sam hoch amüsiert in die Hände. Auch Lulu konnte sich ein belustigtes Jauchzen nicht verkneifen.

„Hi, Lulu hier. Matt?“

„Matt?“, hauchte Ellie fassungslos und starrte die grinsende Sam nur aus tellergroßen Augen an. Das einseitige Telefonat ihrer Freundin erforderte jedoch sofort wieder ihre gesamte Aufmerksamkeit.

„Hm ... Ja, es lief nicht so gut. Die Bank will alles prüfen und sich melden, hat aber eigentlich schon durchblicken lassen, dass es schlecht aussieht. Der Typ war vielleicht ein Arsch ... Wir würden uns also gern deinen Plan anhören...“ Sie lachte auf, zeigte ihren Freundinnen einen aufgerichteten Daumen und sagte dann ins Telefon: „Wir sitzen im Aida am Dom. Kennst du das? ... Ja, sehr pink ... Und köstlich, das stimmt wohl...“ Sie lachte kehlig, die grünbraunen Augen funkelten.

Sam und Ellie tauschten einen ihrer Blicke. Lulu flirtete durchs Telefon. Unglaublich, aber wahr.

„Okay, Matt ... Bis gleich. Wir freuen uns auf dich!“

„Wir freuen uns auf dich?“, echote Sam grinsend, nachdem Lulu das Gespräch beendet hatte.

„Matt?“, rief auch Ellie, mehr empört als amüsiert.

Lulu erheiterte sich eher über sich selbst als über Ellies Gesichtsausdruck. „Er ist auf dem Weg hierher. Er möchte sich unsere Ideen anhören.“

Ellie konnte sich nicht vorstellen, weshalb er das tun wollte. „Wieso? Er kann uns doch unmöglich damit helfen.“

„Das weißt du nicht“, erwiderte Sam vernünftig.

„Jedenfalls nicht mit der Finanzierung. Und falls er uns doch Geld geben möchte, dann können wir es nicht annehmen! Das gehört sich nicht.“ Kopfschüttelnd steckte sie ihr Handy fort. Dabei bemerkte sie das Zittern ihrer Hände. Ob vor Entrüstung oder Nervosität, Matthew Murray wiederzusehen, konnte sie nicht sagen.

Vermutlich beides.

~

Matthew war eine Augenweide, als er zwanzig Minuten später das Aida betrat. Ellie glaubte, noch nie zuvor solch einen attraktiven Mann gesehen zu haben. Auch andere Frauen im Café wandten sich ihm zu, während er kurz stehenblieb und den pinken Raum nach den drei Freundinnen absuchte. Er entdeckte sie in einer Nische in der hintersten Ecke und kam mit einem Lächeln auf ihren Tisch zu.

„Hallo zusammen!“

„Hi!“ Ellie stand mit wackeligen Beinen auf um ihn zu begrüßen. Sam und Lulu folgten ihr, ein wenig irritiert über die Geste, wo sie doch normalerweise alle sitzengeblieben wären. Dafür wurden sie jedoch mit einem Kuss auf die Wange belohnt. Ellie hätte am liebsten die Zeit angehalten.

„Plan B ist also angesagt“, begann er auch sofort mit einem Schmunzeln in die Runde. „Dann lasst mal hören.“

„Wie gesagt, wir hätten gerne unser eigenes Café...“, eröffnete Sam. „Also eine Art Kaffeehaus wie früher. Nicht so hip wie dieses hier, sondern mit gemütlichen Ohrensesseln, Kronleuchtern, Kuchen mit Schlag und so.“

Plötzlich sprudelten die Worte aus ihnen heraus. Sie sprachen abwechselnd und rasch, so dass keine Sekunde zwischen ihren Erzählungen ungenutzt blieb.

„Wir haben ein Objekt mitten in River North gefunden“, sagte Ellie.

„Sams Oma backt so leckere Kekse“, schwärmte Lulu. „Die kommen frisch zu jedem Kaffee dazu. Und zu Weihnachten verkaufen wir sie in kleinen Tütchen.“

„Wir wissen auch schon, wie wir die Speisekarte gestalten“, räumte Sam lächelnd ein. „Aber die Karte sollte relativ klein und übersichtlich bleiben. Am liebsten wären uns drei oder vier wechselnde Tagesgerichte, ansonsten Suppen, Sandwichs und einzigartige, selbst gebackene Kuchen.“

„Und Frühstück“, sagte Ellie.

„Die wichtigste Mahlzeit des Tages“, nickte Matthew und sah sie mit einem Lächeln an, das mehr sagte. Ellie spürte, wie ihre Beine weich wurden.

„Aber das ist noch nicht alles!“ Lulu wedelte mit dem Zeigefinger. „Gute Musik wird im Hintergrund gespielt. Fünfziger, Sechziger und so, damit Sam ihren Traum von einem Oldie Café nicht ganz aufgeben braucht. Abends wird die Musik dann lauter und die Drinks hochprozentiger...“

„Ihr Vater kennt sich total gut mit Musik aus“, stimmte Ellie zu.

Sam wurde von Stolz erfüllt. Ihr Vater war ein wandelndes Musiklexikon und besaß über fünftausend Schallplatten und vermutlich doppelt so viele CDs der Fabulous Fifties, Swinging Sixties und weitere Jahrzehnte, in denen sich namhafte Künstler und Bands etablieren konnten.

„Eine überdachte Terrasse darf auch nicht fehlen“, sagte sie dann. „Mit bequemen Loungemöbeln, wo man abends gerne länger bleibt...“

„Bunte Lichterketten!“, rief Lulu, und Ellie fügte hinzu: „... umgeben von Pflanzen, damit es privat und gemütlich bleibt. Dieser Jungle-Look ist ja gerade total in.“

„Euch ist es damit wirklich ernst, oder? Das ist ein enormes Projekt.“

„Natürlich, das wissen wir“, sagte Sam. „Wir haben genaue Vorstellungen und auch schon alles geplant und ausgerechnet, nur keine Bank will uns den Kredit gewähren.“

„Dann haben die keinen Riecher fürs Geschäft. Bedauerlich. Und River North ist eine erstklassige Gegend für ein solches Café. Downtown, umgeben von Restaurants, in der Nähe der Einkaufsmeile, viele Touristen ... Und so ein Kaffeehaus gibt es in dieser Art noch nicht. Ich wüsste nicht, weshalb es nicht ankommen sollte. Ihr sagtet, ihr habt schon ein Gebäude gefunden?“

„Wir haben ein gesamtes Grundstück“, klärte Lulu ihn auf. „Eine alte Tankstelle. Das Gebäude selbst steht noch und der Platz ist genau richtig für unser Vorhaben. Es gibt einen Parkplatz und eine Seitentür, wo wir uns die Terrasse vorstellen. Es ist wirklich der perfekte Ort und nicht allzu groß.“

Sam lächelte. So vergnügt und lebensfroh ihre blond gelockte Freundin in vielen Situationen auch sein mochte, so ernsthaft konnte sie in anderen sein. Sie liebte diese Seite an ihr.

„Das hört sich alles viel zu gut an...“ Der Pilot beäugte die drei blonden Frauen kritisch. „Wo ist der Haken?“

„Es gibt keinen Haken“, antwortete Lulu, aber sie log und das wussten alle.

Sam griff in ihre Tasche und förderte einen Schnellhefter zutage, den sie Matthew über den Tisch hinweg reichte. Es war der Businessplan mit Kostenauflistung und mehreren Fotografien des gewünschten Objektes. „Der Haken ist dieser.“

Matthew nahm sich beim Durchblättern Zeit und ließ ein verständliches Raunen hören, als er zu den Fotos kam. Die Bilder zeigten ein heruntergekommenes Gebäude umgeben von Gras, Unkraut und Schotter. Der Putz bröckelte an manchen Stellen bereits ab und das Flachdach war sicherlich auch nicht mehr dicht. Das Grundstück an sich war groß genug für einen Parkplatz und die Terrasse. Doppeltüren aus Glas zeigten den Eingang. Im Inneren sah es aber nicht besser aus.