Callboy To Go - Ina Linger - E-Book

Callboy To Go E-Book

Ina Linger

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Beschreibung

30 Jahre und Jungfrau? Wie traurig ist das denn? Mia versucht alles, um diesem Schicksal zu entgehen, und engagiert während ihres Traumurlaubs auf Teneriffa einen Callboy. Wenige Tage vor ihrem Geburtstag. Als letzte Lösung selbstverständlich. (Un)glücklicherweise ist ihr attraktives ‚Date‘ Chris nicht der, für den er sich zunächst ausgibt, und Mia hat bald mit ganz anderen Problemen als dem Verlust ihrer Unschuld zu kämpfen. Verfolgungsjagden, lebensbedrohliche Situationen und unerwartete Gefühle eingeschlossen.

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Callboy

t oGo

 

 

 

 

Romantische Komödie

 

Ina Linger & Cina Bard

 

Impressum Copyright: © 2016 Ina Linger und Cina Bard:

www.inalinger.de

Email: [email protected]

Veröffentlicht durch: I. Gerlinger, Spindelmühler Weg 4, 12205 Berlin

Coverdesign: Clarissa Yeoh

Schriften: Font & Graphic Land; Open Baskerville Project

Lektorat: Faina Jedlin

 

Inhalt

Prolog

Gut geplant ist halb gewonnen

Planlos

Besser spät als nie

Selbstschutz

Romantik pur

Herrenbesuch

Angsttherapie

Gauner am Spieß

Programmänderung

Glückskinder

Kussecht

Katz und Maus

Heldin wider Willen

Unschuld ade

Gute Taten

Eine Seefahrt, die ist lustig

Ehrlich währt am längsten

Das dicke Ende

Nichts als die Wahrheit

Epilog

Weitere Werke der Autorinnen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Lieben und vernünftig sein, ist kaum einem Gotte möglich.“

 

Publilius Syrus (wahrscheinlich 90 - 40 v. Chr.)

 

 

Prolog

 

 

 

 

Das Dumme an einer plötzlich einsetzenden Erkenntnis ist, dass sie einen manchmal in Situationen überfällt, die leicht außer Kontrolle geraten können. Situationen, die einen zu einer zumindest zeitlich begrenzten Handlungsunfähigkeit verdammen. Zum Beispiel solche, in denen man sich auf einem Mofa befindet, das man nicht selbst fährt. Man ist die ängstliche Person, die sich derart fest an den Fahrer klammert, dass dessen Rippen jeden Moment mit einem lauten Knacken brechen könnten; die Person, deren Leben innerhalb weniger Stunden von ‘vollkommen unter Kontrolle und durchgeplant’ auf ‘totales Chaos mit ungewissem Ende – baldiger Tod nicht auszuschließen’ umgekrempelt wird.

Man könnte meinen, das sei etwas übertrieben, doch solange man noch nicht selbst im Gebirge vor Gangstern auf der Flucht war – obwohl man unter Höhenangst leidet und Serpentinen etwas sind, das man nur aus Filmen kennt – sollte man sich mit einem vorschnellen Urteil lieber zurückhalten.

Manche Dinge dürfen einem nicht im echten Leben passieren. Niemals. Es sei denn, man hat Superkräfte und ist unsterblich – aber dann würde man sich wieder in einem Film befinden und nicht bei jeder scharfen Kurve kurz vor einem Herzinfarkt stehen. Und die Gedanken würden nicht ständig um dieselben Fragen kreisen: Wie zur Hölle bin ich hier reingeraten? Und wie – verdammt noch mal – komme ich hier unversehrt wieder heraus?

Fragen, deren Beantwortung umso schwerer wird, wenn die Person, auf die man sich verlassen und der man vertrauen muss, diejenige ist, die einen erst in den ganzen Schlamassel hineingeritten hat. Ein unverschämter, ausgefuchster Lügner und Betrüger, dessen Anwesenheit zu anfangs erwähnter Erkenntnis führt: Adiós schönes, geregeltes Leben – Bienvenidos Handschellen und Knast!

 

 

Gut geplant ist halb gewonnen

Deo? Check.

Make-Up perfekt? Check.

Dessous zueinander passend? Check.

Achseln und Beine seidenglatt? Check.

Champagner stilecht im Sektkühler? Check.

Kondome? Check.

Pfefferspray in Handtasche und Nachttisch? Check.

Rosenblätter auf dem Weg zum und im Bett selbst? Wer zum Henker war sie: Cinderella??

 

Ein in eine Riemchensandale mit hohem Absatz gekleideter Fuß tippte ungeduldig auf den gekachelten Balkonboden, wieder und wieder und stampfte schließlich entnervt auf, bevor er zum Stillstand kam. So viel zu der Idee sich vom Rauschen des Meeres, der warmen, dennoch frischen Seeluft und dem atemberaubenden Ausblick von ihrem wunderschönen Balkon beruhigen zu lassen. In der Theorie hatte sich das ganz toll angehört – die Praxis war wie immer ein Reinfall.

Mias Hand strich gedankenverloren über ihr Bein und hielt dann erschrocken inne. Waren da etwa doch Stoppeln??

Sie beugte sich entsetzt herunter, drehte ihr Bein so, dass es in den aus dem Wohnzimmer kommenden Lichtstrahl geriet, und rubbelte erneut über die verdächtig kratzige Stelle. Doch es waren nur ein paar Fusseln von gottweißwoher, die an ihrer Haut festgeklebt waren.

Guuut. Sie hatte ihre Beine vor zwei Tagen wachsen lassen, extra ein bisschen eher, damit sie nicht mit roten Flecken herumlief. Die, die sie nie bekam, wenn sie nichts vorhatte, aber sofort erschienen, wenn es einen Anlass gab, etwas mehr Haut zu zeigen. Zusammen mit ihren Freunden, den kleinen, hässlichen Pustelchen, waren sie daran schuld, dass sie meist doch lieber lange Hosen statt kurzer Röcke trug. Die machten sich auch bei der Arbeit besser, um die vornehmlich männlichen Kollegen davon zu überzeugen, dass sie kein Sexobjekt, sondern eine Respektsperson war, vor der man sich in Acht nehmen musste.

Wie es schien, blieb sie heute zwar von diesem Makel, nicht aber von der Unpünktlichkeit ihres Dates verschont. Mia seufzte ärgerlich – denn Wut war immer besser als Angst und Nervosität – und entschloss sich, aufzustehen und wieder hineinzugehen. Nachher sah er sie hier noch von der Straße aus, als könne sie es kaum erwarten, und auch wenn das der Wahrheit entsprach, musste sie ja nicht gleich so verzweifelt wirken.

Wie schon unzählige Male zuvor flog ihr Blick zur Wanduhr des hübschen, kleinen Studios. Wo zur Hölle blieb der Kerl?

Entnervt marschierte sie durch das Wohnzimmer zur Tür und riss diese auf. Etwas zu schwungvoll und wie es schien, war ihre angeblich schnell einziehende Handcreme auch noch nicht trocken, denn die Klinke glitt ihr aus der Hand und die Tür selbst krachte lautstark gegen die dahinterliegende Wand. Eine ältere Dame wich erschrocken zurück an die gegenüberliegende Flurseite und griff sich ans Herz.

„Kindchen!“, rief sie entrüstet und marschierte dann an der Hand ihres kopfschüttelnden Ehemannes weiter den Gang entlang zum Fahrstuhl, ohne auf Mias gemurmelte Entschuldigung zu reagieren. Wie um die beiden Alten aus der Reichweite des weiblichen Rowdies zu bringen, kam der Lift am anderen Ende des Ganges sofort und Mia biss die Zähne zusammen, als ihm ein junger, hochgewachsener Mann entstieg und mit einem Smartphone in der Hand auf sie zukam. War das etwa … konnte das … sahen die so gut aus?

‚Lächeln … Lächeln … du hast das geübt!‘, wies sie sich innerlich an und schon verzogen sich ihre Lippen zu dem strahlenden und gewinnenden Lächeln, das in den letzten zwei Tagen hauptsächlich ihr Spiegel zu Gesicht bekommen hatte. Sie hatte es an ein, zwei Kellnern ausprobiert und aufgrund der positiven Reaktionen für gut befunden.

Der dunkelhaarige Mann sah von seinem Handy auf und seine Züge erhellten sich deutlich, als er einen wohlwollenden Blick über ihren Körper gleiten ließ, vom kleinen Schwarzen bis hinunter zu ihren Absatzschuhen und wieder zurück, langsam höher, die Augen nur einen Tick zu lange auf ihr Dekolleté gerichtet, bevor es unhöflich wurde.

„Hi“, sagte er mit samtig weicher, tiefer Stimme, als er Mia erreicht hatte und blieb vor ihr stehen.

Dunkle Locken, grüne Augen, durchtrainierte Figur unter einem eng anliegenden, dunkelgrünen Seidenhemd, das seine Augenfarbe noch mehr zur Geltung brachte.

Mias Herz hämmerte wie wild in ihrer Brust und wurde von zwei Instinkten nahezu auseinandergerissen: Flucht und Angriff. Wie immer, wenn sie sich von jemandem angezogen und damit auch eingeschüchtert fühlte, tendierte sie eher zu ersterem. Nur konnte sie sich nicht bewegen. Ihre Füße waren plötzlich bleischwer und mit dem Boden verwachsen.

„Mein Name ist Luis und mit wem habe ich das Vergnügen?“, sprach er weiter und streckte seine Hand aus.

Sie reicht ihm ihre ganz automatisch, auf die er einen zarten, angedeuteten Kuss hauchte. Sicherlich altmodisch und kitschig, aber es geschah so natürlich, dass es alles andere als unangenehm war. Wahnsinnig professionell!

Mia schluckte dennoch unwillkürlich und zwang sich, weiterzulächeln – stark hoffend, dass es nicht so verkrampft wirkte, wie sie sich plötzlich fühlte. Er war da. Er. War. Da. Heute Nacht würde es endlich geschehen. Schon bald würde sie nicht mehr die unerfahrene, kleine Mia sein, die sich Sexbeziehungen ausdenken musste, um keine mitleidigen Blicke auf sich zu ziehen, nein, sie –

„LUIS!!“

Mia zuckte zusammen und sah gleichzeitig mit dem Angesprochenen den Flur hinunter. Die aufgebrachte Stimme gehörte einer jungen Brünetten, die wütend auf sie zu gestapft kam und dem Dunkelhaarigen dann einen ihrer viel zu langen, rot lackierten Fingernägel in die Brust bohrte.

„Ist sie das? IST SIE DAS?!?! JA?!“, kreischte die Frau weiter und warf Mia einen drohenden Blick zu.

Diese schüttelte nur den Kopf, hob ruhig, aber abwehrend die Hände und zog sich dann in ihr Apartment zurück, den bedauernden Blick Luis’ mit einem Schulterzucken quittierend.

Luis. Sie hätte es wissen sollen. Traurig zu sehen, wie schnell auch sie alle Vorsicht und Vernunft über Bord warf, sobald sie einen hübschen Mann vor der Nase hatte. Allerdings war der Hauch von Erleichterung, den sie verspürte, noch viel ärgerlicher.

Das Paar stritt sich draußen noch eine Weile weiter. Worte wie ‚Betrüger‘, ‚Lügner‘ und ‚Kastration‘ waren zu hören, dann entfernten sich die Stimmen allmählich und irgendwo weiter den Flur hinab knallte schließlich eine Tür. Toll. Bei ihrem Glück sah sie die beiden morgen beim Frühstück und bekam von der Brünetten ein scharlachrotes ‚A‘ mit frisch gepresstem Traubensaft auf ihre Klamotten gemalt.

Sie seufzte leise. Jetzt hieß es weiter warten und Geduld war nicht gerade ihre Stärke, auch wenn viele Menschen, die sie nicht privat kannten, sie sicherlich als stoisch bezeichnen würden. Oder gemächlich, gleichmütig, kalt. Mia selbst bevorzugte den Ausdruck ‚ausdauernd‘. Nur weil sie nicht gleich herummaulte, wenn etwas nicht sofort klappte, bedeutete das noch lange nicht, dass ihre äußerliche Ruhe auch ihrer inneren Verfassung glich. Doch schnell aufzugeben entsprach nicht ihrem Wesen. Wenn sie ein Ziel vor Augen hatte, kämpfte sie so lange, bis sie es erreichte. Komme, was wolle. Ihre schwache, ängstliche Seite hatte keine Chance gegen Power-Mia, auch wenn sie sich gern ab und zu bemerkbar machte – in den unpassendsten Momenten. Wenn ein Beschluss stand, gab es nichts mehr daran zu rütteln.

Letzterer war einer der Gründe, aus denen sie heute hier war. Die Dreißig war der Point-of-No-Return. Das hatte sie vor fünf Jahren für sich beschlossen – bedauerlicherweise auch lautstark vor einer ihrer engeren Freundinnen, die mit demselben Problem geplagt gewesen war: dem Mangel an einem festen oder auch lockereren Freund, wie Mia es gern formulierte. In der Konsequenz hieß es: anhaltende Jungfräulichkeit. Sie weigerte sich allerdings, diesem Wort und dem damit einhergehenden Fakt eine negative Konnotation zu geben, denn an sich war das nichts, für das man sich schämen musste.

Mit dem ersten Mal war es eine seltsame Sache. Als Teenager sollte man vielen Eltern nach – speziell als Mädchen –  möglichst spät Sex haben; so zwischen siebzehn und zwanzig sollte es dann spätestens passiert sein und alles danach war gesellschaftlich gesehen seltsam und die Leute versuchten mehr denn je, einen in eine Schublade zu stecken, deren Aufschriften von ‚überängstlich‘ über ‚prüde‘ bis hin zu ‚verklemmt‘ reichten. Dann gab es noch die mit klareren Beschriftungen wie ‚asexuell‘ oder ‚lesbisch‘ – zu weiteren Kenntnissen der möglichen sexuellen Orientierungen reichte es oft nicht – nicht dass das ‚etwas Schlimmes wäre‘, das wäre ‚schon okay‘. Schön, dass das extra noch mal klargemacht wurde.

Mia hatte für solcherlei Bemerkungen meist nur eine hochgezogene Augenbraue übrig, die beständig höher wanderte, je mehr sich die angeblich ach so aufgeschlossenen ‚sexuellen Wesen‘ in ihrer Umgebung in Erklärungen und Bekundungen verstrickten. Leider merkte der Großteil der Menschen nie, wie unglaublich engstirnig und sexistisch er in seiner angeblichen Toleranz war.

Mia fuhr erschrocken aus ihren wenig erheiternden Gedanken, als neben ihr plötzlich ‚Los Toreadores‘ aus Bizets Oper Carmen ertönte, und schüttelte dann den Kopf über sich selbst. Sie hatte diese Musik extra gewählt, um sich selbst anzufeuern, nur war der Handyempfang auf Teneriffa sehr launisch und sie bisher noch nicht in das Vergnügen gekommen, den neuen Ton zu hören.

„Ja!“, meldete sie sich etwas abgehetzt, als sie das Handy umständlich aus ihrer Handtasche gekramt hatte, und war trotz der unterdrückten Rufnummer nicht überrascht, gleich darauf die Stimme ihrer allerbesten Freundin Judy zu vernehmen.

„Ist er schon da?“, fragte diese, ohne sie zu begrüßen.

„Nein“, knurrte Mia. „Es scheint, als – “

„Geh ins Badezimmer!“, kommandierte ihre Freundin, ohne ihr weiter zuzuhören. 

„Was?“ Mia stieß ein leises Lachen aus. „Wieso …“

„Tu es einfach!“, blieb Judy hartnäckig.

Mia verdrehte die Augen, etwas das ihre Freundin nicht ausstehen, aber glücklicherweise nicht sehen konnte, und tat dann, wie befohlen.

„Ist da ein Spiegel?“, fragte Judy als nächstes.

„Selbstverständlich ist da ein Spiegel!“, erwiderte Mia belustigt. „Ich bin in einem Vier-Sterne-Hotel in Puerto de la Cruz und nicht in einer Lehmhütte am Amazonas. Hier gibt es richtige Toiletten, Duschen und sogar Spiegel!“

„Und was siehst du darin?“, machte Judy ungerührt weiter.

Mia betrachtete stirnrunzelnd ihr Spiegelbild. Rotes, zu einem kunstvollen Dutt hochgestecktes Haar, helle Haut, ein paar Sommersprossen, die ihre Nase schmückten, und große, blaue Augen, die von einem zarten Lidstrich noch betont wurden.

„Na, mich“, gab sie unwirsch zurück.

„Schick mal ein Foto.“

„Was?“

„Mach schon!“

Mia gab ein genervtes Stöhnen von sich, fügte sich dann aber Judys Wunsch.

„Wusst ich’s doch!“, kommentierte ihre Freundin nur Sekunden später.

„Was wusstest du?“

„Das kleine Schwarze steht dir hammermäßig! Du siehst mega-schlank aus und es betont trotzdem noch deine feminine Figur. Und wer hat es mit dir ausgesucht, na?“

„Hast du jetzt echt angerufen, um meine Garderobe für den Abend zu checken?!“ Mia konnte es kaum glauben. Musste sie auch nicht.

„Nein, eigentlich wollte ich versuchen, dir die ganze Sache doch noch auszureden – obwohl ich weiß, dass ich gegen deinen Sturschädel nicht ankomme“, erklärte Judy. „Aber da es gut möglich ist, dass wir uns im Verlauf des Gesprächs streiten und du dann wütend auflegst, dachte ich mir, dass ich deinen Look vorher überprüfe, weil mich meine Neugierde sonst umbringen würde.“

Sie musste tief Luft holen, weil sie ohne Punkt und Komma geredet hatte und fuhr dann fort: „Aber jetzt ist es Zeit für meine Motivationsrede – also die, die dich davon abhalten soll, diese riesengroße Dummheit zu begehen.“

„Judy …“, begann Mia, kam aber nicht weiter.

„Siehst du die junge, wunderschöne, hochintelligente Frau da vor dir im Spiegel? Sie ist nicht nur meine allerbeste Freundin, sondern auch noch einer der tollsten und liebsten Menschen, die ich kenne, und hat es mit Sicherheit nicht nötig, sich einen Mann fürs erste Mal zu kaufen!“

„Das weiß ich doch auch!“, gelang es Mia endlich, ihre Freundin zu unterbrechen. „Es geht doch nicht darum, ob es notwendig ist oder nicht – ich will es so!“

„Ist das jetzt wieder deine unterdrückte Abenteurerseite, die aus dir spricht oder belügst du dich selbst?“, hakte Judy verständnislos nach.

„Weder noch“, gab Mia zurück und war dabei nicht ganz ehrlich. Ein klein wenig war schon ihr Bedürfnis, endlich mal etwas Aufregendes zu erleben, mit Schuld an dieser Aktion und dem Setting, aber das war nicht alles. Und sie belog sich mit Sicherheit nicht selbst.

„Warum kannst du nicht noch warten?“, bearbeitete Judy sie weiter, nun in einem leicht jammernden Tonfall. „Der Richtige wartet bestimmt schon an der nächsten Ecke auf dich – und damit meine ich nicht deinen Zukünftigen, sondern Mr. Boombastic fürs erste Mal.“

„Das wage ich zu bezweifeln“, erwiderte Mia und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Die Zeit lief gnadenlos weiter und ihr ‚Date‘ hatte immer noch nicht an die Tür geklopft. „Du weißt doch, wie schnell ich an jedem, der Interesse zeigt, was auszusetzen habe. Und es ist ja nicht so, dass ich eine solch große Auswahl wie du habe. Für mich kommen nur Männer in Frage.“

Während ihrer Suche nach einem geeigneten Partner fürs erste und auch weitere Male hatte sie sich tatsächlich des Öfteren gefragt, ob sie vielleicht am falschen Ufer suchte und eigentlich auf Frauen oder wie Judy auf beide Geschlechter stand. Objektiv gesehen gab es schon Vertreterinnen ihres eigenen Geschlechtes, die sie attraktiv fand, doch selbst ein photogeshoppter Hochglanzbildkörper eines Mannes ließ ihr eher das Wasser im Mund zusammenlaufen als der entsprechende einer Frau. Zumal diese heutzutage zumeist extrem unterernährt und knabenhaft wirkten. Mia fühlte sich da eher noch der Cindy-Crawford-Generation verbunden.

„Tja, ich muss dir nicht schon wieder sagen, dass du zu wählerisch bist, oder?“, fragte Judy jetzt und Mia rollte ein weiteres Mal mit den Augen. „Ted aus der Firma ist zum Beispiel eine richtige Sahneschnitte und echt gut im …“

„Ich kann nicht mit jemandem schlafen, mit dem du schon im Bett warst, Judy“, seufzte Mia. „Das habe ich dir schon x-Mal gesagt! Ich würde mir vorkommen wie bei einem Wettkampf.“

„Er ist ja nicht der einzige attraktive Kerl in deiner Firma.“

Mia dachte kurz nach. „Doch.“

Auch Judy blieb kurz still. „Okay, du hast recht, die anderen sind alles typische Nerds“, gab sie ihr schließlich nach. „Was arbeitest du auch als Softwareentwicklerin?!“

„Judy …“

„Kein Wunder, dass du so nach Abenteuern geierst! Du sitzt zu viel am Computer!“

„Mein Entschluss …

„Aber in unserem Freundes- und Bekanntenkreis gibt es ein paar echt heiße Kerle“, ließ sich Judy nicht aus dem Takt bringen.

„Ich war mit Pete und Artie aus“, erinnerte Mia ihre Freundin. „Und das war …“ Sie schüttelte sich beim Gedanken daran. „Es hat sich falsch angefühlt. Nicht gut genug, um den nächsten Schritt zu gehen. Und ich spreche hier noch nicht mal von einer Beziehung.“

„Du bist zu verkopft“, warf Judy ihr vor. „Du musst dich mal gehen lassen, den Verstand ausschalten!“

„Glaub mir, das habe ich vor!“, ließ Mia sie wissen.

„Das meine ich damit nicht.“

„Ich aber! Und davon abgesehen bin ich kein extremer Kopfmensch. Ich bin nur strukturiert und sonst eher ein Bauchmensch. Das hast du selbst mal gesagt und mir vorgeworfen, ich würde, wenn ich mich gehen lasse, dann wiederum zu sehr nach meinem Gefühl handeln.“

„Machst du ja auch – gerade schon wieder!“

„Siehst du!“

„Das ist aber nicht gut!“

„Für mich schon“, widersprach Mia ihr. „Ich brauch das jetzt – für mich! Weil ich unsere Freunde und meine Familie weder weiter anlügen will noch Lust auf mitleidige Blicke und besorgte Nachfragen habe. Ich bin es einfach leid!“

„Aber so oft wird doch gar nicht über so etwas gesprochen“, wandte Judy ein und Mia prustete los.

„Bitte? Gibt es überhaupt ein anderes Thema, wenn wir ausgehen?“

Judy schwieg lieber. Sie wusste ganz genau, dass vor allem unter Freunden gern und viel über Liebesdinge getratscht wurde und wie unwohl sich Mia bei dem Thema Wer-tut-es-mit-wem immer fühlte. Wenn dann auch noch das Thema Wer-hat-wann-seine-Unschuld-verloren durch einen gemeinsam gesehenen Film oder ähnliches aufkam, lachte Mia brav mit über das stereotype Bild der verklemmten, seltsamen alten Jungfer (das irgendwer immer zur Belustigung aller herauskramte) und kam sich wie eine Verräterin vor. Ohne Frage waren das überzogene Darstellungen – das Problem war, dass auch die erzählten Geschichten aus dem realen Leben kaum anders waren und sie ihre eigene nur mit ihren engsten Freundinnen teilte.

Wie bei vielen anderen Frauen in ihrer Situation war es nämlich keinesfalls so, dass sie noch gar keine Erfahrungen mit Sex hatte – nur eben nicht unbedingt mit anderen Personen. Aber das zählte für die meisten Menschen nicht. Man wurde trotzdem für ahnungslos und prüde gehalten, ganz egal wie viele Orgasmen man schon erlebt und wie häufig man sich selbst in dieser Hinsicht glücklich gemacht hatte. Und die mitleidigen Blicke – die waren die allerschlimmsten. Als ob man nur ein halber Mensch wäre, wenn man sich nicht wenigstens alle paar Monate von einem Kerl die Seele aus dem Leib vögeln ließ.

„Ich fand die Geschichte von deinen regelmäßigen One-Night-Stands lustig“, merkte Judy etwas kleinlauter an und Mia gab ein missbilligendes Grunzen von sich.

„Auch dass mich Georgia später auf der Toilette als Schlampe bezeichnet hat und Bruce mir noch am selben Abend an den Arsch gegangen ist?“

„Hey, Georgia hat dafür mit ein paar ihrer Extensions gezahlt und Bruce ist nackt auf der Parkbank aufgewacht“, ließ Judy sie wissen und Mia konnte sie fast grinsen hören.

„Das mit Bruce wusste ich gar nicht“, gestand sie.

„Der war an dem Abend so besoffen – der hat nichts mehr mitbekommen“, erläuterte ihre Freundin feixend.

„Meine Heldin!“, schmunzelte Mia.

Judy lachte. „Immer zu Diensten. Deswegen auch der Anruf. Super-Judy will dich vor einem großen Fehler bewahren.“

„Es ist kein Fehler“, bestand Mia auf ihrer Einschätzung. „Entweder der Callboy und eine von mir kontrollierte und geplante Entjungferung oder ein Keuschheitsgelübde als Nonne. Erst dann habe ich meine Ruhe.“

„Weißt du, was ich glaube?“, fragte Judy und Mia flötete innerlich ‚Interessiert mich nicht!‘, während ihre Freundin fortfuhr: „Claire und eure dumme Frist sind an allem Schuld. Du warst schon immer so. Schwüre und Versprechen – damit konnte man dich schon als Kind festnageln. Und jetzt fällt dir das in den Rücken – weil sie kurz nach eurem Schwur mit dem Erstbesten in die Kiste gestiegen und auch noch an ihm hängengeblieben ist und du … weiterhin furchtbar anspruchsvoll geblieben bist. Vor dem Dreißigsten – wer setzt sich denn so eine Grenze? Dreißig –wie furchtbar! Was genau ist denn so schlimm daran? Bist du dadurch ein schlechterer Mensch als andere?“

 „Nein, natürlich nicht!“, gab Mia zu. „Ich bin nur irgendwie komisch in den Augen vieler anderer und einem ewigen Erklärungsmarathon unterworfen, wenn ich dazu stehe, beziehungsweise einem Minenfeld aus Ausreden, wenn ich es nicht tue.“

„Es ist trotzdem eine Schnapsidee“, ließ Judy verlauten und Mias eigene Zweifel wallten kurz wieder in ihr auf.

Sie wusste nicht mehr genau, was den entscheidenden Anstoß für die Umsetzung dieser ‚Schnapsidee‘ gegeben hatte. Wahrscheinlich war es ein irres Gemisch aus generell verrücktspielenden Hormonen, Frühlingsgefühlen, Abenteuerlust und PMS gewesen, das sie vor wenigen Wochen fieberhaft das Internet hatte durchforsten lassen, um den blöden Notfallplan vor dem dreißigsten Geburtstag in die Tat umzusetzen. Selbstverständlich mit allen ihr bekannten Sicherheitsvorkehrungen, damit möglichst niemand den Weg zu ihr zurückverfolgen konnte (ja, sie war manchmal ein bisschen paranoid). Zunächst hatte sie sogar extra auf öffentlichen Computern gesucht, dann war ihr klargeworden, dass sie das Ganze wohl weder würde bar bezahlen noch unter falschem Namen abschließen können und man so ohnehin nicht vollkommen anonym bleiben konnte.

„Von wem hast du überhaupt die Nummer des Escortservices?“, plapperte Judy in ihre Überlegungen hinein.

„Hab ich dir doch schon gesagt – von einer Geschäftspartnerin meines Vaters, den sie immer wieder gerne bucht, wenn sie auf den kanarischen Inseln Urlaub macht.“

Obwohl selbst nicht unbedingt schüchtern, hatte Mia bewundert, wie offen die Frau darüber gesprochen hatte.

„Offiziell ist es nur ein Begleitservice“, hatte Jessica gesagt, „aber es gibt gewisse Extraoptionen, die man dazu buchen kann und süße Specials. Sie sind sehr diskret und akkurat. Nicht billig, aber jeden Hunderter wert.“

Das zufriedene Lächeln und Strahlen in den Augen dieser Frau hatte Mia direkt neidisch werden lassen, doch damals war sie noch nicht bereit gewesen, ebenfalls diesen Schritt zu gehen.

„Und du bist sicher, dass das eine seriöse Agentur ist?“, fragte Judy weiter – auch nicht zum ersten Mal.

„Sehr sicher“, beruhigte Mia sie – auch wenn das nicht ganz der Wahrheit entsprach.

Die Agentur hatte in der Tat sehr seriös gewirkt, als sie damals, nach der Buchung ihrer Traumreise, per Email Kontakt mit dieser aufgenommen hatte – auch wenn der Name ‚Amors Hilfe‘ vielleicht einen anderen Eindruck machte und die ‚Firma‘ keine Internetseite nebst Fotos ihrer Angestellten besaß. Sie galt als Geheimtipp, deren Kontaktdaten nur an ausgewählte Menschen weitergegeben wurden – wie Jessica mit eindringlichem Blick bei der Herausgabe der Visitenkarte betont hatte.

Die Frau, mit der sie sich geschrieben und auch telefoniert hatte, war höflich und professionell gewesen und hatte es Mia leicht gemacht, die Sache eher nüchtern zu betrachten, eben wie ein ganz normales Geschäft. Aus diesem Grund war ihre Angst bezüglich der Durchführung ihres Vorhabens auch für einen längeren Zeitraum vollkommen verschwunden gewesen.

Das hatte sich geändert, als sie in ihrem Hotel angekommen war und noch einmal telefonisch Kontakt zu dem ‚Escortservice‘ aufgenommen hatte. Der Mann im Büro hatte einen weniger professionellen Eindruck gemacht als seine Kollegin und damit ihre Ängste und Zweifel wieder aufflammen lassen – insbesondere weil sich ihr Vorhaben ja im Raum des Sittenwidrigen bewegte. In Spanien war Prostitution zwar nicht überall verboten, aber in Hotels mit gutem Ruf definitiv nicht geduldet. Mia ließ sich jedoch generell nicht so leicht abschrecken, wenn sie sich erst einmal in eine Sache verbissen hatte – auch nicht durch sich selbst –  und hatte ihre negativen Gefühle erfolgreich verdrängt, um vollkommen souverän ihre Zimmernummer nebst einer ihr angenehmen Uhrzeit durchzugeben.

Nervös war sie erst wieder geworden, während sie sich für ihr Rendezvous fertig gemacht hatte – insbesondere als sie die Kondome in ihre Handtasche gesteckt hatte. Sie hatte sich die ganze Zeit über dagegen gewehrt, sich Gedanken darüber zu machen, wie ihr ‚Liebhaber‘ für die Nacht wohl aussah und welche Sorge musste ausgerechnet eine Viertelstunde vorher durch ihren Kopf schießen? Hoffentlich passen die überhaupt.

Schon waren sie da gewesen, Vorstellungen über überdimensional große und winzig kleine Penisse, krumme, zu dicke, zu dünne … Sie hatte sich innerlich geschüttelt und mehrfach gesagt, dass es darauf nun wirklich nicht ankam, was sie erfolgreich zu der nicht minder nervös machenden Überlegung geführt hatte, ob sie überhaupt mit einem Mann schlafen konnte, den sie nicht attraktiv fand. Oder gar abstoßend.

Sie hatte sich schließlich damit beruhigt, dass niemand sie dazu zwang, Sex mit ihm zu haben. Dann war zwar all ihr schönes Geld verloren, aber wen kümmerte das schon, wenn man sich ein Alptraumerlebnis ersparen konnte?

„Lass dir auf jeden Fall den Personalausweis von dem Typen zeigen“, erinnerte Judy sie daran, dass sie immer noch am anderen Ende der Leitung hing und Mia fragte sich, was sie zuvor erzählt hatte, denn ihr Gebrabbel war trotz Mias geistiger Abwesenheit noch an ihr Ohr gedrungen. „Oder besser noch – mach ein Foto davon und schicke es mir!“

„Heißt das, du versuchst nicht weiter, mir die Sache auszureden?“

„Dann müsste ich noch Stunden am Handy verbringen und wir beide wissen, dass uns die nachfolgende Rechnung in Ohnmacht fallen lassen würde. Also – Foto vom Personalausweis?“

„Gebongt.“

„Foto vom Lover?“

„Judy!“

„Wenigstens von seinem …“

„JUDY!“

Ihre Freundin lachte laut. „War nur ein Scherz. Kondome hast du aber?“

„Natürlich!“ Zur Sicherheit warf Mia rasch noch einmal einen Blick in ihre Handtasche, die sie gleich mit ins Bad genommen hatte. Da waren sie – immer noch an Ort und Stelle. Einige. Nicht dass sie glaubte, sie alle benutzen zu müssen … dürfen? Aber besser zu viele als zu wenige, oder?

„Okay, mehr fällt mir jetzt auch nicht ein“, gab Judy zu. „Ich drücke dir die Daumen, dass dein heißer spanischer Callboy …“

„Er ist nicht unbedingt Spanier“, unterbrach Mia sie und die Aufregung wallte erneut in ihr auf. „Die Agentur gehört einer Amerikanerin. Daher arbeiten dort auch einige US-Bürger. Aber auch Deutsche, Spanier, Franzosen …“

„Wunderbar“, wurde auch sie ungeduldig unterbrochen. „Also, ich wünsche dir, dass dein multikultureller Gigolo saumäßig gut aussieht und es dir richtig gut besorgt …“

„Judy …“

„… auch wenn es eher unwahrscheinlich ist, dass du entspannt genug für ein supertolles erstes Mal bist.“

„Danke.“

„Nun, man muss bei allem Spaß doch realistisch bleiben und es ist ja nun nicht so …“

„Oh, verdammt! Ich bekomme gerade einen Anruf rein!“, log Mia schnell. „Tut mir leid – ich muss auflegen. Ich melde mich, wenn alles vorbei ist.“

„Aber …“ Mehr konnte Judy nicht hervorbringen und Mia seufzte erleichtert, als sie das Handy zurück in die Handtasche steckte.

Sie brauchte ihre beste Freundin nicht, um sich verrückt zu machen. Das schaffte sie auch allein. Als Realistin war sie sich durchaus bewusst, dass ihr erstes Mal mit Sicherheit nicht supertoll und romantisch werden würde – auch wenn ihr am Telefon genau das versprochen worden war. So hatte sie versucht, sich auf ‚ganz nett‘ einzustellen, um am Ende nicht zu enttäuscht zu sein, und damit ihre Aufregung erfolgreich auf ein Minimum reduziert. Es kam nur darauf an, das erste Mal hinter sich zu bringen, um danach offener und weniger kritisch auf Männer zugehen zu können; die sexuellen Abenteuer zu finden und zu genießen, von denen alle anderen immer so schwärmten. Ihr … ‚Date‘ sollte lediglich ihre Hemmschwelle für immer niederreißen – auf möglichst angenehme Art und Weise und das war doch nun wirklich kein extravaganter Wunsch.

‚Ansehnlich‘ war der aus ihrer Sicht ebenso bescheidene Anspruch für das Äußere ihres ‚Dates‘ gewesen (auch hier war ihr versichert worden, dass in der Agentur nur Beaus arbeiteten), ‚höflich‘ und ‚charmant‘ für sein Auftreten. Dass gerade die Pünktlichkeit zu einem Problem werden würde – damit hatte sie ja nicht rechnen können, sonst hätte das gleich ganz oben auf ihrer Liste gestanden.

Mia warf einen weiteren Blick auf ihre Armbanduhr. fünfzehn Minuten Verspätung. Das ging noch einigermaßen, aber wenn der Mann über das akademische Viertel hinausging, konnte er sich das Trinkgeld schon mal abschminken. Egal, wie gut er aussah und wieviel Mühe er sich dann bei seinem eigentlichen Job gab!

Planlos

Mit katzenhafter Geschmeidigkeit schlich der junge, äußerst gutaussehende Mann den mit einem dicken Teppich ausgelegten Flur entlang. Trotz seiner Eile war er vorsichtig und die Ruhe selbst – ein Profi durch und durch. Lautlos und elegant bewegte er sich auf eine der Türen am Ende des langen Ganges zu, schob eine Schlüsselkarte geräuschlos in den zugehörigen Schlitz und wartete auf das einzige Geräusch, das er nicht würde vermeiden können: das leise Piepen, das die Akzeptanz der Karte ankündigte und das Schloss öffnete.

Stattdessen ertönte ein lautes ‚Nöööööt‘ und Chris zuckte erschrocken zurück. Weder beim zweiten noch beim dritten Versuch öffnete sich die verdammte Tür und auch heftiges Ruckeln beschied ihm keinen Erfolg. Entnervt sah er sich um und dann wieder auf die goldene Nummer an der dunklen Holzfront. 613. Das war doch der richtige Raum.

Dummerweise befand sich auf der Karte selbst keine weitere Nummer, doch die brauchte ein Talent wie er ja auch nicht. 613. Ganz simpel. Der 6.1. war der Geburtstag seiner Tante Martha, die einzige seiner entfernteren Verwandten, die er richtig mochte. Und aller guten Dinge waren 3 … oder stand die für die Anzahl der Kinder in seiner Familie? War es überhaupt die 3 gewesen? Oder hatte Martha am 1.6. Geburtstag? Oder am 3.1.? 3.6.? 1.3.? Überhaupt an einem dieser Tage? Vielleicht war es auch das Jahr gewesen? `61? War sie echt schon so alt? 

Ruhig bleiben. Nichts davon war jetzt wichtig. Er musste sich an die Zimmernummer erinnern, die korrekte Eselsbrücke, die er sich gebaut hatte, die so unglaublich clever war … dass er sie glatt vergessen hatte. Lieblingsfilm? Frühstück? Superbowlgewinner? Nein, nein … er war ganz sicher, dass es Tante Marthas Geburtstag war. Oder? Vielleicht sollte er ihr kurz simsen? Klar, damit sie wieder sauer auf ihn war, falls er ihren Geburtstag doch schon wieder verpasst haben sollte.

Normalerweise hätte er eine Art Master Keycard gehabt, mit der er in jedes Hotelzimmer hereinkam, doch diesmal war das nicht der Fall. Miguel, sein Partner für den Job hier, war zu unfähig gewesen, ihm so etwas zu besorgen – oder er hatte es nicht gewollt, weil Chris damit sehr viel unabhängiger und im Notfall dazu in der Lage gewesen  wäre, auch ohne ein weiteres Treffen mit ihm aus dem Hotel zu kommen. Davon abgesehen hätte ihm diese Art Karte jetzt auch nichts genützt, weil er sich einfach nicht an die verdammte Raumnummer erinnern konnte und dass irgendein beliebiges Zimmer a) leer und b) Herrenkleidung in seiner Größe nebst dunkelhaariger Perücke vorrätig hatte, war auch etwas utopisch.

Er könnte einen der Zimmerservicekellner oder Pagen k.o. schlagen und sich dann dessen Kleidung anziehen. Genau. Eine dieser schlaksigen Gestalten, die er bis jetzt zu Gesicht bekommen hatte und von deren Uniformen er vermutlich zwei brauchen würde, um auch nur annähernd genügend Stoff am Körper zu haben. Genaugenommen war es einer gewesen, der ihm bisher über den Weg gelaufen war. Ein Kellner. Und der war dünn gewesen. Nicht wie er selbst, mit seinen breiten Schultern und seiner beneidenswert muskulösen Figur … was? Nur weil er keinen Eightpack hatte, hieß das noch gar nichts. Die waren irgendwie eklig und schrien geradezu Angeber. Er war nichtsdestotrotz durchtrainiert und super fit.

Der kleine Sprint die drei Stockwerke hinauf hatte ihn keineswegs aus der Puste gebracht. Sein Keuchen war vielmehr der Gesamtsituation zuzuschreiben. Dem Stress, unter dem er stand. Was man halt so durchmachte, wenn man zu überleben versuchte. Dinge, wie massiv bei der Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit gestört zu werden (Wie konnte man als Zimmermädchen das Bitte-nicht-stören-Schild an der Tür übersehen?) und es somit an Professionalität mangeln lassen zu müssen (indem man aus Panik vor den herannahenden Security-Kräften auf den falschen Balkon – nämlich den mit der nackten Frau – sprang, die dann auch noch laut zu kreischen anfing); nach oben statt nach unten zu laufen – etwas, das ihn nicht erst seit ‚Scream‘ in jedem Teeniehorrorfilm wahnsinnig machte, ganz zu schweigen davon, wenn man selbst dazu gezwungen wurde, so wie gerade eben.

Aber was hieß schon ‚gezwungen‘? Es war eine geniale Idee gewesen – abgesehen davon, dass er ohnehin nach oben musste. Äußerst genial! Patentwürdig! Wieso? Weil keiner damit rechnete, dass er einen Umweg zum Ausgang nahm und eher zwei Stockwerke weiter hoch als vier nach unten rasen würde. Und nicht einmal den Fahrstuhl nahm … der nicht gekommen war, weil vermutlich wieder irgendwelche verwöhnten, überkandidelten, weiblichen Hotelgäste noch Stunden vor dem Spiegel verbrachten, während ihr Anhang schon mal unbedingt den Lift holen sollte, damit sie ja die Ersten am Buffet sein würden; um sich dann mit einem halben Salatblatt ohne Dressing einzudecken. Ja, das waren die wahren Probleme. Was verstand er schon davon, hier, allein, auf der Flucht, in Lebensgefahr?!

Und wieso wurde er überhaupt so bestraft? Er hatte doch nichts anders gemacht als sonst. Wie viele andere Menschen war auch er mit dem Klingeln des Weckers aufgestanden, hatte geduscht, gefrühstückt, sich angezogen und dann auf den Weg zu seinem Arbeitsplatz gemacht, dort seinen Job zu aller Zufriedenheit erledigt (immerhin hatte er das Säckchen mit den Diamanten ja sicher in seiner Jackentasche verwahrt) und hätte nun allmählich seinen wohlverdienten Feierabend antreten sollen. Gut, so ganz zu aller Zufriedenheit war es ja, wie gesagt, nicht gewesen, denn er war fast erwischt worden, doch was zählte, war das Ergebnis, der Abschluss seines Projektes: die Übergabe und somit die Bezahlung.  

Hierzu musste er jedoch zunächst aus diesem Gebäude heraus. Und zwar nicht in Handschellen. Allein die Hintersitze der lokalen Polizeiwagen waren schon mehr als unbequem, ganz zu schweigen von ihren total überfüllten Gefängnissen. Noch viel weniger strebte er danach, von Lamperts Gorillas erwischt zu werden, denn dann verließ er das Hotel wohl eher in horizontaler Lage, umhüllt von einem schwarzen Plastiksack. Schlimmstenfalls. Bestenfalls auf der Liege eines Krankenwagens, angeschlossen an lebenserhaltende Geräte.

Ein lautes Geräusch hinter ihm ließ ihn herumfahren, doch es war nichts zu sehen. Dem lauten Fluchen nach zu urteilen war einem der Zimmermädchen der Putzwagen umgekippt. Gern hätte er den Gentleman gespielt und Hilfe angeboten, doch er musste weiter.

*klick*

*nööööööt*

Auch die 631 öffnete sich nicht. Aus lauter Verzweiflung steckte er die Karte in den Schlitz an der gegenüberliegenden Tür, die sich genau im gleichen Moment öffnete.

Ein großer, bärtiger Mann um die Fünfzig starrte wütend auf ihn herab.

Chris schluckte, schaltete blitzschnell um und hickste dann. Das leichte Wanken in Richtung des Mannes, das diesen einen Schritt zurück machen und die Hände zur Abwehr heben ließ, war seiner Meinung nach eine Glanzleistung.

„Wwaas, isses au nichs Klohoo?“, lallte er und riss seine Augen auf, wie um den Mann vor sich besser zu erkennen. „Sssorry, Kumbl, gaab Freibiier anna –“

Ohne ein weiteres Wort wurde die Tür wieder zugeknallt und der ‚Betrunkene‘ sofort wieder ‚nüchtern‘.

Scheiße, Scheiße, SCHEIßE! Wo zum Henker war das verdammte Zimmer?!

„Chris, du Vollidiot!“, murmelte er in seinen nicht vorhandenen Bart hinein und wollte gerade genervt den Kopf gegen die Wand lehnen, als er von rechts her eine Tür aufgehen hörte, vermutlich die zum vorderen Treppenhaus, gefolgt von eiligem Fußgetrappel. Geistesgegenwärtig hechtete er  durch die Gott sei Dank offenstehende Tür des Putzraumes hinter sich und schloss sie dann leise. Seine Finger legten sich eisern um den Türknopf. Keine Sekunde zu früh; denn nur eine halbe Minute später wurde daran gerüttelt, dann entfernten sich die Schritte wieder und die Tür zum hinteren Treppenhaus fiel kurz darauf ins Schloss.

Auch wenn kein Wort gefallen war, Chris vermutete, dass man nach ihm suchte. Lampert hatte mit Sicherheit bereits das ganze Hotel aufgescheucht und nun hielt man nach jedem Ausschau, der nicht zum Personal gehörte und sich verdächtig verhielt. Mit ein und derselben Karte zu versuchen verschiedene Zimmertüren zu öffnen, gehörte auch aus seiner Sicht eindeutig dazu. Vielleicht war es besser, doch ohne Verkleidung weiterzulaufen, so zu tun, als würde man zu den Gästen gehören. Viel hatten Lamperts Gorillas ja nicht von ihm gesehen, als er über den Balkon entkommen war – so hoffte er zumindest – und konnten wahrscheinlich nur die Größe, Haarfarbe und Kleidung beim Hotelpersonal bekanntgeben.

Gut, er war mit seinen ein Meter achtundachtzig schon größer als die meisten, aber dunkelblondes, kurzes Haar hatten viele. Und er trug auch keine außergewöhnlichen Klamotten: Jeans, T-Shirt, braune Lederjacke, Sneaker (die waren immer so schön lautlos). Im Großen und Ganzen unauffällig. Absichtlich. Mit schwarzer Kleidung, Handschuhen und Strumpfmaske hätte er wohl kaum unbemerkt das Hotel betreten können. Zumindest nicht am helllichten Tag.

Verkleidung musste daher vielleicht gar nicht sein, um sich raus zu schleichen. Er ging, wie er gekommen war: als Gast durch den Hotelausgang, entspannt und locker. Vermutlich hatte Miguel ohnehin nur die billigste Ausbeute aus dem nächsten Karnevalsbedarfsladen besorgt oder gar selbst irgendeinen riesigen, Poirotähnlichen Schnauzer zusammengeklebt, der förmlich ‚Fake‘ schrie. Beim nächsten Mal musste er sich dringend nach einem fähigeren Partner umsehen, sonst litt noch sein guter Ruf und der war in seiner Branche das A und O. Niemand engagierte einen schlechten Dieb – wenn er diesen Terminus auch nicht besonders mochte. Er war viel mehr ein Einbrechkünstler, ein Mann für gewisse Arbeiten, für die andere zu ungeschickt oder sonst wie unfähig waren. Und er war gut. So gut, dass man in bestimmten Kreisen seine Nummer mit Ehrfurcht unter der Hand weiterreichte und er mittlerweile aus einer Vielzahl von Angeboten auswählen, manche Jobs sogar mit einem arroganten Lächeln ablehnen konnte. Ein schlechtes Gewissen hatte er bezüglich seiner Arbeit nicht.  Er erleichterte ja nun nicht gerade die Armen um ihren Besitz.

Zweifelsohne war das eine recht simple Einstellung zu den Dingen, aber mal ernsthaft: es gab so viele Leute, die andere vollkommen legal betrogen. Politiker zum Beispiel oder Banker. Nicht alle, aber einige. Im Gegensatz zu denen besaß er selbst ein Höchstmaß an moralisch richtigen Wertvorstellungen. Er war quasi ein moderner Robin Hood. Er nahm von den Reichen und gab den Armen. Dem Armen. Also sich selbst. Hm, wobei das langsam auch nicht mehr ganz stimmte. Dazu hatte er in den letzten Jahren zu gut verdient. Aber er hatte ja ohnehin schon überlegt, nach diesem Job aufzuhören, die Beine hochzulegen und sein Leben zu genießen. Mit einer halben Million Euro konnte man es sich eine ganze Weile gut gehen lassen und das Haus … vielleicht konnte das ja noch ein bisschen warten. Er musste nur raus aus diesem verfluchten Hotel, seinen Auftraggeber wie abgesprochen in La Orotava treffen, ihm die Ware übergeben und Bingo!

Chris lauschte an der Tür. Draußen war nichts mehr zu hören, aber er traute der Ruhe nicht und die Vorstellung, so wie er war, mit den Diamanten in der Tasche, durch die Lobby zu spazieren – nein, die wollte ihm doch nicht so richtig behagen, selbst wenn er bei seiner Flucht nicht sonderlich gut erkannt worden war.

Ein kurzer Rundumblick bestätigte, dass sich auch in der Putzkammer nichts befand, womit er sein Aussehen verändern konnte, wollte er nicht als Geist mit einem weißen Laken für Aufregung sorgen. Wäre dies ein Film gewesen, dann hätte er sicher zuuufällig ein perfekt passendes Outfit gefunden, doch so musste er sich, wie er war, wieder nach draußen wagen, ganz ohne spannende Hintergrundmusik und Zeitlupenbewegungen.

Glücklicherweise war von potentiellen Verfolgern tatsächlich nichts zu sehen. So setzte er seinen Weg fort und beschloss, es wenigstens noch ein paar Mal mit der Karte zu probieren – zur Sicherheit, falls man ihn doch deutlicher gesehen hatte, als er hoffte. Vielleicht hatte er beim nächsten Zimmer Glück, wenn nicht, würde er es entweder im dritten Stock versuchen oder hoffen, dass er doch durch einen der Seiteneingänge verschwinden konnte, noch bevor hier eine ganze Armada auf der Suche nach ihm anrückte.

 

Besser spät als nie

Mia war nie besonders gut darin gewesen, sich an vorgeschriebene Handlungsschritte zu halten – selbst wenn sie diese eigenhändig erstellt hatte. Sie besaß das großartige Talent, ganz genaue Pläne zu entwickeln, aber diese detailgenau auszuführen, daran haperte es stets. Auch wenn sie immer zum Ziel kam, das ‚Wie‘ machte ihr große Probleme. Ob nun durch Schusseligkeit, schicksalhafte Fügung oder den inneren Schweinehund, der sich dickköpfig durchsetzte – viel zu oft liefen die Dinge ganz und gar nicht so, wie sie diese bis ins kleinste Detail geplant hatte. Meist ärgerte sie das mehr als jeden anderen, tauchten diese Schwierigkeiten doch fast ausschließlich in ihrem Privatleben auf.

Nicht noch einmal vor die Tür zu gehen, um nach ihrem unzuverlässigen ‚Date‘ zu sehen, und stattdessen bei der Agentur anzurufen, war eigentlich eine gute Idee gewesen. Nur wollte ihr Bauch nicht so wie ihr Verstand (der ihr versicherte, dass sie auf keinen Fall einen übermäßig bedürftigen Eindruck bei der Bürokraft der ‚Amors Hilfe‘ machen würde) und zwang sie regelrecht dazu, die Tür zu öffnen und ungeduldig in den leeren Flur zu spähen.

Ups – so leer war er dann doch nicht. Das ältere Paar von gegenüber war zurück und machte sich gerade (schon wieder oder immer noch?) auf den Weg wohin auch immer und konnte es sich nicht verkneifen, sie kritisch zu mustern. Mia brachte zumindest ein knappes Nicken und Zucken der Mundwinkel zustande, dann wurde ihr Blick von einer Bewegung am Ende des Flures abgelenkt.

Mann. Anfang, Mitte dreißig.

---ENDE DER LESEPROBE---