Carmen und die Farben des Regenbogens - Eva Hardt - E-Book

Carmen und die Farben des Regenbogens E-Book

Eva Hardt

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Beschreibung

Carmen hatte sich verliebt. In den schwulen Mann, den sie an diesem Tag erst zum zweiten Mal sah und der ihr bester Freund werden sollte! Wie hatte das passieren können? Sie spürte in der Sekunde, als er nach ihrer Hand griff, wie sich seine Hände auch bittend um ihr Herz legten. Und ihr Herz wurde groß und weit und begann sich zu teilen. Vertrauensvoll schmiegte sich die eine der zwei Hälften in die geöffneten Hände, die sich augenblicklich beschützend darum schlossen, um es für immer mit sich fort zu tragen … Was Carmen zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen konnte: Er brachte es ihr nie wieder. Und sie forderte es nie zurück. Sie startet ein unkonventionelles Experiment, mit dem sie sich auf eine emotionale Achterbahnfahrt begibt. Eine regenbogenbunte Geschichte über das Leben.

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Seitenzahl: 709

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Inhaltsverzeichnis

Impressum 2

Vorwort 3

Sie 7

Vergangenheit 16

Achtzehn Stunden 22

Alex 36

Weihnachten 49

Es ging los 57

Im Zeichen der roten Schleife 67

Fantasie 88

Maskenball 104

Schillernde Seifenblasen 121

Es tat weh 147

Das Telefonat 161

Zerspringende Seifenblasen 185

Die Anzeige 204

Der Brief 215

Ganz oder gar nicht 227

Es tat mehr weh 246

Die Regenbogenfahne 259

Violett 282

Zweifel 306

Die Farben des Regenbogens 319

Schmerzen 330

Blau 342

Grün 357

Gelb 372

Orange 386

Rot 401

Qualen 421

Magie 438

Lars 465

Wahrheiten 479

Marcel 498

Es geht weiter … 511

Niemals geht man so ganz … 531

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2020 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-903861-12-1

ISBN e-book: 978-3-903861-13-8

Lektorat: Mag. Eva Reisinger

Umschlagfotos: Chakrapong Worathat, Ys1982, Vadym Plysiuk, Sawitree Pamee, Gianni Ritschard, Dhujmontra | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Vorwort

Was mich heute, um genauer zu sein, soeben, dazu bewogen hat, das fünf Jahre alte Manuskript aus den Untiefen meines Kleiderschrankes auszugraben, vermag ich im Nachhinein gar nicht mehr zu sagen. Ich hatte weder die dafür erforderliche Zeit oder Muße, noch die Ruhe, mich diesen vertrauten Zeilen zu widmen. Und dennoch hat mich irgendein Gefühl dahin geleitet, es einfach zu tun.

Meinem inneren Drang folgend ignorierte ich mein alltägliches Chaos, um für viele Stunden in eine Welt zu versinken, die, so schien es mir, vor einer halben Ewigkeit in der Vergangenheit verschwunden war.

„Die Farben des Regenbogens“ sollte ursprünglich der vielversprechende Titel dieses vor mir liegenden Papierberges sein. Welch irreleitende Überschrift – ging mir dabei kritisch durch den Sinn.

„Die Farben des Regenbogens“ klingt nach längst vergangenen, schillernden Zeiten. Nach einer großartigen Story, schmalzig – triefend vor Liebe, Lust und Leidenschaft.

Gegebenenfalls sogar nach Drama und Intrigen. Eine Überschrift, die sicherlich jedem Epos und jeder Familiensaga gerecht geworden wäre. Möglicherweise auch nach einem Buch mit tausend Seiten Spannung, Herzschmerz und mit allem ausgerüstet, was ein sehnsüchtiges Leserherz höherschlagen lässt. Das bestenfalls nach Fortsetzung giert. Doch das ist es nicht.

Es ist lediglich die Aufzeichnung einer früheren Freundin von mir. Die „FAST“ authentische Aufzeichnung einer jungen Frau von heute, ohne Thrill und Pomp. Ein peppiger, unterhaltsamer Tatsachenbericht, aufgeschlossen und dem heutigen Zeitgeist entsprechend.

Sie lässt uns an einem kleinen Teil ihres damaligen Lebens teilhaben, der kaum mehr als zwei Jahre betrug.

Wenn ich heute über sie nachdenke, tut es mir beinahe leid, dass sie mir so fremd geworden ist.

Es ist in der Vergangenheit zu viel passiert, als dass ich mir vorstellen könnte, ihr jemals wieder zu begegnen. Abgesehen davon gibt es auch in meinem Leben Dinge, die dies nicht mehr möglich machen würden, selbst wenn ich es wollte.

Genug der Melancholie.

Wo war ich stehen geblieben?

Ach ja, bei dem Titel, den sie sich damals für ihre Aufzeichnungen überlegte.

Ich mag kühl, vielleicht sogar ungnädig klingen, aber um es auf den Punkt zu bringen: kein anderer Titel wäre so gekonnt am Inhalt ihrer Aussagen vorbei geschlittert wie dieser.

Ob ich eine bessere Idee habe? Nein, ehrlich gesagt nicht.

Als ich eben ihre Zeilen las, stellte ich zum ersten Mal bewusst fest, dass diese so nicht stimmten. Nicht alle jedenfalls.

Ich weiß, dass meine frühere, engste Vertraute damals ihre eigene Lebensgeschichte verfasste. Sie ist durchzogen von intensiven Gefühlen, dem Glauben an Gott und an Dinge zwischen zwei Menschen, die sich nicht unbedingt mit rationalem Menschenverstand erklären lassen.

Eigentlich eine schöne, mitunter nachdenklich stimmende Geschichte. Aber eben auch nur eigentlich.

Warum meine Bekannte nicht die ganze Wahrheit geschrieben hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Sie wird nicht vorsätzlich gelogen haben, dessen bin ich sicher. Vielleicht flüchtete sie sich damals in ihre Traumwelt und war gar nicht mehr dazu in der Lage, die Realität von der Fantasie zu unterscheiden.

Da meine Freundin bis heute die Möglichkeit nicht nutzte, ihre Zeilen zu berichtigen, fühle ich mich inzwischen verpflichtet es zu tun.

Ich bin es ihr schuldig. Schuldig deshalb, weil nur ich ihre echte Geschichte und somit die Wahrheit kenne.

Als sie mich damals darum bat, ihre Zeilen für sie aufzubewahren, habe ich ihr gedankenlos zugestimmt. Es war ein Freundschaftsdienst meinerseits, von dem ich mich nicht veranlasst sah, ihn abzulehnen.

Im Nachhinein erschreckt mich die Gleichgültigkeit, mit der ich ihren dokumentierten Lebensabschnitt zwar las, ihn aber dann in meinem übervollen Kleiderschrank verstaute.

Als ich mich eben ihrem Werk widmete, fragte ich mich betroffen, ob ihr wohl jemals bewusst war, dass sie mir einen ihrer größten Schätze anvertraut hatte. Ich glaube nicht.

Ich merke, dass ich schon wieder unsachlich werde.

Damals las ich mir ihre Geschichte mehrfach durch. Als Leser, als Freundin, als Kritikerin, doch irgendwann kannte ich sie, sie wurde uninteressant und ich legte sie weg. Bis heute.

Merkwürdig, dass es mich nie störte, dass ihre Worte nicht der Wahrheit entsprachen. Im Nachhinein, glaube ich, ist es mir damals nicht einmal aufgefallen.

Vermutlich war auch ich genauso wenig wie sie in der Lage zu erkennen, was vor vielen Jahren tatsächlich geschah und was nicht.

Wenn es etwas Bemerkenswertes an ihrem Werk gibt, so sind das sicherlich die sechs Wochen, in denen sie wie eine Besessene ihre Zeilen niederschrieb.

Vielleicht auch noch ihre ungewöhnliche Motivation.

Dieses Buch war damals ein Geschenk. Ein Geschenk an den Mann, den sie liebte.

Als er dieses Buch von ihr erhielt, verstand er es nicht.

Sie verfolgte mit ihren Zeilen eine Absicht.

Wenn man mich heute fragt, eine ungeheuerliche Absicht.

Aber so war sie nun mal, meine damalige Freundin …

Ein bisschen schäme ich mich dafür, damals von ihrer Absicht gewusst zu haben, ohne dass ich versuchte daran etwas zu ändern. Sie hätte mich dafür gehasst. Und das wollte ich nicht.

Vielleicht glaubte ich auch nicht an eine andere Alternative. Ich weiß es nicht mehr.

Es ist seltsam, wie das Leben manchmal so spielt.

Mitunter scheint es pure Ironie zu sein, die sich, einem lebenden Wesen ähnlich, verselbstständigt.

Das Tragische an diesem Phänomen ist, dass man ihm machtlos ausgeliefert ist. Man hat nicht die geringste Chance, selber Einfluss zu nehmen, um es zu ändern, aufzuhalten, oder sogar zu entkommen.

So wie bei ihr.

Sie

Sie sah erwartungsvoll auf.

Das Gesicht, das ihr zugewandt war, kannte sie kaum.

Es war ein schmales Gesicht, umrahmt von stufigen, nackenlangen, dunkelblonden Haaren. Das Haar glänzte voller als gewöhnlich. Grün-braune Augen blitzten sie zufrieden, aber nicht glücklich an.

Wusste sie doch, dass es Zeiten gegeben hatte, in denen die Augenlider rot geschwollen waren vom vielen Weinen und die Augenringe noch dunkler waren als normal.

Die Augen, die sie im Moment mit einer Mischung aus Erstaunen und Neugierde musterten, verzogen sich zu einem freundlichen Lächeln.

Die hohen Wangenknochen wirkten durch einen ungewohnt rosigen Schimmer frischer und voller und waren das Markanteste an dem schmalen, ovalen Gesicht.

Wenn man kritisch über die Gesichtszüge nachdachte, hätte man sie als durchschnittlich nett empfunden. Mit dem Gebrauch von Make-up war die Verwandlung jedoch echt erstaunlich. Die leicht geschwungenen Lippen glänzten und über dem linken Nasenflügel glitzerte je nach Lichteinfall ein kleiner Nasenstein. Sie zuckte zusammen und wandte das Gesicht ab, als eine kleine, energische Bewegung in ihrem Bauch sie darauf hinwies, dass es da noch jemanden gab, der ihre Aufmerksamkeit verlangte.

Sie lachte liebevoll auf und ließ sanft die Hände über ihren stark gewölbten Bauch gleiten, ehe sie ihren Blick wieder hob.

Das Gesicht, das sie eben so intensiv betrachtet hatte, war ihr eigenes.

Es war lange her, dass sie sich so kritisch und aufmerksam in dem ovalen, direkt an der Wand hängenden Kristallspiegel ihres Badezimmers gemustert hatte.

Sie empfand sich fremd und vertraut zugleich.

Die Ereignisse der vergangenen zweieinhalb Jahre hatten sie und ihre äußere Erscheinung geprägt.

Dafür, dass ihr Leben so verlaufen war, hatte sie sich ganz gut gehalten, fand sie.

Sie grübelte darüber nach, ob man ihr irgendwann die Vergangenheit mit all dem Nichtbegreifenkönnen an den Gesichtsfältchen ablesen können würde. Wahrscheinlich schon. Ungeachtet dieser ernüchternden Feststellung zuckte sie mit den Schultern. Ändern konnte sie es so oder so nicht.

Sie würde darüber nachdenken müssen, zukünftig größere Investitionen in ihre Gesichtspflegeprodukte zu tätigen. Das wurde auch Zeit, schließlich feierte sie Ende des Jahres ihren dreißigsten Geburtstag.

Sie stellte belustigt fest, dass solche Gedankengänge jedenfalls nicht dazu beitrugen, sie jünger aussehen zu lassen.

Die Nase krausziehend warf sie ihrem Spiegelbild einen undefinierbaren Ziegenblick zu, streckte die Zunge heraus und kicherte über ihr albernes Verhalten.

In diesem Augenblick bekam er Schluckauf.

Es war ganz deutlich zu spüren.

Sein Köpfchen lag schon seit Wochen im Becken, Richtung Geburtskanal. Kurz über ihrem Schamhaar fühlte sie das regelmäßige Hicksen ihres ungeborenen Babys.

Sie ließ den Blick langsam ihren Körper hinuntergleiten. Ihre in der Vergangenheit nie sehr üppigen Brüste waren seit Beginn der Schwangerschaft rund und prall, ähnlich zweier Apfelsinenhälften, nur glatter. Zwischendurch schmerzten sie, aber schöner hatten diese noch nie ausgesehen. Eigentlich hoffte sie, dass bereits vor der Entbindung etwas Milch austreten würde, aber so sehr sie auch massierte und streichelte, ihre Formen dachten gar nicht daran, ihrem Willen nachzugeben.

Zwei ihrer Freundinnen, ebenfalls schwanger, hatten ihr diesen Punkt voraus. Sie wünschte sich, dass sie stillen konnte.

Unter ihren Wunderbrüsten wölbte sich der kugelrunde, tiefsitzende Babybauch so stark, dass sie nur noch mit größter Mühe und kriminellsten körperlichen Verrenkungen ihre Zehenspitzen sehen konnte. Nicht einmal den Ansatz ihres weißen Spitzenslips entdeckte sie unter ihrem Bauch. Lediglich ihre von Natur aus runden Hüften präsentierten den Traum aus weißem Stoff. Sie hielt nichts von Umstandsmode, geschweige denn von Schwangerschaftswäsche. Sie war stolz darauf, hochschwanger zu sein und dachte gar nicht dran, ihren runden Körper in Umstandsmode einzuhüllen. Ihre schöne Wäsche gefiel ihr. Warum sollte sie davon abweichen?

Im Gegenteil. Gerade im Augenblick unterstrich die Wäsche ihre nur allzu weiblichen Formen. Schöner und fraulicher als in den vergangenen Wochen hatte sie noch nie ausgesehen. Ihre Hände glitten über den festen, unnachgiebigen Bauch, dessen Haut vom vielen Eincremen noch weicher geworden war.

Sie hatte kein Glück.

Ihre Haut war in den vergangenen zwei Wochen, besonders oberhalb ihres Bauchnabelpiercings, leicht eingerissen. Es machte sich mit einem leichten Kribbeln der betroffenen Hautpartien bemerkbar. Trotz dieser unerfreulichen Tatsache war sie froh darüber, das Bestmögliche dagegen unternommen zu haben, indem sie sich regelmäßig eincremte. Dieser Einsatz sorgte zumindest dafür, dass sich das Ausmaß dieser mittleren Katastrophe im Rahmen hielt. Die ersten sechs Monate ihrer Schwangerschaft nahm sie ein Kilo pro Monat zu, da sie allerdings seit drei Monaten bettlägerig krankgeschrieben war und beinahe zeitgleich mit der Schwangerschaft das Rauchen aufgehört hatte, konnte sie die mäßige Gewichtszunahme nicht halten und legte nochmals elf Kilo oben drauf.

Sie war zwar nicht stolz darauf, aber es störte sie auch nicht. Nach der Entbindung gab es schließlich noch genug Zeit, daran wieder etwas zu ändern.

Die Haut unter ihren Fingern fühlte sich warm und pulsierend an. Ihre Finger suchten den kleinen Einstich, an dem der Titanring ihren Bauchnabel schmückte. Ihr war nie in den Sinn gekommen, ihn zu entfernen, obwohl er die wenige Haut über dem Schmuckstück fast bis zum Zerreißen spannte. Er gehörte seit Jahren zu ihr. Genauso wie die besenfliegende, tätowierte Hexe, die ihre linke Hüfte zierte und sie freundlich charakterisierte. Es amüsierte sie, dass das Bild proportional mit ihren Umständen in die Breite wuchs, als sei es auch schwanger.

Unvermittelt rieselte ihr ein kurzer Schauer über den Rücken, als ihr etwas bewusst wurde.

Eigentlich war sie angekommen.

Angekommen an einem Ziel, von dem sie nie wirklich geglaubt hatte, es jemals zu erreichen. Wenn die Geschichte dazu auch eine ganz andere war als sie es sich gewünscht hatte.

Gott schien es gut mit ihr gemeint zu haben.

Wenn sie in der Vergangenheit auch nicht immer gleich in der Lage war, dies zu erkennen. Die größte Frage blieb, warum er ihr einen Menschen geschickt hatte, der einfach wieder aus ihrem Leben verschwunden war, als hätte es ihn nie gegeben. Und wie zum Ausgleich beschenkte er sie mit einem Kind, das laut errechnetem Geburtstermin übermorgen, am 25. 06. 1998, das Licht der Welt erblicken sollte.

Mit energischem Kopfschütteln streifte sie die aufkommenden Gedanken wieder ab und griff nach ihren Anziehsachen.

„Hexe!“, rief sie nach ihrer kleinen, zierlichen Hündin.

Der angebliche Dackel-Yorkshire-Mischling, der farblich eher ein Cockerspaniel werden wollte, war ausgesprochen hübsch. Ihr helles, gold-blondes Fell glänzte, wenn die Sonne darauf traf. Die Ohren und die Brust zierte ein blonder Flaum und gab ihrem Aussehen etwas Babyhaftes.

Sie hatte die Hündin vor ziemlich genau zwei Jahren in Folge eines Inserates in einem städtischen Anzeigenblatt bei einem merkwürdigen Züchter in Leverkusen entdeckt, sich augenblicklich in den Vierbeiner verliebt und ihn mit nach Hause genommen.

Auf ihr Rufen hin wetzte die kleine Hündin auf sie zu und stemmte erst kurz vor ihren Füßen die krummen Beinchen in den Boden, um auf den Fliesen ihres Badezimmers noch ein wenig näher an sie heran zu rutschen. Der Schwanz wedelte in freudiger Erwartung des kommenden Spazierganges.

Treues Seelchen, ging ihr liebevoll durch den Sinn, bevor sie ihr vierbeiniges Energiebündel festhielt, um die Leine am Halsband zu befestigen.

Hexe war anhänglich bis zum Umfallen, lieb und immer für sie da. Der Hund sprang übermütig an ihr hoch.

Ihr Temperament kostete sie gerade in der letzten Zeit viel Nerven.

Umso mehr, je unbeweglicher sie durch ihre Schwangerschaft wurde. Dennoch kam ihr nie in den Sinn sich von der Hündin zu trennen. Der Vierbeiner würde lebenslänglich ihr Begleiter sein.

Sie hob das ungeduldige Fliegengewicht auf ihre Arme und trug es, um den langen, schlanken Rücken zu schonen, die endlos vielen Stufen des Altbaus hinunter, in dem sie seit wenigen Monaten wohnte.

Hochschwanger verfluchte sie bereits viele Male, sich vor Wochen ausgerechnet diese Dachgeschosswohnung ausgesucht zu haben. Die Stufen hatten sie damals weder gestört noch interessiert. Schließlich war sie schwanger, würde alleinerziehend sein, besaß eine Katze und einen Hund und war froh, einen Vermieter gefunden zu haben, der mit ihren Lebensumständen keine Schwierigkeiten hatte.

Ihr war bewusst, dass das, auch noch in der heutigen Zeit, keineswegs selbstverständlich war.

Sie sah sich zwar verschiedene Wohnungen an, doch diese gefiel ihr mit Abstand am besten. Die Wohnung passte zu ihr. Besonders schön waren die Schrägen in jedem Raum, sowie das Schlaf- und Kinderzimmer. Beide Räume liefen, getrennt durch eine Wand, fast dreieckig aufeinander zu.

Sie mochte außergewöhnliche Raumformen. Also griff sie zu, als sie ihre Chance bekam.

In den vergangenen Tagen hatte sich der Frühsommer eingestellt. Es war sonnig, angenehm warm und die Temperaturen pendelten sich zwischen dreiundzwanzig und fünfundzwanzig Grad ein.

Sie zog sich luftig an, schlüpfte in ihre weißen Leinenlatschen, streifte sich ein weites, langes Sommerkleid über und vervollständigte ihr Outfit mit einer kurzen Jeansjacke, aus der ihr Kugelbauch herausragte.

Anschließend machte sie sich auf in den sommerlichen Juniabend.

Nicht weit von hier befand sich eine Gartensiedlung, die, je nach Jahreszeit, unterschiedliche Stimmungen in einem hervorrief. Sie mochte diesen Flecken Erde, der, sobald sie ihn durchstreift hatte, zu einem großen Rundgang über die Felder einlud. Anderthalb Stunden später würde sie wieder zu Hause sein.

Ihr wollten sich erneut Erinnerungen in den Kopf schleichen, deren Anwesenheit sie dort im Moment nicht duldete. Es war ein viel zu schöner Abend, um sich negativen Gedankengängen hinzugeben. Somit genossen Hexe und sie den gemütlichen Spaziergang und atmeten die warme, klare Sommerluft ein.

Sie kicherte unvermittelt auf, als ihr in den Sinn kam, dass sie die Tasche für das Krankenhaus noch packen musste.

Eine Freundin hatte ihr ein T-Shirt geschenkt.

Als sie es sah, stand sofort fest, dass sie dieses Kleidungsstück bei ihrer Entbindung tragen würde.

Vermutlich unterschied sie sich damit mal wieder von allen anderen Entbindenden. Es war ein schwarzes Shirt mit halbem Arm und auf seiner Vorderseite prangte der weiße Schriftzug „Lieber hochschwanger als niederträchtig“. Sie fand es klasse. Einen Geburtsvorbereitungskurs besuchte sie nicht.

Früher gab es so etwas auch nicht und die Frauen brachten trotzdem ihre Kinder zur Welt. Genau so wollte sie es auch. Ihr Verzicht konnte aber auch damit zusammenhängen, dass sie wusste, dass die meisten Frauen ihre Partner dorthin mitnahmen. Sie hatte keinen.

Ihre Cousine Cordula, die sie zur Entbindung mitnehmen wollte, wohnte in Krefeld, rund sechzig Kilometer von ihr entfernt. Somit schied diese als ihre regelmäßige Begleitung aus. Und jemand anderen wollte sie nicht mitnehmen.

Unabhängig von ihrer fehlenden Begleitung hatte ihr nie gelegen, sich in übliche Gefüge zwängen zu lassen, nur weil Menschen oder gesellschaftliche Normen es von ihr verlangten oder erwarteten.

Sicher, das war nicht immer von Vorteil, brachte oft auch negative Konsequenzen mit sich, aber wirklich geschadet hatte ihr diese Einstellung noch nie. Sie schwamm nicht gerne mit dem Strom.

Da sie sich bis vor wenigen Wochen in der leitenden Position als Personaldisponentin eines Dienstleistungsunternehmens zu verantworten hatte, fiel ihr das Unterordnen grundsätzlich schwer.

Sie musste erneut über sich schmunzeln.

Tief sog sie die Luft ein und blickte Hexe nach, die irgendwo rechts von ihr durch das Unterholz des kleinen Waldes wuselte, bevor sich der Weg öffnete, um sich in den noch vor ihnen liegenden Feldern zu verlieren. Ihr ging durch den Kopf, dass sie von Anbeginn ihrer Schwangerschaft die verschiedensten Menschen, unter anderem ihre Mutter, in Erstaunen versetzte, indem sie behauptete, einen Sohn zu erwarten.

Eigentlich konnte sie das nicht mit Sicherheit wissen, da es ihre erste Schwangerschaft war. Frühere Schwangerschaften lagen ihrem Gefühl nicht zugrunde.

In der achtundzwanzigsten Schwangerschaftswoche erfuhr sie das Geschlecht ihres Kindes.

Ihre Mutter begleitete sie nur ein einziges Mal zur Frauenärztin. Das war der Tag, an dem sie erfuhr, welches Geschlecht ihr Kind hatte. War es ein Mädchen oder ein Junge?

Mutter und Tochter setzten ein Essen gehen, als sie um das Geschlecht ihres Kindes wetteten. Ihre Mutter glaubte an ein Mädchen, sie jedoch wusste, dass es ein Junge würde. Selbst als die Frauenärztin ihre Annahme bestätigte, wollte ihre Mutter nicht glauben, dass sie soeben ein Essen verloren hatte und bestand darauf, den Entbindungstermin abzuwarten, um sich persönlich von ihrem Enkel zu überzeugen.

Ihre Schwangerschaft verlief normal bis gut.

In den ersten Wochen kämpfte sie zwar ständig mit immer wiederkehrender Übelkeit, aber erbrechen musste sie nie.

Sie bekam glattere Haut, sah im Gegensatz zu sonst rosig frisch aus und ihre Haare glänzten mehr denn je.

Natürlich hatte sie sich zwei Namen überlegt.

Einen Jungennamen, den sie bereits seit Jahren im Sinn hatte, noch bevor überhaupt an eine Schwangerschaft zu denken war, und sicherheitshalber einen Mädchennamen, von dem sie überzeugt war, dass sie ihn nicht brauchen würde.

Als sie von ihrem ausgedehnten Spaziergang zurückkam, war es noch nicht so spät, dass sie sich direkt hätte schlafen legen wollen, aber erschöpft war sie trotzdem.

Sie gönnte sich ein ausgiebiges Wannenbad, zog sich gemütliche Klamotten an und legte sich, wegen des Bauches auf der Seite ruhend, entspannt aufs Bett.

Hexe ließ nicht lange auf sich warten.

Eigentlich vertrat sie die Meinung, dass Tiere im Bett nichts zu suchen hatten.

Als sie sich die Hündin vor zwei Jahren zulegte, sie war damals anderthalb Hände voll klein und neun Wochen alt, hatte sich diese, Gott weiß wie das bei ihrer Größe überhaupt möglich gewesen war, nachts heimlich den Weg aus dem großen, extra für sie bereitgestellten Karton in ihr Bett erschlichen.

Als sie am kommenden Morgen aufwachte, spürte sie das kleine Bündel Fell an ihren Hals gekuschelt, schlafend und das Schnäuzchen auf ihrem Hals ruhend.

Während sie träge vor sich hindöste, kuschelte sich Hexe anlehnungsbedürftig an den Rücken ihres Menschen.

In einem merkwürdig sentimentalen Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie die früher so heiß geliebte „Gutenachtzigarette“ vermisste.

Aus diesem melancholischen Moment heraus drängte sich ihr, ohne dass sie es verhindern konnte, die merkwürdigste Geschichte in Erinnerung, von der sie in der jüngeren Vergangenheit gehört hatte. Diese Geschichte begann, wie so viele andere Geschichten auch, in der: Vergangenheit.

Vergangenheit

Carmen stellte fest, dass es gut war nicht zu wissen, was das Leben für jeden einzelnen Menschen parat hielt. Wenn sie sich die Zeit nahm, über ihre mittelfristige Vergangenheit nachzudenken, empfand sie ihr Leben normal, ohne größere Besonderheiten. Eben eines unter ganz vielen Leben dieser Welt.

Heute wusste sie, dass das so nicht stimmte. Nicht ganz jedenfalls. Es war ihre Vergangenheit, ihr Leben, ihr ganz eigenes. Eigen – im wahrsten Sinne des Wortes. Die Details des vergangenen Jahres konnten keineswegs als normal, geschweige denn langweilig bezeichnet werden.

Es unterschied sich auf faszinierende Weise von allem, was sie aus ihrem Umfeld kannte.

Auslöser für die Situation, in der sie heute steckte, war ihr Exfreund Jörg.Armer Kerl, dachte sie, ein wenig schadenfroh in sich hinein grinsend, er ahnte nicht einmal davon.

Als er sich damals unerwartet von ihr trennte, brach ihr Traumschloss in einen einzigen Berg aus Chaos, verletzten Gefühlen und Tränen zusammen. Dass die Trennung von einem geliebten Partner nicht spurlos an einem vorüberzog, war ihr völlig klar. Aber dass diese Trennung gleich das hinter sich herzog, was sie erleben sollte, hätte sie zu einem früheren Zeitpunkt nicht für möglich gehalten.

Sie lernte Jörg vor knapp zwei Jahren kennen, als sie sich erstmalig über die Grenzen ihrer selbst erwählten, teils anerzogenen Moral hinwegsetzte und sich auf das Abenteuer einließ, einen Swingerclub zu besuchen.

Ihre Cousine Sofia und deren Mann setzten alles daran, sie von ihrer Unkenntnis solche Etablissements betreffend zu erlösen. Mit Erfolg. Irgendwann fand Carmen keine Argumente mehr, die ihre kritische Voreingenommenheit begründeten. Notgedrungen ergab sie sich also ihrem Schicksal und musste zugeben, dass sie ziemlich neugierig darauf war, was sie dort erwartete.

Einen Club zu besuchen kostete sie viel Überwindung.

Misstrauisch und mit Vorurteilen behaftet kam sie damals dort an. Später stellte sie überrascht fest, dass es sich manchmal lohnte, eigene Grenzen zu überschreiten, um sich neuen Lebenserfahrungen zu stellen.

Der Clubbesuch gefiel ihr. Das gehobene Ambiente der Räumlichkeiten und die netten, durchschnittlichen Menschen trugen zu dieser Empfindung bei.

Sie wusste nicht mehr, was sie vorher erwartet hatte. Irgendwelche Frauen oder Männer fressenden Monster, die nicht in der Lage waren, ihre Sexualität ausschließlich einem Menschen zu widmen?

Sie schüttelte gemächlich den Kopf. Letztendlich war es auch egal. Ihr begegneten Menschen, die mit gewisser Regelmäßigkeit einen Teil ihrer Abende dort verbrachten, ähnlich wie in einem Freizeitbad, wenn auch ihre Absichten anders waren und somit auf der Hand lagen.

Dieser erste Besuch war der Beginn vieler kleiner Grenzüberschreitungen, die in der kommenden Zeit noch auf Carmen zukommen sollten.

Unvermittelt tauchte Jörg an diesem Abend in dem Club auf. Sauber, gepflegt, gebildet, beruflich engagiert, aufmerksam und nett aussehend. Er fiel Carmen dadurch auf, dass er neben ihr der einzige Clubbesucher war, der einen weißen Body auf seiner nackten Haut trug.

Als hätte es nicht anders sein sollen, suchte er wenige Stunden später sowohl ihre Nähe, als auch ihren Kontakt. Daraus entspann sich im Laufe der kommenden Monate ihre Beziehung. Es war Liebe auf den ersten Sex, wie Carmen später wenigen wissenden Menschen lachend erzählte.

Er lebte in einem kleinen Dorf, dreißig Kilometer außerhalb Würzburgs, und sie in Wuppertal, dreihundertachtzig Kilometer von ihm entfernt. Ihre Beziehung zueinander war aufgrund der räumlichen Entfernung nicht immer leicht zu handhaben, aber sie glaubte damals an ihn und sich und fand die Art, wie sie mit ihrer Situation umgingen, beispielhaft und verhältnismäßig unkompliziert.

Jörg war zwar bei weitem nicht ihr erster Freund, aber mit Sicherheit ihre erste Liebe.

Im Laufe ihrer Beziehung lernte Carmen einen großen Teil von Jörgs Freundes- und Bekanntenkreis kennen.

Alle, bis auf einen.

Alex war der Freund in der Reihe von Jörgs Leuten, dessen Bekanntschaft sie als letztes machen sollte.

Jörg spekulierte damals, ob sie ihn wohl mögen würde oder nicht, da Alex sehr kritisch sein musste.

Irgendwann war es schließlich so weit.

Carmen wurde von Jörg zu einem Kaffeetrinken geschleift, das in Alex’ Wohnung stattfinden sollte. Es waren noch ein paar andere Leute mit von der Partie, die sie bereits kannte.

Dieses Kaffeetrinken dauerte keine Stunde, doch es nahm einen so gewaltigen Einfluss auf ihr Leben, über den sie sich erst einige Monate später bewusst werden sollte. Alex behielt sie als einen schlanken, gutaussehenden Mann in Erinnerung, der ihr durch seine höfliche Distanz auffiel.

Die zweite Begegnung von Carmen und Alex lief ähnlich ungezwungen ab wie ihr erstes Treffen. Anlass dafür bot die Feier, die Jörg damals in dem Haus seiner Eltern im Partykeller veranstaltete. Unter fünfzig, Carmen zum größten Teil unbekannten Menschen, sah sie Alex erst im späteren Verlauf des Abends wieder.

Sie hatte Jörg nach ihm gefragt. Als Alex dann irgendwann auftauchte, schleppte Jörg sie zu ihm und ließ die beiden allein. Sie fanden nur kurz Zeit, miteinander zu sprechen. Aber das reichte, dass er sich in einer Art und Weise zu Carmens und Jörgs Beziehung äußerte, die sie stutzig machte. Er sagte sinngemäß zu ihr, dass nicht immer alles so wäre wie es schiene. Noch ehe sie nachfragen konnte, wurde sie von dem Bruder ihres Freundes abgelenkt, sodass das Gespräch jäh unterbrochen und nie beendet wurde.

Die Beziehung mit Jörg dauerte nach dieser Feier nur noch wenige Wochen, insgesamt kein ganzes Jahr und endete für sie ähnlich überraschend schnell wie sie begonnen hatte.

Carmen war die folgenden vier Monate krank. Nicht wirklich, aber sie fühlte sich so.

Heute waren ihr nur wenige Dinge von dieser vermeintlichen Liebe geblieben.

Das Bewusstsein, dass sie erstmalig geliebt hatte.

Die Tatsache, dass sie neuen, erfüllenden Sex kennenlernte.

Die Überzeugung, sich für eine ganz normale Mann-Frau-Beziehung nicht zu eignen und ein traumhaftes, weißes, von oben bis unten mit Pailletten besetztes Brautkleid, das jetzt original verpackt und ungetragen in ihrem Bettkasten vor sich hin staubte und in Vergessenheit geriet …

Die früher so oft verflixten dreihundertachtzig Kilometer, die Jörgs und ihre Wohnung voneinander trennten, erschienen ihr zum Zeitpunkt der Trennung als wahrer Segen. Die Entfernung war ihr Schutz davor, ihm irgendwann plötzlich und unerwartet gegenüberzustehen.

Erst vier Monate nach der Trennung, es war Juli 1996, fühlte sich Carmen erstmalig wieder in der Lage, bei ihrer Cousine Sofia Urlaub zu machen.

Sofia lebte mit ihrem Mann in einem kleinen Dorf nahe dem Kurstädtchen Bad Mergentheim. Etwa eine Autostunde von Würzburg entfernt, wenn man der Romantischen Straße folgte. Hier war der Knotenpunkt, von dem aus sie startete, als Jörgs und ihre Beziehung begann.

Ein Ort, mit dem sie sehr schöne Erinnerungen verband und ein Ort, dessen Erinnerungen ihr Herz in diesem Urlaub mit Ohrfeigen bestrafte. Die räumliche Nähe zu Jörg verleidete ihr die wenigen Urlaubstage, machte ihr entsetzlich zu schaffen und kostete sie eine Menge Tränen und Schlaf. Emotional war ihr wohlverdienter Kurzurlaub ein einziger Reinfall.

Spontan und verrückt wie Carmen trotz miesester Lebensumstände mitunter sein konnte, kam ihr während einer dieser trostlosen Urlaubstage die letzte Feier und somit unvermittelt Alex in den Sinn.

Es war seine Art gewesen, wie er sich zu ihrer Beziehung geäußert hatte. Mit welchem Recht tat er das? Bis zu seiner Aussage hatten sie schließlich kaum mehr als zwei Worte miteinander gewechselt. Sie führten das damals begonnene Gespräch nie zu Ende.

Kurz entschlossen griff sich die junge Frau einen weißen Zettel und kramte einen Kugelschreiber hervor. Übermütig und von ihrer eigenen Idee begeistert kritzelte sie ihm eine kurze Nachricht auf das Blatt Papier und wies ihn mit freundlichen Worten auf diesen Missstand hin. Abschließend setzte sie ihre Rufnummer unter das Geschriebene.

Es interessierte sie überhaupt nicht, dass die Feier bereits vier Monate zurück lag.

Sie wollte es dem Zufall überlassen.

Alex lebte in Würzburg. Carmen kannte die Stadt nicht. Sie war zwar einige Male hindurch gefahren, aber Ortskenntnisse besaß sie nicht.

Als Jörg und sie Alex damals besuchten, war er gefahren und sie hatte sich herzlich wenig für die Strecke interessiert.

Wenn sie Alex’ Wohnung wiederfand, würde sie ihm den Zettel in den Briefkasten werfen, wenn nicht, landete ihre Nachricht eben einfach auf dem Müll.

Wie durch ein Wunder verfuhr sie sich nicht und fand Alex’ Wohnung auf Anhieb. Sie lobte damals ihr Erinnerungsvermögen und fragte sich später, ob das reiner Zufall gewesen war.

Als Carmen bei Alex schellte, wurde ihr nicht geöffnet.

Es tat ihr ein bisschen leid, dass sie ihn nicht persönlich antraf, ließ sich jedoch nicht von ihrem Vorhaben abbringen, warf ihm ihre Nachricht in den Briefkasten und verschwand wieder. Zwei Wochen später, ihr aufwühlender Kurzurlaub gehörte zum Glück der Vergangenheit an, meldete sich Alex erstmalig bei ihr und hinterließ ihr eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter.

Sie telefonierten einige, wenige Male miteinander, bevor Carmen den Entschluss fasste, ihn Mitte September zu besuchen.

Diesen Besuch wollte sie mit einem Wochenende bei ihrer Cousine Sofia verbinden, bei der sie sich von Freitag bis Sonntag zur Übernachtung einquartierte.

Die erste, ausschließliche Begegnung zwischen dem fremden Mann und ihr dauerte unglaubliche: achtzehn Stunden.

Achtzehn Stunden

Carmen gehörte eigentlich nie zu der Sorte Frauen, die jede erdenkliche Gelegenheit dazu nutzten, sich neu einzukleiden.

Das Wissen um ihr Treffen mit Alex hatte das spontan geändert.

Sie war stolz auf die fünfzehn Kilo, die sie in der Beziehung mit Jörg und erst recht nach Beendigung derselben abgenommen hatte.

In einer wohlorganisierten Einkaufsaktion mit zwei ihrer Freundinnen gönnte sie sich ein neues, modisches Outfit. Das Ergebnis ihres Einkaufsbummels konnte sich sehen lassen: Ein knielanges, dunkelbraunes Strickkleid mit langem Arm, bis zur Brust enganliegend und unterhalb der Brust öffnete sich das Kleid zu einem weit schwingenden Rock. Es war schlicht, sportlich-elegant und schmeichelte ihrer neuen Figur. Dazu entschied sie sich für gleichfarbige, blickdichte Seidenstrümpfe und farblich passende, hohe und moderne Boots. Eine taillenkurze, blaue Jeansjacke rundete ihr flottes Aussehen ab.

Carmen hatte zur Feier des Tages ein sorgfältiges Make-up aufgetragen und ihre schulterlangen, dunkelblonden, leicht gelockten Haare mit einer Frisur gebändigt, die ihre Stirn frei ließ, aber ihr schmales Gesicht umspielte. Es war doch immer wieder erstaunlich, wie man sich mit dem Gebrauch von Schminke verändern konnte.

Obwohl, so verwunderlich war das gar nicht, schließlich hatte sie in der Vergangenheit irgendwann einmal gehört, dass man mit Schminke aus jedem „Arsch ein Gesicht“ machen konnte. Den Spruch fand sie witzig, wenngleich auch nicht auf sich zutreffend. Eigentlich mochte sie auch ihr ungeschminktes Gesicht gut leiden. Aber heute sah sie eben besonders nett aus.

Carmen warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel ihres Firmenwagens und überzeugte sich davon, dass ihr Make-up unter der einstündigen Fahrt von Sofia zu Alex nicht gelitten hatte.

Es war alles o. k., nur den Lippenstift würde sie gleich noch einmal nachziehen müssen.

Es dauerte nicht mehr lange, dann war sie bei ihm. Sie hatten sich in seiner Wohnung verabredet.

Sie musste sich eingestehen, dass sie nervöser war als sie es angenommen hatte. Deutlich spürte die junge Frau ihren schnelleren Pulsschlag. Sie war aufgeregt, ohne dass sie sich den Grund dafür erklären konnte.

Sicher, sie freute sich auf diese Begegnung, erwartete aber nichts. Sie würde dieses Treffen auf sich zukommen lassen und abwarten, was passierte.

Das Einzige, was sie sich vorgenommen hatte: sie wollte mit Alex nicht über Jörg sprechen. Immerhin war er einer von Jörgs besten Freunden.

Nein, das brauchte sie nun wirklich nicht.

Außerdem war sie froh, dass sie in den vergangenen sechs Wochen kaum noch an ihren Exfreund dachte, schließlich hatte sie mehr als genug gelitten.

Sie wollte diese unangenehmen Erinnerungen einfach nicht mehr auffrischen, geschweige denn zulassen.

Gleich war sie da.

An der kommenden Straße ging es rechts ab. Carmen setzte den Blinker, fuhr über die kleine Kreuzung und folgte der Straße noch wenige hundert Meter bergauf.

Angekommen.

Carmens flüchtiger Blick glitt zur Uhr. Sie lag gut in der Zeit. Sie waren um vierzehn Uhr verabredet. Wenn sie eins nicht leiden konnte, so war es Unpünktlichkeit.

Sie parkte ihren Wagen rechts, etwas oberhalb des Hauses, in dem Alex wohnte, und stieg aus. Sie schloss die Autotür und ging langsam auf das Haus zu, das leicht in den Straßenhang gebaut war. Am Haus vorbei musste sie erst links in die Hofeinfahrt, um zur Eingangstür zu gelangen. Sie stieg die zwei Stufen zur Tür rauf und suchte das Namensschild, bevor sie klingelte.

Als sie den Klingelknopf betätigte, fragte sie sich zum ersten Mal, welcher Teufel sie wohl geritten hatte, sich einfach mit Alex zu verabreden?

Was wollte sie eigentlich von ihm?

Und wieso war sie überhaupt vor gut zwei Monaten auf die Idee gekommen, ihm fast grundlos ihre Nachricht in den Briefkasten zu werfen?

Carmen zuckte ratlos mit den Schultern.

Ihre genauen Beweggründe kannte sie selber nicht.

Eigentlich konnte es nicht nur an ihrem unterbrochenen Gespräch gelegen haben.

Seltsam, aber naja. Jetzt stand sie jedenfalls hier.

Spontanaktionen dieser Art waren bei ihr ja nicht ungewöhnlich, wenn sich diese auch im Nachhinein nicht immer als sinnvoll erwiesen.

Jetzt war es jedenfalls zu spät darüber nachzudenken.

Also, Augen zu und durch.

Sie bemühte sich ihre Unruhe zu beherrschen, als der Türöffner summte und sie das Haus betrat. Sie musste rechts einige Stufen Richtung Keller runter und links unterhalb der Kellertreppe fand sie seine Wohnungstür.

Alex öffnete ihr.

Er sieht gut aus, schoss ihr unvermittelt durch den Kopf, und sie erwiderte seine höfliche Begrüßung, während sie ihm in seine grün-grau-blauen, großen Augen sah.

Er bat sie herein und das Erste, was sie registriere, war der Geruch seiner Wohnung. Jede Wohnung roch anders nach den Menschen, die darin lebten. Es war ein angenehmer, eigenwilliger Geruch, den sie bisher nicht kannte.

Carmen sah sich um.

Zu ihrer Linken stand quer zur Wand ein Kleiderschrank als Raumteiler, hinter dem sich sein Bett verbarg. Das Kopfende des Bettes befand sich direkt unter dem Fenster, das so niedrig eingebaut war, dass man ohne Schwierigkeiten durch das Fenster in die Wohnung hätte klettern können. Es war ein rechteckiges, nicht sehr großes Zimmer. Auf der rechten Wandseite in Höhe des Kopfendes des Bettes befand sich ein Türrahmen ohne Tür und eine Stufe, die in das Wohnzimmer hinunterführte.

Ungewöhnlich, dass man sofort in seinem Schlafzimmer stand, wenn man seine Wohnung betrat. Er hatte andere Möbel als bei ihrem ersten Besuch.

Das Wohnzimmer war fast quadratisch. Links und der Wohnzimmertür gegenüber befand sich jeweils ein Fenster, auch diese so niedrig, dass man jederzeit problemlos hätte raus- und reinklettern können. Rechts in der Wand öffnete sich eine weitere Tür, welche das Wohnzimmer mit der Küche verband. Küche und Bad lagen, bis auf ein kleines Fenster in Gehweghöhe, unter der Erde.

Carmen nahm auf der hellen Couch gegenüber der Wohnzimmertür Platz und nahm die Eindrücke um sich herum in sich auf.

Schöne Gardinen hatte er, für einen Mann. Und überall Blumen und Pflanzen auf den Fensterbänken.

In Sekundenschnelle schossen ihr die Erinnerungen an ihre erste Begegnung in den Sinn.

Sie hatte völlig vergessen, wie intensiv die Eindrücke von ihm und seiner Wohnung damals auf sie wirkten.

Irgendetwas berührte sie.

Alex’ Wohnung gefiel ihr von Anfang an gut.

In der einen Stunde, in der sie damals mit Jörg zum Kaffeetrinken hier war, hatte sie weder Aufmerksamkeit für ihren Freund, noch für die anderen Menschen, noch für Alex.

Sie fühlte nur diesen Raum.

Und sie fühlte sich selbst. Vor allem sich selbst.

Sie registrierte damals jedes Detail, vor allem die getrockneten Rosen, die Alex über der Musikanlage an der Wand hängen hatte.

Im Nachhinein ging sie sogar so weit, dass sie diesen Räumen ihr eigenes Leben zusprechen würde. Das hatte sie noch nie erlebt. Und in der Vergangenheit auch noch nie gedacht.

Absurd. Vom ersten Augenblick an fühlte sie sich in seiner Wohnung wohl, fast so, als käme sie nach Hause. Ja, genau.

Sie gab sich damals ihren Empfindungen unbewusst völlig hin. Erst heute wurde ihr dies mit Nachdruck bewusst.

Es wirkte alles so vertraut.

„Möchtest du Kaffee?“, unterbrach Alex ihre Gedankengänge.

„Ja, gerne. Danke“, erwiderte Carmen mit einem Kopfnicken.

Alex schenkte ihr Kaffee ein, den er mit einer Prise Zimt würzte. Eine leckere Geschmacksvariante, die sie noch nicht kannte. Überrascht registrierte sie, dass er tatsächlich Lebkuchen gekauft hatte. Bei ihrem letzten Telefonat wollte er wissen, ob sie einen speziellen Wunsch hätte, was sie zum Kaffee essen wollte.

Kurz zuvor sah sie erstmalig in diesem Jahr Lebkuchen. Sie liebte das Gebäck, das so verheißungsvoll nach Weihnachten duftete und schmeckte. Also wünschte sie sich Lebkuchen. Alex ging sofort begeistert darauf ein, da er ihn ähnlich gerne aß wie sie.

Und jetzt stand ein Teller davon direkt vor ihrer Nase. Carmen lächelte ihn an und bediente sich.

Die erste Stunde ihres Treffens schleppte sich mühselig dahin. Fremd wie sie sich waren wussten sie nichts mit sich anzufangen. Es mangelte an Gesprächsstoff und oberflächliche Floskeln waren bereits genug ausgetauscht worden.

Gegen fünfzehn Uhr sah Carmen auf die Uhr. Kein gutes Zeichen.

Sie glaubte nicht, dass sie noch viel Zeit mit Alex verbringen würde, da es anscheinend an Gesprächsthemen mangelte. Schade eigentlich, denn Alex schien nicht uninteressant zu sein. Sie hatten sich nur einfach nichts zu sagen.

Die junge Frau musterte den Mann aufmerksam, der ihr in seinem üppigen, hellen Telefonsessel gegenübersaß.

Er war circa 1,87 Meter groß und sehr schlank.

Carmen musste neben ihm mit ihren 1,67 Metern Körpergröße wie ein rundlicher Zwerg aussehen. Es störte sie nicht, wie schmal er war, auch wenn seine Oberschenkel höchstens die Ausmaße eines ihrer Oberarme haben konnten. Und sie hatte nun wirklich keine dicken Arme.

Jörg erzählte ihr irgendwann einmal, dass Alex mit seiner Figur ganz und gar nicht zufrieden war. Aber das war nebensächlich. Dafür besaß er ein makelloses, klassisch schönes Männergesicht.

Ein viel zu schönes Gesicht, für einen Mann.

Carmen kannte keinen Mann in ihrem Umfeld, den sie als schön bezeichnet hätte. Gutaussehend vielleicht, aber mehr nicht.

Doch Alex war wirklich schön.

Er sah jünger aus, als er es mit seinen knapp dreißig Jahren war.

Er trug eine modische Frisur und halblange, blond gesträhnte Haare umrahmten sein Gesicht.

Weich und markant, beide Umschreibungen seiner Gesichtszüge trafen zu. Er modelte für Fotostudios und Frisurmodenschauen. Das dazu erforderliche Selbstbewusstsein besaß er jedenfalls, wenn er auch von sich nicht behaupten wollte, dass er gut aussah.

Alex forderte die junge Frau auf, sich an den Lebkuchen zu bedienen. Sie hatte erst wenige Male nach ihrem Lieblingsgebäck gegriffen. Carmen nippte an dem Zimtkaffee und aß noch ein Stück.

Die wieder entstehende Schweigeminute war ihr nicht angenehm. Irgendwie schlich die Zeit im Schneckentempo dahin. Fieberhaft überlegte sie, was sie ihm erzählen sollte.

Er unterbrach ihre Gedanken, indem er sie fragte: „Interessierst du dich für Bilder aus meinem letzten Ecuador-Urlaub? Ich habe da einige Fotos, die ich dir zeigen könnte.“

Carmen lauschte dem Klang seiner Stimme nach. Auch er sprach mit fränkischem Dialekt. Dieses Merkmal hatte sie schon an Jörg gemocht. Stundenlang hätte sie zuhören können.

Froh darüber, dass Alex noch etwas eingefallen war, mit dem sie die Zeit füllen konnten, erwiderte sie freudig: „Natürlich, sehr gerne sogar.“

Es wäre schade gewesen, wenn sie sich bereits nach einer Stunde mangels Gesprächsthema von ihm hätte verabschieden müssen.

Als Alex die Fotos hervor holte und sich neben die junge Frau auf die Couch setzte, brach das Eis.

Amüsant und unterhaltsam ließ er sie alles wissen, was sie zu diesen Bildern interessierte. Und sie fragte ihm Löcher in den Bauch. Nicht einfach nur so, sondern weil ihr Interesse ehrlich war. Er machte sie neugierig, sie lachten und die erste Zeit der Unsicherheit wich langsam einem Wohlgefühl.

Carmen liebte Menschen, die den Reiz aufrechterhielten, mehr von ihnen erfahren zu wollen. Alex gehörte zweifelsfrei dazu. Bisher verkörperte er lediglich einen unnahbaren Menschen. Das änderte sich mit jeder weiteren, von ihr interessiert gestellten Frage und seinen dazugehörigen Antworten.

Im weiteren Verlauf ihrer Unterhaltung belebte sich diese und nahm eine überraschend intensive Wendung.

Sie sprachen viel von sich und fanden eine Basis, die beide erstaunte. Die Tiefe ihres Gespräches berührte sie. Sie registrierten gar nicht, wie die Zeit verflog.

Als es schon dunkel wurde, schwenkte ihre Unterhaltung unabsichtlich Richtung Jörg. Carmen ließ Alex wissen, dass ihr Gespräch auf Jörgs Feier sie und ihren Freund stark aufgewühlt hatte. Jörg und sie setzten sich damals heftig über Alex’ Motivation auseinander, warum dieser sich das Recht genommen hatte, sich kritisch zu ihrer Beziehung zu äußern und sich einzumischen. Jörg kam letztendlich zu dem Schluss, dass Alex sich für Carmen interessierte.

Die junge Frau sagte das ihrem Gegenüber und beobachtete ihn dabei.

Alex lauschte ihren Worten und hörte ihr teils erstaunt und belustigt, teils nachdenklich zu.

Carmen lachte leise auf, als ihr ein Gedanke in den Sinn kam. Sie und Jörg stellten die wildesten Spekulationen an. Wem hatte Alex’ Interesse gegolten? Ihm oder ihr?

Wie sie auf diesen Gedanken gekommen waren, war im Nachhinein nur noch bedingt nachvollziehbar.

Alex beobachtete sie während ihres kleinen Lachens ein wenig fragend.

„Weißt du, Alex, Jörg hat mir irgendwann einmal erzählt, dass er dich noch nie mit einer Frau zusammen gesehen hat und dass du ihm noch nie in der Zeit eurer Freundschaft eine Freundin vorgestellt hast. Das warf bei mir witziger Weise die verrücktesten Theorien auf. Zum Beispiel, ob du dich auf der Fete wegen Jörg so merkwürdig geäußert hast, oder wegen mir.“

Alex zögerte einen Moment.

Er dachte offensichtlich angestrengt nach, bevor er ruhig und sich seiner sehr bewusst erwiderte: „Um Jörgs Willen ganz sicher nicht. Es ist merkwürdig, dass ausgerechnet du mich das fragst, schließlich kennen wir uns kaum. Du bist ein mir eigentlich völlig fremder Mensch. Doch du scheinst dir mehr Gedanken um mich und meine Person zu machen als alle Menschen, die um mich herum sind. Ja, ich bin schwul, aber mit Sicherheit in keinster Weise an Jörg interessiert.“

Carmen sah auf und direkt in seine schönen, großen Augen. Schwul.

Sie hatte es geahnt. Woher diese Ahnung gekommen war, wusste sie nicht. Sie hatte in ihrer Vergangenheit nur ein einziges Mal Kontakt zu einem homosexuellen Mann. Und dieser war ihr lediglich durch seine angenehme, ruhige Art in Erinnerung geblieben. Bevor sie von seinem Schwulsein erfuhr, war ihr nicht einmal der Gedanke gekommen, dass er schwul sein könnte. Carmen vermochte nicht, schwule von nicht schwulen Männern zu unterscheiden, es sei denn, sie trugen ihre Neigungen offensichtlich zur Schau.

Auch Alex, der ihr hier gegenübersaß, benahm sich nicht schwul. Dennoch überraschten sie seine Worte nicht wirklich. Sie hatte es geahnt. Seltsam.

Im ersten Moment wusste sie mit seiner Aussage nicht umzugehen. Sie spürte eine Welle des Bedauerns über sich hinwegrollen.

Was für eine Verschwendung, seufzte sie gedanklich, dass ein so bildschöner, unglaublich netter Mann der Frauenwelt vorenthalten blieb.

Alex ließ ihren Blick seit seinem Eingeständnis nicht los.

Carmen fragte sich, was er wohl gerade an ihren Gesichtszügen abzulesen vermochte. Sie wusste es nicht.

Jedenfalls fügte er augenblicklich in einem kurzen, eigenwilligen Moment fast unhörbar hinzu: „Meistens jedenfalls.“

Schade, dachte sie, registrierte aber dennoch seine letzte Aussage tief in ihrem Inneren.

Innerhalb der kommenden Stunden zogen sich die beiden verbal völlig voreinander aus. Sie wussten binnen kürzester Zeit mehr wesentliche Dinge voneinander als ihr jeweiliger Freundes- und Bekanntenkreis.

Es war eine merkwürdige, außerordentliche Situation, in der sie sich befanden. Ihre Seelen schienen sich zu berühren. Sie ließen verbale Nähe zu und öffneten sich ihrem Gegenüber weit. Und sie beschenkten sich gegenseitig mit ihrer Offenheit. Vertrauen. Beide hatten dergleichen in dieser Dimension noch nie erlebt.

Unerwartet freimütig ließ die junge Frau Alex jetzt doch an ihren Gedanken und Gefühlen zu Jörg teilhaben. Sie wollte es gar nicht, aber es ergab sich einfach so. Es passte eben. Es störte sie plötzlich auch nicht mehr, dass Alex einer von Jörgs besten Freunden war. Sie war sich unvermittelt sicher, dass er das Wissen um ihre Gedanken für sich behalten würde.

Erst Alex gab ihr die Chance, durch das, was er wusste, besser zu verstehen. Ihre Beziehung zu Jörg und das jähe Ende stellten sich mit einem Mal in einem ganz anderen, unbekannten Licht dar. Durch Alex’ Hilfe gelang es ihr, ihre Perspektive zu verändern. Sie erfuhr Dinge über Jörg, von denen sie bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal ahnte, dass es sie überhaupt gab. Sie gewann zum ersten Mal den Eindruck, dass Jörg mit der Trennung von ihr eine richtige Entscheidung getroffen hatte.

Die wenigen Tränen, die Carmen in Alex’ Beisein weinte, waren ihr nicht peinlich. Im Gegenteil, sie fühlten sich an wie kostbare Perlen. Wie ein Schatz, den sie gemeinsam entdeckten. Irgendwie wuschen sie einen großen Teil ihrer Unklarheiten fort. Sie konnte das Ende ihrer Beziehung zwar noch immer nicht verstehen, aber sie war plötzlich in der Lage, die Dinge nachzuvollziehen, die zu dem Ende führten.

Das hatte sie Alex zu verdanken.

Dem eigentlich sehr fremden Mann, der ihr hier gegenübersaß und den sie erst seit wenigen Stunden kannte. Unglaublich. Beide genossen das aufwühlende und extrem emotionale Gespräch.

Er ließ sie in großem Maße an seinem bisherigen Leben, seinen Gedanken und Gefühlen teilhaben. Ihn überraschte, dass er ihr von seiner Homosexualität erzählt hatte.

Es gab nur zwei Menschen in seinem Leben, die davon wussten. Beides Frauen. Die eine war eine langjährige Freundin, die andere war in seiner Jugend seine Partnerin gewesen.

Vielleicht zog er sie ins Vertrauen, weil sie dreihundertfünfzig Kilometer von ihm entfernt wohnte. Die Entfernung schützte sie schließlich vor möglichen, negativen Konsequenzen.

Er hatte keinen Kontakt zu ihrer Welt und sie keinen zu seiner. Zumindest bisher nicht.

Vielleicht lag es aber auch einfach nur an ihrer freundlichen, gefühlvollen, aufmerksamen Art. Sie artikulierte sich mitreißend und natürlich. Alex wusste sich die Geschehnisse nicht zu erklären. Ebenso wenig wie sie. Ihnen waren noch nie solche Zuhörer begegnet.

Alex fragte sich gerade, warum er vorhin sein Eingeständnis mit „meistens jedenfalls“ ergänzt hatte.

Gerade das erstaunte ihn, schließlich war er sich doch erst in den vergangenen fünf Jahren seiner Homosexualität bewusst geworden.

Carmen wusste jetzt jedenfalls, dass er schwul war und das war gut so. Sie war der erste Mensch, der vor Beginn eines Miteinanders davon erfuhr. Es war die ideale Basis für ein weiteres Kennenlernen. Beide glaubten daran, weil sie bereits jetzt schon das gegenseitige Vertrauen spürten, das sich wie ein wärmender Mantel um sie herum zu schmiegen schien.

Auch Alex war sich sicher, dass Carmen das Wissen um ihn nicht missbrauchen würde, egal was noch auf sie zukommen mochte.

Die Stunden flogen dahin.

Als die beiden das nächste Mal auf die Uhr sahen, erschraken sie. Es war acht Uhr des darauffolgenden Samstagmorgens.

Achtzehn kurze Stunden hatten sie auf unglaublichste Weise miteinander verbracht. Und achtzehn kurze Stunden lang hatten sie sich ununterbrochen unterhalten.

Am Ende dieser viel zu kurzen Nacht spürten beide, dass sie körperlich und geistig nicht mehr in der Lage sein würden, dieses Gespräch auf dem bisher so hohen Niveau weiterzuführen.

Carmen schlich sich der Verdacht in den Kopf, dass sich Sofia, bei der sie ja schlafen wollte, Gedanken um ihr Ausbleiben machen würde. Sie hatte sich zwar, als sie sich von ihr verabschiedete, nicht auf eine Uhrzeit festgelegt, wann sie wiederkommen wollte, aber dass sie gleich die ganze Nacht wegbleiben würde, war nicht geplant.

Sich kaum loslassen wollend beschlossen sie irgendwann in diesen frühen Morgenstunden, sich schweren Herzens voneinander zu verabschieden.

War es Traurigkeit, oder Melancholie, die sie dabei empfanden? Verzweiflung oder Glück? Sie wussten es nicht.

Sie verabschiedeten sich mit einem Kuss auf die Wangen voneinander und beide wussten, dass ihr gemeinsames Miteinander vor achtzehn Stunden gerade erst begonnen hatte.

Carmen fragte sich später fassungslos, ob sie Jörg hatte kennenlernen müssen, um Alex begegnen zu dürfen.

Oft warfen schöne Dinge ja ihre langen Schatten voraus für noch großartigere Ereignisse.

Carmen stieg benommen ins Auto.

Sie war todmüde, wenngleich auch völlig aufgekratzt.

Sie hatte noch eine Stunde Fahrt vor sich, bevor sie sich endlich hinlegen konnte.

Sie verschlief den ganzen darauffolgenden Sonntag und machte sich nach ihrem abendlichen Frühstück auf den Weg nach Hause. Die lange Autofahrt zwischen Bad Mergentheim und Wuppertal flog an ihr vorbei, ohne dass sie schnell fuhr.

Berauscht von den Ereignissen und Erinnerungen an den letzten Tag horchte sie nur noch in sich hinein und fühlte und fragte. Sie war so gesättigt, so zufrieden. Sie fühlte sich unglaublich, als könnte sie fliegen.

Es war ein eigenartiges Phänomen, das sie während ihrer Fahrt nach Hause begleitete, fast so, als sei sie übersensibilisiert, irgendwie wie besoffen, ohne einen Schluck Alkohol getrunken zu haben.

Sie war erfüllt von innerer Ruhe und voller Gedanken an Alex und ihre merkwürdige Begegnung. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Nicht einmal mit Jörg.

Carmen erwischte sich in den folgenden Tagen oft dabei, dass ihre Gedanken um den schwulen Mann aus Würzburg kreisten.

Er hatte sie zutiefst beeindruckt.

Eigentlich neigte sie nicht dazu, sich von Menschen beeindrucken zu lassen. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass Menschen nie das waren was sie schienen, doch selten etwas Besseres.

Alex war anders. Ganz sicher.

Die junge Frau lächelte die kommenden Tage oft scheinbar grundlos in sich hinein. Sie ertappte sich immer wieder dabei, dass sie alltägliche Kleinigkeiten, die auf sie zukamen, ständig mit Alex in Verbindung brachte.

Alex erging es genauso.

Das wusste sie einfach. Sie spürte es. Sie fühlte es.

Etwas nicht Greifbares war da, das sie miteinander verband, als hätte sie jemand mit unsichtbaren Bändern umwickelt und aneinander gebunden. Regelrecht körperlich spürbar.

Der akute Rauschzustand, in dem sie sich befand, dauerte noch drei weitere Tage. Erst dann baute sich dieser einzigartige Zustand in ihrem Alltag langsam ab.

Sie bedauerte es ein wenig.

Alex und sie würden sich wiedersehen.

Daran bestand kein Zweifel.

Wann und wo das sein würde, spielte augenblicklich keine Rolle. Es würde sich einfach ergeben.

Außerdem gab es ja noch das Telefon, das sie über die dreihundertfünfzig Kilometer miteinander verband.

Carmen erwischte sich oft dabei, dass ihre Gedanken nicht nur unfreiwillig immer wieder zu dem Mann zurückkehrten, der auf eine so eigentümliche Weise in ihr Leben getreten war: Alex.

Alex

Zweieinhalb Monate später gab es zu Carmens großer Freude den nächsten Anlass, Alex wieder zu sehen. Ihr achtundzwanzigster Geburtstag im November.

Alex plante, einen Tag vor ihrer Feier zu ihr zu kommen. Doch nachdem er mit seinem Auto vierzehn Stunden lang auf der tief verschneiten A3 festhing und in dieser Zeit nur fünfzig Kilometer vorwärtskam, gab er auf, kehrte um und rief Carmen an.

Es war aber auch wie verhext.

In den ganzen letzten Jahren hatte es an ihren Geburtstagen nie geschneit, obwohl sie es sich wünschte und jetzt, wo es endlich mal schneite, verfluchte sie es. Ausgerechnet heute, wo sie Alex wiedersehen sollte, schneite es so stark, als wolle der Himmel die ganzen versäumten Jahre an einem Tag nachholen.

Carmen, todunglücklich über seinen absagenden Anruf, tröstete sich mit seinen Worten, dass er es am nächsten Tag noch einmal versuchen wollte.

Die junge Frau gab sich große Mühe, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, und fügte sich ungeduldig ihrem Schicksal. Gegen Naturgewalten dieser Art konnte auch sie nichts ausrichten. Sie würde sich wohl oder übel überraschen lassen müssen, ob er es am kommenden Tag schaffen würde.

Es ist aber auch zum Verrücktwerden, stellte sie halb amüsiert und halb zornig fest.

Schließlich hatten Alex und sie sich in den vergangenen Wochen durch ihre regelmäßigen, oft stundenlangen Telefonate so gut kennengelernt, wie es durch persönliche Treffen nicht besser möglich gewesen wäre. Ihre beginnende Freundschaft festigte und intensivierte sich mit jedem weiteren Telefonat.

Beide bekamen einen Schock, als sie ihre nachfolgenden Telefonrechnungen erhielten. Sie überschritten jeweils mehrere hundert DM. Verwunderlich war das nicht, da sie mehr als einmal mitunter bis zu sechs Stunden und mehr telefonisch ihre Nächte miteinander verbrachten.

Und jetzt sollte Alex durch das wilde Schneetreiben davon abgehalten werden, zu ihr zu kommen?

Das konnte und wollte sie nicht glauben.

Glücklicherweise hatte sie jetzt nicht mehr viel Zeit, über dieses Ärgernis nachzudenken, da sie gleich mit ihrer Freundin noch einiges für ihre Geburtstagsfeier vorzubereiten hatte, zu der sie vierzig Gäste erwartete.

Außerdem erwies sich das Unterfangen, über ihn nachzudenken, als äußerst schwierig. Es gab da einfach viel zu viele, außergewöhnliche Dinge, die sie sich in ihrem Kennenlernen nicht erklären konnte und wollte.

Das einprägsame Datum, an dem sie ihn das erste Mal besuchte, gehörte in jedem Fall dazu.

Es war Alex, der sie im Nachhinein darauf aufmerksam machte, dass es ein Freitag, der 13. 09., gewesen war. Als sie das erfuhr, staunte sie über sich selbst.

Sie vergaß wichtige Daten ihres Lebens nicht.

Ihr war damals nicht einmal bewusst gewesen, dass ihre Begegnung an diesem Datum stattfand. Sie hielt sich nie für abergläubisch, fragte sich allerdings im Verlauf der vergangenen Wochen mehrfach, ob sie es nicht besser werden sollte. Ein schicksalhafteres Datum konnte es schließlich kaum noch geben. Schicksalhaft im positiven Sinne.

Als Alex sie auf ihr Datum hinwies, tat er es mit der zusätzlichen Bemerkung, es wohl niemals vergessen zu können. Denn unabhängig davon, dass es ein Freitag, der 13., war, war dieser Tag auch der Hochzeitstag seiner Eltern.

Es war alles so seltsam. So anders.

Ihr kam der gesamte Ablauf ihrer beginnenden Freundschaft wenig zufällig, sondern bedeutungsvoll und stellenweise regelrecht mysteriös vor. Das allerdings auf eine unglaublich sanfte, beinahe zauberhafte Art.

Dieses extreme Empfinden von ihr wurde wie durch viele, kleine Ereignisse unterstrichen. Alles gewann an Bedeutung, schien zu bestätigen, was da gerade mit ihnen passierte. Es waren Dinge, die gar nicht greifbar waren. Durch nichts von ihnen zu beeinflussen.

Sie passierten einfach.

So, als ob es da jemanden gäbe, der Wohlgefallen an ihrer Zweisamkeit gefunden hatte und still dafür sorgte, dass diese noch schöner wurde.

Carmen lief ein kleiner, angenehmer Schauer über den Rücken, als sie sich eines dieser Dinge in Erinnerung rief.

Es fing ganz unscheinbar mit einem Kinobesuch an, zu dem sie sich mit einer ihrer Freundinnen verabredete. Sie wollten sich abends im Bochumer Kino einen Film ansehen. Gemeinsam fuhren sie hin. Während der Fahrt unterhielten sie sich und lachten wie immer viel miteinander.

Als Carmen auf dem Kinoparkplatz angekommen aus dem Auto stieg und die Tür schloss, glitt ihr Blick wie zufällig in den dunklen Abendhimmel hinauf.

In einem kurzen, merkwürdig bewussten Augenblick sah sie die erste Sternschnuppe ihres Lebens.

Geistesgegenwärtig wünschte sie sich, dass Alex’ und ihr Miteinander ähnlich schön und intensiv weitergehen möge wie bisher. Aufgeregt erzählte sie ihrer Freundin von dem soeben Gesehenen. Diese bezichtigte sie daraufhin liebevoll als blöde Kuh, und dass es gemein wäre, weil sie so viel Glück hätte, eigentlich hätte auch sie gerne die Sternschnuppe gesehen.

Carmen kicherte bei dem Gedanken, aber das, was sie so seltsam berührte, war gar nicht die Sternschnuppe gewesen, sondern das Telefonat, welches sie tags drauf mit Alex führte.

Natürlich war die Sternschnuppe das Erste, wovon sie ihm erzählte.

Carmen hörte daraufhin ihr Gegenüber verdutzt Atem holen. Anschließend fragte er sie mit einem seltsamen Unterton in seiner Stimme, ob sie ihn veralbern wolle.

„Nein“, meinte sie nur ernst, ein wenig über seine merkwürdige Frage verwundert, warum sollte sie?

Alex erzählte ihr daraufhin, dass er soeben in seinem Auto wartend vor einer Ampel gestanden und in den Himmel gesehen hätte. Und was entdeckte er dort oben?

Eine Sternschnuppe.

Carmen lauschte ungläubig seinen Worten und ihr Herz machte einen unkontrollierten Aussetzer. Mit einem seltsamen Gefühl in der Magengegend kam ihr kurz in den Sinn, dass er sie veräppeln wollte.

Nein. Das wollte er ganz und gar nicht.

Er verriet ihr, dass er sich etwas gewünscht hatte, dessen Inhalt er jetzt nicht verraten dürfte, da sein Wunsch ja sonst nicht in Erfüllung ginge.

In diesem faszinierenden Augenblick erkannte sie, dass auch er die Wahrheit sprach und sie wusste mit einer nie gekannten Sicherheit, dass sie sich beide etwas Ähnliches, wenn nicht sogar das Gleiche gewünscht hatten.

Nach diesem Erlebnis zweifelte sie zum ersten Mal an der Zufälligkeit ihrer Begegnung. Ihr Kennenlernen fing an, sich über nachvollziehbare, menschliche Logik hinweg zu setzen. Irgendwie glaubte sie damals an dieser Stelle zu wissen, dass sich in ihrer Freundschaft zu Alex rein gar nichts mehr ereignen würde, das sie aus den Schuhen hauen könnte.

Alles war so anders als üblich. Nicht kalkulierbar.

Irgendwie erstaunlich, aber irgendwie auch nicht.

Erschütternd selbstverständlich, als solle es so sein.

Nichts, gar nichts vermochte ihre gemeinsame Zukunft aufzuhalten. Was auch immer geschehen würde.

Sie hatte zum ersten Mal in ihrem Leben das intensive Gefühl, keine Kontrolle mehr über die Dinge zu haben, die da mit ihr geschahen.

So beängstigend es war, so schön fühlte es sich an.

Sie war beeindruckt und es gab nicht viele Dinge, die sie tatsächlich beeindrucken konnten.

In dieser Sekunde nahm sie sich vor, Alex’ und ihrer Zukunft voll freudiger Neugierde, aber ohne Erwartungen entgegenzusehen.

Bei diesen Erinnerungen krabbelte Carmen eine Gänsehaut den Rücken hinauf.

Alex und sie waren ein ganz besonderes Team. Alles um sie herum bestätigte das auf schlichte, erschreckend unauffällige Weise.

Mit der Erinnerung an diese Erkenntnis beruhigte sie sich.

Sie zweifelte nicht mehr.

In diesem Moment wusste sie einfach, dass er es schaffen würde, zu ihrer Feier zu kommen.

Er wollte sich schon vor Stunden auf den Weg machen, doch sie hatte nichts mehr von ihm gehört.

Gleich würde sie losmüssen.

Sofia und ihr Mann waren inzwischen auch schon angekommen. Carmen suchte die letzten Dinge für ihre Feier zusammen und spannte sowohl ihre Freundin, als auch ihre Cousine ein, ihr zu helfen. Sie freute sich auf die Fete. Zu diesem Zweck mietete sie sich bereits vor Wochen einen gemütlichen, großen Raum an, direkt neben dem Wohnhaus ihrer Eltern.

Der Zeitpunkt, dass sie fahren mussten, rückte bedenklich näher und Alex war noch immer nicht da. Carmen sah auf die Uhr. Sie hatte nichts mehr von ihm gehört, also ging sie davon aus, dass er kommen würde.

Da sie fahren musste, um für die Feier noch letzte Hand anzulegen, bat sie Sofia, auf Alex zu warten. Sofia kannte den Weg zu ihren Eltern und würde somit auch den Festraum finden.

Sollte Alex binnen einer Stunde nicht eintreffen, bat sie ihre Cousine ohne ihn nachzukommen.

Gemeinsam mit ihrer Freundin brach sie auf.

Die Fete war bereits in vollem Gange und Carmens vierzig Gäste erforderten so viel ihrer Aufmerksamkeit, dass sie kaum Zeit fand, über Alex’ Abwesenheit nachzudenken.

Knapp zwei Stunden nach Beginn der Feierlichkeiten stieg Carmen die Stufen zur Küche und gleichzeitig zum großen Eingangsbereich hinunter, um Kaffee für die oben wartenden Gäste zu holen. Ihre Freundin hatte sich glücklicherweise bereit erklärt, erst einmal unten in der Küche zu bleiben, um noch einige Dinge vorzubereiten.

Zu ihr wollte sie.

Als Carmen die verbindende Glastür öffnete, registrierte sie aus den Augenwinkeln ein Paar Füße im Hintergrund verschwinden, die sich somit ihrem Blickfeld entzogen.

Eigentlich hätte dieses Paar Füße jedem ihrer Gäste gehören können, der sich draußen einfach nur mal die kalte Winterluft um die Nase wehen lassen wollte.

Doch Carmen jauchzte freudig auf: „Alex!“

Übermütig und mit einem wahnsinnigen Herzklopfen stürmte sie auf ihn zu und schlang ihre Arme um seinen Hals.

Ihre Freundin beabsichtigte erst, ihn vor ihr zu verstecken, um die Überraschung noch größer zu machen.

Doch sie war schneller.

In der Sekunde, als sie sich in die Arme fielen, zitterten beide.

Beglückt gaben sie sich ihrer grenzenlosen Wiedersehensfreude hin. Es war überwältigend. Sie strahlten.

Endlich hatten sie sich wieder.

Ihnen wurde schlagartig bewusst, wie lange ihnen die zwei Monate der Trennung geworden waren.

Beide registrierten es mit gleicher Intensität und genossen das Gefühl, den anderen wieder zu haben.

Alex überreichte ihr etwas später, als sie wieder im Festraum oben waren, eine selbstgemachte Torte und Carmen freute sich über kein Geschenk mehr als über seines.

Nachdem er alle achtundzwanzig Kerzen angezündet hatte und somit die Aufmerksamkeit aller Gäste ihnen gehörte, kuschelte sie sich an seine Seite und pustete die Kerzen aus. Natürlich wünschte sie sich etwas.

Beide zitterten noch immer.

Die Feier rauschte einem Orkan ähnlich an ihnen vorbei.

Egal wo sich Carmen befand, oder was immer sie tat, sie spürte Alex überall, als stände er in unmittelbarem Hautkontakt zu ihr.

Ihre Freundin dachte damals klug und wohlwollend mit. Häufig griff sie zu Carmens größter Freude zum Fotoapparat, vorwiegend dann, wenn Alex und sie zusammen waren.

Die Fotos, die sie später sah, waren wunderschön. Diese Bilder sprachen Bände.

Im Anschluss an ihre Feier befragten einige, wenige Gäste sie, was da zwischen ihr und dem fremden Mann in der Luft gehangen hatte.

Doch so offensichtlich?

Was es bei Alex gewesen war, vermochte sie nicht zu sagen, aber was es bei ihr war, hätte sie umso klarer sagen können.

Wenn sie gewollt hätte. Aber sie wollte nicht.

Sie hatte damals nur ahnungslos getan, scheinbar unwissend mit den Schultern gezuckt und still in sich hinein gelächelt.

Sie hatte sich verliebt.

In den schwulen Mann, den sie an diesem Tag erst zum zweiten Mal sah!

Die junge Frau erschrak bei dieser Erkenntnis.

Wie hatte das passieren können?

Das nächste Lied, das auf ihrer Feier gespielt wurde, war ein Blues.

Passender ging es kaum.

Ohne darüber nachzudenken ergriff sie Alex’ Hand, zog ihn auf die Tanzfläche und kuschelte sich an ihn.