Charlotte Brontë: Jane Eyre - Charlotte Brontë - E-Book

Charlotte Brontë: Jane Eyre E-Book

Charlotte Bronte

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Beschreibung

Sie ist allein, mittellos und nur mit unerschütterlicher Willenskraft ausgestattet. Doch Jane Eyre, die mutige Heldin aus Charlotte Brontës unvergleichlichem Roman, lässt sich nicht brechen. Von den Kälte und Härte ihrer Kindheit in Lowood geprägt, wagt sie den Schritt in ein neues Leben – ein Leben, das von Sehnsucht, Entbehrung und dennoch von einer tiefen Hoffnung durchdrungen ist. Auf Thornfield Hall findet die Waise von Lowood schließlich mehr als nur eine Anstellung als Gouvernante. Sie trifft auf den geheimnisvollen Mr. Rochester, dessen verschlossene Art und dunkle Geheimnisse eine faszinierende Anziehungskraft auf sie ausüben. Während sich Jane Eyre immer mehr zu ihm hingezogen fühlt, ahnt sie, dass seine Welt nicht frei ist von Schatten und das ihre Bindung einen hohen Preis fordern wird. Charlotte Brontë hat mit „Jane Eyre“ eine Geschichte von Aufopferung und Selbstfindung geschaffen, in der jeder Moment zur leisen, kraftvollen Reflexion über Identität, Moral und Liebe wird. Diese E-Book-Ausgabe wurde mit einem einführenden Kommentar ausgestattet.

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Charlotte Brontë

Jane Eyre

Copyright © 2024 Novelaris Verlag

ISBN: 978-3-68931-077-6

Inhaltsverzeichnis

Einführung

Die revolutionäre Ich-Erzählerin

Der biografische Hintergrund der Autorin

Die Gothic-Elemente im Roman

Gesellschaftskritik im viktorianischen England

Der literarische Einfluss bis heute

Erster Teil.

Erstes Kapitel.

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel.

Viertes Kapitel.

Fünftes Kapitel.

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel.

Achtes Kapitel.

Neuntes Kapitel.

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel.

Zwölftes Kapitel.

Dreizehntes Kapitel.

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel.

Sechzehntes Kapitel.

Siebenzehntes Kapitel.

Achtzehntes Kapitel.

Neunzehntes Kapitel.

Zwanzigstes Kapitel

Zweiter Teil.

Erstes Kapitel.

Zweites Kapitel.

Drittes Kapitel.

Viertes Kapitel.

Fünftes Kapitel.

Sechstes Kapitel.

Siebentes Kapitel.

Achtes Kapitel.

Neuntes Kapitel.

Zehntes Kapitel.

Elftes Kapitel.

Zwölftes Kapitel.

Dreizehntes Kapitel.

Vierzehntes Kapitel.

Fünfzehntes Kapitel.

Sechzehntes Kapitel.

Siebzehntes Kapitel.

Achtzehntes Kapitel.

Cover

Table of Contents

Text

Einführung

Die revolutionäre Ich-Erzählerin

Als “Jane Eyre” 1847 unter dem männlichen Pseudonym Currer Bell erschien, war die literarische Welt nicht nur von der Geschichte selbst fasziniert, sondern vor allem von der Art und Weise, wie sie erzählt wurde. Die direkte, selbstbewusste Stimme der Protagonistin Jane Eyre durchbrach die Konventionen ihrer Zeit auf eine Weise, die sowohl fesselte als auch schockierte. Der Roman beginnt nicht mit einer distanzierten Beschreibung der Hauptfigur, sondern mit Janes eigener Stimme, die uns unmittelbar in ihre Gedankenwelt einführt: “There was no possibility of taking a walk that day.” Dieser scheinbar simple erste Satz markiert bereits den Beginn einer literarischen Revolution.

Die Innovation dieser Erzählperspektive liegt in ihrer radikalen Subjektivität. Jane Eyre spricht nicht nur ihre Geschichte aus, sie reflektiert sie, kommentiert sie und - am revolutionärsten - sie spricht den Leser direkt an. Der berühmteste dieser Momente ist zweifellos der Satz “Reader, I married him”, der gegen Ende des Romans steht. Diese direkte Ansprache war mehr als nur ein stilistisches Mittel; sie schuf eine intime Verbindung zwischen der Protagonistin und dem Lesepublikum, die für die damalige Zeit unerhört war. Jane behandelt ihre Leser als Vertraute, als gleichberechtigte Gesprächspartner, denen sie ihre Geschichte anvertraut.

Besonders bemerkenswert ist die Wahl einer Gouvernante als Ich-Erzählerin. Gouvernanten nahmen im viktorianischen England eine höchst ambivalente soziale Position ein: Sie waren gebildet genug, um Kinder der Oberschicht zu unterrichten, gehörten aber selbst keiner klar definierten sozialen Schicht an. Sie lebten in den Häusern der Reichen, waren aber weder Teil der Familie noch Teil der Dienerschaft. Diese soziale Zwischenposition macht Jane zu einer idealen Beobachterin der viktorianischen Gesellschaft. Ihre Außenseiterposition erlaubt ihr einen scharfen, kritischen Blick auf die sozialen Strukturen ihrer Zeit.

Die Ich-Erzählerin Jane bricht aber noch mit einer weiteren Konvention: Sie präsentiert sich nicht als passives Objekt männlicher Handlungen und Entscheidungen, sondern als handelndes Subjekt ihrer eigenen Geschichte. Ihre inneren Monologe offenbaren einen reichen Gedankenkosmos, der weit über die damals üblichen Darstellungen weiblicher Figuren hinausgeht. Jane denkt nach, sie zweifelt, sie trifft Entscheidungen - und sie tut dies alles in einer Sprache, die ihre emotionale und intellektuelle Komplexität unmittelbar erfahrbar macht.

Die Ehrlichkeit, mit der Jane ihre Gefühle und Gedanken offenlegt, war für die damalige Zeit geradezu skandalös. Sie spricht offen über ihre Leidenschaften, ihre Wut, ihre Verzweiflung und ihre Sehnsucht nach Liebe und Selbstverwirklichung. Dabei verzichtet sie auf die damals übliche sentimentale Verschleierung oder moralische Selbstzensur. Wenn Jane über ihre Gefühle für Rochester spricht, tut sie dies mit einer Direktheit, die viele zeitgenössische Leser schockierte: “Do you think, because I am poor, obscure, plain, and little, I am soulless and heartless? You think wrong! - I have as much soul as you - and full as much heart!”

Diese emotionale Authentizität wird noch verstärkt durch die Verwendung der Gegenwartsform in kritischen Momenten der Erzählung. Obwohl die Geschichte grundsätzlich in der Vergangenheit erzählt wird, wechselt Jane in emotionalen Höhepunkten oft ins Präsens, wodurch die Unmittelbarkeit des Erlebens für den Leser spürbar wird. Diese Technik war für die damalige Zeit höchst ungewöhnlich und trug wesentlich zur emotionalen Wirkung des Romans bei.

Bemerkenswert ist auch, wie die Ich-Erzählerin ihre eigene physische Erscheinung beschreibt. Jane bezeichnet sich selbst als “plain” (schlicht) und klein, was im krassen Gegensatz zu den üblichen Heldinnen der viktorianischen Literatur stand, die fast immer als außergewöhnlich schön beschrieben wurden. Diese ehrliche Selbsteinschätzung unterstreicht die Authentizität der Erzählstimme und macht Jane zu einer Heldin, mit der sich Leserinnen identifizieren können.

Die revolutionäre Kraft dieser Ich-Erzählung liegt auch in ihrer komplexen Zeitstruktur. Jane erzählt ihre Geschichte aus der Perspektive der gereiften Frau, die auf ihr jüngeres Ich zurückblickt. Dabei gelingt es ihr, sowohl die unmittelbare Emotionalität des Erlebens als auch die reflektierte Distanz der späteren Betrachtung zu vermitteln. Diese doppelte Perspektive ermöglicht es dem Leser, sowohl die leidenschaftliche junge Jane als auch die weise gewordene Erzählerin zu verstehen.

Die Ich-Erzählung in “Jane Eyre” war nicht nur für ihre Zeit revolutionär, sie wurde zum Vorbild für Generationen von Autorinnen und Autoren. Sie zeigte, dass eine weibliche Stimme stark, selbstbewusst und komplex sein kann, ohne dabei ihre Glaubwürdigkeit oder emotionale Tiefe zu verlieren. Die Art und Weise, wie Charlotte Brontë ihre Protagonistin ihre eigene Geschichte erzählen lässt, öffnete den Weg für eine neue Form des psychologischen Romans, in dem die innere Entwicklung einer Figur ebenso wichtig ist wie die äußeren Ereignisse.

Diese Erzählform hat bis heute nichts von ihrer Kraft verloren. Die direkte, ungeschönte Stimme Janes, ihre emotionale Ehrlichkeit und ihre moralische Integrität sprechen moderne Leser ebenso an wie das viktorianische Publikum. Sie zeigt uns, dass wahre literarische Innovation nicht in formalen Experimenten liegt, sondern in der Fähigkeit, eine authentische Stimme zu finden, die über alle zeitlichen und kulturellen Grenzen hinweg zu uns spricht.

Der biografische Hintergrund der Autorin

Charlotte Brontës Leben liest sich selbst wie ein viktorianischer Roman, geprägt von frühen Verlusten, kreativer Isolation und einem unbeugsamen Willen zur künstlerischen Entfaltung. Geboren 1816 als drittes von sechs Kindern des Pfarrers Patrick Brontë und seiner Frau Maria, wuchs sie in dem abgelegenen Pfarrhaus von Haworth in Yorkshire auf. Die raue, von Moorlandschaft geprägte Umgebung sollte später die atmosphärische Kulisse für “Jane Eyre” bilden.

Der erste einschneidende Verlust in Charlottes Leben war der Tod ihrer Mutter Maria im Jahr 1821, als Charlotte gerade einmal fünf Jahre alt war. Diese frühe Erfahrung des mütterlichen Verlustes spiegelt sich deutlich in “Jane Eyre” wider, deren Heldin ebenfalls als Waise aufwächst. Die Mutterfiguren im Roman sind entweder abwesend, wie Janes eigene Mutter, oder problematisch, wie Mrs. Reed. Diese biografische Erfahrung prägte Brontës gesamtes literarisches Schaffen und ihre Darstellung weiblicher Charaktere, die oft ohne mütterliche Führung ihren eigenen Weg finden müssen.

Nach dem Tod der Mutter schickte der Vater Charlotte zusammen mit drei ihrer Schwestern auf die Clergy Daughters’ School in Cowan Bridge. Diese Erfahrung sollte sich als traumatisch erweisen und fand ihren direkten Niederschlag in der Beschreibung der Lowood Institution in “Jane Eyre”. Die mangelnde Hygiene und die spartanischen Bedingungen in der Schule führten zum Tod ihrer beiden älteren Schwestern Maria und Elizabeth an Tuberkulose. Diese Tragödie vertiefte Charlottes Verständnis für das Leid und die Ungerechtigkeit, die besonders Mädchen und Frauen ihrer Zeit ausgesetzt waren.

Die überlebenden Geschwister - Charlotte, Emily, Anne und ihr Bruder Branwell - entwickelten in der Isolation des Pfarrhauses eine außergewöhnliche kreative Dynamik. Sie erschufen gemeinsam imaginäre Welten, schrieben Geschichten und Gedichte und gaben sogar winzige handgeschriebene “Zeitungen” heraus. Diese frühe literarische Tätigkeit, die zunächst nur dem eigenen Vergnügen diente, legte den Grundstein für ihre späteren schriftstellerischen Karrieren. Das Pfarrhaus wurde zu einem Mikrokosmos der Kreativität, in dem die Geschwister sich gegenseitig inspirierten und kritisierten.

Besonders prägend für Charlottes späteres Werk waren ihre Erfahrungen als Gouvernante. Zwischen 1839 und 1841 arbeitete sie in verschiedenen Haushalten, eine Tätigkeit, die sie als ebenso erniedrigend wie aufschlussreich empfand. Die soziale Zwischenstellung der Gouvernante - gebildet, aber arm; Teil des Haushalts, aber nicht der Familie - ermöglichte ihr einen einzigartigen Einblick in die Klassenverhältnisse ihrer Zeit. Diese Erfahrungen flossen direkt in die Gestaltung von Jane Eyres Charakter und ihre Beziehung zu Rochester ein.

1842 wagte Charlotte zusammen mit ihrer Schwester Emily den Schritt nach Brüssel, um am Pensionnat Heger ihre Französischkenntnisse zu vervollkommnen. Hier erlebte sie eine intensive emotionale Bindung an ihren verheirateten Lehrer Constantin Heger, eine Erfahrung, die ihr Verständnis von romantischer Liebe und moralischen Konflikten vertiefte und sich in der komplexen Beziehung zwischen Jane und Rochester widerspiegelt. Die unerfüllte Liebe zu Heger wurde zu einer treibenden Kraft in ihrer künstlerischen Entwicklung.

Die Geschwister Brontë versuchten sich zunächst gemeinsam als Lyrikerinnen und veröffentlichten 1846 einen Gedichtband unter den männlichen Pseudonymen Currer, Ellis und Acton Bell. Der Band verkaufte sich schlecht, aber die Schwestern ließen sich nicht entmutigen. Jede arbeitete bereits an einem Roman: Emily an “Wuthering Heights”, Anne an “Agnes Grey” und Charlotte an “The Professor”, der zunächst von allen Verlagen abgelehnt wurde.

Der Durchbruch kam für Charlotte mit “Jane Eyre”, der 1847 erschien und sofort ein großer Erfolg wurde. Der Roman vereinte alle Erfahrungen ihres bisherigen Lebens: die frühen Verluste, die harten Schuljahre, die Arbeit als Gouvernante, die unerfüllte Liebe und vor allem den unbedingten Willen zur Selbstbehauptung. Doch der literarische Erfolg wurde von persönlichen Tragödien überschattet: Innerhalb weniger Monate starben 1848/49 ihr Bruder Branwell und ihre Schwestern Emily und Anne an Tuberkulose.

Als einzige Überlebende der Geschwister führte Charlotte ihr literarisches Schaffen fort und veröffentlichte noch die Romane “Shirley” (1849) und “Villette” (1853). 1854 heiratete sie Arthur Bell Nicholls, ihres Vaters Kurat, doch das späte Glück währte nur kurz: Charlotte starb 1855 im Alter von 38 Jahren, vermutlich an den Folgen einer Schwangerschaft.

Charlotte Brontës biografischer Hintergrund ist mehr als nur interessantes Kontextwissen zu ihrem literarischen Schaffen. Er zeigt, wie eine Autorin ihre persönlichen Erfahrungen - Verlust, Isolation, unerfüllte Liebe, gesellschaftliche Beschränkungen - in Literatur von zeitloser Bedeutung verwandelte. Ihre Biografie erklärt die emotionale Tiefe und psychologische Wahrhaftigkeit ihrer Charaktere, die authentische Darstellung weiblicher Erfahrung und den moralischen Ernst ihrer Werke.

Besonders bemerkenswert ist, wie Brontë ihre oft schmerzlichen Erfahrungen nicht nur verarbeitete, sondern transformierte. Aus der Isolation des Pfarrhauses schuf sie eine Welt von großer emotionaler und intellektueller Reichweite. Aus den Beschränkungen, die ihr als Frau auferlegt wurden, entwickelte sie eine Stimme von außergewöhnlicher Kraft und Authentizität. Ihre Biografie ist damit nicht nur die Geschichte einer viktorianischen Autorin, sondern ein Zeugnis dafür, wie künstlerisches Schaffen aus persönlicher Erfahrung universelle Bedeutung gewinnen kann.

Die Gothic-Elemente im Roman

“Jane Eyre” steht fest in der Tradition des Gothic-Romans, transformiert aber dessen klassische Elemente in eine psychologisch komplexere Form. Das zentrale Gothic-Element des Romans ist zweifellos Thornfield Hall, jenes düstere Herrenhaus, in dem Jane als Gouvernante arbeitet. Mit seinen dunklen Korridoren, verborgenen Räumen und dem mysteriösen dritten Stock verkörpert es perfekt die architektonische Manifestation des Gothic Horror. Doch anders als in klassischen Schauerromanen dient Thornfield Hall nicht primär der Erzeugung von Angst und Schrecken, sondern fungiert als komplexe Metapher für die verborgenen Geheimnisse der menschlichen Psyche.

Das unheimliche Lachen, das nächtens durch die Gänge hallt, die unerklärlichen Vorfälle und die mysteriöse Präsenz der wahnsinnigen Bertha Mason im verschlossenen Dachgeschoss sind mehr als nur Schauer-Elemente. Sie repräsentieren die unterdrückten Aspekte der viktorianischen Gesellschaft: Sexualität, Wahnsinn, koloniale Schuld und weibliche Rebellion. Bertha Mason, die “madwoman in the attic”, ist dabei die dramatischste Verkörperung dieser verdrängten Elemente. Als Rochesters erste Ehefrau, eingesperrt im Dachgeschoss, repräsentiert sie sowohl das koloniale “Andere” als auch die dunkle Seite der weiblichen Sexualität und Rebellion.

Besonders innovativ ist Brontës Verwendung übernatürlicher Elemente. Die telepathische Verbindung zwischen Jane und Rochester, die Jane seinen verzweifelten Ruf über große Entfernung hinweg hören lässt, wird weder rational erklärt noch als pure Fantasie abgetan. Diese Ambivalenz zwischen übernatürlicher und psychologischer Deutung ist charakteristisch für Brontës Modernisierung des Gothic-Genres. Die telepathische Episode kann sowohl als übernatürliches Ereignis als auch als Manifestation der tiefen emotionalen Verbindung zwischen den Protagonisten interpretiert werden.

Die Gothic-Atmosphäre wird auch durch die Naturdarstellung verstärkt. Stürmische Nächte, wilde Moorlandschaften und düstere Wetterstimmungen spiegeln die emotionalen Zustände der Charaktere wider. Der Kastanienbaum, der in der Nacht von Janes und Rochesters erster Verlobung vom Blitz gespalten wird, ist mehr als nur ein dramatischer Effekt - er ist ein prophetisches Symbol für die kommende Trennung der Liebenden. Diese Verschmelzung von äußerer Natur und innerem Erleben ist ein klassisches Gothic-Element, das Brontë meisterhaft psychologisch vertieft.

Auch die Zeitstruktur des Romans folgt Gothic-Konventionen. Die Rückblenden in Janes Kindheit, die mysteriösen Andeutungen über Rochesters Vergangenheit und die allmähliche Enthüllung der Geheimnisse erzeugen eine Spannung, die typisch für das Genre ist. Doch während der klassische Gothic-Roman oft bei der oberflächlichen Spannung bleibt, nutzt Brontë diese Struktur, um die psychologische Entwicklung ihrer Charaktere zu vertiefen.

Ein weiteres charakteristisches Gothic-Element sind die wiederkehrenden Motive von Gefangenschaft und Flucht. Von Janes Eingesperrtsein im “Roten Zimmer” als Kind bis zu Berthas Gefangenschaft im Dachgeschoss zieht sich dieses Motiv durch den Roman. Dabei wird die physische Gefangenschaft immer auch als Metapher für soziale und psychologische Einschränkungen verstanden. Die Fluchtbewegungen der Charaktere sind entsprechend sowohl körperlich als auch seelisch zu verstehen.

Die Darstellung des “Roten Zimmers” zu Beginn des Romans ist ein Paradebeispiel für Brontës Umgang mit Gothic-Elementen. Der Raum, in dem Jane als Strafe eingesperrt wird und in dem ihr Onkel starb, vereint alle klassischen Elemente des Gothic Horror: die rote Färbung, die gespenstischen Schatten, die unheimlichen Spiegelungen. Doch Brontë nutzt diese Szene nicht nur zur Erzeugung von Schrecken, sondern auch zur Darstellung von Janes psychologischem Trauma und erwachendem Widerstand gegen Ungerechtigkeit.

Bemerkenswert ist auch die Verwendung von Träumen und Visionen. Janes wiederkehrende Träume von einem zerstörten Thornfield Hall haben prophetischen Charakter, sind aber gleichzeitig psychologisch motiviert. Sie drücken ihre unbewussten Ängste und Ahnungen aus. Die Verschmelzung von übernatürlicher Vorausschau und psychologischer Wahrheit ist charakteristisch für Brontës modernisierten Gothic-Stil.

Die Feuersbrunst, die Thornfield Hall schließlich zerstört, ist der dramatische Höhepunkt der Gothic-Elemente. Das brennende Herrenhaus, die wahnsinnige Frau, die sich vom Dach stürzt, der geblendete und verstümmelte Rochester - all dies sind klassische Gothic-Motive. Doch Brontë nutzt diese dramatischen Ereignisse nicht um ihrer selbst willen, sondern als Katalysator für die moralische und emotionale Entwicklung ihrer Charaktere.

Durch die geschickte Verwendung und Transformation traditioneller Gothic-Elemente schafft Brontë einen Roman, der sowohl die Spannung des Schauerromans als auch die psychologische Tiefe des realistischen Romans besitzt. Die Gothic-Elemente dienen nicht nur der Unterhaltung, sondern werden zu Werkzeugen der sozialen Kritik und psychologischen Analyse. Das Übernatürliche wird nicht einfach als Faktum präsentiert, sondern bleibt in einer produktiven Spannung zwischen rationaler und irrationaler Deutung.

Diese innovative Verwendung von Gothic-Elementen macht “Jane Eyre” zu einem Wendepunkt in der Entwicklung des Genres. Der Roman zeigt, wie die Konventionen des Gothic Horror für eine tiefgreifende Erforschung psychologischer und sozialer Themen genutzt werden können. Brontës Verschmelzung von Gothic-Elementen mit psychologischem Realismus wurde zum Vorbild für viele spätere Autoren und prägt bis heute unser Verständnis davon, wie übernatürliche und psychologische Elemente in der Literatur zusammenwirken können.

Gesellschaftskritik im viktorianischen England

“Jane Eyre” ist nicht nur eine packende Liebesgeschichte, sondern auch eine scharfsinnige Analyse der viktorianischen Gesellschaft. Charlotte Brontë nutzt die Geschichte ihrer Protagonistin, um fundamentale Kritik an den sozialen Strukturen ihrer Zeit zu üben. Dabei richtet sich ihr kritischer Blick besonders auf drei Bereiche: das starre Klassensystem, die mangelhafte Bildung für Mädchen und die eingeschränkte Rolle der Frau in der Gesellschaft.

Die Kritik am Klassensystem manifestiert sich bereits in der Figur der Jane selbst. Als Waise aus guter Familie, aber ohne Vermögen, verkörpert sie die prekäre Position der verarmten Mittelschicht. Ihre Erfahrungen bei den Reeds zeigen die Grausamkeit eines Systems, das Menschen allein aufgrund ihrer ökonomischen Situation ausgrenzt. Mrs. Reed, die Jane als unter ihrem Stand stehend betrachtet, repräsentiert die Arroganz der besitzenden Klasse. Die Szenen, in denen die junge Jane gegen diese Ungerechtigkeit aufbegehrt, sind mehr als persönliche Rebellion - sie sind eine Anklage gegen die Willkür sozialer Hierarchien.

Besonders deutlich wird die Klassenkritik in der Darstellung der Position der Gouvernante. Als gebildete Frau, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten muss, befindet sich Jane in einem sozialen Zwischenraum. Sie ist zu gebildet, um sich mit der Dienerschaft zu identifizieren, aber in den Augen der Upper Class nicht standesgemäß genug für gleichberechtigten Umgang. Diese soziale Ambivalenz spiegelt sich in der anfänglichen Beziehung zu Rochester wider, wo Standesunterschiede als scheinbar unüberwindbare Barriere erscheinen. Dass Jane trotz ihrer untergeordneten sozialen Position auf ihrer persönlichen Würde besteht, ist eine radikale Kritik an den herrschenden Konventionen.

Die Darstellung der Lowood Institution bildet den Kern von Brontës Kritik am Bildungssystem für Mädchen. Die unmenschlichen Bedingungen in der Schule - unzureichende Ernährung, mangelnde Heizung, körperliche Züchtigung - sind nicht nur biografisch inspiriert, sondern stehen exemplarisch für die Vernachlässigung der Mädchenbildung im viktorianischen England. Mr. Brocklehurst, der heuchlerische Schulleiter, verkörpert dabei die Verbindung von religiöser Scheinheiligkeit und pädagogischer Grausamkeit. Seine Predigten über christliche Demut, während die Schülerinnen hungern und frieren, sind eine beißende Satire auf die etablierte Kirche und ihre Bildungseinrichtungen.

Gleichzeitig zeigt Brontë durch Figuren wie Miss Temple einen alternativen pädagogischen Ansatz. Die humane und intellektuell fördernde Atmosphäre, die Miss Temple schafft, steht für Brontës Vision einer Mädchenbildung, die nicht auf Unterwerfung und Demütigung, sondern auf Respekt und Förderung basiert. Dass Jane später selbst als Lehrerin arbeitet und dabei einen ähnlich emanzipatorischen Ansatz verfolgt, unterstreicht die Bedeutung der Bildung für die weibliche Selbstbestimmung.

Die schärfste Kritik übt der Roman an der Position der Frau in der viktorianischen Gesellschaft. Janes Ausruf “Frauen fühlen genauso wie Männer” war für die damalige Zeit revolutionär. Die Beschränkungen, denen Frauen unterworfen waren - die Erwartung passiver Unterwerfung, die ökonomische Abhängigkeit, die eingeschränkten Berufsmöglichkeiten - werden im Roman schonungslos offengelegt. Besonders deutlich wird dies in der Parallelisierung von Jane und Bertha Mason. Bertha, die “wahnsinnige Frau im Dachgeschoss”, kann als extreme Manifestation weiblicher Unterdrückung gelesen werden.

Die Heiratskonventionen der Zeit werden besonders kritisch beleuchtet. Rochesters erste Ehe mit Bertha Mason zeigt die Problematik arrangierter Ehen, bei denen Frauen wie Handelswaren behandelt werden. St. John Rivers’ Heiratsantrag an Jane, der eine Ehe ohne Liebe aus reiner Zweckmäßigkeit vorschlägt, wird als ebenso problematisch dargestellt. Janes Beharren auf einer Ehe, die auf gegenseitiger Liebe und Respekt basiert, ist eine radikale Absage an die konventionellen Vorstellungen ihrer Zeit.

Die ökonomische Dimension der weiblichen Abhängigkeit wird durch verschiedene Frauenschicksale im Roman illustriert. Die Notwendigkeit für unverheiratete Frauen, als Gouvernante zu arbeiten, die prekäre Situation von Witwen wie Mrs. Reed, die völlige Rechtlosigkeit verheirateter Frauen - all dies sind Aspekte der systematischen Benachteiligung von Frauen, die Brontë thematisiert. Dass Jane am Ende des Romans durch eine Erbschaft finanziell unabhängig wird, bevor sie Rochester heiratet, ist ein wichtiges Statement zur Bedeutung weiblicher ökonomischer Selbstständigkeit.

Bemerkenswert ist auch die Kritik an der doppelten Moral der viktorianischen Gesellschaft. Während von Frauen absolute Treue und moralische Reinheit erwartet wurde, wurden männliche Eskapaden toleriert. Rochesters Vergangenheit und sein Umgang damit sind eine deutliche Kritik an dieser Doppelmoral. Jane selbst verkörpert einen neuen Typus der moralischen Integrität, der nicht auf äußeren Konventionen, sondern auf innerer Überzeugung basiert.

Die Gesellschaftskritik in “Jane Eyre” ist deshalb so wirkungsvoll, weil sie nicht abstrakt bleibt, sondern durch konkrete Charaktere und Situationen vermittelt wird. Die persönliche Geschichte Janes wird zur Parabel für die Emanzipation der Frau, ihre individuellen Kämpfe spiegeln den größeren Kampf um soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung. Dass der Roman trotz seiner kritischen Haltung nicht in simple Anklagen verfällt, sondern die Komplexität sozialer Beziehungen anerkennt, macht ihn zu einem zeitlosen Dokument sozialkritischer Literatur.

Der literarische Einfluss bis heute

Der Einfluss von “Jane Eyre” auf die Literatur- und Kulturgeschichte lässt sich kaum überschätzen. Seit seiner Veröffentlichung 1847 hat der Roman nicht nur unzählige Adaptionen in verschiedenen Medien inspiriert, sondern auch ganze literarische Genres geprägt und neue Wege der feministischen Literaturinterpretation eröffnet. Seine Wirkung reicht weit über den englischsprachigen Raum hinaus und ist bis heute ungebrochen.

Die unmittelbarste Form des Einflusses zeigt sich in den zahllosen Adaptionen. Bereits im 19. Jahrhundert entstanden erste Theaterfassungen, und mit dem Aufkommen des Films wurde “Jane Eyre” zu einem beliebten Stoff für Verfilmungen. Von der ersten Stummfilmversion 1910 bis zu Cary Fukunagas atmosphärischer Interpretation 2011 mit Mia Wasikowska und Michael Fassbender sind mehr als zwanzig Kinoadaptionen entstanden. Jede dieser Versionen spiegelt nicht nur den Zeitgeist ihrer Entstehungsepoche wider, sondern betont auch unterschiedliche Aspekte des Romans: mal die Gothic-Elemente, mal die Liebesgeschichte, mal die gesellschaftskritische Dimension.

Noch bedeutsamer ist der Einfluss des Romans auf die Entwicklung des Genres “Female Gothic”. Dieses literarische Genre, das übernatürliche Elemente mit weiblicher Perspektive und feministischer Kritik verbindet, wurde maßgeblich durch “Jane Eyre” geprägt. Die Verschmelzung von Gothic-Horror mit psychologischer Tiefe und sozialer Kritik wurde zum Modell für zahlreiche Autorinnen. Werke wie Daphne du Mauriers “Rebecca” (1938) greifen bewusst Motive aus “Jane Eyre” auf und entwickeln sie weiter. Die mysteriöse erste Ehefrau, das brennende Herrenhaus, die junge Frau, die sich in einem von Geheimnissen umgebenen Haushalt zurechtfinden muss - diese Elemente wurden zu wiederkehrenden Motiven des Genres.

Die feministische Literaturkritik hat “Jane Eyre” als Schlüsseltext für das Verständnis weiblichen Schreibens identifiziert. Sandra Gilbert und Susan Gubars bahnbrechendes Werk “The Madwoman in the Attic” (1979) nimmt seinen Titel von Bertha Mason und macht den Roman zum Ausgangspunkt einer neuen Lesart der viktorianischen Frauenliteratur. Die Figur der wahnsinnigen Frau im Dachgeschoss wurde zum Symbol für die unterdrückte weibliche Kreativität und Sexualität in der patriarchalischen Gesellschaft. Diese Interpretation hat nicht nur das Verständnis von “Jane Eyre” nachhaltig verändert, sondern auch einen neuen Blick auf die gesamte Literatur von Frauen im 19. Jahrhundert ermöglicht.

Besonders interessant ist die produktive Auseinandersetzung späterer Autorinnen mit dem Roman. Jean Rhys’ “Wide Sargasso Sea” (1966) erzählt die Vorgeschichte von Bertha Mason/Antoinette Cosway und wurde selbst zu einem Klassiker der postkolonialen Literatur. Rhys’ Roman zeigt exemplarisch, wie “Jane Eyre” auch zur kritischen Reflexion über koloniale Machtverhältnisse und kulturelle Identität anregt. Die Umdeutung der “wahnsinnigen Frau” zur komplexen Figur mit eigener Geschichte wurde zum Modell für viele postkoloniale Neuinterpretationen klassischer Texte.

In der zeitgenössischen Literatur lässt sich der Einfluss von “Jane Eyre” in verschiedenen Formen beobachten. Modern interpretierte Gouvernantenromane, psychologische Thriller mit Gothic-Elementen und feministische Bildungsromane greifen immer wieder auf Motive und Strukturen des Romans zurück. Dabei geht es nicht um simple Nachahmung, sondern um kreative Neuinterpretation. Die Grundthemen des Romans - der Kampf um Selbstbestimmung, die Spannung zwischen Leidenschaft und Vernunft, die Suche nach Authentizität in einer restriktiven Gesellschaft - erweisen sich als zeitlos aktuell.

Auch in der Populärkultur ist der Einfluss von “Jane Eyre” ungebrochen. Von Young Adult-Romanen bis zu paranormalen Liebesgeschichten lassen sich Spuren des Romans finden. Die Figur der selbstbewussten jungen Frau, die sich gegen soziale Konventionen behauptet, ist zu einem wiederkehrenden Motiv geworden. Selbst in scheinbar weit entfernten Genres wie der Science-Fiction finden sich Adaptionen der Grundkonstellation von “Jane Eyre”.

Die akademische Auseinandersetzung mit dem Roman hat in den letzten Jahrzehnten neue Dimensionen erschlossen. Neben feministischen und postkolonialen Lesarten haben sich ökokritische, psychoanalytische und queertheoretische Interpretationen entwickelt. Die Vielschichtigkeit des Romans ermöglicht immer neue Deutungen und macht ihn zu einem idealen Gegenstand für die Erprobung neuer literaturtheoretischer Ansätze.

Besonders bemerkenswert ist die internationale Wirkung des Romans. Durch Übersetzungen in zahlreiche Sprachen hat “Jane Eyre” Autorinnen und Autoren weltweit beeinflusst. Die universelle Resonanz der Geschichte zeigt sich in den vielen kulturspezifischen Adaptionen, die die Grundmotive des Romans in neue kulturelle Kontexte übersetzen.

Der anhaltende Einfluss von “Jane Eyre” erklärt sich nicht zuletzt aus der zeitlosen Modernität des Romans. Die psychologische Komplexität der Charaktere, die nuancierte Darstellung moralischer Konflikte und die radikale Vision weiblicher Selbstbestimmung sprechen auch heutige Leser unmittelbar an. In einer Zeit, in der Fragen von Gender, Identität und sozialer Gerechtigkeit intensiv diskutiert werden, erweist sich “Jane Eyre” als überraschend aktuell. Der Roman bleibt nicht nur ein historisches Dokument, sondern ein lebendiger Text, der immer neue Generationen von Lesern und Künstlern inspiriert.

Erster Teil.

Erstes Kapitel.

Es war ganz unmöglich, an diesem Tage einen Spaziergang zu machen. Am Morgen waren wir allerdings während einer ganzen Stunde in den blätterlosen, jungen Anpflanzungen umhergewandert; aber seit dem Mittagessen – Mrs. Reed speiste stets zu früher Stunde, wenn keine Gäste zugegen waren – hatte der kalte Winterwind so düstere, schwere Wolken und einen so durchdringenden Regen heraufgeweht, daß von weiterer Bewegung in frischer Luft nicht mehr die Rede sein konnte.

Ich war von Herzen froh darüber: lange Spaziergänge, besonders an frostigen Nachmittagen, waren mir stets zuwider: – ein Greuel war es mir, in der rauhen Dämmerstunde nach Hause zu kommen, mit fast erfrorenen Händen und Füßen, – mit einem Herzen, das durch das Schelten Bessie’s, der Kinderwärterin, bis zum Brechen schwer war, – gedemütigt durch das Bewußtsein, physisch so tief unter Eliza, John und Georgina Reed zu stehen.

Die soeben erwähnten Eliza, John und Georgina hatten sich in diesem Augenblick im Salon um ihre Mama versammelt: diese ruhte auf einem Sofa in der Nähe des Kamins und umgeben von ihren Lieblingen, die zufälligerweise in diesem Moment weder zankten noch schrieen, sah sie vollkommen glücklich aus. Mich hatte sie davon dispensiert, mich der Gruppe anzuschließen, indem sie sagte, daß es sie tief unglücklich mache, gezwungen zu sein, mich fern zu halten; daß sie mich aber von Vorrechten ausschließen müsse, zu deren Genuß nur zufriedene, glückliche, kleine Kinder berechtigt seien, und daß sie mir erst verzeihen würde, wenn sie sowohl durch eigene Wahrnehmung wie durch Bessie’s Worte zu der Überzeugung gelangt sein würde, daß ich in allem Ernst versuche, mir anziehendere und freundlichere Manieren, einen kindlicheren, geselligeren Charakter – ein leichteres, offenherzigeres, natürlicheres Benehmen anzueignen.

»Was sagt denn Bessie, daß ich gethan habe?« fragte ich.

»Jane, ich liebe weder Spitzfindigkeiten noch Fragen; außerdem ist es gradezu widerlich, wenn ein Kind ältere Leute in dieser Weise zur Rede stellt. Augenblicklich setzest du dich irgendwo hin und schweigst, bis du freundlicher und liebenswürdiger reden kannst.«

An das Wohnzimmer stieß ein kleines Frühstückszimmer: ich schlüpfte hinein. Hier stand ein großer Bücherschrank. Bald hatte ich mich eines großen Bandes bemächtigt, nachdem ich mich zuerst vorsichtig vergewissert hatte, daß er Bilder enthalte. Ich stieg auf den Sitz in der Fenstervertiefung, zog die Füße nach und kreuzte die Beine wie ein Türke; dann zog ich die dunkelroten Moiree-Vorhänge fest zusammen und saß so in einem doppelten Versteck.

Scharlachrote Draperien schlossen mir die Aussicht zur rechten Hand; links befanden sich die großen, klaren Fensterscheiben, die mich vor dem düstern Novembertag wohl schützten, mich aber nicht von ihm trennten. In kurzen Zwischenräumen, wenn ich die Blätter meines Buches wendete, fiel mein Blick auf das Bild dieses winterlichen Nachmittags. In der Ferne war nichts als ein blasser, leerer Nebel, Wolken; im Vordergrunde der feuchte, freie Platz vor dem Hause, vom Winde entlaubte Gesträuche, und ein unaufhörlicher vom Sturm wildgepeitschter Regen.

Ich kehrte zu meinem Buche zurück – Bewicks Geschichte von Englands gefiederten Bewohnern; im allgemeinen kümmerte ich mich wenig um den gedruckten Text des Werkes, und doch waren da einige einleitende Seiten, welche ich, obgleich nur ein Kind, nicht gänzlich übergehen konnte. Es waren jene, die von den Verstecken der Seevögel handelten, von jenen einsamen Felsen und Klippen, welche nur sie allein bewohnen, von der Küste Norwegens, die von ihrer äußersten südlichen Spitze, dem Lindesnäs bis zum Nordkap mit Inseln besäet ist.

Wo der nördliche Ozean, in wildem Wirbel

Um die nackten, öden Inseln tobt

Des ultima Thule; und das atlantische Meer

Sich stürmisch zwischen die Hebriden wälzt.

Auch konnte ich nicht unbeachtet lassen, was dort stand von den düsteren Küsten Lapplands, Sibiriens, Spitzbergens, Novazemblas, Islands, Grönlands, mit dem weiten Bereich der arktischen Zone und jenen einsamen Regionen des öden Raums – jenem Reservoir von Eis und Schnee, wo fest gefrorene Felder – die Anhäufung von Jahrhunderten von Wintern – alpine Höhen auf Höhen erfroren, den Nordpol umgeben und die vervielfachte Strenge der äußersten Kälte konzentrieren. Von diesen todesweißen Regionen machte ich mir meinen eigenen Begriff: schattenhaft, wie all jene nur halb verstandenen Gedanken, die eines Kindes Hirn kreuzen, aber einen seltsam tiefen Eindruck hinterlassend. Die Worte dieser einleitenden Seiten verbanden sich mit den darauf folgenden Vignetten und gaben allen eine Bedeutung: jenem Felsen, der aus einem Meer von Wellen und Wogenschaum emporragte; dem zertrümmerten Boote, das an traurig wüster Küste gestrandet; dem kalten, geisterhaften Monde, der durch düstere Wolkenmassen auf ein sinkendes Wrack herabblickt.

Ich weiß nicht mehr, mit welchem Empfinden ich auf den stillen, einsamen Friedhof mit seinem beschriebenen Leichenstein sah, auf jenes Thor, die beiden Bäume, den niedrigen Horizont, der durch eine zerfallene Mauer begrenzt war, auf die schmale Mondessichel, deren Aufgang die Stunde der Abendflut bezeichnete.

Die beiden Schiffe, welche auf regungsloser See von einer Windstille befallen werden, hielt ich für Meergespenster.

Über den Unhold, welcher das Bündel des Diebes auf dessen Rücken fest band, eilte ich flüchtig hinweg; er war ein Gegenstand des Schreckens für mich.

Und ein gleiches Entsetzen flößte mir das schwarze, gehörnte Etwas ein, das hoch auf einem Felsen saß und in weiter Ferne eine Menschenmasse beobachtete, die einen Galgen umgab.

Jedes Bild erzählte eine Geschichte: oft war diese für meinen unentwickelten Verstand geheimnisvoll, meinem unbestimmten Empfinden unverständlich, – stets aber flößte sie mir das tiefste Interesse ein: dasselbe Interesse, mit welchem ich den Erzählungen Bessie’s horchte, wenn sie zuweilen an Winterabenden in guter Laune war; dann pflegte sie ihren Plätttisch an das Kaminfeuer der Kinderstube zu bringen, erlaubte uns, unsere Stühle an denselben zu rücken, und während sie dann Mrs. Reeds Spitzenvolants bügelte und die Spitzen ihrer Nachthauben kräuselte, ergötzte sie unsere Ohren mit Erzählungen von Liebesgram und Abenteuern aus alten Märchen und noch älteren Balladen, oder – wie ich erst viel später entdeckte – aus den Blättern von Pamela, und Henry, Graf von Moreland.

Mit Bewick auf meinen Knieen war ich damals glücklich: glücklich wenigstens auf meine Art. Ich fürchtete nichts als eine Unterbrechung, eine Störung – und diese kam nur zu bald. Die Thür zum Frühstückszimmer wurde geöffnet.

»Bah, Frau Träumerin!« ertönte John Reeds Stimme; dann hielt er inne; augenscheinlich war er erstaunt, das Zimmer leer zu finden.

»Wo zum Teufel ist sie denn?« fuhr er fort, »Lizzy! Georgy!« rief er seinen Schwestern zu, »Joan ist nicht hier. Sagt doch Mama, daß sie in den Regen hinaus gelaufen ist – das böse Tier!«

»Wie gut, daß ich den Vorhang zusammengezogen habe,« dachte ich; und dann wünschte ich inbrünstig, daß er mein Versteck nicht entdecken möge; John Reed selbst würde es auch niemals entdeckt haben; er war langsam, sowohl von Begriffen wie in seinem Wahrnehmungsvermögen; aber Eliza steckte den Kopf zur Thür hinein und sagte sofort:

»Sie ist gewiß wieder in die Fenstervertiefung gekrochen, sieh nur nach, Jack,«

Ich trat sofort heraus, denn ich zitterte bei dem Gedanken, daß der erwähnte Jack mich hervorzerren würde.

»Da bin ich, was wünscht Ihr?« fragte ich mit schlecht erheuchelter Gleichgültigkeit.

»Sag: was wünschen Sie, Mr. Reed,« lautete seine Antwort. »Ich will, daß du hierher kommst,« und indem er in einem Lehnstuhl Platz nahm, gab er mir durch eine Geste zu verstehen, daß ich näher kommen und vor ihn treten solle.

John Reed war ein Schuljunge von vierzehn Jahren; vier Jahre älter als ich, denn ich war erst zehn Jahr alt; groß und stark für sein Alter, mit einer unreinen, ungesunden Hautfarbe; große Züge in einem breiten Gesicht, schwerfällige Gliedmaßen und große Hände und Füße. Gewöhnlich pflegte er sich bei Tische so vollzupfropfen, daß er gallig wurde; das machte seine Augen trübe und seine Wangen schlaff. Eigentlich hätte er jetzt in der Schule sein müssen, aber seine Mama hatte ihn für ein bis zwei Monate nach Hause geholt »seiner zarten Gesundheit wegen«. Mr. Miles, der Direktor der Schule versicherte, daß es ihm außerordentlich gut gehen würde, wenn man ihm nur weniger Kuchen und Leckerbissen von Hause schicken wollte; aber das Herz der Mutter empörte sich bei einer so roh ausgesprochenen Meinung und neigte mehr zu der feineren und zarteren Ansicht, daß Johns blaßgelbe Farbe von Überanstrengung beim Lernen und vielleicht auch von Heimweh herrühre. –

John hegte wenig Liebe für seine Mutter und seine Schwestern, und eine starke Antipathie gegen mich. Er quälte und bestrafte mich; nicht zwei- oder dreimal in der Woche, nicht ein- oder zweimal am Tage, sondern fortwährend und unaufhörlich; jeder Nerv in mir fürchtete ihn, und jeder Zollbreit Fleisch auf meinen Knochen schauderte und zuckte, wenn er in meine Nähe kam. Es gab Augenblicke, wo der Schrecken, den er mir einflößte, mich ganz besinnungslos machte; denn ich hatte niemanden, der mich gegen seine Drohungen und seine Thätlichkeiten verteidigte; die Dienerschaft wagte es nicht, ihren jungen Herren zu beleidigen, indem sie für mich gegen ihn Partei ergriff, und Mrs. Reed war in diesem Punkte blind und taub: sie sah niemals, wenn er mich schlug, sie hörte niemals, wenn er mich beschimpfte, obgleich er beides gar oft in ihrer Gegenwart that: häufiger zwar noch hinter ihrem Rücken.

Aus Gewohnheit gehorchte ich John auch dieses Mal und näherte mich seinem Stuhl: ungefähr zwei bis drei Minuten brachte er damit zu, mir seine Zunge so weit entgegenzustrecken, wie er es ohne Gefahr für seine Zungenbänder bewerkstelligen konnte; ich fühlte, daß er mich jetzt gleich schlagen würde, und obgleich ich eine tödliche Angst vor dem Schlage empfand, vermochte ich doch über die ekelerregende und häßliche Erscheinung des Burschen, der denselben austeilen würde, meine Betrachtungen anzustellen. Ich weiß nicht, ob er diese Gedanken auf meinem Gesichte las, denn plötzlich, ohne ein Wort zu sagen, schlug er heftig und brutal auf mich los. Ich taumelte; dann gewann ich das Gleichgewicht wieder und trat einige Schritte von seinem Stuhl zurück.

»Das ist für die Frechheit, daß du vor einer Weile gewagt hast, Mama eine Antwort zu geben,« sagte er, »und daß du gewagt hast, dich hinter den Vorhang zu verkriechen, und für den Blick, den ich vor zwei Minuten in deinen Augen gewahrte, du Ratze, du!«

An Johns Beschimpfungen gewöhnt, fiel es mir niemals ein, irgend etwas auf dieselben zu erwidern; ich dachte nur daran, wie ich den Schlag ertragen sollte, der unfehlbar auf die Schimpfworte folgen würde.

»Was hast du da hinter dem Vorhange gemacht?« fragte er weiter.

»Ich habe gelesen.«

»Zeige mir das Buch.«

Ich ging an das Fenster zurück und holte es von dort.

»Du hast kein Recht, unsere Bücher zu nehmen; du bist eine Untergebene, hat Mama gesagt; du hast kein Geld; dein Vater hat dir keins hinterlassen; eigentlich solltest du betteln und hier nicht mit den Kindern eines Gentleman, wie wir es sind, zusammen leben, und dieselben Mahlzeiten essen wie wir, und Kleider tragen, die unsere Mama dir kaufen muß. Nun, ich werde dich lehren, zwischen meinen Büchern umherzustöbern, denn sie gehören mir, und das ganze Haus gehört mir, oder wird mir wenigstens in einigen Jahren gehören. Geh und stell dich an die Thür; nicht vor den Spiegel oder die Fenster.«

Ich that, wie mir geheißen, ohne eine Ahnung von seiner Absicht zu haben; als ich aber gewahrte, daß er das Buch emporhob und mit demselben zielte, sprang ich instinktiv zur Seite und stieß einen Schreckensschrei aus; jedoch nicht schnell genug; das Buch wurde geschleudert, es traf mich, und ich fiel, indem ich mit dem Kopf gegen die Thür schlug und mich verletzte. Die Wunde blutete, der Schmerz war heftig; mein Entsetzen war über den Höhepunkt hinausgegangen; andere Empfindungen bemächtigten sich meiner.

»Du böser, grausamer Bube!« schrie ich, »Du bist wie ein Mörder – du bist wie ein Sklaventreiber – du bist wie die römischen Kaiser!«

Ich hatte Goldsmiths Geschichte Roms gelesen und mir meine eigene Ansicht über Nero, Caligula und andere gebildet. Im Stillen hatte ich Vergleiche gezogen, welche laut zu äußern allerdings niemals meine Absicht gewesen,

»Was! Was!« schrie er, »Hat sie das zu mir gesagt? Habt ihr es gehört, Eliza und Georgina? Das will ich der Mama erzählen! – Aber erst noch – –«

Er stürzte auf mich zu: ich fühlte, wie er mein Haar und meine Schulter faßte; er kämpfte mit einem verzweifelten Geschöpfe. Ich sah wirklich in ihm einen Tyrannen, – einen Mörder. Dann fühlte ich, wie einzelne Blutstropfen von meinem Kopfe auf den Hals herabfielen, und empfand einen stechenden Schmerz: diese Empfindungen siegten für den Augenblick über die Furcht und ich trat ihm in wahnsinniger Wut entgegen. Was ich mit meinen Händen that, kann ich jetzt nicht mehr sagen, aber er schrie fortwährend »Ratze! Ratze!« und brüllte aus Leibeskräften. Hilfe war ihm nahe: Eliza und Georgina waren gelaufen, um Mrs. Reed zu holen, die nach oben gegangen war. Jetzt erschien sie auf der Scene, und ihr folgten Bessie und ihre Kammerjungfer Abbot. Man trennte uns: dann vernahm ich die Worte:

»Du liebe Zeit! Du liebe Zeit! Welch eine Furie, so auf Mr. John loszustürzen!«

»Hat man jemals ein so leidenschaftliches Geschöpf gesehen!« –

Dann fügte Mrs. Reed hinzu:

»Führt sie in das rote Zimmer und schließt sie dort ein.« Vier Hände bemächtigten sich meiner sofort und man trug mich nach oben.

Zweites Kapitel

Auf dem ganzen Wege leistete ich Widerstand; dies war etwas Neues und ein Umstand, der viel dazu beitrug, Bessie und Miß Abbot in der schlechten Meinung zu bestärken, welche diese ohnehin schon von mir hegten. Thatsache ist, daß ich vollständig außer mir war, wie die Franzosen zu sagen pflegen; ich wußte sehr wohl, daß die Empörung dieses einen Augenblicks mir schon außergewöhnliche Strafen zugezogen haben mußte, und wie viele andere rebellische Sklaven war ich in meiner Verzweiflung fest entschlossen, bis ans Äußerste zu gehen.

»Halten Sie ihre Arme, Miß Abbot; sie ist wie eine wilde Katze.«

»Schämen Sie sich! Schämen Sie sich!« rief die Kammerjungfer. »Welch ein abscheuliches Betragen, Miß Eyre, einen jungen Gentleman zu schlagen! Den Sohn Ihrer Wohlthäterin! Ihren jungen Herrn!«

»Herr! Wie ist er mein Herr? Bin ich denn eine Dienerin?«

»Nein. Sie sind weniger als eine Dienerin, denn Sie thun nichts, Sie arbeiten nicht für Ihren Unterhalt. Da! Setzen Sie sich und denken Sie über Ihre Schlechtigkeit und Bosheit nach!«

Inzwischen hatten sie mich in das von Mrs. Reed bezeichnete Gemach gebracht und mich auf einen Stuhl geworfen; mein erster Impuls war, wie eine Sprungfeder wieder von demselben empor zu schnellen; vier Hände hielten mich jedoch augenblicklich wieder wie mit eisernen Klammern.

»Wenn Sie nicht still sitzen, werden wir Sie festbinden,« sagte Bessie. »Miß Abbot, borgen Sie mir Ihre Strumpfbänder; die meinen würde sie augenblicklich zerreißen.«

Miß Abbot wandte sich ab, um ein starkes Bein von den notwendigen Banden zu befreien. Diese Vorbereitungen, um mir Fesseln anzulegen, und die neue Schande, die dies für mich bedeutete, diente dazu, meine Aufregung ein wenig zu mindern.

»Nehmen Sie sie nicht ab,« schrie ich, »ich werde ganz still sitzen.«

Um ihnen für dies Versprechen eine Garantie zu bieten, hielt ich mich mit beiden Händen an meinem Sitz fest.

»Das möchte ich Ihnen auch raten,« sagte Bessie; und als sie sich überzeugt hatte, daß ich wirklich anfing, mich zu beruhigen, ließ sie mich los; dann stellten sie und Miß Abbot sich mit gekreuzten Armen vor mich und blickten finster und zweifelnd in mein Gesicht, als glaubten sie nicht an meinen gesunden Verstand,

»Das hat sie bis jetzt noch niemals gethan,« sagte endlich Bessie zu Abigail gewendet.

»Aber es hat schon lange in ihr gesteckt,« lautete die Antwort. »Ich habe der gnädigen Frau schon oft meine Meinung über das Kind gesagt, und sie hat mir auch beigestimmt. Sie ist ein verstecktes, kleines Ding: ich habe noch nie ein Mädchen in ihrem Alter gesehen, das so schlau wäre.«

Bessie antwortete nicht; nach einer Welle wandte sie sich zu mir und sagte:

»Fräulein, Sie sollten doch wissen, daß Sie Mrs. Reed verpflichtet sind, sie erhält Sie. Wenn sie Sie fortschickte, so müßten Sie ins Armenhaus gehen.«

Auf diese Worte fand ich nichts zu erwidern; sie waren mir nicht mehr neu; so weit ich in meinem Leben zurückdenken konnte, hatte ich Winke desselben Inhalts gehört. Dieser Vorwurf meiner Abhängigkeit war in meinen Ohren fast zum leeren, bedeutungslosen Singsang geworden, sehr schmerzlich und bedrückend, aber nur halb verständlich. Nun fiel auch Miß Abbot ein:

»Und Sie sollten auch nicht denken, daß Sie mit den Fräulein Reed und Mr. Reed auf gleicher Stufe stehen, weil Mrs. Reed Ihnen gütig erlaubt, mit ihren Kindern erzogen zu werden. Diese werden einmal ein großes Vermögen haben, und Sie sind arm. Sie müssen demütig und bescheiden sein und versuchen, sich den andern angenehm zu machen.«

»Was wir Ihnen sagen, ist zu Ihrem Besten,« fügte Bessie hinzu, ohne in hartem Ton zu reden, »Sie sollten versuchen, sich nützlich und angenehm zu machen, dann würden Sie hier vielleicht eine Heimat finden; wenn Sie aber heftig und roh und ungezogen werden, so wird Mrs. Reed Sie fortschicken, davon bin ich fest überzeugt.«

»Außerdem,« sagte Miß Abbot, »wird Gott Sie strafen. Er könnte Sie mitten in Ihrem Trotz tot zu Boden fallen lassen, und wohin kämen Sie dann? Kommen Sie, Bessie, wir wollen sie allein lassen: um keinen Preis der Welt möchte ich ihr Herz haben. Sagen Sie Ihr Gebet, Miß Eyre, wenn Sie allein sind; denn wenn Sie nicht bereuen, könnte etwas Schreckliches durch den Kamin herunterkommen und Sie holen.«

Sie gingen und schlossen die Thür hinter sich ab.

Das rote Zimmer war ein Fremdenzimmer, in dem nur selten jemand schlief; ich könnte beinahe sagen niemals oder nur dann, wenn ein zufälliger Zusammenfluß von Besuchern auf Gateshead-Hall es notwendig machte, alle Räumlichkeiten des Hauses nutzbar zu machen. Und doch war es eins der schönsten und prächtigsten Gemächer im Herrenhause. Wie ein Tabernakel stand im Mittelpunkt desselben ein Bett von massiven Mahagonipfeilern getragen und mit Vorhängen von dunkelrotem Damast behängt; die beiden großen Fenster, deren Rouleaux immer herabgelassen waren, wurden durch Gehänge und Faltendraperien vom selben Stoffe halb verhüllt; der Teppich war rot; der Tisch am Fußende des Bettes war mit einer hochroten Decke belegt; die Wände waren mit einem Stoffe behängt, der auf lichtbraunem Grunde ein zartes rosa Muster trug; die Garderobe, der Toilettetisch, die Stühle waren aus dunklem, poliertem Mahagoni angefertigt. Aus diesen düsteren Schatten erhoben sich weiß und hoch und glänzend die aufgehäuften Matratzen und Kopfkissen des Bettes, über die eine schneeweiße Decke gebreitet war. Eben so unheimlich stach ein großer, gepolsterter, ebenfalls weißer Lehnstuhl hervor, der am Kopfende des Bettes stand und vor dem sich ein Fußschemel befand; damals erschien er mir wie ein geisterhafter Thron.

Das Zimmer war dumpf, weil nur selten ein Feuer in demselben angezündet wurde; es war still, weil es weit von der Kinderstube und den Küchen entfernt lag; unheimlich, weil ich wußte, daß fast niemals jemand dasselbe betrat. Nur am Sonnabend kam das Hausmädchen hierher, um den stillen Staub einer Woche von den Möbeln und den Spiegeln zu wischen; und in langen Zwischenräumen kam auch Mrs. Reed hierher, um den Inhalt einer gewissen Schieblade zu revidieren, in welcher sich verschiedene Urkunden, ihre Juwelenschatulle und ein Miniaturbild ihres verstorbenen Gatten befand. In diesen letzten Worten liegt das Geheimnis des roten Zimmers, der Zauberbann, weshalb es trotz seiner Pracht so einsam und verlassen war.

Mr. Reed war seit neun Jahren tot; in diesem Gemache hatte er seinen letzten Atemzug gethan; hier lag er aufgebahrt; von hier hatten die Leichenträger ihn hinausgetragen – und seit jenem Tage hatte ein Gefühl trauriger Weihe jeden unberufenen Besucher von seiner Schwelle fern gehalten.

Der Sitz, auf welchen Bessie und die bitterböse Miß Abbot mich gebannt hatten, war eine niedrige Ottomane, welche nahe dem weißen Marmorkamin stand; das Bett türmte sich vor mir auf; zu meiner Rechten befand sich ein hoher dunkler Garderobenschrank, auf dessen Tafelwerk sich die leisen, düsteren Lichter brachen; zu meiner Linken waren die verhängten Fenster; ein großer Spiegel zwischen denselben wiederholte die totesstille Majestät des Bettes und des Zimmers. Ich war nicht ganz sicher, ob sie die Thür zugeschlossen hatten; und als ich wieder Mut genug hatte, um mich zu bewegen, stand ich auf und ging um nachzusehen. Ach ja! Keine Kerkerthür war jemals sicherer verschlossen! Als ich wieder an die Ottomane zurückging, mußte ich an dem Spiegel vorüber, mein gebannter Blick bohrte sich unwillkürlich in die Tiefe desselben ein. In ihm sah alles noch kühler und hohler und düsterer aus als in Wirklichkeit, und die seltsame, kleine Gestalt, die mir aus ihm entgegenblickte, mit weißem Gesicht und Armen, die grell aus der Dunkelheit hervorleuchteten, mit Augen, die vor Furcht hin- und herrollten, wo sonst alles bewegungslos war – diese kleine Gestalt sah aus, wie ein wirkliches Gespenst; ich dachte an eins jener zarten Phantome, halb Elfe, halb Kobold, wie sie in Bessies Dämmerstunden-Geschichten aus einsamen, wilden Schluchten und düsteren Mooren hervorkamen und sich dem Auge des nächtlichen Wanderers zeigten. Ich kehrte auf meinen Sitz zurück.

In diesem Augenblick bemächtigte der Aberglaube sich meiner, aber die Stunde seines vollständigen Sieges über mich war noch nicht gekommen: mein Blut war noch warm; die Wut des empörten Sklaven erhitzte mich noch mit ihrer ganzen Bitterkeit; ich hatte noch einen wilden Strom von Gedanken an die Vergangenheit zu bändigen, bevor ich mich ganz dem Jammer über die trostlose Gegenwart hingeben konnte.

Wie der schmutzige Bodensatz aus einem trüben Brunnen, so stieg aus meinem bewegten, aufgeregtem Gemüt alles an die Oberfläche meines Empfindens: John Reeds wilde Tyrannei, die hochmütige Gleichgültigkeit seiner Schwestern, die Abneigung seiner Mutter, die Parteilichkeit der Dienstboten! Weshalb mußte ich stets leiden, stets mit verächtlichen Blicken angesehen werden, immer beschuldigt, immer verurteilt werden? Weshalb konnte ich niemals etwas recht machen? Weshalb war es immer nutzlos, wenn ich versuchte, irgend eines Menschen Gunst zu erringen? Man hatte Achtung vor Eliza, die doch so eigensinnig und selbstsüchtig war. Jedermann hatte Nachsicht mit Georgina, die stets übelgelaunt und trotzig und frech war. Ihre Schönheit, ihre rosigen Wangen und goldigen Locken schienen jeden zu entzücken, der sie anblickte und ihr Vergebung für all ihre Mängel und Fehler zu erkaufen. John wurde niemals bestraft, niemand widersprach ihm jemals, obgleich er den Tauben die Hälse umdrehte, die jungen Hühner umbrachte, die Hunde auf die Schafe hetzte, den Weinstock im Treibhause seiner Trauben beraubte und von den seltensten Pflanzen die Knospen abriß; er nannte seine Mutter sogar »liebe Alte«; nahm durchaus keine Rücksicht auf ihre Wünsche; zerriß und beschmutzte ihre seidenen Kleider nicht selten, – und doch war er »ihr einziger Liebling«. Ich wagte niemals, einen Fehler zu begehen; ich bemühte mich stets, meine Pflicht zu thun, und mich nannte man unartig und unerträglich, mürrisch und hinterlistig, vom Morgen bis zum Mittag, vom Mittag bis zum Abend.

Mein Kopf schmerzte noch und blutete nach dem erhaltenen Schlage und dem Falle, welchen ich gethan; niemand hatte John einen Verweis erteilt, weil er mich grundlos geschlagen; aber weil ich mich gegen ihn aufgelehnt hatte, um seiner weiteren unvernünftigen, besinnungslosen Heftigkeit zu entgehen, hatten alle mich mit den lautesten Schmähungen überhäuft.

»Ungerecht! – ungerecht!« sagte meine Vernunft, welcher die fortwährende, qualvolle Aufreizung eine frühzeitige, wenn auch vorübergehende Kraft verliehen hatte; und die Entschlossenheit, welche auch geweckt war, ließ mich allerhand Mittel ersinnen, um eine Flucht aus diesem schier unerträglich gewordenen Drucke zu bewerkstelligen – ich dachte daran, auf und davon zu laufen, oder wenn dies nicht möglich, wenigstens niemals wieder Speise und Trank zu mir zu nehmen und auf diese Weise zu Tode zu hungern.

Wie bestürzt war meine Seele an diesem traurigen Nachmittag! Wie erregt war mein Gemüt, wie furchtbar empört mein Herz! Aber in welcher Düsterheit, welcher Verblendung, welcher unglaublichen Unwissenheit wurde dieser Seelenkampf ausgekämpft! Ich hatte keine Antwort auf die sich mir unaufhörlich aufdrängende Frage, weshalb ich so viel leiden mußte. Jetzt nach Verlauf von – nein, ich will nicht sagen, von wie vielen Jahren – habe ich die Antwort gefunden!

Ich war ein Mißton in Gateshead-Hall. Ich war ein Nichts an diesem Orte; ich hatte keine Gemeinschaft mit Mrs. Reed oder ihren Kindern oder ihren bezahlten Vasallen. Sie liebten mich nicht, und in der That, ich liebte sie ebensowenig. Es war auch nicht ihre Pflicht, mit Liebe auf ein Geschöpf zu blicken, welches mit keiner einzigen Seele sympathisieren konnte; ein heterogenes Geschöpf, welches ihr direktes Gegenteil in Temperament, in Fähigkeiten und Neigungen war; ein nutzloses Geschöpf, welches ihrem Interesse nicht dienen, zu ihrem Vergnügen nichts beitragen konnte; ein strafbares Geschöpf, welches die Keime der Empörung über die ihm widerfahrende Behandlung in sich nährte, ein Geschöpf, das die tiefste Verachtung für ihren Verstand, ihr Urteilsvermögen nährte. Ich weiß wohl, daß, wenn ich ein sanguinisches, geistreiches, herrisches, schönes, wildes Kind gewesen wäre – wenn auch ebenso abhängig und freundlos – so würde Mrs. Reed meine Gegenwart in liebenswürdigerer Weise ertragen haben; ihre Kinder hätten für mich ein freundlicheres Gefühl der Gemeinsamkeit gehegt; die Dienstboten wären weniger geneigt gewesen, mich zum Sündenbock der Kinderstube zu machen.

Das Tageslicht begann aus dem roten Zimmer zu schwinden; es war nach vier Uhr, und auf den bewölkten Nachmittag folgte die trübe Dämmerung. Ich hörte, wie der Regen noch unaufhörlich gegen das Fenster der Treppe schlug, wie der Wind in den Laubgängen hinter dem Herrenhause heulte; nach und nach wurde ich so kalt wie Marmor, und dann begann mein Mut zu sinken. Die gewöhnliche Stimmung des Gedemütigtseins, Zweifel an mir selbst, hilflose Traurigkeit bemächtigten sich meiner und fielen dämpfend auf die Asche meiner dahinschwindenden Wut. Alle sagten ja, daß ich boshaft sei – vielleicht war es der Fall, denn hatte ich nicht soeben den Gedanken gehegt, mich zu Tode zu hungern? Das war doch gewiß ein Verbrechen: denn war ich bereit zu sterben? oder war das Gewölbe unter der Kanzel in der Kirche von Gateshead ein so einladendes Ende? In diesem Gewölbe lag Mr. Reed begraben, wie man mir gesagt hatte; dieser Gedanke führte mich dazu, sein Andenken herauf zu beschwören; und mit wachsendem Grauen verweilte ich bei demselben. Ich konnte mich seiner nicht erinnern; aber ich wußte, daß er mein Onkel gewesen, – der einzige Bruder meiner Mutter – daß er mich in sein Haus aufgenommen, als ich ein armes, elternloses Kind gewesen; und daß er noch in seinen letzten Augenblicken Mrs. Reed das Versprechen abgenommen hatte, mich wie ihr eigenes Kind zu erziehen und zu versorgen. Mrs. Reed war höchstwahrscheinlich der Überzeugung, daß sie dieses Versprechen gehalten habe, und so weit ihre Natur ihr dies erlaubte, hatte sie es auch gethan; aber wie sollte sie denn auch in Wirklichkeit für einen Eindringling Liebe hegen, der nicht zu ihrer Familie gehörte und nach dem Tode ihres Gatten durch keine Bande mehr an sie gekettet war? Es mußte allerdings ärgerlich sein, sich durch ein unter solchen Umständen gegebenes Versprechen genötigt zu sehen, einem fremden Kinde, das sie nicht lieben konnte, die Eltern zu ersetzen, und es ertragen zu müssen, daß eine unsympathische Fremde sich unaufhörlich in ihren Familienkreis drängte. Eine sonderbare Idee bemächtigte sich meiner. Ich zweifelte nicht – hatte es niemals bezweifelt – daß Mr. Reed, wenn er am Leben geblieben, mich mit Güte behandelt haben würde; und jetzt, als ich so dasaß und auf die dunklen Wände und das weiße Bett blickte, zuweilen auch wie gebannt ein Auge auf den trübe blinkenden Spiegel warf – da begann ich mich an das zu erinnern, was ich von Toten gehört hatte, die im Grabe keine Ruhe finden konnten, weil man ihre letzten Wünsche unerfüllt gelassen, und jetzt auf die Erde zurückkehrten, um die Meineidigen zu strafen und die Bedrückten zu rächen; ich dachte, wie Mr. Reeds Geist, gequält durch das Unrecht, welches man dem Kinde seiner Schwester zufügte, seine Ruhestätte verließ – entweder in dem Gewölbe der Kirche oder in dem unbekannten Lande der Abgeschiedenen – und in diesem Zimmer vor mir erscheinen könne. Ich trocknete meine Thränen und unterdrückte mein Schluchzen; denn ich fürchtete, daß diese lauten Äußerungen meines Grams eine übernatürliche Stimme zu meinem Troste erwecken oder aus dem mich umgebenden Dunkel ein Antlitz mit einem Heiligenschein hervorleuchten lassen könne, das sich mit wundersamem Mitleid über mich beugte. Dieser Gedanke, der in der Theorie vielleicht ganz trostreich, würde entsetzlich sein, wenn er zur Wirklichkeit werden könnte, das fühlte ich: mit aller Gewalt versuchte ich, ihn zu unterdrücken – ich bemühte mich, ruhig und gefaßt zu sein. Indem ich mir das Haar von Stirn und Augen strich, erhob ich den Kopf und versuchte in dem dunklen Zimmer umher zu blicken: in diesem Augenblick sah ich den Wiederschein eines Lichtes an der Wand! – War es vielleicht der Mondesstrahl, der durch eine Öffnung in dem Vorhang drang, fragte ich mich? Nein, die Mondesstrahlen waren ruhig und dies Licht bewegte sich; während ich noch hinblickte, glitt es zur Decke hinauf und erzitterte über meinem Kopfe, Jetzt kann ich freilich begreifen, daß dieser Lichtstreifen aller Wahrscheinlichkeit nach der Schimmer einer Laterne war, welche jemand über den freien Platz vor dem Hause trug; aber damals, mit dem auf Schrecken und Entsetzen vorbereiteten Gemüt, mit meinen vor Aufregung bebenden Nerven, hielt ich den sich schnell bewegenden Strahl für den Herold einer Erscheinung, die aus einer anderen Welt zu mir kam. Mein Herz pochte laut, mein Kopf wurde heiß; in meinen Ohren spürte ich ein Brausen, das ich für das Rauschen der Flügel hielt; ein Etwas schien sich mir zu nähern; ich fühlte mich bedrückt, erstickt; mein Widerstandsvermögen gab nach; ich stürzte auf die Thür zu und rüttelte mit verzweifelter Anstrengung am Schlosse. Eilende Schritte kamen durch den äußeren Korridor daher; der Schlüssel wurde im Schlosse umgedreht, Bessie und Miß Abbot traten ein.

»Miß Eyre, sind Sie krank?« fragte Bessie.

»Welch ein fürchterlicher Lärm! Ich bin ganz außer mir!« rief Abbot aus.

»Nehmt mich mit hinaus! Laßt mich in die Kinderstube gehen!« schrie ich ununterbrochen.

»Weshalb denn? Ist Ihnen irgend etwas geschehen? Haben Sie etwas gesehen?« fragte Bessie wiederum.

»O, ich sah ein Licht und ich meinte, daß ein Geist kommen würde.« Ich hatte mich jetzt Bessies Hand bemächtigt, und sie entwand sie mir nicht. »Sie hat mit Absicht so geschrieen,« erklärte Abbot mit einigem Abscheu. »Und welch ein Geschrei! Wenn sie große Schmerzen gehabt hätte, so könnte man es noch entschuldigen, aber sie wollte weiter nichts, als uns alle herbeilocken. Ich kenne ihre bösen Streiche schon.«

»Was giebt es denn hier?« fragte eine andere Stimme gebieterisch; und Mrs. Reed kam mit flatternden Haubenbändern und wehendem Kleide durch den Korridor daher, »Abbot und Bessie, ich glaube, daß ich Befehl gegeben habe, Jane Eyre in dem roten Zimmer zu lassen, bis ich selbst sie holen würde?«

»Miß Jane schrie so laut, Madame,« wandte Bessie zögernd ein.

»Laßt sie los,« war die einzige Antwort. »Laß Bessies Hand los, Kind: verlaß dich darauf, auf diese Weise wirst du nicht hinaus gelangen. Ich verabscheue solche List, besonders bei Kindern; es ist meine Pflicht, dir zu beweisen, daß du mit derartigen Ränken und Schlichen nicht weit kommst. Jetzt wirst du noch eine ganze Stunde hierbleiben, und auch dann gebe ich dich nur frei, wenn du mir das Versprechen giebst, vollkommen ruhig und unterwürfig zu sein,«

»O, Tante, hab Erbarmen! Vergieb mir doch! Ich kann, ich kann es nicht ertragen. – Bestrafe mich doch auf andere Weise! Ich komme um, wenn – –«

»Sei still! Diese Heftigkeit ist ganz widerlich und empörend!« und ohne Zweifel hegte sie auch Abscheu gegen mein Betragen. In ihren Augen war ich eine frühreife Schauspielerin; sie sah in der That auf mich wie auf eine Zusammensetzung der heftigsten Leidenschaften, eines niedrigen, gemeinen Geistes und gefährlicher Falschheit.

Als Bessie und Abbot sich zurückgezogen hatten, warf Mrs. Reed, die meiner wilden Angst und meines lauten Schluchzens wohl müde geworden sein mochte, mich rasch in das Zimmer zurück und schloß mich ohne weitere Erklärungen und Worte wieder ein. Ich hörte noch, wie sie davon rauschte; und bald nachdem sie gegangen war, muß ich in Krämpfe verfallen sein: Bewußtlosigkeit machte der Scene ein Ende!

Drittes Kapitel.

Dann erinnerte ich mich an nichts mehr. Als ich erwachte, war es mit dem Gefühl eines schrecklichen Alpdrückens, vor mir sah ich eine unheimliche rote Glut, von der sich dicke, schwarze Stangen abhoben. Ich hörte Stimmen, die hohl an mein Ohr klangen, als würden sie durch das Rauschen des Wassers oder Toben des Windes übertönt, Aufregung, Ungewißheit und ein alles beherrschendes Gefühl des Entsetzens hielt alle meine Sinne gefangen. Es vergingen nur wenige Augenblicke, und dann gewahrte ich, daß jemand mich berührte, mich aufhob und mich in eine sitzende Stellung brachte, und zwar viel zärtlicher und sorgsamer, als mich bis jetzt irgend jemand gestützt oder emporgehoben hatte. Ich lehnte meinen Kopf gegen einen Arm oder ein Polster und fühlte mich unendlich wohl.

Noch fünf Minuten und die Wolken der Bewußtlosigkeit begannen zu schwinden. Jetzt wußte ich sehr wohl, daß ich in meinem eigenen Bette lag, und daß die rote Glut nichts anderes war, als das Feuer im Kamin der Kinderstube. Es war Nacht, eine Kerze brannte auf dem Tische; Bessie stand am Fußende meines Bettes und hielt eine Waschschüssel in der Hand, ein Herr saß auf einem Lehnstuhle neben mir und beugte sich über mich.

Ich empfand eine unbeschreibliche Erleichterung, eine wohlthuende Überzeugung der Sicherheit und des Beschütztseins, als ich sah, daß sich ein Fremder im Zimmer befand, ein Mensch, der nicht zum Haushalt von Gateshead, nicht zu den Verwandten von Mrs. Reed gehörte. – Mich von Bessie abwendend – obgleich ihre Gegenwart mir weit weniger unangenehm war, als mir zum Beispiel Abbots Gesellschaft gewesen wäre – prüfte ich die Gesichtszuge des Herrn; ich kannte ihn, es war Mr. Lloyd, ein Apotheker, den Mrs. Reed zuweilen rufen ließ, wenn ihre Dienstboten krank waren. Für sich selbst und ihre Kinder nahm sie immer nur die Hilfe des Arztes in Anspruch.

»Nun, wer bin ich?« fragte er.

Ich sprach seinen Namen aus und streckte ihm zu gleicher Zeit meine Hand entgegen; er nahm sie, lächelte und sagte: »Ah, wir werden uns jetzt langsam erholen.« Dann legte er mich nieder, wandte sich zu Bessie, empfahl ihr, sehr vorsichtig zu sein und mich während der Nacht nicht zu stören. Nachdem er noch weitere Weisungen erteilt und gesagt hatte, daß er am folgenden Tage wiederkommen würde, ging er fort; zu meiner größten Betrübnis; während er auf dem Stuhl neben meinem Kopfkissen saß, fühlte ich mich so beschützt, so sicher, und als die Thür sich hinter ihm schloß, wurde das ganze Zimmer dunkel und mein Herz verzagte von neuem, es unterlag der Last eines unbeschreiblichen Grams.

»Glauben Sie, daß Sie schlafen können, Miß?« fragte Bessie mich ungewöhnlich sanft.

Kaum wagte ich, ihr zu antworten, denn ich fürchtete, daß ihre nächsten Worte wieder rauh klingen würden. »Ich will es versuchen,« sagte ich leise.

»Möchten Sie nicht irgend etwas essen oder trinken?«

»Nein, ich danke, Bessie.«

»Nun, dann werde ich auch schlafen gehen, denn es ist schon nach Mitternacht; aber Sie können mich rufen, wenn Sie während der Nacht irgend etwas brauchen.«

Welche seltene Höflichkeit! Sie ermutigte mich, eine Frage zu stellen.

»Bessie, was ist denn mit mir geschehen? Bin ich sehr krank?«

»Ich vermute, daß Sie vor Schreien im roten Zimmer krank geworden sind; aber Sie werden ohne Zweifel bald wieder ganz gesund sein.«

Bessie ging in das anstoßende Zimmer der Hausmädchen. Ich hörte, wie sie dort sagte:

»Sarah, komm und schlaf bei mir in der Kinderstube, und wenn es mein Leben gälte, so könnte ich diese Nacht nicht mit dem armen Kinde allein bleiben; es könnte sterben! Wie sonderbar, daß Miß Jane einen solchen Anfall haben mußte! Ich mochte doch wissen, ob sie irgend etwas gesehen hat. Mrs. Reed war dieses Mal aber auch zu hart gegen sie.«

Sarah kam mit ihr zurück; beide gingen zu Bett; sie flüsterten wenigstens noch eine halbe Stunde mit einander, bevor sie einschliefen. Ich hörte einige Bruchstücke ihrer Unterhaltung, und aus diesen schloß ich auf den Hauptgegenstand ihrer Diskussion.

»Etwas ist an ihr vorübergeschwebt, ganz in Weiß gekleidet, dann ist es verschwunden.« – – »Ein großer, schwarzer Hund hinter ihm.« – »Dreimal hat es laut an der Zimmerthür geklopft,« – Ein Licht auf dem Friedhofe gerade über seinem Grabe« – u. s. w., u, s. w.

Endlich schliefen beide ein. Feuer und Licht erloschen. In schaurigem Wachen ging die Nacht für mich langsam hin; Entsetzen und Angst hielten Ohren, Augen und Sinne wach. – Entsetzen und Angst, wie nur Kinder es zu empfinden imstande sind.

Diesem Zwischenfall im roten Zimmer folgte keine lange, ernste, körperliche Krankheit; nur eine heftige Erschütterung meiner Nerven, deren Widerhall ich noch bis auf den heutigen Tag empfinde. Ja, Mrs. Reed, Ihnen verdanke ich gar manchen qualvollen Schmerz der Seele. Aber ich sollte Ihnen verzeihen, denn Sie wußten nicht, was Sie thaten, während Sie jede Faser meines Herzens zerrissen, glaubten Sie nur meine bösen Neigungen und Anlagen zu ersticken.