4,99 €
China, abgeleitet aus dem Namen der Ch'in-Dynastie, heißt in der Eigenbezeichnung Chung-kuo, was das "Reich der Mitte" bedeutet. Es umfasste ein Territorium in der Größe Europas und seine Geschichte ist geprägt durch unablässige Kämpfe um die Vorherrschaft der einzelnen Regionen. Zum ersten Mal wurde es unter Shih Huang-ti aus der Ch'in-Dynastie im 3. Jahrhundert. v. Chr. geeint. Zur dauerhaften Reichseinigung kam es unter der Han-Dynastie. Das damals geschaffene zentral gesteuerte Regierungssystem mit einem Kaiser an der Spitze und verwaltet von einer mit Zivilbeamten besetzen Bürokratie hielt sich bis zum Jahr 1912.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 182
Herausgeber
Erik Schreiber
Märchen Sagen und Legenden
Chinesische Märchen 4
Saphir im Stahl
Märchen Sagen und Legenden 22
e-book: 249
Titel: Chinesische Märchen 4
Erscheinungstermin: 01.07.2024
© Saphir im Stahl Verlag
Erik Schreiber
An der Laut 14
64404 Bickenbach
www.saphir-im-stahl.de
Titelbild: Simon Faulhaber
Lektorat: Peter Heller
Vertrieb neobook
Herausgeber
Erik Schreiber
Märchen Sagen und Legenden
Chinesische Märchen 4
Saphir im Stahl
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Eine Schlange kann einen Elefanten verschlucken
Fang Kian-shan und die Tiger
Das Mädchen mit dem Pferdekopf
Der Feuergott
Die drei waltenden Götter
Konfuzius
Laotse
Der Kriegsgott
Im Tempel der Drachenmutter
Das Opfer der drei Mädchen
Die Pfirsiche der Liebenden
Der Pfirsichdiebstahl
Die blaue Rose
Die verstoßene Prinzessin
Die schöne Prinzessin Wen Cheng und der Gesandte aus Lhasa
Die schöne Giauna
Die beiden Scholaren
Die Menschwerdung der fünf Alten
Die acht Unsterblichen I
Die acht Unsterblichen II
Seelenwanderung
Die Kampfgrille
Das Gespenst im Gasthaus
Die Tonfigur
Der weiße Fasan
Die Reise zur Sonne
Ulan Bator
Der Steinmetz
Vorwort
Die vierte Sammlung chinesischer Märchen beginnt gleich mit einer Parodie auf die Beamten. Die allesbestimmenden, vom Kaiser eingesetzten Beamten, bestimmten bald das Leben der Menschen. Immer wieder kam es durch den Beamtenapparat, der Ähnlichkeit mit dem heutigen Staatssystem hat, zu Willkür und Korruption. Aus diesem Grund sind die chinesischen Märchen im Vielvölkerstaat immer noch beliebt, dienen sie doch dazu den Beamtenapparat als schlecht, kontrollierend und bestechlich darzustellen.
Eine Schlange kann einen Elefanten verschlucken
(Ein Wortspiel: Hsiang ist der erste Minister, aber auch der Elefant.)
Vor Zeiten lebte ein Mann namens Wong San, der jeden Tag in die Berge ging, um Unterholz zum Verheizen zu sammeln. Das verkaufte er dann und sorgte so für den eigenen Lebensunterhalt und den seiner Mutter. Jeden Tag, bevor er in die Berge ging, gab ihm seine Mutter einen runden Hirsekuchen fürs Mittagessen mit. Eines Tages hatte Wong San vom frühen Morgen bis zum Mittag Unterholz gesammelt, dann verspürte er Hunger. Er nahm also den Küchen, den er zwischen den Wurzeln eines Baumes gelegt hatte, schaute ihn genau an und rief aus: „Was soll denn das bedeuten? Die Hälfte davon ist weg!“
Er blickte nach links und nach rechts, nach vorne und nach hinten, konnte jedoch keine Spur eines Lebewesens entdecken. Als er mit dem Essen fertig war, ging er wieder an die Arbeit, doch seine Gedanken kreisten immer noch um das unerklärliche Ereignis.
„Ich bin der einzige, der jeden Tag hierher kommt, um das Unterholz zu sammeln“, dachte er. „Niemand sonst kommt auch nur in die Nähe dieses Platzes. Wer kann es also sein, der heute die Hälfte meines Hirsekuchens verzehrt hat?“
Er sammelte also weiter sein Unterholz. Nach einer Weile aber schaute er sich um und rief aus: „Kann ich denn meinen eigenen Augen nicht mehr trauen? Ich weiß ganz genau, dass ich das Unterholz, das ich heute früh gesammelt habe, zu einem losen Haufen aufgestapelt hatte. Und nun ist es gebündelt. Wer kann das für mich getan haben?“
Gegen Abend hatte er genug Brennstoff, teilte ihn in zwei Bündel, befestigte jeweils eines am Ende seiner Tragstange und ging nach Hause. Dort angelangt erzählte er seiner Mutter alles, was ihm widerfahren war. Auch sie war bass erstaunt, doch sie besaß die Weisheit des Alters und sagte deshalb zu ihm: „Erzähle niemanden, was geschehen ist, mein Sohn. Warte bis morgen, und wir werden dann sehen, ob sich das Ganze wiederholt.“
Am nächsten Tag ging Wong San wieder in die Berge, um wie üblich Unterholz zu sammeln, und das rätselhafte Geschehen wiederholte sich. Diesmal hörte er direkt, dass das Holz, das er gesammelt und zu einem Stapel zusammengelegt hatte, sich hinter seinem Rücken in ein Bündel verwandelte. Mittags, als die Zeit zum Essen kam, blickte er wieder auf seinen Kuchen, und siehe - die Hälfte davon war wieder weg!
Und so geschah es einen Tag nach dem anderen, bis eines Tages Wong San auf einen Berg kletterte und laut mit sich selbst redete: „Ich weiß immer noch nicht, wer jeden Tag hierherkommt, mein Holz bündelt und die Hälfte meines Kuchens isst. Wer du auch sein magst, du kannst dich mir wenigstens zeigen!“
Kaum hat er diese Worte ausgesprochen, als er es hinter sich husten hörte „Khe-khe!“ Er erzitterte vor Angst, schaute hinter sich und sah einen sehr alten Mann mit einem weißen Bart. Noch bevor Wong San auch nur ein Wort sagen konnte, gluckste der alte Mann und sprach: „Junger Mann, ich danke dir dafür, dass du mein Leben gerettet hast. Hättest du mir nicht in der Zeit, als ich krank war, Tag für Tag die Hälfte deines Kuchens überlassen, ich wäre sicherlich verhungert.“ Wong San sah, dass der alte Mann sehr freundlich ausschaute, und hatte keine Angst mehr vor ihm. Sein neuer Bekannter erzählte ihm, dass seine Bleibe hinter dem Berg sei und dass er, in der langen Zeit, da er krank war, nirgends hatte hingehen und sich Essbares holen können. Dank Wong Sans Kuchen hat er diese Zeit aber überlebt. Daher schlug er Wong San vor, mit ihm Blutsbrüderschaft zu schließen. Wong San willigte ein.
An diesem Abend erzählte Wong San seiner Mutter von dem alten Mann und auch, dass er ihm Blutsbrüderschaft geschworen hatte. Als seine Mutter das hörte, regte sie sich schrecklich auf vor lauter Glück. Am nächsten Tag packte sie zwei Hirsekuchen ein und sagte ihm, er solle einen davon seinem älteren Bruder geben.
Als Wong San seinen üblichen Platz auf den Bergen erreicht hatte, sah er gleich den alten Mann mit dem weißen Bart, der ` zwischen den Wurzeln eines Baumes saß, die aus der Erde hervorstachen. Sie begrüßten einander und begannen sofort mit der Arbeit. Diesmal half der alte Mann Wong San beim Sammeln des Unterholzes, und die Arbeit ging mit rasender GeschwIdigkeit vonstatten. Obwohl Wong San mit beiden Händen das Unterholz in Bündeln packte, sammelte der alte Mann es so schnell, dass er mit ihm nicht Schritt halten konnte.
Sie brauchten drei Tage, um das wegzuschleppen, was sie an einem Tag gesammelt hatten. An einem Tag verdiente Wong San mehr, als er früher in zehn Tagen zu verdienen pflegte. Tag für Tag half der alte Mann mit dem weißen Bart Wong San bei seiner Arbeit, und dabei wurden Mutter und Sohn wohlhabende Leute. Eines Tages sagte dann der alte Mann zu Wong San: „Bruder! Nun sind wir seit einiger Zeit wie richtige Brüder, doch ich habe dir immer noch nichts geschenkt. Jetzt höre auf mich und bringe nach drei Tagen ein Messer zu einer Höhle, die hinter diesem Berg liegt. Ich wünsche, dass du mir eines meiner Augen herausschneidest. Nun ist ein solches Auge von unschätzbarem Wert, nimm es daher mit in die Hauptstadt und überreiche es als Geschenk dem Kaiser. Er wird dir dann einen offiziellen Posten geben, und von diesem Tag an wirst du mit den deinen nie mehr arm sein.“
Nachdem der alte Mann das alles gesagt hatte, verschwand er. An diesem Abend hörte sich die Mutter von Wong San alles an, was er ihr zu erzählen hatte, dann räusperte sie sich und sagte: „Tja, einen solchen Freund findet man nicht oft einen Freund, der bereit ist, sein Auge zu opfern, um seinem Bruder zu helfen. Meiner Meinung nach wäre es jedoch besser, weiterhin Unterholz zu sammeln, als dem älteren Bruder eines seiner Augen herauszuschneiden.“
Doch Wong San war ganz darauf versessen, einen Beamtenposten zu bekommen, und so hörte er nicht auf die Worte seiner Mutter. Am Mittag des dritten Tages nahm er ein gebogenes Messer, ging zu der Höhle auf der anderen Seite des Berges und sah dort eine lange, große Schlange, die größer an Umfang war als ein Waschtrog. Die Schlange hob ihren Kopf, schloss ihre Augen und schlängelte sich quer durch die Höhle. Seinen älteren Bruder mit dem weißen Bart jedoch konnte Wong San nirgends erblicken.
Schließlich begriff er die Wahrheit.
„Ach so, mein älterer Bruder wurde in eine Schlange verwandelt!“
Dann tat er einen Schritt nach vorne, zog sein gebogenes Messer heraus und schnitt auf grausamste Weise das rechte Auge der Schlange heraus. Anschließend wickelte er es in einen Stofffetzen und ging nach Hause zurück.
Bald danach reiste Wong San in die Hauptstadt, wo er sein unschätzbares Geschenk dem Kaiser überreichte.
Als der Kaiser sich dieses Geschenk genauer anschaute, begriff er, dass es eine „leuchtende Perle“ war, denn sie erstrahlte auf seiner Hand in blendendem Licht und erhellte das ganze Empfangszimmer.
Er war mit dem Geschenk so zufrieden, dass er Wong San den Titel eines Beamten Erster Klasse verlieh und ihm den Posten, seines wichtigsten Beraters gab. Dann schenkte er die Perle seiner geliebten Tochter, der Prinzessin.
Die Prinzessin bewunderte die Perle so, dass sie sie jeden Tag j auf ihre offene Hand legte und stundenlang betrachtete. Dabei merkte sie, dass es eine männliche Perle war. O, wenn es ihr nur gelingen könnte, eine weibliche Perle zu erlangen, die mit dieser zusammen ein Paar abgeben würde - wie wunderschön wäre das!
Von morgens an bis spät am Abend wurde sie von diesem Wunsch gequält, bis sie krank wurde - so krank, dass sie schließlich im Sterben lag. Als der Kaiser davon erfuhr, ließ er seinen ersten Minister Wong San kommen und sagte zu ihm: „Sollte es dir gelingen, eine andere Perle aufzutreiben, die mit der, die du schon gebracht hast, ein Paar ergibt, werde ich dir die Prinzessin zur Frau geben. Zwei Perlen, die ein Paar ausmachen, zwei Menschen, die zueinander passen.“
Als Wong San diese Worte hörte, versprach er dem Kaiser fest, er werde den Wunsch seines Gebieters unbedingt erfüllen. Anschließend verließ er sofort in einer Sänfte, die von acht Männern getragen wurde, die Hauptstadt und kehrte zurück in seine Heimat.
Als seine Mutter erfuhr, dass der Kaiser ihn zum ersten Minister ernannt hatte, vermochte sie keine Worte zu finden, um ihre Freude auszudrücken. Trotzdem war sie dagegen, dass er seinem Blutsbruder das zweite Auge ausschnitt. Doch Wong San war darauf versessen, die Prinzessin zu heiraten, und hörte deshalb nicht auf den Rat seiner Mutter. Er nahm einen mit Juwelen besäten Dolch an sich und machte sich auf den Weg zur Höhle, die auf der anderen Seite des Berges lag. Als er den Eingang zur Höhle erreicht hatte, schaute er hinein und sah, dass aus der Wunde seines Bruders immer noch Blut tropfte, während aus dem anderen Auge Tränen der Trauer flossen. Und als der erste Minister Wong San „Älterer Bruder!“ rief, nickte sein Blutsbruder nur mit dem Kopf.
Wong San fuhr aber fort. „Älterer Bruder, wenn ein Mann dem anderen das Leben retten will, soll er ganze Arbeit machen. Wenn man einen anderen töten will, so soll man ihn nicht halbtot liegen lassen. Ich bin jetzt der erste Minister, doch bisher ist es mir nicht gelungen, der Schwiegersohn des Kaisers zu werden. Um das, was ich angefangen habe, zu vollenden, muss ich jetzt dein rechtes Auge herausschneiden.“
Und bevor er noch seine Rede beendet hatte, zog er seinen mit Juwelen besäten Dolch heraus in der grausamen Absicht, seinen Blutsbruder zu blenden.
Doch sein älterer Bruder räusperte sich nur und sagte: „Nun gut! Mach, was du dir vorgenommen hast, schneide das Auge heraus!“
Diese Worte machten Wong San überglücklich, und er dachte: „Nun gehört die Prinzessin mir!“
Er knirschte mit den Zähnen und näherte sich der Schlange mit dem Dolch in der Hand.
In diesem Augenblick jedoch öffnete die Schlange ihr Maul, groß wie die Öffnung eines riesigen Ofens, und verschluckte im Nu den ersten Minister.
Daher sagen die Menschen, wenn es um einen Mann geht, der sich übernimmt:
„Eine Schlange kann einen Elefanten verschlucken.“
Fang Kian-shan und die Tiger
Der Sommer war gekommen, und die wilden Birnenbäume auf den Hügeln bogen sich unter dem Gewicht der Früchte. Um diese Zeit ging Fang Kian-shan eines Tages zu einem Hügel, um den Platz für einen neuen Acker zu roden. Da sah er neben einer Grube einen Baum, der voll reifer Birnen war. Er verspürte Hunger, ließ seinen Spaten fallen und kletterte auf den Baum.
In diesem Augenblick nun erschien ein Rudel junger Tiger. Die Tiere blieben stehen und starrten Fang Kian-shan an. Fang erschrak und überlegte, ob sie ihn wohl fressen wollten. Trotz seiner Angst verhielt er sich ruhig und wandte sich mit einem Lächeln an die Tigerjungen: „Will einer von euch die Birnen fressen?“
Alle Tiger lächelten und nickten mit den Köpfen, worauf Fang Kian-shan seine Stirn nachdenklich runzelte und sagte: „Ich würde euch gerne einige hinunterwerfen, habe aber Angst, dass sie, sobald sie den Boden erreichen, in die Grube rollen. Also geht am besten und bringt entweder eine Decke oder eine Strohmatte!“
Die Tigerjungen nickten wieder mit den Köpfen und liefen fort.
Als sie fort waren, wollte Fang Kian-shan vom Baum herunterspringen und weglaufen, doch dann überlegte er es sich anders: „Tiger sind gefährliche Geschöpfe. Warum sollte ich nicht die Gelegenheit ergreifen und sie alle auf einmal vernichten?“
Also blieb er auf dem Baum, und in weniger Zeit, als man braucht, um zweimal an der Tabakpfeife zu ziehen, kehrten die Tigerjungen zurück. Sie schleppten eine große Strohmatte hinter sich her. Fang Kian-shan bat sie, die Matte über die Grube zu legen und warf eine Birne nach der anderen auf die Matte. Die Tigerkinder wollten nicht warten, bis Fang Kian-shan alle Birnen heruntergeworfen hatte. Gierig und von der Furcht getrieben, ein anderer könne ihnen zuvorkommen, sprangen sie alle auf einmal auf die Matte. Da gab die Matte unter ihnen nach, und die Tiger und die Birnen fielen in die Grube.
Als die alte Tigerin davon hörte, lief sie zu dem Baum, auf dem Fang Kian-shan saß, und bat ihn, ihre Kinder heraufzuholen.
Fang Kian-shan lachte und sagte: „Lass uns Steine in die Grube werfen, bis sie voll ist, dann können die jungen eines nach dem anderen hinaufklettern.“
Die Tigerin glaubte ihm und begann so schnell, Steine in die Grube zu werfen, dass diese bald voll war. Doch die Kinder kamen nicht, denn sie waren von den Steinen, die ihre Mutter hinuntergeworfen hatte, erschlagen worden. Ja, sie waren so unter Steinen begraben, dass sie, selbst wenn sie noch gelebt hätten, nicht mehr herausgekonnt hätten.
Eine Zeit lang heulte die Tigerin, dann wandte sie sich Fang Kian-shan zu, fletschte die Zähne und wollte ihn fressen. Doch Fang Kian-shan sagte zu ihr: „Nur nicht so hastig. Es gibt einen viel besseren Platz, wo du mich fressen könntest. Er liegt am Fuße eines Felsens. Dort kannst du mich in aller Ruhe verzehren.“
Die Tigerin war einverstanden und folgte ihm zum Fuß des Felsens, wo ein großer Stein lag. Dieser Felsen war so steil, dass man nur die Wolken sehen konnte, die vorbeiglitten, wenn man von unten hinaufschaute. Zugleich aber hatte man das Gefühl, jederzeit könne man von einen der Steine erschlagen werden, denn selbst die Sträucher und Pflanzen sahen aus, als hätte eine große Hand sie nach unten gedrückt. Und wenn der Wind über den Platz strich, ächzte er so, dass man glaubte, gleich würde der Felsen einem auf den Kopf fallen.
Fang Kian-shan rief also aus: „Das geht nicht! Das geht überhaupt nicht! Der Felsen wird herunterfallen und uns zu Tode quetschen!“
Bei diesen Worten erschrak die Tigerin und bat Fang Kian-shan, sie aus der gefährlichen Lage zu befreien.
Er überlegte einen Augenblick und sagte dann: „Schnell! Stelle dich auf die Hinterbeine und stütze den Felsen mit den Vorderpfoten. Ich werde mittlerweile einen Baum fällen und hierher bringen, damit wir ihn als Stütze benützen können.“
Die Tigerin tat wie geheißen und drückte mit den Vorderpfoten so stark an den Felsen, dass ihre Fratze ganz rot wurde.
Fang Kian-shan nickte ihr kurz zu, als wäre er so mit ihr ganz zufrieden, und warnte sie nochmals:
„Höre nie auf, an den Felsen zu drücken, sonst fällt er ganz herunter und erschlägt dich. Warte auf mich, ich werde dich schon befreien.“
Die Tigerin war von den Worten Fang Klan-shans so beeindruckt, dass sie nicht wagte, auch nur für einen Augenblick mit dem Drücken nachzulassen. Sie wartete und drückte, drückte und wartete - so vergingen drei Nächte und drei Tage, von Fang Kian-shan jedoch war keine Spur zu sehen. Sie drückte, bis sie mit ihrer Kraft ganz am Ende war, dann fiel sie, fast tot vor Erschöpfung, zu Boden.
Als der alte Tiger erfuhr, was geschehen war, beschloss er, seine Kinder und seine Frau zu rächen, und kam zu Fang Kian-shan gerannt.
Fang Kian-shan hat gerade in einem verlassenen Teil der Berge Holz gehackt, als er den Tiger kommen sah. Er wusste sofort, was ihm bevorstand, also nahm er sein Horn zur Hand und sagte zum Tiger: „Lass mich dir etwas auf diesem Horn vorblasen. Die Musik wird dich beruhigen, und du kannst dir dann die Zeit nehmen und mich mit Genuss verspeisen.“
Aber der Tiger, der nur daran dachte, Fang Kian-shan gleich an Ort und Stelle zu verschlingen, erwiderte nichts. Da war Fang Kian-shan wirklich beunruhigt. Er nahm sein Horn und blies. Die Klänge des Horns aber gefielen dem Tiger so gut, dass er Fang Kian-shan Gelegenheit gab, seine Melodie zu vollenden. Dann wollte er ihn auffressen. Doch je länger der Tiger der Musik zuhörte, desto mehr gefiel sie ihm. Er schloss die Augen, schlug den Takt mit seinem Kopf, wedelte mit seinem Schweif und begann zu singen, bis er völlig in der Musik aufging. Plötzlich schoss jemand einen Bogen ab, das Herz des Tigers wurde durchbohrt, und er fiel auf der Stelle tot um.
Und was war geschehen? Als die Dörfler auf dem Berg hörten, wie Fang Kian-shan in sein Horn blies, wussten sie sofort, dass er einem Tiger begegnet war. Sie packten also ihre Pfeile und Bögen, aber auch ihre Lanzen und eilten allesamt zu seiner Rettung herbei. Als sie jedoch ankamen und den Tiger sahen, der vor Fang Kian-shan tanzte und vor ihm hin und her schwankte, als sei er unter dem Einfluss von Drogen, waren sie so erheitert, dass sie lachen mussten. Dann erledigten sie den Tiger mit einem Schuss.
Von diesem Tag an hassten alle Tiger - große und kleine - Fang Kian-shan und warteten nur auf eine Gelegenheit, ihn umzubringen und zu verspeisen.
Eines Tages nun, als Fang Kian-shan seinen Acker pflügte, merkte er, dass er von einem Dutzend oder noch mehr Tigern umstellt war. Sofort sprang der alte Tiger, der Anführer des Rudels, auf den Ochsen von Fang Kian-shan und tötete ihn mit einem Biss, dann fragte er den Mann: „Warum hast du uns allen den Krieg erklärt? Heute sind wir dran. Wir werden dich auffressen.“
Fang Kian-shan blickte auf seinen Ochsen und dachte: „Ich bin sicherlich der nächste an der Reihe.“
Natürlich konnte er das nicht offen sagen; also überlegte er sich, wie er mit den Tigern fertigwerden könnte, wobei ihm klar war, dass er sich diesmal in einer sehr gefährlichen Lage befand.
Dann wandte sich der alte Tiger an ihn und sagte: „Fang Kian-shan, hast du heute nichts zu deiner Verteidigung vorzutragen? Normalerweise hast du viel zu sagen. Du bist so gescheit, wenn es darum geht, die anderen zu betrügen, dass du mit Sicherheit ein Exemplar des Buches der Lügen besitzt.“
Als Fang Kian-shan dies hörte, erfand er flugs einen neuen Plan und erwiderte im Handumdrehen: „Ich besitze tatsächlich das Buch der Lügen. Ich habe es von meinen Ahnen geerbt. Hättet ihr dieses Buch, so hättet auch ihr gewusst, wie man die anderen belügt, und kein Mann wäre dann imstande, euch zu fangen oder zu töten.“
Als der alte Tiger diese Worte gehört hatte, freute er sich insgeheim und dachte sich: „Am besten wir nehmen ihm dieses Buch der Lügen fort, dann können wir ihn auffressen. Das ist ein genialer Einfall!“
Dann sagte er laut: „Wenn du uns das Buch der Lügen übergibst, fressen wir dich nicht.“
Fang Kian-shan nickte mit dem Kopf, erklärte sich einverstanden und sagte: „Ich gehe und hole es, doch es ist ein außerordentlich seltsames Buch. Jeder, der es lesen will, muss sich erst Hände und Beine fesseln lassen, bevor er es erblicken darf. Tut er das nicht, so fliegt ihm das Buch vor seiner Nase davon.“
Die Tiger dachten, das könnte ein Trick sein, und waren alle dagegen, sich an Vorder- und Hinterbeinen fesseln zu lassen. Also sagte Fang Kian-shan zu ihnen: „Also gut! Dann fresst mich: Tut ihr das aber, so bekommt ihr das Buch der Lügen nie, und die Menschen werden euch fangen und töten.“
Der alte Tiger war aber geradezu versessen darauf, in den Besitz des Buches der Lügen zu gelangen, daher überlegte er sich: „Ein Dutzend oder gar mehr Tiger werden mit einem Mann ohne weiteres fertig. Am besten lassen wir uns also von ihm fesseln.“
Fang Kian-shan ging darauf fort, holte eine Menge lange und starke Stricke und fesselte alle Tiger einen nach dem anderen. Als er damit fertig war, packte er den Griff seines Pfluges und schlug sie damit nacheinander auf den Kopf, wobei er mit jedem Schlag sagte: „Das ist das Buch der Lügen!“
Und bei jedem Schlag stöhnten die Tiger aus aller Kraft, denn nun wurde ihnen klar, dass sie wieder in seine Falle gegangen waren. Doch ihre Beine und ihre Tatzen waren so festgebunden, dass sie keine Bewegung machen konnten. Von diesem Tag an hassten die Tiger Fang Kian-shan noch mehr. Unentwegt heckte er Pläne aus, wie er die Tiger, einen nach dem anderen, töten konnte. Am Ende war auf dem ganzen Berg ein winziges Tigerweibchen am Leben geblieben.
Diese Tigerin floh vom Berg fort und wusste nicht, wohin sie ihre Schritte lenken sollte. Schließlich glaubte sie zu wissen, wie sie sich von ihren Schwierigkeiten befreien konnte. Sie wollte sich bei Hofe melden und gegen Fang Kian-shan Klage erheben. Also lief sie zum Hof, und schließlich gelang es ihr, sich zum kaiserlichen Palast durchzuschlagen. Dort fragte der Kaiser sie nach ihrem Anliegen.